Golden Hill Kisses

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»Einfühlsam, humorvoll und wortgewandt entführt Nicole Böhm ihre Leser:innen in die Idylle der Golden Hill Ranch.« SPIEGEL-Bestsellerautorin Laura Kneidl

Nachdem Ajden das Herz gebrochen wurde und ihn seine Arbeit bis an den Rand der Erschöpfung getrieben hat, braucht er dringend eine Pause. Daher willigt er sofort ein, als sein Freund Parker ihn bittet, zu ihm auf die Golden Hill Ranch zu kommen. Das ist genau das Richtige: Ruhe. Natur. Berge. Wildnis. Doch in Montana angekommen, trifft Ajden auf die Reporterin Arizona und wird direkt aus dem Sattel geworfen. Denn die beiden sind sich schon einmal begegnet, und das würde Ajden am liebsten vergessen …


  • Erscheinungstag 26.04.2022
  • Bandnummer 2
  • ISBN / Artikelnummer 9783745702996
  • Seitenanzahl 352
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

TRIGGERWARNUNG:
In einigen Szenen dieses Romans werden sexuelle Belästigung und Gewalt thematisiert.

Für alle, die Seesterne zurück ins Meer werfen.

1.

Arizona

Ich starrte auf den Monitor und das geöffnete Schreibprogramm vor mir. Seit über drei Stunden saß ich an diesem Artikel und tippte mir die Seele aus dem Leib. Mir war schwindelig, weil ich derart konzentriert arbeitete, dass ich kaum zwischendurch Luft holte, geschweige denn etwas aß oder trank. Das war der absolute Wahnsinn! Nun verstand ich endlich, was dieser Flow-Zustand bedeutete, von dem man oft sprach. Wenn die Umgebung in den Hintergrund rückte, die Geräusche verstummten, sich die Wahrnehmung auf eine einzige Sache reduzierte und alles andere unwichtig wurde. In meinem Hirn ratterten die Worte nur so runter, ich konnte meine Finger gar nicht schnell genug über die Tasten bewegen. Ich vertippte mich, löschte das Wort, schrieb es von Neuem. Weiter und weiter und weiter.

Thomas Valleys falsches Spiel mit der Hoffnung.

Der Puls hämmerte in meinen Ohren, mir rann der Schweiß den Nacken hinunter. Meine Augen brannten, weil ich seit einer gefühlten Ewigkeit auf den Monitor starrte, aber ich konnte und wollte nicht aufhören. Dieser Artikel musste aus mir heraus, egal wie.

Thomas Valley scheint einem Bilderbuch entsprungen zu sein. Ein Lächeln wie aus der Zahnpasta-Werbung. Strahlend, wann immer man ihn sieht. Ein Mann mit Herz, der Millionen für wohltätige Zwecke spendet. Erfolgreich als Unternehmer, gesegnet mit einer großartigen Familie; mit einer schönen Frau, drei Kindern. Kein Makel, nirgends, nie ein Konflikt mit dem Gesetz. Ein Saubermann durch und durch, über jeden Zweifel erhaben.

Ich ließ mich weiter auf den Rausch ein. Noch nie hatte ich mich derart an einer Recherche festgebissen wie an dieser. Noch nie hatte ich so viel von mir gegeben. Doch das spielte gerade keine Rolle. Ich schrieb, bis nichts mehr aus mir herauskam und ich die letzten Sätze tippte. Zum Abschluss setzte ich den finalen Punkt und hielt inne.

Das war es.

Ich war fertig.

Es war vollbracht.

Ich rieb mir übers Gesicht und lehnte mich im Stuhl zurück. Er quietschte ein wenig, ich sollte mich endlich um einen neuen kümmern, aber auf diesem Ding saß ich schon, seit ich vor fünf Jahren hier beim Explorer angefangen hatte. Der Stuhl hatte einen Abdruck von meinem Hintern und Flecken meiner Essensreste auf dem Polster, ich wollte und konnte ihn nicht hergeben.

Ich rieb mir übers Gesicht und sah an die gegenüberliegende Wand, wo verschiedene ausgedruckte Artikel unserer Redaktion hingen. Immer, wenn jemand von uns eine besonders gute Story ausgrub, kam diese an die Wall of Truth, wie wir sie nannten. Es war eine kleine interne Auszeichnung.

»Da wirst du es morgen auch drauf schaffen«, erklang Chris’ Stimme hinter mir.

Ich drehte mich auf meinem Stuhl herum und blickte meinem Chef und gleichzeitig besten Freund in die Augen. Er sah mal wieder großartig aus. Groß, durchtrainiert, dunkle Haare und immer dieses Grinsen im Gesicht, als würde er all die verborgenen Sehnsüchte und Wünsche der Menschen kennen.

Entgegen dem allgemeinen Büroklatsch lief nichts zwischen uns. Hatte es nie, würde es nie, auch wenn es für manche schwer schien, dass ein Hetero-Mann mit einer Hetero-Frau befreundet sein konnte ohne irgendwelche sexuellen Schwingungen. Er lächelte und deutete mit einem Kopfnicken auf meinen Monitor.

»Wie sieht es aus?«

»Ich bin fertig«, sagte ich.

Sein Lächeln wurde breiter. Er trat näher, hob die Hand, und ich schlug mit ihm ein. »Gratuliere, Arizona.«

»Danke! Ohne deine Unterstützung hätte ich das nie geschafft.«

Er winkte ab, lief durch das Großraumbüro hinüber in die Küchenecke und öffnete den Kühlschrank. Ich hörte Glas klirren und kurz darauf das Ploppen eines Korkens.

Mir wurde warm ums Herz, und ich atmete erleichtert durch. Mein Blick wanderte zurück zu meinem Bildschirm, wo der Artikel noch geöffnet war. Ein Klick, und ich würde ihn in unser Redaktionssystem hochladen. Ab morgen konnte er überall gelesen werden. In unserer gedruckten Zeitung genau wie auf unserem Online-Portal mit über zwei Millionen Abonnenten.

Dass der Explorer so erfolgreich geworden war, war allein Chris zu verdanken. Er war vor knapp drei Jahren aus Chicago nach Denver gezogen, um den Posten als Chefredakteur zu übernehmen, und hatte uns durch seinen unermüdlichen Einsatz gerettet. Der Explorer war einst die meistgelesene Tageszeitung in Denver und Umgebung gewesen, hatte aber in den letzten Jahren große Abonnentenrückgänge verbucht. Gedruckte Zeitschriften waren nicht mehr zeitgemäß, die Leute lasen lieber E-Paper oder recherchierten gleich online auf anderen Portalen. Als Chris den Laden übernommen hatte, hatte er fast alles umgekrempelt. Es gab zwar immer noch eine gedruckte Ausgabe, aber er hatte auch den Online-Auftritt massiv überarbeitet. Mittlerweile wurden wir landesweit gelesen. In fast jeder größeren Stadt der USA hatten wir freie Mitarbeiter, die täglich Storys für uns ausgruben, den Blog mit Reise-, Essens- und Beautytipps füllten oder andere interessante Beiträge verfassten. Wir hatten Rubriken über die Musik- und Filmindustrie, genauso wie Reportagen über Klimaerwärmung, Umweltverschmutzung und politische Themen. Chris legte großen Wert auf gut recherchierte Texte und ansprechende Bilder, und das merkte man. Unser Angebot war breit gefächert, was viele Leser und Leserinnen anzog, weil jeder etwas bei uns fand. Zudem engagierten wir uns für wohltätige Zwecke und spendeten einen Teil unserer Einnahmen. Unsere Instagramseite hatte vor einem Monat die Dreihunderttausend-Follower-Marke erreicht und wuchs beständig weiter. Chris hatte genau die Veränderung gebracht, die der Explorer so dringend benötigt hatte. Er hatte meinen Job und den der anderen fünf fest angestellten Redakteurinnen und Redakteure gerettet. Und er hatte mir bei meinem bisher größten Artikel geholfen.

Chris kam mit zwei gefüllten Sektgläsern zurück an meinen Tisch. Er ließ sich auf der Kante nieder und reichte mir ein Glas, das ich lächelnd annahm.

