Die Herren der Unterwelt 12: Schwarze Pein

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Baden ist aus der Hölle zurückgekehrt - aber diese Freiheit hat ihren Preis: Jetzt muss er auf ewig den Dämon des Misstrauens in sich tragen und Hades dienen. Der König der Unterwelt stellt ihn mit seinem Auftrag vor die schwerste Prüfung: Katarina, die er die im Auftrag von Hades als Geisel genommen hat. Baden weiß seine Leidenschaft kaum mehr zu zügeln. Doch er muss sich vorsehen: Denn jede menschliche Berührung bringt das Böse in ihm zum Vorschein - und das wäre Katarinas Untergang …


  • Erscheinungstag 06.02.2017
  • Bandnummer 12
  • ISBN / Artikelnummer 9783956499814
  • Seitenanzahl 528
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Widmung

Für Julie Kagawa. Du bist ein Schatz! Danke für den Anruf, die Unterhaltung und deine Tipps zum Thema Hundetraining. (Alle Fehler stammen von mir und sind bewusst eingebaut, um sie in die Gegebenheiten meiner Geschichte einzupassen – und dabei bleibe ich.)

Für Beth Kendrick. Pecan Pie ist das Größte – genau wie du! In deinem Kopf würde ich echt gern mal Ferien machen!

Für Kady Cross und Amy Lukavics. Tolle Frauen, fantastische Reisegefährtinnen und auf ewig geliebte Freundinnen. Ich bin so gesegnet, dass ich euch kennenlernen durfte!

Für Allison Carroll, Ausnahmelektorin. Du gehst weit über die Pflicht hinaus, und deine Anregungen sind unbezahlbar. Ich danke dir!

Für die bezaubernden, talentierten Autorinnen, die ich zu meinen Freundinnen zählen darf (oben wie unten) – ihr habt Herzen aus Gold:

Jill Monroe, Roxanne St. Claire, Kresley Cole, JR Ward, Karen Marie Moning, Nalini Singh, Jeaniene Frost, P.C. und Kristin Cast, Deidre Knight, Kelli Ireland, Kristen Painter und Lily Everett.

Für Anne Victory und ihren Pippin!

Und für meinen eigenen Biscuit. Du warst ein Schatz, ein Gottesgeschenk, und ich hatte dich nicht verdient. Du hast mich wahnsinnig geliebt. Ich war dein absoluter Lieblingsmensch auf der ganzen Welt. Jetzt bist du im Himmel, und wenn wir uns wiedersehen, werde ich dich bis in alle Ewigkeit vergöttern!

1. Kapitel

„Welche Vorteile es bringt, mich zum Verbündeten zu haben? Man hat mich zum Verbündeten. Das sagt schon alles.“

– Hades, einer der neun Könige der Unterwelt

Schuldgefühle konnten die Vergangenheit nicht ändern. Sorge konnte die Zukunft nicht ändern. Und doch verfolgten sie Baden mit unerbittlicher Hartnäckigkeit. Die einen schwangen eine stachlige Peitsche, die anderen ein Messer mit gezahnter Klinge, und obwohl er keine sichtbaren Wunden trug, blutete er in Strömen – jeden verdammten Tag.

Der ständige Schmerz provozierte die Bestie. Bei seiner Wiederkehr von den Toten hatte die Kreatur sich in seinem Geist eingenistet. Sein neuer Begleiter war schlimmer als jeder Dämon. Und er musste es wissen! Das Ungeheuer verabscheute seinen Käfig aus Fleisch … gierte nach Beute.

Töte jemanden. Töte sie alle!

Es war der Schlachtruf der Bestie. Ein Befehl, der Baden in den Ohren gellte, sobald sich ihm jemand näherte. Oder ihn ansah. Oder einfach nur atmete. Der Drang zu gehorchen ließe nicht lange auf sich warten …

Ich werde nicht töten, gelobte er sich. Er war nicht die Bestie, sondern ein eigenständiges Wesen.

Leicht gesagt. Schwieriger durchzusetzen. Aufgewühlt tigerte er von einer Ecke seines Zimmers in die andere und zerrte am Kragen seines Shirts. Die weiche Baumwolle riss unter seinen Versuchen, das ständige Unbehagen zu lindern. Seine überempfindliche Haut verlangte ununterbrochen nach Linderung. Ein weiterer „Bonus“ seiner Wiederkehr von den Toten.

Der Schmetterling, den er sich auf die Brust hatte tätowieren lassen, konnte ihm die Schmerzen nicht nehmen. Rasch war dort ein Juckreiz entstanden, gegen den kein Kratzen half. Trotzdem empfand Baden keine Reue über den Entschluss. Die gezackten Flügel und gehörnten Fühler des Motivs ähnelten dem Brandzeichen des Dämons, das er vor seinem Tod getragen hatte; jetzt war es ein Sinnbild für die Wiedergeburt, eine Erinnerung daran, dass er wieder lebte. Dass er Freunde hatte – Brüder und eine Schwester im Geiste, die ihn liebten. Dass er kein Außenseiter war, auch wenn er sich wie einer fühlte.

Er stürzte sein Bier hinunter und schleuderte die Flasche an die Wand. Das Glas zerschellte. Seit seiner Wiederkehr hatte er sich verändert, das war eine unbestreitbare Tatsache. Er passte nicht mehr in die Familiendynamik. Er machte seine Schuldgefühle dafür verantwortlich. Vor viertausend Jahren hatte er dem Feind gestattet, ihn zu enthaupten – Selbstmord durch einen Stellvertreter –, sodass seine Freunde den Krieg gegen die Jäger allein weiterführen mussten, während sie um ihn trauerten. Wie gewissenlos!

Doch ebenso machte er die Sorge dafür verantwortlich, die er wie ein kostbares Neugeborenes hätschelte. Die Bestie hasste jeden, den er liebte – die Männer und Frauen, mit denen Baden eine Blutschuld verband –, und sie … er … würde vor nichts haltmachen, um sie zu vernichten.

Sollte dieser Drang, zuzuschlagen, jemals größer werden als sein Wunsch, seine Untaten wiedergutzumachen …

Ich werde meine Untaten wiedergutmachen.

Tote können keine Schulden eintreiben. Töööteeeeeeen.

Nein. Nein! Er hämmerte die Fäuste gegen seine Schläfen, sodass die metallenen Reife um seine Oberarme ihm ins Fleisch schnitten. Er zerrte an seinen Haaren. Schweiß rann über die verkrampften Muskeln auf seinem Rücken und seiner Brust und fing sich in seinem Hosenbund. Lieber würde er sterben – aufs Neue –, als seinen Freunden ein Leid zuzufügen.

Nach seiner Wiedererweckung hatten ihn alle zwölf Krieger mit offenen Armen empfangen. Nein, nicht zwölf. Mittlerweile waren es dreizehn. Vor ein paar Wochen war Galen bei ihnen eingezogen, Hüter der Eifersucht und der Falschen Hoffnung – der Mann, der seinen Tod eingefädelt hatte. Alle waren überzeugt, der Wichser hatte sich von seinen bösen Machenschaften abgewendet.

Also bitte. Scheiße mit Sahnehäubchen war immer noch Scheiße.

Liebend gern hätte er den Kerl in winzige Stückchen gehackt. Fünf Minuten und ein Schwert, mehr verlangte er gar nicht. Doch seine Freunde hatten eine strikte Zerhacksperre verhängt.

Ganz egal, wie seine eigenen Wünsche aussahen, er würde ihre Regeln befolgen. Nicht ein einziges Mal hatten sie ihm seine furchtbaren Fehler vorgehalten. Nicht ein einziges Mal auf einer Antwort bestanden. Sie hatten ihm zu essen gegeben, Waffen und ein Zimmer in ihrer riesigen Burg. Das uralte Bauwerk lag in den Berghängen über Budapest verborgen.

Es klopfte an der Tür – worauf die Bestie mit einem Knurren reagierte. Feind! Töten!

Ruhig. Nimm dich zusammen. Ein Feind würde sich nicht die Zeit nehmen zu klopfen. „Verschwinde.“ Seine raue Stimme klang, als wäre jedes Wort stromaufwärts durch einen Fluss aus Glasscherben geschwommen.

„Tut mir leid, mein Alter, aber ich geh hier nicht weg.“ Bumm, bumm, bumm. „Lass mich rein.“

Auftritt William, der Lustmolch. Jüngster Sohn des Hades, besessen von gutem Wein, besseren Frauen und der allerbesten Haarpflege. Der Kerl war ein barbarischer, sturer Bastard, dessen bester zugleich sein schlimmster Wesenszug war: Das Konzept der Gnade war ihm unbekannt.

Die Bestie stellte ihr Knurren ein und begann zu schnurren wie eine zahme Hauskatze. Eine überraschende Reaktion … andererseits auch wiederum nicht. Hades war derjenige, der ihm sein neues Leben geschenkt hatte. Dadurch hatte die Familie des Königs in den Augen der Bestie quasi einen Freibrief, der sie vor jeder Folter bewahrte. Abgesehen von Luzifer, dem ältesten Sohn, dessen Verbrechen waren schlicht zu ungeheuerlich.

„Das ist gerade kein guter Zeitpunkt.“ Baden fürchtete, die Bestie könnte den Freibrief vergessen.

„Interessiert mich nicht. Mach auf.“

Bewusst holte Baden tief Luft … und atmete scharf aus. Als materialisierter Geist war er nicht aufs Atmen angewiesen, doch der einst vertraute Vorgang half ihm, sich zu beruhigen.

„Komm schon“, sagte William. „Wo ist das mutige Stück Scheiße, das Pandora ihre Büchse geklaut und sie geöffnet hat? Mit dem will ich sprechen.“

Mutig? Manchmal. Stück Scheiße? Immer. Es hatte damit geendet, dass er und seine Freunde die Dämonen freigelassen hatten, die in der Büchse gefangen gewesen waren. Daraufhin hatte Zeus, der König der griechischen Götter, sie mit einem lebenslangen Fluch bestraft.

Und so soll euer Leib zum Gefäß eurer eigenen Zerstörung werden.

In ihn war Misstrauen gefahren.

Besudelt und unwürdig waren die Krieger aus der königlichen Garde entlassen und mit einem Fußtritt gen Erde befördert worden. Wie vorhergesagt begannen die Dämonen nur zu bald, sie zu zerstören. Ihn am schlimmsten von allen. Immer mehr war seine Fähigkeit, anderen zu vertrauen, verkümmert. Wochen … Monate hatte er damit verbracht, Pläne auszuhecken, jene zu ermorden, denen er hätte beistehen sollen.

Eines Tages hatte er es nicht länger ertragen können. Sie oder ich war der letzte Gedanke, der ihm durch den Kopf ging, als ein Mensch ein Schwert gegen seine Kehle schwang. Er hatte sie gewählt – seine Familie. Doch auch so waren sie nicht unbeschadet davongekommen. Ihre Trauer hatte sie verfolgt. Genau wie Misstrauen!

Als sein Kopf sich von seinem Körper trennte, war der Dämon aus ihm herausgefahren, von seiner Kontrolle befreit. Nun hatte Baden nicht mehr wenigstens den schlimmsten Impulsen des Ungeheuers Einhalt gebieten können. Im nächsten Augenblick hatten unsichtbare Ketten seinen Geist in ein Reich geschleift, das als Gefängnis für jene errichtet worden war, auf denen der Makel der Büchse lag. Seine einzige Verbindung in die Welt der Lebenden war eine Rauchwand gewesen, auf der die aktuellen Ereignisse wiedergegeben wurden.

Aus der ersten Reihe hatte er zusehen dürfen, wie seine Freunde in ein Loch aus Schmerz und Verzweiflung versanken, unfähig, irgendetwas anderes zu empfinden als Trauer. Den Rest seiner Zeit hatte er damit verbracht, sich mit Pandora zu bekriegen, der einzigen anderen Insassin des Reichs – einer Frau, die ihn mit jeder Faser ihres Seins hasste.

Dann, erst vor wenigen Monaten, waren Cronus und Rhea im Reich aufgetaucht, das ehemalige Königspaar der Titanen. Sie waren Zeus’ größte Rivalen und Badens Hauptziele. Wie oft hatten diese zwei seinen Freunden wehgetan?

Es hatte ihn mit großer Befriedigung erfüllt, gemeinsam mit Pandora zu entkommen und die anderen beiden zurückzulassen.

Bumm, bumm, bumm. „Ey! Baden! Diese Warterei ist dämlich. Ich bin mir ziemlich sicher, dass mir gerade graue Haare wachsen.“

Er schreckte auf, wütend, weil er sich so in seinen Erinnerungen verloren hatte.

„Wie du willst. Dann machen wir’s auf die harte Tour“, rief William. „In drei Sekunden trete ich die Tür ein.“

Ruhig. Niemand wird zerhackt. Baden riss so heftig an der Tür, dass die Klinke in seiner Hand blieb. Ups. „Was willst du?“

Anders als der Tornado, den er in diesem Moment zur Schau stellte, stand der schwarzhaarige, blauäugige Krieger sanft wie ein Sommerregen an den Türrahmen gelehnt da. William musterte ihn von oben bis unten und zog eine Grimasse.

„Wie ich sehe, kleidest du dich für den Job, den du willst, nicht für den, den du hast.“

Starker Krieger. Zu stark. Bedrohung.