»Auf dich«, sagte er.

»Danke.« Ich stieß mit ihm an, trank einen Schluck des herb prickelnden Sekts und verzog vor Genuss das Gesicht. Ich sah noch mal zur Wall of Truth und versuchte mir vorzustellen, wie mein Artikel dort bald aufgehängt würde.

»Dir ist schon klar, dass du dich nach der Veröffentlichung vor Headhuntern nicht retten können wirst?«, fragte Chris. »Mit so einem Stoff macht man Karriere. Damit könntest du den Pulitzer bekommen.«

Ich zuckte. Der Pulitzerpreis war so etwas wie der Oscar der Journalisten und natürlich ein Traum. Chris hatte vor fünf Jahren einen erhalten.

»Die Headhunter können mich jagen, soviel sie wollen. Ich bleibe natürlich dem Explorer treu.«

»Das sagst du jetzt, aber warte mal ab, wer alles auf der Matte stehen wird.«

»Und wenn es die New York Times persönlich wäre, ich bleibe hier.« Ich hob mein Glas und trank den Sekt aus. Der Alkohol wärmte meinen Bauch und kribbelte angenehm in mir nach. Heute würde es mir schwerfallen, abzuschalten. Ich war zwar geistig ausgepowert, aber dennoch total aufgeputscht von dem ganzen Adrenalin, das ich in den letzten Stunden ausgeschüttet hatte. Seit ich diese Story vor rund drei Monaten angefangen hatte, war ich wie im Rausch gewesen und hatte mich so an dieser Sache festgebissen, dass ich kaum noch an etwas anderes hatte denken können.

Ich sah in mein leeres Glas und dann zu Chris. »Ich fühl mich, als stünde ich neben mir.«

Er lachte leise. »Das kenn ich. Auf der einen Seite ist man innerlich leer und gleichermaßen bis zum Überlaufen voll. Man ist nervös, müde, angespannt, weil man weiß, dass dieser Artikel so viel verändern wird.«

»Ja, es ist ein wenig beunruhigend.«

»Du tust das Richtige.«

»Ich weiß. Dennoch ist es merkwürdig. Thomas Valleys Leben wird sich von Grund auf ändern. Wenn seine Frau das liest … und seine Kinder.« Ich durfte gar nicht daran denken, dass ich damit möglicherweise seine Ehe und die Familie ruinierte, aber im Grunde hatte er das selbst zu verantworten. »Morgen wird die Staatsanwaltschaft auf seiner Matte stehen.«

Das war ein Deal, den wir eingegangen waren. Als mir die ersten Infos über Valley zugetragen worden waren, wusste ich sofort, dass ich etwas Großem auf der Spur war. Chris und ich hatten lange darüber geredet und beschlossen, die Polizei und Staatsanwaltschaft mit einzubeziehen. Da ich die Recherchearbeit geleistet hatte, durfte ich exklusiv berichten. Wir hatten natürlich auch das Timing abgesprochen. Nach dem morgigen Tag würden zwar auch alle großen Zeitungen des Landes dieses Thema aufgreifen, aber ich blieb die Erste, die darüber geschrieben hatte.

»Lass uns etwas trinken gehen«, sagte Chris und erhob sich. »Ich glaube, du brauchst mehr als das.« Er stellte sein leeres Sektglas weg und reichte mir die Hand. Ich lächelte, ergriff sie und ließ mich von ihm hochziehen.

Gemeinsam verließen wir das Büro, und Chris schloss hinter uns ab. Der Explorer hatte die beiden oberen Etagen des Independence Plaza im Business District gemietet. Außer uns gab es hier noch Immobilienfirmen, Broker, eine Arztpraxis, einige kleinere Unternehmen und ein Restaurant im Erdgeschoss. Ich mochte es, hier zu arbeiten. Das Haus war modern, ruhig – trotz seiner Lage mitten in der City –, und man konnte alles erreichen, was man brauchte. Wir traten in den Aufzug und fuhren nach unten ins Parkhaus.

»Oh, Beyond Sanity kommt in die Stadt«, sagte Chris, als er seine Mails auf dem Handy checkte.

»Was?«

Er drehte sein Telefon herum, wo er einen Newsletter mit den kommenden Veranstaltungen aufgerufen hatte. Ganz oben prangte das Bandlogo.

»Oh mein Gott! Bekommst du Karten? Wann ist das Konzert? Akkreditiere mich! Bitte! Ich schenk dir mein erstgeborenes Kind!« Ich war Fan, seit ich die Band vor ein paar Jahren in einem kleineren Club gehört hatte. Damals waren sie noch ziemlich unbekannt gewesen, im Gegensatz zu heute, wo sie die größten Konzerthallen füllten.

»Das Konzert ist erst im Winter. Über eine Akkreditierung wirst du dich mit Joanne streiten müssen.«

Joanne berichtete über Kulturevents, und eigentlich stand es ihr zu, auf die Konzerte und die Theatervorstellungen zu gehen. Aber ich musste da hin!

»Okay, dann werde ich ihr mein erstgeborenes Kind schenken.«

»Glaub nicht, dass sie noch mehr zu ihren dreien braucht, aber versuch es.«

»Ich flipp aus, wenn ich da hindarf. Das wäre doch perfekt als nächstes Projekt für mich. Ich begleite die Band backstage und schreibe exklusiv über das Konzert.«

Chris schnaubte belustigt und steckte das Handy weg.

»Was denn?«, fragte ich. »Du sagst selbst, dass es eine meiner Stärken ist, größere Reportagen aufzuziehen, und es macht mir Spaß.«

»Ja, aber tritt erst mal auf die Bremse. Du bist gerade gehyped von allem, aber diese Energie wird nicht ewig so bleiben.«

Ich rollte mit den Augen und folgte ihm ins Parkhaus. »Na gut. Dann mach ich dich gleich so besoffen, dass du zu allem Ja und Amen sagst.«

Jetzt lachte er laut und schallend. Chris würde vermutlich nur Wasser zu sich nehmen. Er ließ sich selten gehen, und wenn, achtete er darauf, es in der richtigen Umgebung und mit den richtigen Leuten zu tun. Seit ich ihn kannte, hatte ich ihn nur einmal angetrunken erlebt.

»Lass uns ins Greens, da war ich schon ewig nicht mehr«, sagte Chris.

»Sehr gut. Von da aus kann ich auch gleich heimlaufen.« Das Greens war ein netter, gemütlicher Pub, der nur zwei Straßen von meiner Wohnung entfernt lag. Wir hatten es im letzten Sommer auf unserem Reiseblog als Geheimtipp vorgestellt, und seither war es nicht mehr so geheim. Aber es freute mich für die Besitzer Carol und Sue, die den Laden mit viel Leidenschaft betrieben. Ich folgte Chris zu seinem Wagen und grinste breit, als ich einstieg. Der heutige Tag war aufregend, verwirrend, spannend und elektrisierend gewesen. Er war einer jener Tage, die einem ewig im Gedächtnis blieben, von denen man noch Jahre später wusste, was man für Kleidung getragen oder zu Abend gegessen hatte.

Es war der erste Tag meiner Zukunft. Ab morgen würde sich so vieles für mich verändern.

2.

Ajden

Ich sah auf mein Handy und checkte noch mal die Mail mit allen Daten, die Thomas mir vorhin geschickt hatte: Es ist alles bereit für den Abflug morgen Abend. Ich werde gegen sechs am Flughafen sein und freue mich, dich zu sehen, Thomas.

Ich freute mich auch. Es war nicht selbstverständlich, dass jemand wie Thomas Valley sich persönlich um solche Abläufe kümmerte, aber es war sein größter Wunsch gewesen, dabei zu sein, wenn in einer Woche seine Wasserfilter das erste Mal zum Einsatz kämen. Morgen Abend würden wir gemeinsam nach Indonesien fliegen und alles vorbereiten. Eine Woche später sollten dann die ersten dreihundert Filter geliefert werden, die im Moment noch produziert wurden. Thomas’ Erfindung war einzigartig und absolut bahnbrechend. Die Filter reinigten selbst stark verschmutztes und mit giftigen Substanzen versetztes Wasser und machten es dadurch genießbar, was eine unglaubliche Hilfe in den Teilen dieser Welt war, in denen die Menschen keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser hatten. Zudem waren sie klein, leicht, günstig in der Herstellung und ließen sich sowohl an Flaschen als auch an Hähnen einfach und unkompliziert installieren.