Wie befürchtet, verbrannte der Keine-Folter-Freibrief soeben zu Asche. Niemand wird zerhackt! Aber … Schlagen war nicht Hacken. Es war reine Glückseligkeit. Knochen auf Knochen. Der berauschende Geruch von Blut würde seine Sinne erfüllen, das gequälte Heulen seines Gegners wäre Musik in seinen Ohren.

Er presste die Zunge an den Gaumen. Wer bin ich? „Verschwinde“, wiederholte er.

William sah sich im Zimmer um. „Kleines Privatgelage?

Tsts. Fehlt dir etwa dein Dämon?“

Ein paarmal hatte Baden gedacht, es könnte so sein. Mit dem Auftauchen seines neuen Gefährten war er eines Besseren belehrt worden.

Misstrauen hatte jetzt einen anderen Wirt. Eine Frau. Ihr Name war … Er runzelte die Stirn. Es wollte ihm nicht einfallen.

Wer sie auch war, über Jahrhunderte hatte sie Galen unterstützt und ihm bei den grauenvollsten Missetaten geholfen. Vor einigen Monaten hatte das törichte Weib freiwillig Misstrauen in sich aufgenommen. Mit anderen Worten: Sie hatte mit offenen Armen unaufhörliche Paranoia in Empfang genommen. Wer machte so was?

William seufzte. „Musst nicht antworten. Ich seh’s dir an der Nase an. Weißt du denn nicht, dass der ständige Blick in die Vergangenheit dich zurückwirft? Schon gut, schon gut. Ich helfe dir ja, die Zukunft in den Fokus zu nehmen. Musst ja nicht gleich betteln.“ William holte aus – und schlug ihm auf die Nase. „Gern geschehen.“

Beim Aufprall taumelte Baden zurück, seine Nase war verrutscht. Obwohl er kein Blut besaß, weil sein Körper nur eine Hülle für seinen Geist war, legte sich der Geschmack von Kupfermünzen auf seine Zunge. Köstlich. Praktisch ein Dessert.

Die Bestie tobte, war hungrig nach mehr.

Mit einem tödlichen Blick in Williams Richtung richtete er seine Nase.

„Oh nein. Ich habe dich provoziert. Was soll ich nur tun?“ Grinsend krempelte William sich die Ärmel hoch. „Ich weiß. Wie wär’s, wenn ich dir noch eine verpasse.“

Er sucht Ärger? Den kann er haben.

Die Bestie … explodierte. Jeder Muskel in Badens Körper wurde vollgepumpt mit Adrenalin, seine Knochen waren wie flüssige Lava. Auf unerklärliche Weise wuchs er auf beinahe doppelte Größe an, sodass sein Kopf die Decke streifte.

„Ich hab gehört, deine Haare sind durch Misstrauen immer in Flammen aufgegangen“, bemerkte William. „Schade, dass er nicht hier ist. Flammen würden deine anstehende Niederlage etwas spannender machen.“

Niederlage? Damit mache ich ihn gerne bekannt.

Brüllend holte Baden aus. Treffer! Das machte süchtig …

Wieder und wieder schwang er wie ein Presslufthammer die Fäuste, brutal und gnadenlos. William nahm die Schläge wie ein Könner und hielt sich auf wundersame Weise auf den Beinen.

Ich mag diesen Mann … irgendwie. Ihm wehzutun tut auch mir weh.

Der Funke eines rationalen Gedankens. Baden ließ die Arme sinken und krallte die Finger in seine Tarnanzughose. „Entschuldige. Tut mir leid“, stieß er heiser hervor.

„Wieso?“ Williams Zähne waren blutverschmiert. „Hast du dir in die Hose gemacht bei deiner zärtlichen Tätschelei?“

Humor. Darauf war Baden nicht in Stimmung. „Dreh dich um und geh. Bevor du noch rauskriechen musst.“

Schon längst hatte die Bestie wieder ihre Krallen in sein Hirn geschlagen und gierte nach einer zweiten Runde.

„Sei nicht albern.“ William winkte mit einer Hand. „Schlag mich noch mal. Aber diesmal versuch wenigstens, mir echten Schaden anzurichten.“

Der Krieger begriff es nicht … würde es nicht begreifen, bis es zu spät war. „Verschwinde! Ich verliere die Kontrolle.“

„Dann machen wir ja Fortschritte.“ William versetzte ihm einen scharfen Hieb gegen die Schulter. „Schlag mich.“

„Willst du sterben?“

„Schlag.“ Schlag ihn. „Mich.“ Schlag ihn.

Die Bestie fauchte, und er …

Baden explodierte wie eine Bombe, prügelte auf William ein, der keinerlei Anstalten machte, ihn abzublocken oder der Flut seiner Schläge auszuweichen.

„Wehr dich!“, schrie Baden.

„Wenn du so fragst …“ William schlug zu, ein so mächtiger Fausthieb, dass Baden rückwärts stolperte und gegen die Kommode krachte.

Klappernd gingen Bücher und Dekorationsobjekte, die ihm die weiblichen Burgbewohnerinnen geschenkt hatten, zu Boden. Glas zerschellte zu seinen Füßen. William kam auf ihn zumarschiert, bückte sich im Gehen, schnappte sich eins der Bücher und schlug damit zu, bis Baden glaubte, sein Hals würde sich in sein Rückgrat schieben.

Schmerz. Sein Körper krümmte sich, und der Krieger hieb ihm das Buch in die Flanke. Einmal. Zweimal. Mehr Schmerz. Seine Niere war nur noch Brei.

Gegner … viel stärker als erwartet … darf nicht weiterleben.

Bevor William ihm einen weiteren Schlag versetzen konnte, riss Baden ein Knie hoch. Das Buch flog quer durchs Zimmer. Er schlug William aufs Kinn. Als der Krieger taumelte, hob Baden eine Scherbe auf.

Bis er wieder aufrecht stand, hatte William sich gefangen. So schnell. Der Krieger zerschmetterte eine Vase an Badens Schläfe, und erneut regnete es Scherben.

Plötzlich drangen mehrere Stimmen in sein Bewusstsein.

„Ist das Baden? Alter! Das kann unmöglich Baden sein. Der ist ja dreimal so groß wie sonst!“

„Der schlägt Willy die Zähne aus!“

„Die sind reserviert! Baden, nicht Willys Zähne. Wenn mein Mann je den Löffel abgibt, dann nur durch meinen Hulk-Schmetterschlag!“

Irgendwo ganz hinten in seinem Kopf begriff er, dass seine Freunde und ihre Gefährtinnen den Tumult gehört hatten und gekommen waren, um der Prügelei ein Ende zu setzen. Um ihm zu helfen. Der Bestie war das egal.

Töten … Alle töten … Sie sind zu stark, das Risiko zu groß. Etwas so Böses wie die Bestie kannte keine Freunde, nur Feinde.

Für den Rest der Welt stellt diese Truppe eine Gefahr dar, aber nicht für mich. Niemals für mich. Diese Leute würden für mich sterben.

Sterben … Genau, sie müssen sterben …

Mit einem Tritt warf William die Tür zu und versperrte ihm damit die Sicht auf die anderen. „Du konzentrierst dich schön auf mich, Rotschopf. Verstanden? Die größte Bedrohung hier bin ich, also tu uns beiden einen Gefallen, nimm deine Rheumatabletten und schlag mich.“

Ja. Größte Bedrohung. Schlag. Die Wut verlieh ihm zusätzliche Kraft, als er aufs Neue eine Flut von Schlägen niederregnen ließ. Die ersten blockte William noch ab, doch dem Rest konnte er nicht ausweichen. Baden gelang es ebenso wenig, der Gegenwehr zu entkommen.

Der brutale Kampf trieb sie durch das gesamte Zimmer, und sie prallten gegen Wände und Möbel wie wilde Tiere, die um den Titel des Königs des Dschungels stritten.

Schnapp dir eine Scherbe. Ramm sie dem Krieger in die Rippen.

Ja. Der perfekte Abschluss. Doch als Baden sich bückte, teleportierte William sich hinter ihn – ein Ortswechsel in Gedankenschnelle – und schlug ihn. Noch im Stolpern verdrehte Baden den Oberkörper und packte die Hand des Mannes, der ihm gerade einen weiteren Schlag versetzen wollte.

Baden ließ sich bewusst fallen und riss William mit sich zu Boden. Auf halber Strecke schlang er dem Bastard die Beine um den Hals und drückte fest genug zu, um ein Rhinozeros zu erdrosseln. Im Moment des Aufpralls schleuderte er William über sich hinweg.

Krach. Sein Gegner landete mit dem Gesicht voran im Scherbenhaufen. Grinsend richtete Baden sich auf und setzte sich rittlings auf Williams Rücken.

Ein Schlag. Zwei. Williams Schädel knackte – Baden brach sich die Knöchel daran. Bevor er den nächsten Hieb anbringen konnte, teleportierte William, die hinterhältige Ratte, sich wieder – doch es war zu spät, um seine Faust zu bremsen. Aufprall. Eine der Bodendielen zersplitterte. Schmerz vibrierte Badens Arm hinauf und konzentrierte sich in seiner Schulter.

William lachte vergnügt, und als hätte seine Reaktion ein magisches Ruheportal geöffnet, verstummte die Bestie.

„Na siehst du.“ William wuschelte ihm über den Kopf. „Und schon geht’s dir besser.“ Eine freundliche Feststellung, kein selbstgefälliger Sarkasmus.

Nach einem kurzen Gefahrencheck, nur zur Sicherheit, nickte Baden. „Tatsächlich.“ Selbst sein Hals fühlte sich besser an.

„Dann können wir uns ja jetzt unterhalten, ohne dass du meine Luftröhre beäugst wie ein Stück Weingummi.“

„Die Unterhaltung kann warten.“ Baden stand auf und verzog das Gesicht, als er sich den Zustand seines Zimmers besah. Löcher in der Wand, Glasscherben auf dem Boden, umgeworfene Möbel mit diversen Macken. „Ich muss hier erst mal aufräumen.“

„Du schwingst lieber den Besen, als Informationen zu sammeln?“

„Hängt davon ab, welche Informationen mir geboten werden.“

„Wenn ich jetzt sagen würde, es geht um deine Schlangen-Armreife und ihre Nebenwirkungen …?“

„Dann würde ich dir dein hübsches Gesicht zu Brei schlagen.“ Baden liebte die Armreife, und zugleich hasste er sie. Sie waren ein Geschenk von Hades, uralt und mit mystischen Kräften versehen, und sie waren der Grund für seine Körperhaftigkeit.

Hades und Keeley – die Gefährtin seines Freundes Torin – waren zu ihm gekommen. Anfangs hatte er es für einen Traum gehalten. Mithilfe irgendeiner übernatürlichen Macht hatten sie ihm die Schlangen-Armreife abgenommen, die ihm Luzifer bei seiner Gefangennahme aufgezwungen hatte, und sie durch ein Paar aus Hades’ Besitz ersetzt.

Solange du meine Armreife trägst, hatte Hades erklärt, wirst du sichtbar sein … berührbar.

Die freundliche Geste eines Verbündeten, den er im Kampf der Unterwelten unterstützte? Zu Beginn hatte er das noch gedacht. Langsam fragte er sich allerdings … War es eher ein Winkelzug eines hinterhältigen Feindes gewesen?

Schon bald nachdem er die Armreife erhalten hatte, erntete er mitleidige Blicke von William, gefolgt von der Bemerkung: „Kennst du Friedhof der Kuscheltiere? Manchmal ist der Tod die bessere Alternative.“

Unrecht hatte er damit nicht.

Zu diesem Zeitpunkt hatten die Veränderungen bei ihm bereits begonnen. Nicht körperlich – vielleicht körperlich –, aber geistig definitiv. Er, der einst von ruhigem Gemüt gewesen war, kämpfte ständig um Beherrschung, und er verabscheute jeden, der womöglich stärker war als er. Wie soeben bewiesen. Ihn plagten Erinnerungen, die nicht seine waren. Es nicht sein konnten. Er war nie ein Kind gewesen, war voll ausgewachsen erschaffen worden, als unsterblicher Krieger mit der Aufgabe, Zeus zu beschützen. Und doch erinnerte er sich klar und deutlich daran, wie er mit etwa zehn Jahren durch ein brennendes Ambrosiafeld gerannt war, während dichter Rauch ihm die Kehle zuschnürte.

Ein Rudel Höllenhunde hatte ihn gejagt, sich an ihm satt gefressen und ihn in ein kaltes, klammes Verlies gezerrt, wo er allein und ausgehungert gelitten hatte – über Jahrhunderte.

Mit der ersten Erinnerung war eine entsetzliche Erkenntnis über ihn hereingebrochen. Die Schlangen-Armreife waren keine bloßen Objekte, sondern ein Wesen. Die Bestie. Kein Dämon, sondern etwas Schlimmeres. Ein Unsterblicher, der einmal gelebt hatte und nun durch ihn weiterzuleben gedachte. Ein Monstrum, das ständig auf der Schwelle zu blanker Wut, Gewalt und tiefstem Misstrauen lauerte.

Die Ironie des Ganzen war ihm durchaus bewusst.