Ich sah auf meine Uhr und trank einen Schluck von meinem Wasser, das ich mir eben bestellt hatte. Es war erst kurz nach acht. Ich würde hier im Greens, meinem Lieblingspub in Denver, den Tag ausklingen lassen und dann zu meinem Dad nach Hause fahren. Hoffentlich würde die Reise nach Indonesien mir dabei helfen, meinen Kopf freizubekommen und mein Herz von meiner Ex Liz loszureißen.

Ich scrollte weiter durch mein Handy und blieb an der letzten Nachricht hängen, die sie mir vorhin geschickt hatte.

Du fehlst mir, Ajden. Wir können das noch immer schaffen. Ich glaube an uns.

Ich schnaubte und rieb mir über die Stirn. Mein Herz zog sich zusammen, und das altbekannte Kribbeln schoss mir durch den Körper. Liz und ich hatten die letzten zehn Jahre gemeinsam verbracht. Sie war die erste Frau gewesen, mit der es mehr geworden war als nur zwangloser Sex. Wir hatten zusammen die Welt bereist, hatten unzähligen Menschen geholfen, mit angepackt, wo wir gebraucht wurden. Wir hatten beim Brunnenbau in Somalia knietief im Matsch gesteckt und in einer zugigen alten Berghütte in Myanmar übernachtet, weil wir von einem Unwetter überrascht worden waren und es nicht mehr zurück ins Dorf geschafft hatten. Wir hatten gekämpft, die Zähne zusammengebissen, wenn es schwer wurde, und so ziemlich jede Krise gemeistert. Wir waren ein perfektes Team gewesen, das sich immer aufeinander verlassen konnte, und dann war alles von einem Tag auf den anderen zerstört worden. An diesem einen elenden Abend, der nun schon fast ein Jahr zurücklag.

Noch immer hatte ich die Bilder davon glasklar im Kopf. Liz, die ihre Beine um diesen Typen geschlungen hatte, während er sich auf und in ihr bewegte. Erst hatten sie mich nicht bemerkt, aber als ich rückwärts gegen den Türrahmen gestolpert war, hatte sie aufgeblickt.

Danach war es zwischen uns hin und her gegangen. Ich hatte mich abgewandt, sie war auf mich zugekommen und hatte mich wieder um den Finger gewickelt. Liz wollte mich im Grunde nur, wenn sie mich nicht haben konnte. Sobald ich einen Schritt auf sie zumachte, blockte sie ab. Mein Verstand begriff sehr wohl, was sie tat, aber mein verdammtes Herz machte immer einen Hüpfer, wenn eine Nachricht von ihr einging.

So wie heute.

Mein Finger schwebte über Liz’ Nachricht und dem Löschknopf, aber ich drückte ihn nicht. Als würde mein Körper sich weigern, einen Schlussstrich unter diese Beziehung zu ziehen. Es war gut, dass Liz gerade in Indien war und ich hier. Fast vierzehntausend Kilometer Abstand zwischen ihr und mir erschienen mir ausreichend.

Ich legte das Handy weg und sah mich in der Kneipe um. Das Greens war recht klein und urig, was ich sehr mochte. Es wurde von zwei jungen Frauen betrieben, die jeden Abend hinter der Theke standen und alles am Laufen hielten. An den Wochenenden war der Laden meist so rappelvoll, dass man kaum noch einen Platz bekam.

Ich trank einen weiteren Schluck Wasser, merkte aber, dass ich heute etwas Stärkeres brauchte. Ich sah zu Carol, die bediente, und winkte sie heran.

»Könnte ich ein Bier haben, bitte?«

»Ja, klar. Blue Moon, okay?«

»Sicher.« Die Marke war mir egal, Hauptsache, ich konnte ein wenig abschalten und meine Gedanken auf das lenken, was vor mir lag, statt sie in der Vergangenheit bei Liz zu lassen. Wie aufs Stichwort vibrierte mein Handy von Neuem. Es war eine weitere Nachricht von Liz.

Was machst du gerade?

»Mich volllaufen lassen«, murmelte ich und sah aufs Display.

Carol stellte mir das Bier hin, das ich dankend annahm. Ich trank den ersten Schluck. Der herbe Alkohol rann mir rau die Kehle hinunter und spülte ein wenig den Druck weg, der mir seit Wochen auf der Seele brannte.

Die Türglocke läutete, und ich blickte in den Spiegel hinter der Theke, um zu sehen, wer in die Bar gekommen war. Ein kleiner irrationaler Teil von mir hoffte, dass es Liz sein könnte. Sie wusste, dass ich gerade in Denver war, um meine Sachen aus ihrem Apartment zu holen, ehe ich vorübergehend bei Dad einziehen würde. Er wohnte in einem schönen Haus etwas außerhalb von Denver, das für ihn allein sowieso zu groß war. Früher hatte meine Schwester Riley auch bei ihm gewohnt, aber sie studierte zurzeit an einer Musicalschule in New York City.

Allerdings kam nicht Liz in die Bar, sondern ein junger Mann und eine Frau traten gemeinsam ein. Sie lachten über irgendetwas und wirkten, als hätten sie den Spaß ihres Lebens. Mein Blick heftete sich auf die beiden, während sie sich nach einem freien Platz umsahen. Eine Woge aus purem Neid überkam mich. Weil ich auch mal mit Liz so umgegangen war. Weil wir dieses Paar gewesen waren, das alle Blicke auf sich zog, egal welchen Raum sie betraten. Weil wir so vertraut gewesen waren und uns ohne viele Worte verstanden hatten.

»Scheiße.« Ich trank erneut von meinem Bier und wusste jetzt schon, dass es nicht bei diesem einen bleiben würde. Um diesen Druck in mir runterzuspülen, brauchte ich viel mehr als das.

Die beiden Neuankömmlinge wählten einen Tisch links von mir, in einer der Nischen. Er legte die Hand auf ihren unteren Rücken, zog den Stuhl für sie hervor, und sie nickte ihm dankbar zu. Wie gut die beiden zusammen aussahen. Er war groß gewachsen, dunkelhaarig, trug legere Jeans und ein lockeres Hemd, und sie hatte rote gelockte Haare, die sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Ihre helle Haut stand in einem strahlenden Kontrast zu der dunklen Kleidung, die sie trug. Die grünblaue leichte Jacke passte genauso perfekt zu ihr wie die olivfarbene Bluse und die engen Jeans, die ihre schlanken Beine betonten.

Carol trat zu den beiden an den Tisch, nahm die Bestellung auf und verschwand dann wieder. Ich spähte zu ihnen hinüber und war völlig fasziniert von ihrer Dynamik. Vielleicht lag es an der Art, wie sie miteinander umgingen. Diese Vertrautheit und Lockerheit. Es gab nichts Schöneres, als einen Menschen so gut zu kennen, dass man sich ihm voll und ganz hingeben konnte. Man teilte gemeinsame Erinnerungen, wusste, wenn es dem anderen schlecht ging, und wurde selbst jedes Mal aufgefangen, wenn man es brauchte. Man ging durch Höhen und Tiefen des Alltags und löste gemeinsam alle Probleme, die sich einem in den Weg stellten.

Auf einmal blickte die Frau hoch und mir direkt in die Augen. Sie musste bemerkt haben, wie ich sie musterte. Ich räusperte mich, kam mir schäbig vor, weil das eigentlich nicht meine Art war. Sie lächelte breiter, und ich war mir nicht sicher, ob es noch ihrer Begleitung galt oder mir. Flirtete sie womöglich mit mir? Ernsthaft? Während ihr Freund neben ihr saß?

Ich schnaubte, wandte mich ab und … Mein Handy vibrierte wieder. Ich drehte es herum. Natürlich war es eine weitere Nachricht von Liz.

Ich vermisse dich so, Ajden. Wenn du nur hier sein könntest.