„Also wirklich.“ William tat beleidigt. „Versuch doch wenigstens, mir den Gefallen zu tun.“

Konzentrier dich! „Gestern hast du behauptet, du wüsstest nichts über die Armreife.“

Ein massiges Schulterzucken. „Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern?“

„Und heute weißt du … was genau?“

„Bloß alles.“

Baden wartete, dass der Krieger weitersprach. „Soll ich dich noch mal verprügeln? Rede gefälligst!“

Verprügeln ist jetzt etwas zu heftig ausgedrückt für das, was hier gerade stattgefunden hat. Ich würde das eher als Massage bezeichnen.“ William polierte sich die Fingernägel. „Nur dass du’s weißt, die Nebenwirkungen der Armreife sind zahlreich und entsetzlich.“

„Das mit ‚entsetzlich‘ hab ich längst alleine rausgefunden, vielen Dank auch.“ Die Armreife abzunehmen kam nicht infrage. Sie waren wie festgeschweißt. Um sie zu entfernen, müsste er sich schon die Arme mit dem Hackebeil abtrennen.

Vor seiner Enthauptung wären seine Arme einfach nachgewachsen. Doch jetzt? Er war sich nicht sicher und auch nicht zu Experimenten bereit. Na ja, jedenfalls nicht bei sich. Seine Hände waren seine vorderste Verteidigungslinie.

„Gib mir Einzelheiten“, verlangte er.

„Fangen wir doch damit an: Wenn du deine neuerdings auftretenden Tobsuchtsanfälle in den Griff kriegen willst, brauchst du Sex – und zwar eine Menge.“

Diese Behauptung war ein Witz. Musste einer sein.

Baden hob eine Augenbraue. „Bietest du dich an, oh großer Lustmolch?“

William schnaubte. „Als ob du mit mir klarkommen würdest.“

Wenn er ehrlich war, kam er mit niemandem klar. Falls er sich nicht gerade mit jemandem anlegte, mied er jede Form von Kontakt. Seine Haut war einfach zu empfindlich. Jede Berührung von Fleisch auf Fleisch war pure Folter, wie eine Klinge, die über frei liegende Nerven schrammte.

„Du wirst Budapest noch heute verlassen“, erklärte William. „Du gehst … woanders hin. Da suchst du dir einen Harem von Unsterblichen zusammen und widmest dich die nächsten ein, zwei Jahrzehnte einzig und allein der Lust.“

Seine Freunde im Stich lassen? Wo sie gerade erst wieder vereint waren? Nein. Er war hier, um ihnen zu helfen, ihnen den Rücken freizuhalten, wie er es seit Jahrhunderten herbeigesehnt hatte. „Ich verzichte.“

„Und ich bestehe darauf. Du kannst die Finsternis nicht besiegen.“

„Ich bin die Finsternis.“

Zustimmend neigte der Krieger den Kopf. „Folgendes Problem. Maddox und Ashlyn haben Kinder. Sowohl Maddox als auch Kane haben schwangere Frauen. Ganz zu schweigen von den anderen Frauen auf der Burg. Und was ist mit der traumatisierten Legion? Der verwundbaren Gillian?“ Bei ihrem Namen wurde seine Stimme rau. „Geh auf eine dieser Frauen los, wie du auf mich losgegangen bist, und deine Wahlbrüder weiden dich aus. Ganz egal, wie sehr sie dich lieben. Ich weide dich aus.“

„Ich würde niemals …“

„Oh Prinzessin. Und wie du würdest.“

Erneut flammte Zorn in ihm auf. Er rammte eine Faust durch die Wand und bestätigte damit Williams Behauptung. Die Bestie in ihm nutzte jede sich bietende Gelegenheit, ihn zu überrumpeln. „Also gut. Ich gehe.“ Die Worte schmerzten, trotzdem fügte er hinzu: „Heute noch.“

„Soeben ist dein IQ auf die nächste Stufe gesprungen.“ William strahlte ihn an. „Schon irgendwelche Ideen, wo du hinwillst?“

„Nein.“ Seine Erfahrungen mit der modernen Welt waren äußerst beschränkt.

Ein Seufzen. „Das bereue ich garantiert noch“, sagte der Krieger und strich sich mit zwei Fingern übers Kinn. „Aber was soll’s. Man lebt schließlich nur zweimal, stimmt’s?“

Baden wedelte mit der Hand, ein stummer Befehl, weiterzureden.

„Im Gegenzug für einen später zu benennenden Gefallen überlasse ich dir eine meiner Unterkünfte und stelle dir sogar ein fleischliches Buffet zusammen. Und keine Sorge. Selbst ein Kerl mit deinem Mangel an Finesse wird bei einer glatten Zehn einen Tor schießen.“

Während aus den Surround-Sound-Lautsprechern schnelle Rockmusik dröhnte, klatschten ihm zwei Doppel-Ds ins Gesicht. Baden zischte vor Schmerz – nicht, dass Wie-immer-sie-auch-hieß es bemerkt hätte, als sie sich auf seinem Schoß wand.

Sie streckte eine Hand nach seinem Nacken aus, zweifellos, um ihn näher an sich zu ziehen.

Jeder Mann muss wenigstens einmal im Leben das Motorboot machen, hatte William vorhin zu ihr gesagt. Sieh zu, dass unser Rotschopf seine Gelegenheit bekommt.

Baden schlug ihre Hand so sanft wie möglich beiseite.

Sie grinste ihn an, doch in ihren Augen lag nicht der kleinste Hauch von Erheiterung.

„Lampenfieber, Süßer? Da kenne ich das perfekte Heilmittel.“ Sie sprang von seinem Schoß und schob ihm ihren Hintern ins Gesicht.

„Twerk ist der Oberhammer, findest du nicht auch?“, meldete William sich zu Wort.

Baden warf ihm einen bitterbösen Blick zu. Sie waren die einzigen Männer im Raum, und der Wichser machte seinem Ruf als Ober-Playboy alle Ehre, als er einen Hundertdollarschein in den G-String einer Stripperin stopfte. Es war eine Blondine, die sich völlig selbstvergessen rhythmisch an ihm rieb.

„Auch wenn du eigentlich mich bezahlen solltest – ich bin gerade in großzügiger Laune.“ William steckte ihr einen weiteren Hunderter zu. „Und glaub nicht, ich hätte deinen Orgasmus nicht mitgekriegt. Beide.

Sie war zu sehr mit dem dritten beschäftigt, um antworten zu können.

„Das hilft mir nicht im Geringsten“, knurrte Baden. William beugte sich vor, um der Blondine übers Schlüsselbein zu lecken. Eine geübte Geste, die er aus dem Effeff zu beherrschen schien.

„Halt dich noch ein bisschen zurück mit deinen Zweifeln an meiner Pimposität. Das hier ist bloß der Appetithappen.“

Pimposität?

„Hör auf ihn.“ Miss Twerk wandte sich ihm zu und strich ihm mit einer Fingerspitze über die Kinnlinie. „Du sollst mich verschlingen.“

Die Qual! Ein paar Sekunden hielt er es aus, dann packte er die Frau bei den Hüften und hob sie ein für alle Mal von seinem Schoß. „Nicht anfassen. Unter keinen Umständen.“

Bei seinem unbeabsichtigt harschen Tonfall zitterte sie. „Verschwinde.“ Von sich selbst genauso angewidert wie von den Umständen, wies er zur Tür. „Jetzt.“

Als sie aus dem Zimmer hastete, machte er es sich etwas bequemer auf der Couch und schloss die Augen. Er brauchte Sex – angeblich –, konnte sich aber nicht dazu überwinden. Was für eine Zukunft stand ihm bevor? Ein finsterer Tobsuchtsanfall nach dem anderen? Wie damals … Vor seinem inneren Auge spielte sich eine weitere Erinnerung ab, die er nie erlebt hatte.

Er befand sich vor dem Verlies, in dem er eine qualvolle Ewigkeit verbracht hatte, umgeben von einem Meer aus Toten und Leichenteilen. Seine Hände waren in Blut gebadet … und mit scharfen Krallen versehen, an denen Fleischfetzen und andere Dinge hingen.

Aus einem Gang in der Nähe ertönten dumpfe Schritte. Ein Überlebender?

Nicht mehr lange.

Grinsend vor Vorfreude, stieg er über die Überreste hinweg und …

Abrupt verstummte die Musik und holte ihn zurück in die Gegenwart. Er öffnete die Augen gerade rechtzeitig, um die letzte Stripperin den Raum verlassen zu sehen.

Mit tadelndem Blick zu ihm schnalzte William mit der Zunge, teleportierte sich fort … und kehrte mit zwei Gläsern und einer Flasche mit Ambrosia versetztem Whiskey zurück.

Ambrosia, das Rauschmittel der Wahl für Unsterbliche. Der Krieger füllte die Gläser bis zum Rand. „Hier. Schmierstoff fürs Gehirn.“

Baden stieg der süßliche Duft in die Nase, und ihm drehte sich der Magen um. Einen Augenblick lang war er wieder ein Kind, gefangen in dem brennenden Feld, und rannte und rannte … während sein Herz hämmerte wie Pferdehufe bei einem Wettrennen.

Nicht ich. Die Bestie.

Zitternd leerte er sein Glas. Rasch flutete Wärme sein Inneres und beruhigte ihn trotz der unschönen Assoziation, erdete ihn im Hier und Jetzt.

„Na also. Gleich besser, oder?“ William lehnte sich an seinem Ende der Couch zurück – dem einzigen Möbelstück in einem weißen Raum.

Weiße Wände, weiße Bodenfliesen. Ein weißes Podest, hinter dem drei Spiegel aufgestellt waren. Herausfordernd starrte Baden seinem Spiegelbild entgegen – der einzige echte Farbtupfer im Zimmer. Er war zu einem Soldaten geworden, den er kaum wiedererkannte, mit unordentlichen roten Wellen, die dringend einen Haarschnitt benötigten. In dunklen Augen, die früher Herzlichkeit ausgestrahlt hatten, lagen jetzt stumme Drohungen. Ein Mund, der sich einst amüsiert gekräuselt hatte, war mittlerweile in ständiger Wut nach unten verzerrt. An die Stelle von Lachfalten waren Zornesfalten getreten.

Nein, nicht besser. „Von mir aus können wir gehen.“

„So ein Pech aber auch. Mir wird erst wieder einfallen, wie ich dich woandershin beamen kann, wenn du eine flachgelegt hast. Und sobald du ein bisschen weniger mörderisch dreinschaust, wirst du auch eine flachlegen. Die Mädels werden dich lieben.“ William stürzte den Inhalt seines Glases in einem einzigen Schluck hinunter. „Tu mir einfach den Gefallen und setz dein Gesicht darüber in Kenntnis, dass du hier Spaß haben sollst.“

„Hautkontakt schmerzt.“

Die Bestie fauchte ihn an, weil er eine so vernichtende Schwäche preisgegeben hatte, selbst wenn es nur gegenüber einem von Hades’ Söhnen geschehen war.

Stirnrunzelnd schaute William ihn an. „Wenn du denkst, dafür sind die Schlangen-Armreife verantwortlich …“

„Tu ich nicht.“

„… dann schmink dir das gleich wieder ab. Sind sie nicht.

Also trag es mit einem Lächeln, oder du überlebst deine Verwandlung nicht.“

Verwandlung? „Weniger mörderisch dreinzuschauen, wie du es ausdrückst, ist die größere Herausforderung. Ich hab vergessen, wie man lächelt.“

„Jammerst du etwa gerade?“ William stellte sein Glas beiseite und strich sich mit den Fingerspitzen über die Wangen, um Tränen anzudeuten. „Dein neues Leben ist scheiße. Na und? Glaubst du, du bist hier der Einzige, der Probleme hat?“

„Ganz sicher nicht.“ Im Augenblick waren seine Freunde auf der Jagd nach der Büchse der Pandora und fest entschlossen, sie zu finden, bevor es irgendjemand anderem gelang. Dieses Artefakt könnte sie innerhalb einer Sekunde töten. Einfach zack … weg … tot, von ihren Dämonen getrennt. Eigentlich etwas Gutes. Doch wenn sich das Böse so tief eingefressen hatte, musste es vorher geläutert und durch das Gegenteil ersetzt werden. Wie bei Haidee – Hass und Liebe. Sonst schlich sich Fäulnis ein. Aus diesem Grund waren die Herren auf der Suche nach Morgenstern – einer übernatürlichen Existenz, die noch immer in der Büchse gefangen war und jeden Wunsch zu erfüllen vermochte, die Dämon und Träger voneinander trennen konnte, ohne den Krieger zu töten.

Auch Luzifer hatte die Suche nach Morgenstern befohlen, beabsichtigte allerdings keinesfalls, die Herren zu retten. Er befand sich im Krieg mit Hades und war wild entschlossen zu siegen, koste es, was es wolle. Aus seinem Bestreben, die Verbündeten seines Vaters auszulöschen, machte er keinen Hehl: William, ihn und all die anderen. Und als Herr der Harbinger – Boten des Todes – hatte er möglicherweise gerade genug Macht, um es zu schaffen.