Ich kniff mir in den Nasenrücken, massierte die Stelle und überlegte, was ich tun sollte. Wenn ich ihr antwortete, würden wir früher oder später telefonieren, und wenn ich ihre Stimme hörte, würde es nur noch mehr wehtun. Sie würde mir sagen, wie leid es ihr tat und dass ich ihr bitte vergeben solle, und ich würde mir genau das überlegen, weil ich ein Volltrottel war und …

»Kann ich noch ein Haussandwich haben, bitte?«, fragte jemand neben mir. Ich blickte auf und zuckte zusammen. Es war die Rothaarige, die eben mit dem Typen hereingekommen war. Ich sah an ihr vorbei zu ihm, aber ihr Begleiter saß nach wie vor am Tisch und tippte auf seinem Handy herum.

»Natürlich«, sagte Carol, die gerade die Getränke für die beiden mischte. »Ich bring es dir.«

»Danke.« Die Rothaarige sah mich an und heftete ihre moosfarbenen Augen auf mich. Mich schauderte, weil … Ja, keine Ahnung, warum. Irgendetwas an ihrer Art ließ ein angenehmes Kribbeln auf meiner Haut entstehen. Vielleicht war es diese Leichtigkeit und Freude, die sie ausstrahlte. Als hätte sie heute den besten Tag ihres Lebens und würde jede Minute davon genießen.

»Hi«, sagte sie zu mir.

»Hi«, erwiderte ich zögernd und merkte, wie sich meine Finger enger um die Bierflasche schlossen.

Sie legte den Kopf schief, musterte mich kurz und kaute auf ihrer Unterlippe herum. Erneut fragte ich mich, ob sie gerade mit mir flirtete, aber ich war zu sehr aus der Übung, um das einschätzen zu können. Die letzten Jahre hatte es nur eine für mich gegeben, und ich wäre nie auf die Idee gekommen, nach rechts oder links zu blicken.

Die Fremde zwinkerte mir zu, nahm ihre Getränke von Carol entgegen und kehrte zu ihrem Platz zurück. Der Mann sah kurz auf, lächelte, als sie zu ihm ging, und griff nach dem Glas. Sie stießen miteinander an, lachten erneut, und wieder strömte diese Vertrautheit um sie herum. Ich schnaubte, weil ich es ätzend fand, wenn sie wirklich mit mir geflirtet hatte, während ihr ahnungsloser Freund nur ein paar Meter entfernt auf sie wartete. Das war genau das Verhalten, das Liz und mich auseinandergebracht hatte, und ich würde den Teufel tun und ein Teil davon werden. Ich trank meine Flasche aus und starrte auf die Theke. Ich sollte nach Hause gehen, aber vor dem Gedanken daran, aufzustehen und in ein leeres Heim zu treten, graute es mir.

»Brauchst du noch eins?«, fragte Carol mich, weil sie bemerkt hatte, dass ich ins Nichts starrte.

Nein. Geh heim.

»Ja«, sagte ich stattdessen.

Sie lächelte, nahm die leere Flasche und gab mir eine volle.

Vom Nachbartisch aus erklang ein helles Lachen und zog von Neuem meine Aufmerksamkeit auf sich. Ich versuchte, es auszublenden, aber es gelang mir kaum, also spähte ich wieder hinüber. Der Typ hatte einen Arm lässig über der Stuhllehne liegen, während die Rothaarige die Beine übereinandergeschlagen hatte und ihm zuhörte. Dabei zwirbelte sie eine Strähne um ihren Finger und wippte mit einem Fuß. Ich könnte schwören, dass sie mich aus dem Augenwinkel beobachtete. Es kam mir vor, als würde sie wie zufällig zu mir herüberschauen, aber ich konnte mich auch täuschen.

»Die beiden sind übrigens kein Paar«, sagte Carol.

»Was?«

Ich blickte auf. Sie hielt einen Teller mit dem bestellten Sandwich in der Hand und lächelte mich an. »Die kommen öfter her. Sie sind nur Freunde.«

»Ich … Warum erzählst du mir das?«

Carol zwinkerte mir zu, als wäre das mehr als offensichtlich, und brachte das Sandwich hinüber. Als sie das Essen auf den Tisch stellte, war mir der Blick auf die Frau für einen Moment verwehrt.

Die beiden sind kein Paar.

Nicht, dass es eine Rolle spielte, aber es beruhigte mich dennoch, dass sie nicht vor den Augen ihres Freundes mit einem anderen flirtete. Ich nahm einen Schluck und schüttelte mich unwillkürlich, weil der Alkohol langsam kickte.

Nach diesem Drink mache ich Schluss.

Mein Handy vibrierte erneut. Ich schloss die Augen, denn es war mir klar, dass es schon wieder Liz war. Mein Verstand sagte mir, das Handy einfach auszustellen und sie zu ignorieren, aber mein Herz befahl meinen Fingern bereits, das Display umzudrehen, damit ich die Nachricht lesen konnte.

Ich meine das ernst. Ich liebe dich, Ajden. Bitte sprich mit …

Ich schluckte gegen die Trockenheit in meiner Kehle. Mein Daumen schwebte über dem Antwortbutton, als ich eine Bewegung neben mir merkte. Die Frau war wieder da und lehnte sich an die Bar.

Ich blickte auf, zuckte kurz zusammen und betrachtete sie von Neuem.

»Noch ein Sandwich?«, fragte ich sie.

»Nein, ich bräuchte etwas Ketchup.« Sie schob sich eine Strähne hinters Ohr und sah zu Carol, die sofort nickte und in der Küche verschwand. Die Fremde verlagerte ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen, und ein sanfter Zitrusduft wehte in meine Richtung. Ich atmete ihn ein, und mich überkam sofort eine wohlige Gänsehaut.

»Danke«, sagte die Frau, als Carol ihr die Ketchupflasche reichte. Sie ergriff sie, zögerte einen Moment, als wollte sie noch etwas sagen, aber dann lief sie zurück zu ihrem Tisch. Ich blickte ihr hinterher und dann auf mein Bier.

Ich sollte gehen, das wäre das Vernünftigste, wobei ich in der letzten Zeit nicht unbedingt damit glänzte, vernünftige Entscheidungen zu treffen.

3.

Arizona

Dieser Tag wurde von Minute zu Minute besser. Ich war so froh, dass Chris und ich ins Greens gegangen waren, sonst wäre ich diesem umwerfenden Mann an der Bar nie begegnet. Gut, noch hatte ich nicht richtig mit ihm gesprochen, aber der Abend war jung, und wir hatten sehr viel Zeit, uns kennenzulernen. Vorausgesetzt, er wartete hier nicht auf seine Freundin oder seinen Freund. So wie er ständig auf sein Handy glotzte, konnte das nämlich durchaus sein, wobei er eher frustriert dabei wirkte.

»Du solltest rübergehen«, sagte Chris, der gerade die andere Hälfte meines Sandwiches verspeiste.

»Ich war schon zweimal dort«, erwiderte ich.

»Ich glaube, er braucht eine dritte Aufforderung.«

»Oder er ist nicht interessiert an Frauen und hätte lieber, dass du rübergehst.«

»Möglich, aber das kannst du leicht rausfinden.«

Es war eigentlich nicht meine Art, Typen in Kneipen aufzureißen. Ich hatte zwar nichts gegen One-Night-Stands, wenn es mit dem Richtigen geschah, aber ich ging nur selten gezielt los, um mir jemanden für eine Nacht zu suchen.

Ich trank einen Schluck von meinem Caipirinha, den Carol mir gemischt hatte, und musterte den Fremden ein weiteres Mal. Ich schätzte ihn auf Mitte oder Ende zwanzig, auch wenn seine Augen viel älter wirkten. Er hatte diese Art von Weisheit im Blick, als hätte er bereits hundert Leben gelebt und alles Wissen dieser Zeit in sich gespeichert. Seine Haut war viel brauner als meine. Er hatte schwarze Haare, die er bis knapp über die Ohren trug und die schon sehr verwuschelt waren, weil er sie sich heute Abend gefühlt hundertmal gerauft hatte. Vor allem dann, wenn er auf sein Handy geschaut hatte. Dann waren seine Schultern zusammengesackt, und er hatte das Gesicht verzogen.