„Ganz genau“, sagte William. „Bist du nicht. Um präzise zu sein, sieht dein Leben neben meinem aus wie ein Picknick mit ein paar nackten Waldnymphen.“

„Jetzt übertreibst du aber.“

„Untertreiben wohl eher. In wenigen Tagen feiert Gillian ihren achtzehnten Geburtstag.“

„Und?“ Baden wollte, dass der Kerl es laut aussprach – seine eigene Schwachstelle eingestand. Wie du mir, so ich dir. „Dann ist sie volljährig. Alt genug, um es mit dir aufnehmen zu können.“ Er konnte sich nicht verkneifen, hinzuzufügen: „Oder mit jedem anderen Mann, den sie will.“

„Mit mir“, fauchte William. Was dieses Mädchen anging, hatte er die Intensität seiner Gefühle noch nie verbergen können. „Alt genug, um es mit mir aufzunehmen. Nur mit mir. Aber ich kann sie nicht haben.“ Als der Krieger nicht weitersprach, stocherte Baden in der Wunde: „Weil du verflucht bist?“

Eine Pause. Ein steifes Nicken. „Die Frau, die mich gewinnt, wird mein Tod sein.“

Gewinnt. Als wäre er der Siegespreis. Was man von mir nicht sagen kann. „Buhu, armer William.“ Überleben hatte oberste Priorität, Herzensangelegenheiten kamen an zweiter Stelle – wenn überhaupt. „Du bist gewarnt. Du kannst vorbeugende Maßnahmen ergreifen.“

Was. Zum. Teufel. Hatte er gerade ernsthaft vorgeschlagen, William sollte die süße, unschuldige Gilly umbringen, bevor sie Gelegenheit hatte, ihn umzubringen?

Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Er musste die Bestie dringend an eine sehr kurze Leine legen. Also gut. Er würde sich eine von den Frauen aussuchen und bei geringstmöglichem Körperkontakt Sex mit ihr haben, vielleicht wäre er dann wenigstens für eine kleine Weile etwas klarer im Kopf. Er würde denken können, würde einen Weg ausknobeln, sich von den Armreifen – und der Bestie – zu befreien und dabei seine Gliedmaßen und seine Körperhaftigkeit zu behalten.

„Genug geredet.“ Er zwang sich, die Mundwinkel zu heben. „Weniger mörderisch, siehst du?“

„Wow. Gerade als ich dachte, schlimmer kannst du nicht aussehen, beweist du mir das Gegenteil.“ Nichtsdestotrotz klatschte William in die Hände. „Ladys.“

Mit leise quietschenden Angeln öffnete sich die Tür. Ein neues Rudel leicht bekleideter Frauen flanierte ins Zimmer – eine Brünette, eine Blondine, eine Rothaarige und eine dunkelhäutige Schönheit. Mit durchweg strahlendem Lächeln reihten sie sich auf dem Podest auf.

Plötzlich ergaben die Spiegel einen Sinn. So bot sich ein perfekter Blick auf die Vorder- und die Rückseite. Nun regte sich in seinem lange ausgehungerten Körper doch etwas, und zugleich überrollte ihn eine neue Woge von Selbstabscheu.

„Prostituierte.“ Er hätte es wissen müssen.

Die Blondine warf ihm einen Luftkuss zu.

„Die Damen ziehen den Begriff freiberufliche Lustspezialistinnen vor. Es sind Unsterbliche. Eine Phönix, eine Sirene, eine Nymphe und ein hübsches kleines Gestaltwandler-Kätzchen, um genau zu sein.“ William drapierte einen muskulösen Arm auf der Rückenlehne der Couch. „Welches dieser Cremetörtchen willst du vernaschen? Dein Wunsch ist ihr Befehl.“

„Ich habe keinen Bedarf an vorgetäuschter Leidenschaft.“ „Ich sag’s dir ja nur ungern, Rotschopf, doch vorgetäuschte Leidenschaft ist alles, was du hier kriegst“, eröffnete ihm der Krieger mit einem Tut-mir-leid-aber-damit-musst-du-schon-selbst-klarkommen-Lächeln. „Im Augenblick sprechen allein zwei Dinge für dich. Du bist reich – dank Torins Investitionen über die letzten Jahrhunderte –, und du bist ein verdammter Doppelgänger von Jamie Fraser.“

„Von wem?“

„Dem Mann, von dem diese Frauen sich vorstellen werden, du wärst er“, antwortete William. „Denn dir, mein Lieber, fehlt es an Charme und Raffinesse, was bedeutet, dass dir nur dein Kontostand und deine scharf geschnittenen Gesichtszüge bleiben, um zum Stich zu kommen.“

„Mir fehlt es nicht an Charme.“ Nur manchmal. Vielleicht. Wahrscheinlich immer.

William ignorierte ihn. „Ladies, sagt Baden, wie hübsch sein Kontostand und sein Gesicht sind.“

„So hübsch.“

„Hübscher, als ich je gesehen habe.“

„Eher wunderschön als hübsch.“

„Ich würde deinen Kontostand und dein Gesicht reiten!“ Baden starrte William böse an und liebkoste das Heft des Dolchs, der in einer Scheide an seiner Hüfte verborgen lag.

William seufzte. „Hätten Jason Voorhees und Freddy Krueger ein Kind miteinander gemacht – dieser Blick wäre genau der, den mir der Albtraum von einem Balg zuwerfen würde.“ Noch mehr Männer, die er nicht kannte. Was ihn tierisch ärgerte! Er brauchte keine ständige Erinnerung daran, dass die Welt sich in seiner Abwesenheit problemlos weitergedreht hatte.

„Mein brillanter Humor ist bei dir vergebene Liebesmüh. Ist notiert. Ladies“, hob William an und schnappte sich wieder die Whiskeyflasche, „erzählt Baden, was für fleischliche Genüsse ihr für ihn bereithaltet.“

Eine nach der anderen beschrieben sie atemlos verschiedene Szenarien. Die schüchterne Jungfrau. Die verruchte Bibliothekarin. Die strafende Domina. Die feste Freundin.

Als er noch auf dem Olymp gelebt hatte, war Baden mit so einigen Frauen ausgegangen, aber geliebt hatte er keine. Er hatte eine Ebenbürtige gewollt, kein schwächliches Weib, das ihn bloß zu ihrem Schutz benutzte, dem seine Macht wichtiger war als ihre Gefühle. Er war versucht, das mit der Freundin zu probieren.

„Na?“, drängte William ihn.

„Ich wähle keins der angebotenen Szenarien.“ Gebt mir Wahrheit oder nichts. Er suchte den Blick jeder einzelnen Schönheit. Für die Chance, die Bestie zu zähmen und zu seinen Freunden zurückzukehren … „Wer beugt sich vor und lässt es schlicht und einfach über sich ergehen?“

Vielleicht mangelte es ihm doch an Charme.

Kopfschüttelnd murmelte William: „Du solltest dich schämen.“

Im selben Moment schossen zwei Frauenhände in die Höhe. „Ich! Nimm mich!“ Die Brünette. Die strafende Domina. Die Blonde rammte ihr einen Ellbogen in den Bauch. „Ich bin die, die du willst.“ Die verruchte Bibliothekarin.

„Wie sind wir noch mal Freunde geworden?“, fragte William ihn.

„Gar nicht.“ Baden hatte zwölf Freunde. Nur zwölf. Die Männer und die Frau, die eng an seiner Seite die dämonische Besessenheit hatten ertragen müssen – und es weiterhin mussten. Die Krieger, die mit ihm und für ihn geblutet hatten – die Helden, die er seit seiner Wiederkehr ausnahmslos enttäuscht hatte. Sie wünschten sich den Mann, der er gewesen war, nicht den Bastard, zu dem er geworden war.

Und … da hatte er ein weiteres Scheit auf dem lodernden Feuer seiner Schuld.

„Tränen. Trauer.“ William griff sich an die Brust, als hätte ihm jemand ein Messer hineingestoßen. „Also. Entscheide dich. Ich tu dir den Gefallen und nehme die anderen drei.“

„Was für Unsterbliche seid ihr?“, fragte Baden die zwei verbleibenden Bewerberinnen.

„Phönix“, erklärte die Brünette mit unverkennbarem Stolz. „Nymphe“, sagte die Blondine, ihre Stimme klang rauchig. „Du.“ Er zeigte auf die Blondine. „Dich nehme ich.“ Nymphen brauchten Sex dringender als Sauerstoff. So würde sie für ihre Mühen wenigstens noch etwas anderes als Geld gewinnen.

Zu seiner Überraschung sank die Brünette enttäuscht in sich zusammen.

„Ich mach’s wieder gut, meine Blume“, versicherte William ihr zwinkernd. „Bei dem müsstest du dir jeden Cent erarbeiten. Bei mir kannst du schlicht genießen. Ich will ja nicht zu viel versprechen, aber ich habe den weiblichen Orgasmus erfunden.“

Was auch immer. Baden erhob sich und geleitete die Blondine – ohne Körperkontakt – zum Ausgang. Er öffnete die Tür und bedeutete ihr, hindurchzutreten. Sie umwehte der Duft von weißem Oleander. Er folgte ihr auf einen schmalen Flur und hielt dabei einen Sicherheitsabstand ein.

„Such dir ein Zimmer aus“, sagte sie mit einer Andeutung von … Vorfreude? „Egal welches.“

Er entschied sich für das erste auf der rechten Seite und trat vor ihr ein, nur für den Fall, dass drinnen ein Angreifer wartete. Niemand attackierte ihn, aber in der Uhr auf dem Kaminsims entdeckte er eine versteckte Kamera. Williams Werk? Wozu?

Nachdem er das Ding außer Funktion gesetzt hatte, führte er eine breiter angelegte Suche durch. In dem Zimmer stand ein ausladendes Himmelbett mit schwarzen Seidenbezügen, ein Nachttisch voller Kondome und Gleitmittel und eine Chaiselongue neben einem Bären-Gestaltwandlerfell.

Die Blondine strich mit einem Finger zwischen ihren Brüsten entlang. „Was soll ich für dich tun, Süßer?“

Die Bestie protestierte. Lauthals. Sie mochte die Frau nicht, und es gefiel ihr nicht, dass Baden in der Gegenwart einer zweiten Person abgelenkt und verwundbar war – vor allem, wenn es dabei um den Versuch ging, sie zum Schweigen zu bringen.

Trotzdem antwortete er: „Zieh dich aus und beug dich über die Bettkante, Gesicht nach unten.“

„Oooh.“ Sie grinste. „Versohlst du mir den Hintern, weil ich ein böses Mädchen war?“

Die Bestie beschimpfte ihn, dann das Mädchen. Du wirst jetzt gehen. Sofort.

Keine Drohung. Ein schlichter Befehl. Irgendetwas am Tonfall …

Ein Tonfall, wie Baden ihn nur von Königen kannte. Wer bist du?

Ohne das geringste Zögern antwortete die Bestie: Ich bin Zerstörung.

2. Kapitel

„Aus den härtesten Zeiten gehen oft die größten persönlichen Momente hervor. Also: Hart werden!“

William der Lustmolch

Baden drehte sich der Kopf. Die Bestie war … Zerstörung … ein Dämon.

Ein König, fügte Zerstörung hinzu.

Der Stolz in der Stimme der Kreatur war unverkennbar.

Volltreffer. König von was?

Im Augenblick? Von dir. Verschwinde aus der Nähe dieses Weibsstücks oder bring sie um. Deine Entscheidung.

Es gab noch eine weitere Option. Mit verengten Augen nahm Baden seine auserwählte Bettgefährtin in den Fokus. „Ich werde dir nicht den Hintern versohlen, sondern dich ficken. Zieh dich aus und beug dich über die Bettkante, Gesicht nach unten“, wiederholte er. „Bitte und danke.“

Die Bestie in ihm fauchte.

„Für dich, Süßer, mach ich alles.“ Sie öffnete ihren BH und streifte das dazugehörige Höschen ab. Beide Kleidungsstücke segelten zu Boden. Bei ihren Bewegungen glitzerte der Ring an ihrer Hand, als der vielfarbige Stein das Licht einfing.

Bamm, bamm, bamm. Die Bestie kickte so heftig gegen Badens Brust, dass die Treffer beinahe einem Herzschlag glichen.

Siehst du denn nicht die Gefahr direkt vor deiner Nase?

Die Frau hatte keine Ahnung von seinem inneren Aufruhr und drehte sich gemächlich um, um ihm ihren Hintern zu präsentieren. Wie befohlen beugte sie sich über die Matratze und spreizte die Beine. Ein Anblick, den er über Jahrhunderte vermisst hatte.

„Nur dass du’s weißt, ich bin hart im Nehmen.“ Als sie über die Schulter schaute, kehrte ihr Lächeln zurück. „Zeig’s mir so richtig, lass dich an mir aus.“

Wenn er sich an ihr ausließe, würde sie das nicht überleben. Zerstörung hämmerte noch heftiger, zischte noch lauter. Töte sie, bevor sie uns tötet.

„Nein“, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

„Nein?“, fragte sie ungläubig. Sie versetzte sich einen festen Klaps auf den Po, der einen roten Handabdruck hinterließ. „Das lässt du dir entgehen?“

Die Zähne zusammenbeißend antwortete er: „Ich nehme dich ja.“ Und bringe damit die Bestie zum Schweigen.

Erleichterung zeigte sich in ihren Zügen, als er hinter sie trat. Im Kampf gegen die Impulse seines inneren Gefährten rann ihm der Schweiß in Strömen über den Körper. Bald schon klebten ihm die Kleider an der überempfindlichen Haut.

Zerstörung drehte immer mehr durch. Sie ist der Feind. Sieh hin! Begreif es doch endlich!

Alles, was ich sehe, ist ein Ticket ohne Rückfahrtschein ins Paradies. Es wurde Zeit, dass er Eier zeigte. Ganz egal, wie schmerzhaft das werden mochte. Risiko … Belohnung. Baden behielt sein durchgeschwitztes Oberteil an und öffnete nur den Reißverschluss seiner Hose.

Währenddessen betrachtete das Weib ihn weiterhin schamlos über die Schulter. „Du bist wirklich schön, weißt du das eigentlich?“

„Nur äußerlich.“

„Umso besser.“

Er wünschte, er hätte Erfahrung mit modernen Frauen. Standen die etwa auf Arschlöcher?

In den letzten viertausend Jahren war die einzige Frau, mit der er zu tun gehabt hatte, Pandora gewesen – und die hatte ständig versucht, ihn umzubringen. Jetzt war sie irgendwo da draußen in der Wildnis, ebenfalls körperlich, weil auch sie ein Paar Schlangen-Armreife trug. Sie hatte die Festung ausgekundschaftet und es geschafft, sich an den Sicherheitsvorkehrungen vorbeizuschleichen, um auf ihn loszugehen. Zwei Mal! In beiden Fällen hatten sie sich beinahe gegenseitig getötet.

Hatte sie mit ihrer eigenen Version von Zerstörung zu kämpfen?

Du Narr! Und schon bist du abgelenkt. Ohne mich wirst du zur lebenden Zielscheibe.

Ganz sicher nicht. Eine Lüge aus dem Mund einer verzweifelten Kreatur. Baden holte ein Kondom aus seiner Hosentasche – denen auf dem Nachttisch traute er nicht. Als er die Folie mit den Zähnen aufriss, breitete sich ein seltsames rotes Glühen im Raum aus. Er zog seinen Dolch und schaute sich um, während Zerstörung plötzlich – wie seltsam – still war.

Die Frau drehte sich zu ihm um und stützte sich auf die Ellbogen. Mit offenem Mund starrte sie ihn an. „Deine Arme.“

Er warf einen Blick nach unten und runzelte die Stirn. Die Armreife waren nicht mehr schwarz, sondern dunkelrot, und je stärker sie glühten, desto heftiger versengten sie seine Haut. Unter dem Metall wanden sich verzweigte dunkle Linien hervor und erinnerten ihn an die Risse im Fundament seines Lebens – und seiner geistigen Gesundheit.

Was zum Teufel ging hier vor sich? Er zog den Reißverschluss zu und wollte sich auf die Suche nach William machen.

Seine Gespielin seufzte schwer. „Kein Wunder, dass er dich tot sehen will.“ Ohne weitere Vorwarnung schwang sie die Faust nach ihm.

Auf dem Schlachtfeld geschärfte Instinkte versetzten ihn in Bewegung, noch ehe sein Verstand begriff, was geschah. Bevor sie ihn erwischen konnte, packte er sie beim Handgelenk und verdrehte ihr den Arm hinter den Rücken, womit er sie effektiv auf die Matratze drückte.

Und jetzt töte sie, befahl Zerstörung. Lass ihr Ende all denjenigen eine Lehre sein, die uns etwas anhaben wollen.

Das würde er … nicht tun. „Du hast gesagt, er will mich tot sehen.“ Die Worte waren kaum mehr als ein aggressives Knurren. „Wer ist er?“ William?

„Lass mich los!“ Sie trat nach ihm, ohne damit etwas zu erreichen. „Das ist nichts Persönliches, okay? Jedenfalls nicht von meiner Seite. Ich wollte bloß das Geld.“ Sie schlug mit ihrer freien Hand auf die Matratze. „Ich hätte mich an den Plan halten und warten sollen, bis du vom Orgasmus geschwächt bist.“

Er riss ihren Arm weiter hoch, gepeinigt schrie sie auf. Da fiel ihm der Ring ins Auge. Der Stein war verschwunden, darunter war eine Nadel zum Vorschein gekommen. Sie hatte ihn vergiften wollen?

Eine Lehre

Feinde mussten sterben. Immer.

„William!“, brüllte er, doch die Mühe hätte er sich gar nicht machen müssen.

Die Tür flog auf.

William kam hereingestürmt und fixierte mit verengten Augen die Blondine. „Das war ein Fehler, Nymphe. Ich wäre gut zu dir gewesen.“ Er war blutüberströmt. „Jetzt erlebst du nur noch meine schlimmste Seite.“

Plötzlich bebte sie vor Angst.

„Sie hat gesagt, er will mich tot sehen“, informierte Baden den Krieger.

Unter Williams linkem Auge zuckte ein Muskel. „Er. Luzifer. Und wage es ja nicht, den Mann meinen Bruder zu nennen. Den werde ich niemals anerkennen.“

Das hätte er sich auch denken können. Luzifer war machthungrig. Gierig. Ein reueloser Vergewaltiger. Mörder von Unschuldigen. Vater der Lügen. Es gab keine Grenze, die Luzifer nicht überschreiten würde. Keine Untat, die er nicht begehen würde, ob gegen Männer, Frauen oder Kinder.

Mit einer Kinnbewegung deutete William auf seine glühenden Armreife. „Mach dich bereit. Gleich stehst du …“

Baden wurde durch ein unsichtbares schwarzes Loch gezerrt … um auf der anderen Seite eine Bruchlandung zu machen. Während er sich zu orientieren versuchte, erschien ein riesiger Ballsaal vor seinen Augen. Von zahlreichen Feuern schlängelten Rauchschwaden in die Höhe und verschleierten die Luft auf ihrem Weg zu einem Deckengewölbe, das aus nichts als Flammen bestand. Es gab nur zwei Ausgänge. Einen an der Rückwand, der von Riesen bewacht wurde, und einen Hauptausgang, an dem noch größere Riesen standen.

Ein Thron aus bronzenen Menschenschädeln nahm die Mitte eines Podests ein, und auf diesem Thron saß Hades persönlich. Er war ein massiger Mann, ähnlich groß wie Baden, mit rabenschwarzem Haar und Augen, deren Dunkelheit keinen Anfang und kein Ende kannte. Angetan war er mit einem Nadelstreifenanzug und italienischen Herrenschuhen. Die Eleganz bildete einen seltsamen Kontrast zu den Sternen, die er auf die Fingerknöchel tätowiert trug.

Mondän und doch unzivilisiert. Hades breitete die Arme aus. „Willkommen in meinem bescheidenen Heim. Lerne es lieben, bevor du darüber herziehst.“

Baden ignorierte die unsinnige Begrüßung. Bisher hatte er erst einmal mit dem Mann zu tun gehabt – als der ihm die Schlangen-Armreife zum Geschenk gemacht und ihn aus Luzifers Kerker befreit hatte. „Warum bin ich hier?“

Das Glühen der Reife ließ nach, und das Metall kühlte ab, bis es wieder glanzlos und dunkel um seine Arme lag. Die bessere Frage: „Wie bin ich hergekommen?“

Hades lächelte, bedächtig und selbstgefällig. „Dank der Schlangen-Armreife bin ich dein Herr und du mein Sklave. Ich habe gerufen, du bist gekommen.“

Mit Mühe rang Baden den Drang nieder, ihn anzugreifen. „Du lügst.“ Er war niemandes Sklave, nicht einmal der dieses Königs. Die Bestie allerdings … gut möglich. Wie ein Dolchstoß traf ihn die Erkenntnis, und plötzlich zählte nur noch eine Frage. „Wer ist Zerstörung?“

Der König war ein hervorragender Stratege und setzte eine ausdruckslose Miene auf. „Vielleicht ein Mann, den ich verflucht habe. Vielleicht ein Wesen, das ich erschaffen habe.“ Er legte die Fingerspitzen vor seinem Mund aneinander. „Das Einzige, was du wissen musst? Er wird sich immer für mich entscheiden, wenn er zwischen dir und mir die Wahl hat.“

Die Bestie äußerte sich dazu nicht, eine ebenso ärgerliche wie verblüffende Tatsache.

„Ich werde ankämpfen gegen diesen Zwang, dir zu gehorchen“, gelobte Baden.

Über Hades’ Gesicht huschte ein gepeinigter Ausdruck, der beinahe wie Mitleid aussah.

„Wenn ich dich erneut rufe, wirst du kommen. Wenn ich dir einen Befehl erteile, wirst du ihn befolgen. Gönnen wir uns doch mal eine gute alte Demonstration, was meinst du?“ Er hob das Kinn, der Inbegriff eines Mannes, der niemals Unsicherheit gekannt hatte. „Auf die Knie.“

Badens Knie krachten so heftig auf den Boden, dass die Wände bebten. Und obwohl er mit all seiner beachtlichen Kraft darum kämpfte, konnte er nicht aufstehen.

Entsetzen mischte sich in seine Rage. An den Willen eines anderen gefesselt …

„Wie du siehst, ist mein Wunsch dir Befehl – den du mit Freuden ausführst.“ Hades wedelte mit einer Hand durch die Luft. „Du darfst dich erheben.“

Badens unsichtbare Fesseln lösten sich. Während er aufsprang, fuhr seine Hand automatisch zum Heft seines Dolchs. Er war hereingelegt worden. Welche Ironie. Das eine Mal, als er hätte zweifeln sollen, hatte er stattdessen blind vertraut.

Doppelt wütend presste er angestrengt hervor: „Du kannst keine Befehle erteilen, wenn du tot bist.“

„Leere Drohungen? Von einem furchterregenden Herrn der Unterwelt hätte ich mehr erwartet. Verzeihung – einem ehemaligen Herrn der Unterwelt. Aber meinetwegen. Tu es. Versuche, mich zu töten.“ Hades winkte ihn zu sich. „Ich bewege mich auch nicht. Ich lasse es dich nicht einmal büßen, solltest du einen Treffer landen.“

Ohne Zögern marschierte Baden auf den Thron zu, in seinem Kopf formten sich bereits Angriffspläne. Kehle und Herz waren offensichtliche Ziele, also würde er es auf die Oberschenkelarterie anlegen. Schwerer Blutverlust würde Schwäche nach sich ziehen.

Sobald er in Reichweite kam, duckte er sich, den Dolch in der Hand.

Hades lächelte amüsiert.

Wieder bäumte Badens Zorn sich auf, und er …

Erstarrte. Bewegungsunfähig. Bloß einen Zentimeter von seinem Ziel entfernt.

Eine Augenbraue erhoben, sagte Hades: „Ich warte.“ Brüllend schwang Baden den anderen Arm. Auch der erstarrte.

Der König grinste. „Da du offensichtlich einen Hirnschaden hast, helfe ich dir mal auf die Sprünge. Du bist unfähig, mir Schaden zuzufügen. Ich könnte mich in deine Klinge stürzen, und du würdest sie gegen dich selbst richten, bevor ich auch nur einen Tropfen Blut vergossen hätte.“ Mit einer Fingerspitze fuhr er über die Schneide der besagten Klinge. „Das Flittchen mit der Büchse hat eine Demonstration gebraucht. Brauchst du auch eine?“

Das Flittchen mit der Büchse. Der Bastard hatte dasselbe Spielchen mit Pandora durchgezogen?

Entgegen seinem Willen wallte Beschützerinstinkt in ihm auf. Und doch glaubte er, dessen Ursprung zu verstehen. Im Augenblick war Pandora die einzige Person auf der Welt, die seine Zwangslage verstand. Sie hatten nicht nur in ihrem Geisterreich dieselben Widrigkeiten durchgemacht – giftiger Nebel, Monate ohne den winzigsten Funken Licht, geplagt von übermächtigem Durst, den sie niemals stillen konnten –, sondern erlebten nun im Land der Lebenden diese neuen Gräuel.

„Ich höre?“, sagte Hades.

Baden brauchte keine weitere Demonstration. Er brauchte einen Plan. „Warum tust du das?“

„Weil ich es kann.“ Schwarze Augen glitzerten wie ein Nachthimmel voller sterbender Sterne. „Weil ich alles tun und jeden verletzen würde, um diesen Krieg gegen Luzifer zu gewinnen.“

Einen Krieg, in dem Baden ihn seit Wochen unterstützte. Aus freiem Willen! Es gab keinen Grund, ihn in Zugzwang zu bringen. „Vor fünf Minuten hätte ich noch dasselbe gesagt.“

„Und in fünf Minuten wirst du wieder dasselbe sagen.“ Hades lehnte sich zurück, streckte die Beine aus und gestikulierte mit zwei Fingern. „Ich habe beschlossen, einige der unschöneren Aufgaben auf meiner To-do-Liste zu delegieren. Das ist dein Zeitpunkt, dich dafür zu bedanken.“

Aus seinem Standbild befreit, stolperte Baden rückwärts. Das Begreifen traf ihn ebenso heftig, wie ein Schlag von Williams Fäusten es getan hätte. Er sollte den Laufburschen machen?

„Um deine bereitwillige Kooperation außerhalb dieser Mauern zu gewährleisten, wirst du dir mit jeder erfolgreich erledigten Aufgabe einen Punkt verdienen“, fuhr Hades fort. „Wenn die Liste abgearbeitet ist, wird der- oder diejenige meiner Sklaven mit den meisten Punkten von den Reifen befreit und darf im Reich der Menschen weiterleben.“

Erneut flackerte Wut in Badens Brust auf. „Und der Verlierer?“

„Was denkst du denn? Für inkompetente Schwächlinge habe ich keine Verwendung. Aber bis es so weit ist, empfängst du die Klinge ja vielleicht sogar mit offenen Armen, was? Das ist doch deine typische Vorgehensweise, oder?“

Schuldgefühle …

„Spar dir die Mühe, es auf Pandora anzulegen, um die Konkurrenz auszuschalten“, setzte Hades nach. „Töte sie, und ich töte dich.“ In einer aggressiven Geste leckte Baden sich die Lippen. „Ich bin bereits ein Geist. Man kann mich nicht töten.“

„Oh, mein lieber Junge, und wie man dich töten kann. Ohne Kopf und Arme wirst du schlicht zu existieren aufhören.“

Wenigstens gab es einen Ausweg.