Vielleicht sollte ich ihm helfen, das Ding zu vergessen.

»Ich lad ihn jetzt auf einen Drink ein«, beschloss ich und leerte mein Glas.

»Gute Idee«, bestärkte mich Chris.

»Ich kann nicht versprechen, dass ich zurückkomme.«

»Das ist okay. Ich esse noch fertig und mach mich dann auf den Heimweg. Schick mir aber bitte noch eine Nachricht, ja? Egal, wann.«

Ich verzog das Gesicht, auch wenn es vernünftig war, was Chris vorschlug. Aber mein Gefühl sagte mir, dass ich von dem Typ an der Bar nichts zu befürchten hatte.

»Mach ich«, sagte ich, stand auf und trank meine Caipi aus. Mit dem leeren Glas in der Hand lief ich auf die Bar zu. Carol erblickte mich als Erstes und lächelte mich an.

»Magst du noch einen?«, fragte sie sofort.

»Ja«, erwiderte ich und reichte ihr das Glas. Ich stellte mich neben den Typen und sah ihn direkt an. Er legte gerade sein Handy weg und gab einen frustrierten Laut von sich.

»Du solltest es abstellen«, sagte ich.

»Das sollte ich wirklich.«

»Schlechte Nachrichten?«

»Nervige Nachrichten.«

»Ich könnte es für dich in der Toilette versenken.«

»Das wäre eine sehr drastische Maßnahme.«

»Dann hättest du aber deine Ruhe.«

Er schnaubte und schwenkte seine fast leere Bierflasche. Carol kam mit meinem Drink zurück. Ich bedankte mich und ließ mich auf dem Hocker neben dem Typen nieder.

»Ich glaube, wir brauchen auch noch ein Bier«, sagte ich.

Der Mann blickte auf, sah auf die Flasche, auf mich und dann zu Carol, die nur grinste.

»Kein Problem«, sagte sie und machte sich schon auf den Weg, ihm eins zu holen.

»Ich bin Arizona«, wandte ich mich ihm wieder zu.

Er holte Luft, zögerte kurz, als müsse er überlegen, ob er sich hierauf einlassen wollte, doch dann sah er mich an. Seine Augen waren dunkelbraun, fast schon schwarz. Sie wirkten tiefgründig, ehrlich und verletzt. Was auch immer ihn gerade umtrieb, hallte tief in seiner Seele nach. »Ajden.«

Ich stieß mit seiner fast leeren Flasche an und lächelte. »Freut mich.«

Er nickte verhalten und trank sein Bier aus, bis Carol ihm die nächste Flasche hinstellte.

»Eigentlich trink ich nicht so viel wie heute.«

»Woran liegt es? An den nervigen Nachrichten?«

»Unter anderem, ja.«

Wie aufs Stichwort vibrierte das Handy wieder. Ajden stöhnte, hob das Telefon an und zögerte einen Moment. Er schloss die Augen, drückte den Ausschaltknopf und ließ es in seiner Tasche verschwinden. »Vielleicht besser so.«

»Find ich auch.« Irgendwie musste ich Ajden etwas lockerer bekommen. »Was verschlägt dich ins Greens? Kommst du aus Denver?«

»Ja, ich bin hier aufgewachsen, werde aber nicht lange in der Stadt bleiben.«

»Warum das?«

»Weil mich morgen meine Arbeit wieder ruft.«

»Oh, was machst du denn?«

Er öffnete den Mund, zögerte aber, als wollte er nicht darüber sprechen.

Das wiederum führte dazu, dass meine Neugierde noch mehr erwachte. Ich liebte es, mich mit Menschen zu unterhalten und ihrem Leben auf den Grund zu gehen. Manche gaben ihre Geschichte völlig bereitwillig preis und sprudelten geradezu über, andere behielten sie lieber für sich. Ich vermutete, dass Ajden eher in die letzte Kategorie fiel.

»Ich bin medizinischer Assistent und reise in Krisengebiete«, murmelte er schließlich.

»Klingt spannend.«

Er verzog gelangweilt das Gesicht, als würde er diese Reaktion häufiger sehen.

»Wo bist du denn unterwegs?«

»Meistens in Indien, ab und an in Thailand, zuletzt war ich in Goma.«

»Im Kongo.«

Er sah mich verwundert an, als wäre es eine bemerkenswerte Leistung, dass ich wusste, wo Goma lag.

»Da war gerade erst ein Vulkanausbruch, oder?«, hakte ich nach.

»Ja.« Er zog die Augenbrauen zusammen, und ich merkte, wie ich langsam sein Interesse erlangte.

»Ich hab es in der Zeitung gelesen. Es muss schrecklich gewesen sein. So viele Menschen, die ihr Zuhause verloren haben und fliehen mussten.«

»Es war … intensiv.«

»Hast du geholfen, sie zu versorgen? Was genau machst du dort?«

»Mein Vater ist bei den Ärzten ohne Grenzen, und ich assistiere ihm. Mache die Erstversorgung, organisiere die weiteren Behandlungsmöglichkeiten, kümmere mich um die Nachsorge und so weiter. Es gibt genug zu tun.«

»Ich versuche, es mir vorzustellen, aber es fällt mir schwer. Unter welchen Bedingungen müsst ihr dort arbeiten? Gibt es in den Krisengebieten Strom und sauberes Wasser? Habt ihr das medizinische Equipment, um alle zu versorgen? Wie gefährlich ist es? Seid ihr in lokale Auseinandersetzungen verwickelt?«

Er schmunzelte und trank einen Schluck Bier.

»Sorry, ich bin echt neugierig. Brems mich ruhig, wenn ich zu viel frage.«

Er brummte nur.

»Ich finde es wirklich spannend, so etwas zu hören, weil das so weit weg von meinem Alltag ist. Ich gehe morgens ins Büro, schalte den Rechner an und lege los. Das Schlimmste, was mir passieren kann, ist, dass ich Kaffee über meine Tastatur verschütte und alles gelöscht wird, was ich an dem Tag geschrieben habe, aber bei dir …«

»Man gewöhnt sich dran. Es ist nicht so, dass ich ständig reflektiere, was ich gerade tue. Dafür hab ich auch gar keine Zeit.«

»Könnt ihr denn allen helfen, die darauf angewiesen sind?«

»Nicht wirklich, aber wenn man anfängt, daran zu denken, geht man kaputt.«

»Verstehe ich. Wie in dieser einen Erzählung von dem Fischerjungen mit den Seesternen.«

Er sah mich fragend an.

»Die hat mir mein Dad immer vorgelesen, als ich klein war: Ein Fischerjunge geht an einem Strand entlang, an dem Tausende von Seesternen auf dem Trockenen liegen. Er hebt einen nach dem anderen auf und wirft sie einzeln zurück ins Meer. Ein älterer Mann kommt vorbei und sagt dem Jungen, dass es unnötig sei, was er da macht. Er könne niemals alle Seesterne rechtzeitig ins Meer werfen, ehe sie vertrocknen. Seine Mühe wäre somit völlig umsonst. Der Junge schmunzelte, hob den nächsten Seestern auf und sagte: Für diesen einen ist es nicht umsonst. Und dann warf er auch den ins Meer und widmete sich dem nächsten.«

Ajden hielt die Luft an, lächelte sanft und nickte schließlich. »Das ist … schön und sehr zutreffend.«

»Finde ich auch. Es zeigt, dass wir vielleicht nicht einen Einfluss auf alle Menschen haben, aber auf einzelne eben schon. Und für die zählt es, ob wir da sind oder nicht. So ungefähr stelle ich mir deine Arbeit vor.«

Ich sah ihm in die dunklen, tiefgründigen Augen, aus denen er mich intensiv musterte. Seine sehnigen Unterarme spannten sich an, als er nach seinem Bier griff und einen weiteren Schluck trank. Ich folgte der Bewegung mit dem Blick und beobachtete seinen Bizeps, der sich leicht unter dem Shirt abzeichnete, als er die Flasche anhob. Vermutlich war sein Körper durch die Arbeit trainiert. Menschen, die viel draußen arbeiteten, besaßen einfach andere Muskeln als die, die in der Muckibude pumpten.