Hölle, nein. Niemals würde er absichtlich sterben. Nicht noch einmal. Nie wieder würde er seinen Freunden auf so schändlich feige Weise wehtun.

„Indem du mich zum Sklaven machst, riskierst du den Zorn meiner Familie. Einer Armee, die du brauchst, wenn du auch nur ansatzweise auf einen Sieg in deinem Krieg hoffst. Genauso riskierst du den Zorn deines eigenen Sohnes William.“

Hades verdrehte die Augen. „Netter Versuch, aber du weißt nicht das Geringste über das Band zwischen Vater und Sohn. William wird mir zur Seite stehen. William wird mich immer unterstützen. Was die Herren betrifft, wage ich zu bezweifeln, dass sie sich je mit dem Monstrum verbünden würden, das eine der Ihren vergewaltigt hat.“

Nein, das würden sie nicht. Aeron, ehemals Hüter des Zorns, liebte ein menschgewordenes Dämonenmädchen wie eine Tochter. Dieses Mädchen, Legion … die sich neuerdings Honey nannte … litt nach wie vor unter den Folgen von Luzifers Misshandlungen.

Luzifer hatte einen Pflock in sein schwarzes Herz verdient, nicht noch ein weiteres Königreich unter seiner Herrschaft. Sich auf seine Seite zu stellen käme niemals infrage.

Hades war tatsächlich das geringere Übel.

Angespannt fuhr sich Baden mit der Zunge über die Schneidezähne. Er musste das Spiel dieses Bastards mitspielen – auch wenn er den Verdacht nicht loswurde, dass das Ergebnis bei Weitem nicht so klar aussehen würde, wie Hades behauptete.

Verschaff dir Zeit. Finde eine Lösung.

„Was ist mit deiner Vater-Sohn-Bindung zu Luzifer?“, fragte Baden abfällig. „Da spüre ich nicht gerade viel Liebe.“

„Da gibt es keine Bindung. Nicht mehr. So, das war genug von deinem Geschwätz. Ich habe zwei Aufgaben für dich. Eine wird Zeit in Anspruch nehmen. Die andere verlangt Eier. Ich hoffe, du hast deine dabei.“

Bastard.

Hades klatschte in die Hände und rief: „Pippin.“

Hinter dem Thron trat ein alter Mann mit verhärmtem Gesicht und krummem Rücken hervor. Er trug ein langes weißes Gewand und meißelte etwas in eine Steintafel. Ohne von seiner Arbeit aufzublicken, sagte er: „Jawohl, Herr.“

„Nenne Baden seine ersten Aufgaben.“

„Die Münze und die Sirene.“

Hades lächelte voller Zuneigung. „Du lässt auch kein Detail aus, Pippin. Ein wahrer Meister der Beschreibungskunst.“ Als er die Hand ausstreckte, legte der Alte einen winzigen Gesteinssplitter hinein. „Ein Mann in New York besitzt eine Münze, die mir gehört. Ich will sie zurückhaben.“

Das sollte eine unangenehme Aufgabe sein? „Ich soll dir eine einzelne Münze holen?“

„Lach ruhig, wenn du meinst. Später wirst du nicht mehr lachen.“ Das Steinchen ging in Flammen auf und verbrannte rasch zu Asche, die Hades in Badens Richtung blies. „Dafür wirst du Zeit benötigen, wie gesagt, und Gerissenheit.“

Instinktiv atmete Baden ein. Im nächsten Moment nahmen mehrere Bilder sein Bewusstsein ein. Eine Goldmünze mit Hades’ Konterfei auf der einen und einer freien Fläche auf der anderen Seite. Ein luxuriöses Anwesen auf dem Land. Eine Kapelle. Ein Zeitplan. Ein Bild: ein fünfundzwanzigjähriger Mann, dessen Engelsgesicht von einem goldenen Lockenkranz eingerahmt wurde, der beinahe einem Heiligenschein glich.

Plötzlich kannte Baden unzählige Details, die ihm nie jemand gesagt hatte. Der Name des Mannes war Aleksander Ciernik, und er stammte aus der Slowakei, wo sein Vater sich mit dem Verkauf von Heroin und Frauen ein Imperium aufgebaut hatte. Vor vier Jahren hatte Aleksander seinen Vater ermordet und das Familienunternehmen übernommen. Seine Feinde neigten dazu, spurlos zu verschwinden. Nicht, dass ihn irgendjemand konkret mit einem Verbrechen in Verbindung hätte bringen können.

„Du besitzt jetzt die Fähigkeit, dich zu Aleksander zu teleportieren“, erklärte Hades. „Ebenso kannst du dich zu mir und in dein Zuhause teleportieren, wo auch immer das sein mag. Diese Fähigkeit wird sich auf jegliche neue Aufgabe ausweiten, die du erhältst.“

Auf Teleportationskräfte war er schon immer scharf gewesen. Heute wurde seine Begeisterung allerdings von Vorsicht gedämpft. „Wie hat der Mensch deine Münze in seinen Besitz gebracht?“

„Spielt das eine Rolle? Aufgabe ist Aufgabe.“

Wohl wahr. „Und mein zweiter Auftrag?“

Pippin legte Hades einen weiteren Stein in die Hand. Wieder loderten Flammen auf … Wieder trieb Asche auf ihn zu. Als Baden einatmete, nahm ein anderes Bild in seinem Kopf Gestalt an. Eine schöne Frau mit langem rotblondem Haar und blauen Augen. Eine Sirene.

Jede Sirene konnte gewisse Emotionen oder Reaktionen mit ihrer Stimme erwecken, doch es gab von Familie zu Familie unterschiedliche Spezialitäten. Ihre Blutlinie hatte großes Geschick darin, im schlimmsten Chaos für Ruhe zu sorgen.

Die Frau … war schon vor Jahrhunderten gestorben. Umgekommen durch … die Details blieben im Verborgenen. Was Baden wusste? Jetzt war sie ein Geist, allerdings stellte ihre mangelnde Körperhaftigkeit für ihn kein Problem dar. Ungeachtet der Schlangen-Armreife konnte er noch immer andere Geister berühren.

„Bring mir ihre Zunge“, befahl Hades.

Im Sinne von: Ihr die Zunge rausschneiden? „Warum?“, entfuhr es Baden schneidend.

„Ich entschuldige mich vielmals, sollte ich bei dir den Eindruck erweckt haben, ich würde deine Neugier befriedigen. Los jetzt. Verschwinde.“ Baden öffnete den Mund zum Protest, fand sich jedoch in der Festung in Budapest wieder, wo seine Freunde lebten. Um genau zu sein, befand er sich im Unterhaltungszimmer, zusammen mit Paris, dem Hüter der Promiskuität, und Sienna, der neuen Hüterin des Zorns. Auf dem Fernseher im Hintergrund lief eine Romanze, während die beiden es sich auf der Couch gemütlich gemacht hatten, Popcorn futterten und Strategien entwarfen, unentdeckt in die Unterwelt einzudringen.

An einem kleinen runden Tisch saß Amun, Hüter der Geheimnisse, mit seiner Frau. Haidee war zierlich und trug pinke Strähnen im schulterlangen blonden Haar. Eine ihrer Augenbrauen zierte ein silberner Ring, und dank ihres Tanktops war ein mit Namen, Gesichtern und Nummern volltätowierter Arm zu sehen. Hinweise, die sie gebraucht hatte, wann immer sie gestorben und mit gelöschtem Gedächtnis wiedererweckt worden war. Und sie war oft gestorben. Jedes Mal hatte der Dämon Hass sie wieder zum Leben erweckt, bis auf das letzte Mal, sodass sie ihre Mission fortsetzen konnte: ihre Feinde vernichten. Beim letzten Mal war es Liebe, die sie wiedererweckt hatte.

Früher einmal war Baden ihr verhasstester Feind gewesen, weshalb sie vor all den Jahrhunderten geholfen hatte, ihn umzubringen.

Die Erinnerung stieg an die Oberfläche, diesmal eine, die er tatsächlich erlebt hatte, und er konnte sie nicht zurückdrängen, als wäre er – weil er tot und lebendig zugleich war, Körper und Geist in einem – gefangen zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit. Es war im antiken Griechenland gewesen, wo er zu der Zeit mit den anderen Herren gehaust hatte. Eine verzweifelte Haidee war an seiner Tür erschienen und hatte behauptet, ihr Mann sei verletzt und brauche einen Arzt.

Von Anfang an hatte Baden böse Absichten bei ihr vermutet. Doch damals hatte er jedem böse Absichten unterstellt, und er war der ständigen Paranoia müde gewesen – so unendlich müde. Mittlerweile hatte er sogar begonnen, seine Freunde irgendwelcher Missetaten zu verdächtigen, und der Drang, ihnen wehzutun, sie umzubringen, erwies sich Tag für Tag als beinahe unwiderstehlich. Schon mehrfach hatte er am Bett des ein oder anderen gestanden, ein Messer in der Hand. Eines Tages wäre er eingeknickt.

Ein Umzug in eine andere Stadt hätte auch nichts genützt. Misstrauen war genauso hungrig gewesen, wie Zerstörung es jetzt war. Irgendwann hätte der Dämon ihn zurück nach Hause getrieben. Offene Fragen waren für ihn nicht lange zu tolerieren gewesen, die damit einhergehende Paranoia zu intensiv. Selbstmord durch Mord war ihm als einzige Lösung erschienen.

Haidee nun zu sehen, zerriss ihn innerlich. Jahre, bevor sie ihn in den Hinterhalt gelockt hatte, war er für ihren größten Schmerz verantwortlich gewesen – hatte ihren wahren Ehemann im Kampf getötet. Dafür hatte sie ihm ebenfalls Schmerz zugefügt. Sie waren quitt. Heute waren sie nicht mehr dieselben wie damals. Sie hatten neu angefangen als unbeschriebene Blätter. Größtenteils.

Zerstörung hörte auf, sich tot zu stellen, und fauchte Haidee in Erinnerung an ihren Verrat an, als wäre die Bestie selbst das Ziel gewesen. Zerstörung brannte auf Rache.

Kannst du dir abschminken, informierte sie Baden.

Neben einem zweiten Tisch ging Kane, ehemals Hüter der Katastrophen, unruhig auf und ab, während seine Frau Josephina, die Königin der Fae, dasaß und eine detaillierte Karte studierte. Langes schwarzes Haar fiel ihr über die schmalen Schultern. Für einen Moment hielt Kane inne, um es ihr glatt zu streichen, wobei bei ihr spitze Ohren zum Vorschein kamen.

Der Krieger flüsterte ihr etwas zu – woraufhin sie kicherte –, bevor er ihr einen Kuss auf die Narbe auf ihrer Wange drückte … und einen in ihre Halsbeuge. Ihre blauen Augen begannen zu funkeln.

„Krieg ist ein ernstes Geschäft.“ Sie strich sich mit beiden Händen über den gewölbten Bauch, eine zärtliche Liebkosung für ihr ungeborenes Kind. „Dann machen wir mal Ernst.“ Ich muss hier weg. Sofort. Baden fühlte sich instabil. Er sollte nicht so nah bei den Frauen sein, erst recht nicht bei der Schwangeren.

Wie ein Mann bemerkten Paris, Amun und Kane seine Anwesenheit. Jeder sprang vor seine Frau, um sie abzuschirmen, während sie alle drei blutbefleckte Dolche zückten und sie in seine Richtung hielten.

Es war herrlich, sie so zusammenarbeiten zu sehen. Nach seinem Tod waren die zwölf Krieger, die er immer nur hatte beschützen wollen, in zwei Sechsergruppen zerfallen, womit sie ihre Wehrhaftigkeit deutlich geschwächt hatten. Meine Schuld.

Obwohl die beiden Fraktionen ihre angeknacksten Beziehungen Jahrhunderte später gekittet hatten, war sein Gewissen noch lange nicht so weit.

Zerstörung kickte ihm gegen den Schädel. Töten!

Sobald den anderen aufging, wer er war, senkten sie die Dolche und steckten sie weg. Nicht, dass sie die Bestie damit besänftigten.

„Wie war dein Urlaub mit Willy?“ Paris zwinkerte ihm zu. „So schlimm wie der, den ich damals mit ihm hatte?“

Der Mann war ebenso hochgewachsen wie er, gute zwei Meter groß. In seinem vielfarbigen Haar tummelte sich alles von Tiefschwarz bis zum weißesten Flachsblond. Seine Augen waren strahlend blau, und wenn sie nicht gerade potenzielle Angreifer niederstarrten, lag darin beinahe ständig ein einladender Schimmer, der jedes Gegenüber lockte, sich der Party anzuschließen … die in seiner Hose abging.

Er war früher immer der Mitfühlende gewesen. Der verlässliche Fels. Stets da, wenn man ihn brauchte. Traurig? Ruf nach Baden. Aufgewühlt? Schau bei Baden rein, der macht alles besser.

Doch jetzt nicht mehr.

„Der Urlaub“, seine Entschuldigung für sein Verschwinden, „ist vorbei.“

Amun nickte ihm grüßend zu. Der starke Schweiger. Er hatte dunkle Haut, dunkles Haar und dunkle Augen – reservierte Augen –, wohingegen die des immer zu einem Spaß aufgelegten Kane in einem fröhlichen Grünbraun strahlten. Kanes Haare wiesen ebenfalls viele Schattierungen auf, allerdings eher im dunkleren Spektrum.