»Wo gehst du denn als Nächstes hin?«, fragte ich und merkte, wie rau meine Stimme klang. »Du meintest, dass du Denver morgen verlassen würdest.«

Er setzte die Flasche wieder ab und umschloss sie mit beiden Händen. Sein Daumen streifte über das Glas und wischte ein paar Tropfen weg. Unwillkürlich stellte ich mir vor, wie es wohl wäre, wenn er diesen Daumen über meine Haut gleiten lassen würde …

»Ich …«, setzte er an und hielt dann inne. »Eigentlich mag ich nicht mehr über meine Arbeit reden.«

»Okay«, sagte ich und lehnte mich näher. Er schauderte, und ich stellte mit einer gewissen Genugtuung fest, dass er eine Gänsehaut am Hals bekam. »Wir müssen auch gar nicht mehr reden«, flüsterte ich. Gott, wo nahm ich nur mein Selbstvertrauen her? Normalerweise ging ich nicht so offensiv vor, aber heute fühlte ich mich einfach unschlagbar!

Ajden zuckte zusammen, umschloss sein Bier und drehte den Kopf. Unsere Nasen waren jetzt so nah beieinander, dass sie sich fast berührten. Es wäre eine Leichtigkeit, mich vorzubeugen und ihn zu küssen.

»Wir könnten gehen«, sagte ich leise.

»Was ist mit deiner Begleitung?«, fragte er.

»Der kommt ohne mich klar.« Ich legte eine Hand auf seinen Unterarm. Ajden sah auf meine Finger und atmete durch.

Eine gefühlte Ewigkeit sagte er nichts, musterte nur meine Finger, die auf seiner Haut ruhten und das dumpfe Pulsieren darunter wahrnahmen. Ich rechnete schon fast mit einer Abfuhr, als er hochsah und mir direkt in die Augen blickte. »Dann los«, gab er von sich und lächelte mich an.

4.

Arizona

Ajdens Hand vergrub sich in meinen Haaren, während er mich wild küsste und an die Wand in meinem Hausflur drückte. Blind angelte ich in meiner Handtasche nach dem Schlüssel für meine Wohnung und versuchte, dabei nicht die Verbindung zwischen uns zu lösen. Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann ich zuletzt derart geküsst worden war. So zurückhaltend er in der Bar noch gewesen war, so sehr trat er nun aufs Gas. Als hätte er nur hierauf gewartet. Als müsste er mit diesem Kuss allen Frust herauslassen. Mir war klar, dass ihn irgendetwas umtrieb, aber es war okay, wenn er es mir nicht sagte. Wir wollten beide das Gleiche in dieser Nacht: Spaß und Ablenkung, und das würden wir bekommen.

Endlich fand ich meinen Schlüssel und gab einen leisen Laut von mir. Ajden löste sich von meinen Lippen. Ich drehte mich herum, sodass ich jetzt mit dem Rücken zu ihm stand. Er umschlang mich von hinten, strich über meinen Bauch, kurz über meine Brüste, ehe er nach unten an meine Hüften wanderte und mich an sich presste. Ich spürte, wie hart er war, und konnte es kaum erwarten, endlich diese Klamotten loszuwerden und mehr von ihm zu bekommen. Ich öffnete die Tür, trat ein, und er folgte. Rasch knipste ich das Licht an, kickte die Schuhe von den Füßen und drehte mich wieder zu ihm um. Ajden schloss die Tür hinter sich, kehrte zurück zu meinem Mund und küsste mich erneut mit solcher Intensität und Hingabe, als gäbe es nichts anderes für ihn zu tun. So etwas hatte ich noch nie erlebt. Ich hatte das Gefühl, als würde er mir all seine Aufmerksamkeit schenken, als würde er keine Berührung zufällig ausführen, sondern mit jeder Geste und jedem Kuss genau ausloten wollen, was mir gefiel und was nicht.

Und bisher gefiel mir alles sehr gut.

Ich legte eine Hand in seinen Nacken und zog ihn enger auf meine Lippen, während wir meinen Flur entlangstolperten. Mein Reich war nicht sehr groß. Ein Schlafzimmer, Wohn- und Essbereich und eine kleine Küchenecke. Es genügte mir völlig, ich hatte sogar einen Balkon, auf dem ich manchmal den Sonnenuntergang bewunderte. Im Moment wollte ich allerdings nur eines bewundern, und zwar den Mann vor mir. Ich zerrte an Ajdens Shirt und schob es nach oben. Er hob die Arme, damit ich es ihm leichter abstreifen konnte. Kaum war es weg, fanden sich unsere Münder wieder. Wir taumelten durch meinen Wohnbereich, und ich hoffte, dass ich heute Morgen nichts hatte liegen lassen. Die letzten Tage war ich nicht viel hier gewesen, sondern überwiegend in der Redaktion, und wenn doch, hatte ich mich nur rasch umgezogen und war wieder gegangen. Dementsprechend chaotisch sah es aus, aber das musste ich wohl erst mal ignorieren.

Statt ins Schlafzimmer zu gehen, zerrte ich Ajden weiter in Richtung Sessel, der neben der Couch stand. Er ließ sich von mir dirigieren, zog mir dabei die dünne Jacke von den Schultern und warf sie zu Boden. Unser Kuss wurde von Minute zu Minute stürmischer, brannte vor Verlangen und beiderseitigem Durst. Ich stöhnte in seinen Mund, küsste ihn ein weiteres Mal und drängte ihn dabei zum Sessel. Er umarmte mich, sank auf die Kissen, und ich setzte mich sofort auf ihn. Meine Beine schlangen sich um ihn, ich umschloss sein Gesicht mit den Händen und gab mich ihm voll und ganz hin. Ajden löste meinen Pferdeschwanz, sodass meine langen Haare wie ein Vorhang um uns fielen. Er ließ von meinem Mund ab, küsste sich über mein Kinn in Richtung meines Halses. Ich drehte den Kopf, stöhnte, als er sanft an meiner Haut knabberte und einen Stromstoß nach dem anderen durch mich jagte. Seine Hand glitt an meinem Oberschenkel auf und ab. Ajden löste tausend Gewitter in mir aus, die nur darauf warteten, sich zu entladen. Ich rieb mich sanft an ihm und wollte nicht, dass er je damit aufhörte, aber das schien er auch nicht vorzuhaben. Seine Finger knöpften meine Jeans auf, öffneten den Reißverschluss und schoben sich zwischen meine Beine.

»Ja«, keuchte ich und hob das Becken an. Ich grub die Fingernägel in die Sessellehne, während er mich sanft durch den Stoff meines Slips stimulierte. Ajden küsste erneut meinen Hals, dann packte er mich und hob mich hoch. Ich japste, als wir beide vom Sessel glitten und nun auf dem Boden landeten. Jetzt war er auf mir.

»Unglaublich«, flüsterte er.

Ich knöpfte meine Bluse auf, und Ajden folgte der Einladung. Er küsste mich erneut, wanderte tiefer, bis er knapp oberhalb meiner Brust war. Rasch griff ich den BH, zog ihn nach unten, und er folgte mit seinen Lippen. Ich glaubte zu explodieren, so intensiv fühlte es sich an. Obwohl wir noch so viel Kleidung anhatten, überschlugen sich meine Sinne, und ich konnte kaum einen klaren Gedanken fassen.

»Oh Gott, Ajden«, keuchte ich. Er jagte mit seinen Lippen tausend elektrische Impulse durch mich hindurch. Das hier war so anders als sonst. So viel intensiver, berauschender, prickelnder. Ajden schien jede meiner Gesten zu registrieren, auf jedes Aufbäumen und jedes Stöhnen sofort zu reagieren. Als könnte er meine Gedanken lesen, als wüsste er genau, wie intensiv ich es brauchte und … Ich keuchte auf, als er seine Finger wieder zwischen meine Beine schob, diesmal unter den Slip. Ich rang nach Luft, hob eine Hand, strich ihm mit dem Finger an der Seite seiner Wange entlang, hinab zu seinem Kinn, seinem wunderschönen sinnlichen Mund, der leicht unter meiner Berührung zuckte. Genau wie sein Schwanz, der sich gerade sehr hart und drängend gegen mein Bein drückte. Ich wanderte mit dem Finger hinter sein Ohr, bis zu seinem Nacken und zog ihn wieder auf meinen Mund.