Sie alle waren schöne Männer, ebenso sehr als sexuelle Lockvögel erschaffen wie als Krieger.

„Schleich dich nie wieder so an mich ran, Mann.“ Drohend wedelte Kane mit dem Zeigefinger. „Damit läufst du Gefahr, deine Klöten zu verlieren. Und seit wann kannst du dich überhaupt teleportieren?“

„Seit heute. Eine … Gefälligkeit von Hades.“

Amun versteifte sich, als könnte er ihm in den Kopf schauen.

Teufel, wahrscheinlich konnte er das auch.

„Hat Mr. H. was mit dir angestellt?“, verlangte Paris zu wissen. „Du musst es nur sagen, und wir löschen ihn gleich mit seinem verdorbenen Sohn zusammen aus.“

„Wo wir gerade bei Luzifer sind“, schaltete Kane sich wieder ein und winkte ihn zu sich. „Wir arbeiten einen Plan aus, Schritt für Schritt seinen Niedergang zu bewerkstelligen.“

„Im Augenblick hängen wir bei Schritt eins fest. In sein Verlies einbrechen, um Cronus und Rhea zu befreien.“ Josephina rieb sich den Bauch. „Die zwei wissen zu viel über euch Jungs. Eure Schwächen, eure Bedürfnisse. Wir sollten sie besser in unserem Verlies einsperren.“

Es war nie eine gute Idee, einen Feind der Kontrolle eines anderen Feindes zu überlassen. Doch vor Kurzem waren Cronus, ehemals Hüter der Gier, und Rhea, ehemals Hüterin der Zwietracht, enthauptet worden. Auch diesen selbsterklärten Göttern waren Schlangen-Armreife verliehen worden, allerdings aus der Hand von Luzifer. Hades hatte sich nicht auf einen Gefangenenaustausch eingelassen.

„Lasst die Finger von den Titanen“, riet Baden. „Vorerst jedenfalls. Höchstwahrscheinlich sind sie Luzifers Sklaven.“ So wie er und Pandora die Sklaven von Hades waren. Womöglich war das Paar von Mächten – und Begierden – getrieben, von denen die Herren keine Ahnung hatten.

„Ich verstehe nicht, wo das Problem liegt.“ Sienna trat neben ihren Mann. Die schlanke Frau hatte dunkle Locken und Sommersprossen. Enorme schwarze Schwingen, die hinter ihren Schultern aufragten, verliehen ihr eine königliche und leicht verruchte Aura. „Wer versklavt ist, ist schwach. Es gibt keinen besseren Zeitpunkt, sich die beiden zu schnappen.“

Nein! Diese Aussage würde er nicht gelten lassen. Er war ebenfalls versklavt, aber er war nicht schwach. „Bitte … vertraut mir einfach in dem Punkt. Womöglich will Luzifer sogar, dass ihr sie befreit. Lasst mich erst ein paar Nachforschungen anstellen.“ Er wusste auch schon, wo er damit anfangen würde. Obwohl Keeley derzeit mit Torin, dem Hüter der Krankheit, verbandelt war, hatte es eine Zeit gegeben, in der sie Hades’ Verlobte gewesen war. „Wo ist die Rote Königin?“

„Bei den Artefakten“, antwortete Haidee. „Warum willst du …“

Bevor sie ausgesprochen hatte, marschierte Baden bereits auf den Flur, die Bestie in ihm brüllte vor Missfallen.

Lass niemals einen Feind zurück.

Das habe ich nicht. Ich habe Freunde zurückgelassen.

Dann schaltete er auf Durchzug gegenüber dem Protestgeheul der Bestie und erreichte ohne Zwischenfall das Zimmer, in dem die Artefakte lagerten.

Keeley tigerte auf und ab. Sie stapfte an der Rute und dem Zwangskäfig vorbei, dann drehte sie um und stapfte zurück, während sie den Tarnumhang zwischen den Fingern knetete.

„Ich kann dimOuniak nicht finden, und wenn ich die Büchse nicht finde, kann ich den Morgenstern nicht finden“, murmelte sie.

Sie war eine wunderschöne Frau, deren Farbgebung sich mit den Jahreszeiten veränderte. Jetzt, im Frühling, war ihr Haar zartrosa mit vereinzelten grünen Strähnen, und ihre Augen strahlten himmelblau.

„Ich muss die Büchse finden. Ich muss den Morgenstern finden. Was habe ich übersehen? Was mache ich falsch?“

Baden wusste, wie gefährlich es war, diese Frau zu erschrecken, die unvorstellbare Kräfte besaß – trotzdem räusperte er sich.

Als sie zusammenzuckte, durchfuhr ihn ein Schmerz wie von einem Blitzschlag.

Die Bestie machte wieder Theater und verlangte von ihm, sie auf der Stelle zu erschlagen.

Dabei hätte er ihr danken sollen. Sie hätte weit schlimmeren Schaden anrichten können. Das gerade? Das war gar nichts gewesen.

„Baden?“ Verwirrt blinzelte sie.

Gezwungenes Luftholen … gezwungenes Ausatmen.

„Durch die Schlangen-Armreife bin ich ein Sklave von Hades geworden.“

„Äh, ja.“ Sie warf sich das lange Haar über die Schultern, eine zutiefst feminine Geste, die die erderschütternde Macht verschleierte, die sie auf unerklärliche Weise in dieser so zerbrechlich wirkenden Gestalt trug. „Du sagst das, als wäre es eine Überraschung.“

Sie hatte davon gewusst? „Ist es auch. Für mich jedenfalls.“ „Wenn du nicht Hades’ Jasager werden wolltest, warum hast du dann die Armreife angenommen?“ Sie stemmte die Hände in die Hüften. „Du hättest Luzifers Jasager bleiben können.“

Als sie zusammen mit Hades aufgetaucht war, hatte sie behauptet: Das heißeste Accessoire der Saison! Du wirst es nie bereuen, die zu tragen. Darauf hast du mein Wort.

Baden biss so heftig die Zähne zusammen, dass es schmerzte. Mühsam beherrscht, rief er ihr ihr Versprechen in Erinnerung.

„Das hab ich gesagt?“ Sie zuckte die Achseln. „Wow. Du bist ja echt leichtgläubig. Aber, äh, ich bin mir sicher, dass ich ausgerechnet habe, mit welcher Wahrscheinlichkeit dir was Unangenehmes widerfährt.“ Ach, tatsächlich. Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Na, die Rechnung will ich hören.“

„Na ja, wenn man einen Unsterblichen und zwei Schlangen-Armreife nimmt, wie vielen Problemen wird er sich gegenübersehen? Gold. Ist ja wohl klar. Denn das Herz blutet Geheimnisse, und Hündchen haben Krallen.“

Wie gelang es Torin, bei geistiger Gesundheit zu bleiben, wenn er sich mit ihr unterhielt? Nicht nur, dass sie nach jahrhundertelanger Gefangenschaft völlig durchgeknallt war, sie hatte auch noch ein echt mieses Gedächtnis. Da sie seit Anbeginn der Zeit existierte, hatte sie ihren Verstand oft als eine Art schwarzes Brett beschrieben, an das zu viele Zettel gepinnt waren. Manche Dinge wurden von anderen verdeckt.

Konzentriere dich auf das, worum es jetzt geht. „Stehen Cronus und Rhea unter Luzifers Kontrolle?“

„Ja, sicher.“

Endlich eine zusammenhängende Antwort.

„Aber ein Blinder kann keinen Blinden führen.“

Uuund … zurück auf Anfang. Weder Luzifer noch Cronus und Rhea waren blind. Baden versuchte es auf andere Weise. „Hades hat mir befohlen, ihm eine Münze zu beschaffen.“

„Also, bei mir brauchst du nicht zu schnorren.“ Abwehrend hob sie die Hände und wich vor ihm zurück. „Ich verprügle dich vielleicht mit ’nem Kopfkissenbezug voll Pennys, doch ich teile keinen Cent.“

„Ich bitte dich nicht um Geld. Ich bitte dich um Informationen.“ Er musste den unermesslichen Ozean ihres Wissens anzapfen. Irgendwie. „Denk nach. Warum sollte Hades auf eine bestimmte Münze aus sein?“

„Ist der auch pleite? Der Arsch! Wenn er mir die Diamanten klaut, die ich gestohlen habe, dann reiß ich ihm die Eier ab. Noch einmal!“

Ruhig … „Hör mir gut zu, Keeley. Ein Mensch hat diese Münze von Hades in seinem Besitz, und Hades will seinen superbesonderen Taler wiederhaben. Hat das Ding irgendwelche

übernatürlichen Kräfte?“ Könnte er sie zu seinem Vorteil einsetzen?

Sie blies ihm einen Kuss zu. „Ich bin mächtig und Furcht einflößend. Eine Königin unter den Unsterblichen! Mit den Angelegenheiten von Sterblichen befasse ich mich nicht.“

Tief durchatmen … „Vergiss den Menschen.“ Fürs Erste. „Ich soll einer Sirene die Zunge rausreißen. Warum befiehlt Hades mir eine solche Gräueltat?“

„Hallo! Weil zwei Zungen besser sind als eine.“ Zerstörung zwang ein Brüllen durch Badens Kehle, als eine Erinnerung aufstieg … Eine schwebende Keeley mit so dunkelrotem Haar, dass die Strähnen aussahen wie Ströme von Blut. Um sie herum hingen andere in der Luft mit angespannten Leibern, bebenden Gliedern … die Münder zu nicht enden wollenden Schreien verzerrt.

Einer nach dem anderen zerbarsten die Männer und Frauen, sodass Fleischbrocken und Gedärme auf ihn herabregneten – auf die Bestie. Blutbespritzt stand er da – der Einzige, der noch lebte.

Keeley lächelte ihn an. „Besser?“

„Viel besser.“ Er klatschte, voller Stolz auf sie, doch zugleich mit leisem Unbehagen. Wenn ihre Macht noch weiter zunahm, würde sie ihn besiegen können.

Jegliche Bedrohung musste eliminiert werden.

Jemand schnippte vor seinem Gesicht mit den Fingern; blinzelnd kehrte er in die Gegenwart zurück.

„Hey!“ Frühlings-Keeley musterte ihn. „Du hast hier gerade auf Zero Dark Thirty gemacht.“

„Ich bin mir nicht sicher, ob du den Begriff ver… Ach, vergiss es. Entschuldige bitte.“ Die Bestie hatte Keeley gekannt und sie bewundert. Musste sie durch Hades kennengelernt haben … musste mit Hades befreundet gewesen sein?

Die beste Gelegenheit, eine zukünftige Bedrohung loszuwerden. Selbst wenn die Bedrohung eine Verbündete ist.

Plötzlich juckte es ihm schmerzhaft in den Fingern, Keeley bei der Kehle zu packen und zuzudrücken.

Ihr Rückgrat wird einknicken wie ein Zweig.

Entsetzt bewegte Baden sich außer Reichweite. William hatte die Wahrheit gesagt. Eines Tages würde er die Beherrschung verlieren; er würde sich den Hass aller zuziehen. Die Schuld, die er jetzt mit sich herumtrug, war nichts im Vergleich zu der, die ihn dann niederdrücken würde.

Er musste die Festung verlassen, und diesmal musste er wegbleiben. Williams Sexmethode hatte einiges für sich, doch Baden wusste ohne jeden Zweifel, dass sie nicht die Antwort darstellte. Ja, auch wegen seiner überempfindlichen Haut, aber vor allem, weil er niemandem trauen konnte.

Wie gesagt – welche Ironie.

Luzifer würde weitere Auftragsmörder schicken. Es war nur eine Frage der Zeit.

Zerstörung hatte praktisch Schaum vorm Maul, scharrte mit den Hufen, wollte seine Stärke unter Beweis stellen. Sollen sie mich ruhig angreifen. Werden schon sehen, was passiert.

Lass mich raten. Du tötest. Die Schallplatte hatte einen Sprung. Die Bestie brauchte neues Material.

Bei Baden machte sich ein Gefühl des Verlusts breit. Seine Freunde würden nicht verstehen, warum er ihnen fernblieb. Ein weiterer „Urlaub“. Sie würden sich Sorgen machen, würden sich fragen, ob sie etwas falsch gemacht hatten.

Gemeinsam sind wir stark – oder wir fallen einer nach dem anderen.

Wie oft hatte Maddox, Hüter der Gewalt, diese Worte seit seiner Rückkehr gesprochen? Unzählige Male.

Seine Vergehen konnte er so nicht wiedergutmachen, aber wenigstens stellte er das Wohlergehen seiner Liebsten an oberste Stelle.

„Baden?“

Er wandte sich von Keeley ab und zog das Smartphone hervor, das Torin ihm gegeben hatte. Mit diesen neuartigen Technologien hatte er noch einige Grabenkämpfe auszutragen, aber er versuchte sein Bestes, eine Gruppennachricht zu versenden.

Versammling in funf Minuten

Er würde den anderen seine Situation mit Hades erklären. Mithilfe der Krieger, die sich weit länger in dieser Welt bewegten als er, würde er seinen ersten Schachzug planen, seinen ersten Punkt erzielen und mit allen Mitteln – ob fair oder unfair – darum kämpfen, in diesem Wettstreit mit Pandora die Führung zu behalten.

Je eher er gewann, desto eher konnte er sich von Zerstörung verabschieden und sicher zu seiner Familie zurückkehren.

3. Kapitel

„Alles, was ich von einem Mann will, ist zugleich – doch zu unterschiedlichen Zeiten – alles und nichts, manchmal und nie, aber immer.“

– Keeleycael, die Rote Königin

Katarina Joelle betete, das Ende der Welt möge hereinbrechen, während ihr Verlobter sein Ehegelübde rezitierte.

Aleksander Ciernik war ein abgrundtief böser Mann, und lieber hätte sie rostige Nägel geschluckt, als ihm ihr Leben zu versprechen. Doch er hatte sie vor die Wahl gestellt: Entweder sie heiratete ihn, oder sie durfte zusehen, wie er ihren Bruder Dominik folterte.

Anfang des Jahres hatte Dominik sich aus freiem Willen dazu entschlossen, für Alek zu arbeiten. Als sie Alek also ins Gesicht gelacht und gesagt hatte: „Wie du willst. Dann foltere ihn doch“, hatte er den Einsatz erhöht. Entweder sie heiratete ihn, oder sie durfte zusehen, wie er ihre geliebten Hunde folterte.

Pankhart! Bastard.

Sie hatte aufgehört zu lachen und begonnen, die BW – Bisswahrscheinlichkeit – zu kalkulieren.

Für Alek würde sie nie etwas anderes darstellen als ein Prestigeobjekt, das er seinen Freunden präsentieren konnte, wann immer ihm danach war. Er würde sie kreuzunglücklich machen. Aber ihre Hunde brauchten sie. Die Tiere hatten sonst niemanden.

Das Problem? Rettete sie die Hunde heute, konnte Alek ihnen genauso gut morgen wehtun. Oder an irgendeinem anderen Tag in der Zukunft. Er würde sie weiter mit dem Wohl ihrer Tiere bedrohen, um sie zu kontrollieren.

Doch wenn sie die Hunde heute rettete, würde sie Zeit gewinnen. Zeit, die sie darauf verwenden könnte, sie zu verstecken. Falls sie ihre Lieblinge denn jemals fand. Im Augenblick hielt Alek sie versteckt.

Jeden Tag behielten seine Schergen sie ununterbrochen im Auge, zweimal war es ihr jedoch gelungen, sich aus ihrer Suite zu stehlen und das Anwesen zu durchsuchen. Beide Male war sie erwischt worden, ohne dem Erfolg einen Schritt näher gekommen zu sein.

Ich werde so oder so gebissen.

Von Kindesbeinen an hatte sie ihrem Vater im Familienunternehmen geholfen, Drogenspür- und Wachhunde auszubilden. Nach ihrem Schulabschluss hatte sie die Zügel übernommen. Und trotz der zusätzlichen Last der Verantwortung hatte sie ihre Freizeit darauf verwendet, jene aggressiven, misshandelten Kampfhunde zu rehabilitieren, die der Rest der Welt bereits als zu gefährlich abgeschrieben hatte.

Drei dieser armen Kreaturen – Faith, Hope und Love – waren so verunstaltet gewesen, dass die meisten Leute nicht mal die cojones besaßen, sie anzusehen, geschweige denn, ihnen ein Zuhause auf Lebenszeit zu bieten. Und so hatte sie das Trio als ihre Haustiere adoptiert und sich von ganzem Herzen und mit ganzer Seele darum bemüht, ihnen das Happy End zu schenken, das sie verdienten. Dafür liebten die drei sie abgöttisch.

Dann hatte Alek die Tiere entführt und sie als Geiseln gegen sie verwendet. Zusätzlich hatte er ihr geschworen, er würde jeden Hund aufspüren, mit dem sie je gearbeitet hatte – jeweils eine Kugel im Schädel.

Sie liebte ihre Hunde, erinnerte sich an jeden einzelnen Namen, jede Tragödie, die sie in ihren jungen Jahren erlebt hatten, und jede persönliche Eigenheit. Außerdem stellte sich ein Hundetrainer immer vor seine Schützlinge.

Eine Lektion, die sie von ihrem Vater gelernt hatte.

Mr. Baker – ein kriecherischer Feigling auf Aleks Gehaltsliste, der sich seine Priesterweihe im Internet gekauft hatte – räusperte sich. „Ihr Gelübde, Miss Joelle.“

„Mrs. Ciernik“, fuhr Alek ihn an.

Sie lächelte humorlos. „Noch nicht.“ Bringe ich das wirklich über mich?

Als er ihr einen finsteren Blick zuwarf, rieb sie mit dem Daumen über den Spruch, der auf einem ihrer Handgelenke tätowiert stand. Es war einmal …

Eine Hommage an ihre slowakische Mutter, eine Frau, die den Mut gehabt hatte, einen amerikanischen Hundetrainer zu heiraten, trotz ihrer sehr verschiedenen Hintergründe und Hautfarbe, ungeachtet der Sprachbarriere. Edita Joelle hatte Märchen geliebt, und jeden Abend nach der Vorlesestunde für sie hatte ihre Mutter verträumt geseufzt.

Selbst unter der hässlichsten Schale lässt sich Schönheit entdecken. Vergiss das niemals.

Katarina hatten die Geschichten nicht wirklich gefallen. Eine Prinzessin in Nöten, die von einem Prinzen gerettet wurde? Nein! Manchmal musste man auf ein Wunder warten, aber manchmal musste man auch selbst das Wunder sein.

In Alek fand sie in diesem Moment keinerlei Schönheit. Sah kein Wunder am Werk.

Spielte es tatsächlich eine Rolle? Sie schrieb ihre eigene Geschichte, sie entschied über die Wendungen darin – und oft erwies sich ein scheinbares Ende als Neubeginn. Jeder Neubeginn hatte das Potenzial, sich als ihr Happy End zu erweisen.

Dass der heutige Tag einen Neubeginn darstellte, daran bestand kein Zweifel. Eine neue Geschichte. Vielleicht würde sie, ganz wie die alten Märchen, in Blut und Tod enden, aber sie würde enden.

Solange ein Ende absehbar ist, kann ich alles ertragen.

Kräftige Finger schlossen sich um ihr Kinn und zwangen ihren Kopf nach oben. Ihr Blick traf den von Alek, der sie mit einer Mischung aus Lust und Wut betrachtete, bei der ihr ein Schauer über den Rücken lief.

„Sprich dein Gelübde, princezná.“

Sie hasste diesen Spitznamen. Sie war weder verwöhnt noch hilflos. Sie arbeitete schwer und viel. Oft hatten ihre Kunden sie als Hundemutter bezeichnet. Ein Kompliment. Mütter arbeiteten schwerer als irgendjemand sonst.

Und ich liebe meine Babys. Hunde stellten eine bessere Gesellschaft dar als die meisten Menschen, Punkt. Besser als Alek auf jeden Fall.

„Lass mich noch länger warten, und es geschieht auf eigene Gefahr“, warnte er sie.

Leise Worte, ein deutliches Versprechen.

Sie riss sich aus seinem Griff los. Der Mann war eine Plage für die Menschheit, und nichts würde sie dazu bewegen, etwas anderes vorzugeben. Erst recht nicht vor dem Traualtar, wo sie eigentlich mit ihrer Jugendliebe Peter stehen sollte.

Peter, der immer zu Scherzen aufgelegt gewesen war, immer gelacht hatte.

Ihre Trauer stachelte sie an. „Bei dir geschieht alles auf meine Gefahr.“

Dieser Mann hatte sie bereits ruiniert. Dominik hatte ihr gesamtes Geld für Drogen ausgegeben und all ihre Konten leer geräumt, bevor er den Zwinger an Alek verkaufte, der ihn niederbrannte.

Aleks Augen verengten sich zu Schlitzen. Ihr Anblick mochte ihm gefallen, aber ihre Ehrlichkeit wusste er nicht zu schätzen.

Kleine Notiz am Rande: Ihn zu provozieren war das Einzige, was ihr noch Freude bereitete.

„Ich bin mir nicht sicher, ob dir klar ist, welche große Ehre ich dir zuteilwerden lasse, Katarina. Andere Frauen würden töten, um in deine Position zu gelangen.“

Vielleicht. Wahrscheinlich. Mit seinem hellen Haar, den dunklen Augen und den klaren Gesichtszügen sah er aus wie ein Engel. Aber jene anderen Frauen hatten keine Ahnung, was für ein Monster dahinter lauerte … bis es zu spät war.

Sie hatte es von Anfang an gesehen, und ihr mangelndes Interesse hatte für ihn eine Herausforderung dargestellt. Aus keinem anderen Grund hätte ein Mann von eins achtundsiebzig – der sich bisher nur mit kleinen Frauen eingelassen hatte, um größer zu wirken – sich für eine interessiert, die genauso groß war wie er.

Obwohl sie immer eher der Typ für Jeans und Sneakers gewesen war, hatte sie so eine Ahnung, dass sie in naher Zukunft eine Vorliebe für Stilettos entwickeln würde.

„Ehre?“, erwiderte sie schließlich. Seine letzten drei Freundinnen waren allesamt auf verdächtige Weise ums Leben gekommen. Ertrinken, Autounfall und Überdosis. „Das ist deiner Meinung nach das richtige Wort?“

Große Ehre.“

Seinen Geschäftspartnern gegenüber bezeichnete Alek sie gern als seine Katalogbraut. Und in gewisser Weise stimmte das sogar. Vor einem Jahr hatte er nach Wachhunden gesucht, vorzugsweise aus slowakischer Hand, denn auch seine Wurzeln lagen in diesem Land. Dabei war er auf der Website von Pes Deň gelandet und hatte entdeckt, dass sie dafür bekannt war, die Besten der Besten auszubilden. Statt wie üblich über das Kontaktformular eine Anfrage zu schicken, war er in den Flieger gestiegen, um sie persönlich zu treffen.

Schon nach einer Unterhaltung hatte sie den Verdacht gehegt, er würde ihre Tiere misshandeln. Also hatte sie sein Angebot abgelehnt.

Wenig später war Peter in einer schmutzigen Seitenstraße ums Leben gekommen, als scheinbar zufälliges Opfer eines Raubüberfalls.

Kurz darauf hatte ihr Bruder die Einladung erhalten, in Aleks Import-Export-Unternehmen einzusteigen – das sich mit dem Import von Drogen und prostitútky in die USA und dem Export von Bargeld in Millionenbeträgen in Geldwäscheunternehmen oder Offshore-Konten beschäftigte. Wenig überraschend war Dominik rasch süchtig nach Aleks Heroin geworden.

Bloß ein weiteres Mittel, mich zu manipulieren.

Als Alek sie auf sein Anwesen in New York bestellt hatte – Dominiks Schulden bei mir gehen in die Tausende, du wirst herkommen und sie für ihn begleichen –, hatte sie erneut abgelehnt. Noch in derselben Woche war ihr geliebter Pyrenäenhund Midnight vergiftet worden. Sie wusste, dass es Dominik – und damit Alek – gewesen war. Von keinem anderen hätte das lange misshandelte Tier einen Leckerbissen genommen.

Rasch hatte sie die restlichen Hunde bei anderen Leuten untergebracht. Doch ihr törichter Bruder kannte die wenigen Menschen, denen sie vertraute, und hatte Alek im Austausch gegen einen kleinen Schuldenerlass deren Aufenthaltsort verraten. Immer einen Schritt voraus.

„Ich bin aus genau einem Grund hier“, sagte sie voller Hass auf ihn, auf diese ganze Situation, „und der hat mit Ehre nichts zu tun.“

Mr. Baker wich aus der unmittelbaren Gefahrenzone zurück.

Brutal packte Alek sie bei der Kehle und drückte fest genug zu, um ihr die Luft abzuwürgen. „Ich an deiner Stelle würde äußerst vorsichtig vorgehen, princezná. Das hier kann für dich ein sehr guter Tag werden, aber auch ein sehr schlimmer.“

„Das Ehegelübde“, drängte Mr. Baker. „Sagen Sie es.“

Alek drückte noch einmal zu, bevor er sie losließ.

Einatmen … und aus … in wilder Verzweiflung huschte ihr Blick durch die Kapelle. Überall waren bewaffnete Wachen postiert. Auf den Bänken reihten sich Aleks Geschäftspartner, weitere Leibwächter und einige andere seiner Schergen. Die Männer trugen Anzüge, ihre Begleiterinnen waren in Abendgarderobe gehüllt und mit teurem Schmuck behängt.

Wenn sie sich weigerte, würde man sie umbringen – aber nur, wenn sie Glück hatte. Mit Sicherheit jedoch würde man ihre Babys töten.

Der fein geschnitzte Altar der Kirche war von wunderschönen Buntglasfenstern eingerahmt. Neben diesen Fenstern standen Marmorsäulen, die von glitzernden rosa Adern durchzogen waren, und in der Mitte zwischen diesen Säulen hing ein Gemälde vom Baum des Lebens. Auf dem Fries, das sich bis zur gewölbten Decke zog, waren Engel im Krieg mit Dämonen dargestellt, alles wurde abgerundet von den gewundenen Blattgoldverzierungen im elfenbeinweißen Bodenbelag.

Der Raum verhieß einen Neuanfang, nicht Verdammnis, und doch fühlte sie sich verdammt bis auf den Grund ihrer Seele.

Rette die Hunde. Rette Dominik.

Autor