In dieser Nacht würden wir definitiv sehr viel Spaß haben.

5.

Ajden

Das Vibrieren meines Handys weckte mich. Ich stöhnte, rollte mich auf die Seite und tastete um mich. Ich lag auf dem Boden, über mir eine Decke, neben mir ein warmer Körper und dazu jede Menge Kissen und Klamotten, die wir gestern von uns gerissen hatten.

Gestern. Das Greens. Arizona.

Ich hatte getrunken, dann hatte sie mich angesprochen. Wir hatten geredet, waren zu ihr gefahren und hatten nicht mehr geredet. Es sei denn, man wollte Dinge wie: Oh Gott, mach weiter, oder Ja, genau so als Reden bezeichnen.

Das Handy verstummte. Ich rieb mir übers Gesicht und stöhnte. In meinem Schädel pochte es dumpf nach, weil ich so viel Bier getrunken hatte. Mein Mund war trocken, und meine Zunge pappte am Gaumen. Mein Körper war völlig ausgelaugt, und es fiel mir schwer, auch nur einen Muskel zu bewegen. Diese Nacht war der absolute Wahnsinn gewesen. Eigentlich hatte ich es nicht so weit kommen lassen wollen, aber irgendwann hatte mein rationales Denken ausgeschaltet, und andere Instinkte hatten übernommen.

Ich drehte mich auf den Rücken und sah an die fremde Decke in diesem fremden Zimmer. Tageslicht drang durch die Fenster. Die Wände waren dunkelgrau gestrichen, die Möbel farblich aufeinander abgestimmt. Eine Kommode, ein Fernseher an der Wand, eine offene Küche. Wir hatten es gestern nicht mal ins Bett geschafft, sondern waren einfach hier eingeschlafen.

Die Bilder dieser Nacht schossen mir durch den Kopf. Wir waren wie zwei ausgehungerte Bestien übereinander hergefallen, und ich konnte mich nicht daran erinnern, wann ich das zuletzt mit einer Frau getan hatte. War es überhaupt schon mal so gewesen?

Arizona hatte sich fallen lassen und sich mir auf eine Weise geöffnet, wie ich es noch nie erlebt hatte. Mit Liz war der Sex zwar auch immer gut gewesen, und wir hatten einander blind vertraut, aber es hatte schon lange Zeit nicht mehr derart gekribbelt.

Ein leises Stöhnen erklang, und Arizona drehte sich auf die andere Seite. Ich blickte zu ihr und erkannte erst mal nur jede Menge roter Locken. Arizonas Haare fielen ihr über Schultern und Gesicht. Ich schob ein paar Strähnen beiseite, damit ich sie besser betrachten konnte. Ihre Lippen waren leicht geöffnet, und sie gab ein zufriedenes Säuseln von sich. Ich musste lächeln. Der Anblick gefiel mir und sorgte dafür, dass mir das Blut wieder in die Mitte schoss, aber daraus würde auf keinen Fall etwas werden. Eigentlich sollte ich schon längst weg sein. Ich musste noch einiges für die Abreise heute Abend vorbereiten.

Ich richtete mich auf und suchte nach meinem Handy, das irgendwo unter meiner Jeans begraben lag. Ich angelte es hervor und schaute aufs Display. Kurz überkam mich die Angst, dass Liz mir weitere Nachrichten geschickt hatte, aber der letzte Anruf war von Toni gewesen. Sie war die Projektleiterin in Indonesien und bereitete alles vor Ort für uns vor, damit wir die Wasserfilter in die Regionen bringen konnten, die sie am dringendsten benötigten. Ich entriegelte das Display und wollte ihre Nummer wählen, als mir auffiel, dass auch Thomas versucht hatte, mich zu erreichen. Oder eher sein Büro. Er selbst hatte eine andere Durchwahl. Ich zog die Augenbrauen zusammen. Mich überkam eine ungute Vorahnung. Zunächst rief ich Toni an. Sie hob sofort ab.

»Ajden! Gott sei Dank gehst du ran! Ich versuche seit zwei Stunden, Thomas oder dich zu erreichen.«

»Was ist denn passiert?«

»Das musst du mir erklären! Was ist bei euch los?«

»Ich … Nichts. Was meinst du? Ich lieg noch im Bett.« Na ja, eher auf dem Boden im Apartment einer Frau, die ich erst gestern kennengelernt hatte.

»Oh, dann hast du es noch gar nicht gehört?«

»Nein. Was ist denn?«

»Oh Gott … Ich … Thomas wurde verhaftet.«

»Bitte, was?«

Neben mir raschelte es. Ich hatte Arizona geweckt. Sie gab ein leises Stöhnen von sich, während ich meine Boxershorts vom Boden aufklaubte und sie mir ungelenk mit einer Hand anzog. »Warum? Wann?«

»Heute Morgen. Ich erhielt einen Anruf aus seinem Büro. Von der Presseabteilung. Sie sagten, dass er nicht herfliegen könne und das Projekt erst mal auf Eis gelegt werden müsse. AquaLife hat die Produktion der Filter gestoppt. Die ganze Firma steht still.«

»Warte, warte … Ich komm noch nicht mit. Was zum Teufel ist passiert?«

»Ich weiß es nicht. Irgendetwas hat er angestellt. Thomas hat … Er hat wohl richtig Dreck am Stecken.«

Ich rieb mir über die Stirn und hatte das Gefühl, in einen schlechten Film geraten zu sein. »Ich kann dir überhaupt nicht folgen.«

»Ich verstehe es doch selbst nicht, Ajden. Deshalb hab ich dich angerufen.«

»Okay.« Ich stand auf, lief zum Fenster und sah kurz hinaus. Die Sonne stand schon hoch am Himmel, und die Stadt war längst erwacht.

»Alles klar?«, fragte Arizona hinter mir.

Ich wandte mich wieder ihr zu. Sie richtete sich auf, wobei die Decke, die wir gestern noch von der Couch gezogen hatten, ein Stück verrutschte und ihre Brust entblößte. Ich sah sofort weg, meine Gedanken waren schon wirr genug.

»Ich informiere mich und melde mich wieder, okay, Toni?«

»Gut. Danke.«

»Es gibt bestimmt eine Erklärung.«

»Ja. Ja. Ich …«

»Gib mir etwas Zeit, um herauszufinden, was passiert ist.«

»Okay.«

Ich legte auf und schüttelte den Kopf. Rasch wählte ich die Nummer von Thomas’ Büro.

»Ajden, was ist denn los?«, fragte Arizona und zog sich jetzt auch an.

Ich hob die Hand, wartete kurz, aber es erklang das Besetztzeichen. »Scheiße.«

»Was ist los?«, fragte sie erneut.

»Ich weiß es nicht. Einer meiner Geschäftspartner wurde heute Morgen verhaftet.«

»Was?«

Ich nickte und wählte jetzt Thomas’ private Nummer, aber da sprang sofort die Mailbox an. »Wir sollten heute Abend nach Indonesien fliegen. Er hat diese neuen Filter entwickelt, die so ziemlich jede Brühe zu Trinkwasser verwandeln können, und ich …« Ich tippte wieder die Nummer vom Büro an, aber da war noch immer besetzt. Als ich auflegte, ploppte eine Nachricht von Toni auf.

Ich habe etwas rausgefunden! Ein großer Artikel wurde online über Thomas veröffentlicht. Es folgte ein Link, und ich tippte sofort darauf.

Die Seite des Explorer öffnete sich. Auf der Startseite erschien das offizielle Pressefoto von Thomas. Daneben stand: Thomas Valleys falsches Spiel mit der Hoffnung.

Ich las den ersten Absatz und merkte, wie sich alles in mir zusammenzog.

Thomas Valley scheint einem Bilderbuch entsprungen zu sein. Ein Lächeln wie aus der Zahnpasta-Werbung. Strahlend, wann immer man ihn sieht. Ein Mann mit Herz, der Millionen für wohltätige Zwecke spendet. Erfolgreich als Unternehmer, gesegnet mit einer großartigen Familie; mit einer schönen Frau, drei Kindern. Kein Makel nirgends, nie ein Konflikt mit dem Gesetz. Ein Saubermann durch und durch, über jeden Zweifel erhaben.

Purer Schein? Fassade? Recherchen des Explorer zeichnen ein anderes Bild des zweiundfünfzig Jahre alten CEO und Mitbegründers der Firma AquaLife. Es geht um Sex, Drogen – und die Veruntreuung von Spendengeldern.

»Was?«, zischte ich fassungslos und scrollte aufgeregt weiter.

Jüngst präsentierte AquaLife seine neueste Schöpfung: einen einzigartigen Wasserfilter, der sowohl in Trinkflaschen als auch an Wasserhähnen angebracht werden kann. Selbst stark verschmutztes und mit giftigen Substanzen versetztes Wasser wird durch die neuartige Filterfunktion genießbar. Für Entwicklungsländer, Dürreregionen oder Kriegsgebiete könnte diese Erfindung ein wahrer Segen sein.

Die Entwicklung und Vermarktung finanzierte AquaLife vorwiegend durch Spenden. Etwa fünfzig Millionen Dollar sollen zusammengekommen sein. Zunächst klingt dies wie ein bemerkenswerter Erfolg. Doch die Medaille hat eine Kehrseite. Eine Informantin, die öffentlich nicht in Erscheinung treten will, berichtet, wie Thomas Valley und sein Co-Geschäftsführer Mitchell Lawrence das Geld verwendet hätten, um Sexpartys mit Prostituierten zu feiern. Dafür seien sie auf Firmenkosten unter anderem nach Neu-Delhi geflogen – Kokain und Champagner inklusive. Dem Explorer liegen Bilder und Tonaufnahmen vor, die Valley und Thompson in Erklärungsnot bringen dürften. »Solche Lustflüge waren an der Tagesordnung«, erzählt die Informantin. »Je dekadenter, desto besser. Zehn, zwanzig, dreißig Frauen – Valley und Lawrence hielten sich für mehrere Tage einen eigenen Harem. Unter Aufsicht ihrer Bodyguards. Sie haben sich damit gebrüstet, wie sie Spendengelder verprassen.« Mit Drogen seien die Frauen gefügig gemacht worden. Bei manchen ist nicht klar, ob sie zum jeweiligen Zeitpunkt bereits volljährig waren. Schon vor vier Jahren waren Vorwürfe gegen AquaLife laut geworden. Auch damals ging es um sexuelle Übergriffe. Belegen ließen sie sich nicht. Bisher.

Thomas Valley stehen stürmische Tage bevor. Wenn er das nächste Mal an die Öffentlichkeit tritt, dann vermutlich nicht so strahlend, wie man ihn bisher kannte.

»Das … Das kann doch nicht sein«, stammelte ich.

»Ajden …« Arizona trat auf mich zu. Ich hatte fast vergessen, dass sie noch da war. Ich blickte zu ihr. Sie war sehr blass um die Nase geworden. »Du … Diese Wasserfilter.«

»Was?«, zischte ich, harscher als beabsichtigt, aber in meinem Kopf überschlugen sich gerade die Gedanken.

»Der Mann, der die entwickelt hat … Redest du von Thomas Valley?«

»Ja. Kennst du ihn etwa? Ich habe gerade diesen Artikel im Explorer gelesen und …«

»Ich habe den geschrieben«, fiel sie mir ins Wort.

Mir wäre fast das Telefon aus der Hand gefallen. Mein Atem stockte. Ich öffnete den Mund, schloss ihn wieder und starrte sie an.

»Ich arbeite für den Explorer und bin seit Monaten an dieser Sache dran. Ich bin diejenige, die diesen Skandal über Valley ausgegraben hat.«

Der Boden tat sich unter mir auf. So fühlte es sich zumindest an. Ich konnte nicht glauben, was gerade passierte. »Du bist Journalistin?«

»Ja.«

Mein Handy vibrierte. Es war wieder Toni, die vermutlich Neuigkeiten hatte, aber ich hatte das Gefühl, dass alles nur schlimmer wurde, je mehr ich darüber erfuhr.

Ich starrte Arizona an, schüttelte mich, klaubte meine restlichen Sachen zusammen und zog mich rasch an.

»Ajden … Ich …«, setzte sie an, aber ich wiegelte ab.

»Ich fasse es nicht!«, sagte ich und stapfte quer durch ihre Wohnung auf der Suche nach meinen Schuhen.

Arizona trat zu mir und wollte nach mir greifen, aber ich entzog mich ihr sofort und funkelte sie an.

»Das … Das mit uns … Es hätte nie passieren sollen.«

»In welcher Verbindung stehst du denn mit Thomas Valley? Du … Du hast mir gestern erzählt, dass du in Krisengebiete reist und dort medizinische Hilfe leistest.«

»Das tue ich auch! Aber ich … Scheiße.« Ich fuhr mir durch die Haare und wusste überhaupt nicht, wo vorne oder hinten war. »Ich … Ich muss hier raus.«

Benommen taumelte ich zur Ausgangstür, riss sie auf und ließ Arizona, diese Nacht und tausend Fragen zurück.

Draußen im Hausflur nahm das Hämmern in meinem Kopf zu, und meine Gedanken tobten derart wild, dass mir davon schwindelig wurde.

Was zum Teufel passierte gerade?

6.

Ajden

Ich bedankte mich beim Busfahrer, schulterte meinen Rucksack und streckte erst mal den Rücken durch. Es knackte in den Wirbeln, weil mir knapp sechzehn Stunden Fahrt in den Knochen steckten. Von meiner Arbeit war ich es zwar gewohnt, unkomfortabel zu reisen, aber ich merkte seit einiger Zeit, dass ich immer länger brauchte, um zu regenerieren.

Die Tür schloss sich zischend hinter mir, und ich winkte dem Mann dankend zu, der extra für mich einen Stopp bei der Golden Hill Ranch eingelegt hatte.

Parker hätte mich bestimmt auch in Boulder Creek abgeholt, aber zum einen wollte ich ihn überraschen, und zum anderen war das eine sehr spontane Idee gewesen, auf die ich erst gestern Morgen gekommen war. Der Stress der letzten acht Monate hatte mich ziemlich geschlaucht.

Nach diesem elenden Artikel über Thomas Valley und AquaLife war alles drunter und drüber gegangen. Thomas war nach wie vor in U-Haft und wartete auf seine nächste Anhörung. Die Firma stand heute noch still, Mitarbeiter waren freigestellt, die Filter mitsamt anderem Firmeneigentum bis auf Weiteres beschlagnahmt. Meine Welt war von einem auf den anderen Tag völlig aus dem Takt geworfen worden. Aus den sicheren Plänen, nach Indonesien zu reisen, war ein einziges Chaos entstanden. Mein Dad und ich hatten versucht, einiges zu retten. Wir hatten mit der Polizei telefoniert, Fäden gezogen, Verbindungen spielen lassen, aber die Straftaten von Valley und Lawrence waren zu groß, um sie abzufedern. Und so hatte auch Toni letztlich kapitulieren und den Leuten vor Ort mitteilen müssen, dass es erst mal keine Hilfe für sie geben würde. Die Zeit danach war fast die schwerste, die ich je hatte ertragen müssen. So viele Menschen waren auf diese Filter angewiesen gewesen und hatten sich darauf gefreut, doch nun war dieser Traum wie eine Seifenblase zerplatzt.

Autor

Nicole Böhm
<p>Nicole Böhm wurde 1974 in Germersheim geboren und lebt heute in Speyer. Mit zwanzig reiste sie nach Phoenix, Arizona, um Zeichen- und Schauspielunterricht am Glendale Community College zu nehmen. Es folgte eine Schauspielausbildung an der American Musical and Dramatic Academy in New York. Sie lebte insgesamt drei Jahre in Amerika...
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