Die Lady auf den Klippen

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Liebe? Daran glaubt Lady Blanche Harrington nicht. Schließlich hatte sie bis jetzt bei keinem Gentleman jemals Herzklopfen – außer bei einem: Rex de Warenne, ebenso attraktiver wie zurückhaltender Einzelgänger, den sie allerdings aus den Augen verloren hat. Doch als Blanche nach Cornwall reist, steht sie ausgerechnet Rex unvermittelt gegenüber. Sie sieht seine feurigen Blicke, ahnt, welche Leidenschaft er einer Frau schenken kann, spürt das Blut heiß in ihre Wangen steigen – und plötzlich beginnt ihr Eisherz zu schmelzen! Ist das etwa Liebe? Und warum nur mischt sich in dieses atemlose Gefühl der Freude auch beklemmende Furcht?


  • Erscheinungstag 09.11.2024
  • Bandnummer 24
  • ISBN / Artikelnummer 8129240024
  • Seitenanzahl 384

Leseprobe

1. Kapitel

1822, im März

Zweihundertachtundzwanzig Verehrer, dachte sie, liebe Güte – wie soll ich damit umgehen, geschweige denn mich entscheiden?

Blanche Harrington stand allein vor einem der übergroßen Fenster in einem kleinen Salon. Gleich würden die Besucher in das große Empfangszimmer strömen. Genau an diesem Morgen waren die schwarzen Vorhänge abgenommen worden, die anzeigten, dass sie noch trauerte. Acht Jahre lang war sie einer Heirat aus dem Weg gegangen, aber selbst sie wusste, dass sie nach dem Tod ihres Vaters einen Ehemann brauchte, der ihr half, ihr beträchtliches und nicht ganz unkompliziertes Vermögen zu verwalten.

Doch sie fürchtete sich vor dem Ansturm ebenso sehr, wie sie sich vor der Zukunft fürchtete.

Ihre beste Freundin eilte herein, mit einem dramatischen Auftritt. „Blanche, Darling, wo bleibst du denn? Gleich werden wir die Türen öffnen!“, rief sie aufgeregt.

Blanche starrte durch das Fenster auf die gewundene Auffahrt. Vor vielen Jahren war ihr Vater mit dem Titel eines Viscounts belohnt worden, nachdem er mit Manufakturen ein unvorstellbares Vermögen erworben hatte. All das war so lange her, dass niemand mehr in ihm einen Neureichen sah. Blanche hatte nie ein anderes Leben gekannt als das in Reichtum und Überfluss, voller Privilegien. Sie war eine der reichsten Erbinnen des Empires, doch vor acht Jahren hatte ihr Vater ihr gestattet, eine Verlobung zu lösen. Und obwohl er nie aufgehört hatte, sie mit Verehrern bekannt zu machen, hatte er sich gewünscht, dass sie aus Liebe heiratete. Was natürlich eine absurde Vorstellung war.

Nicht, weil niemand aus Liebe heiratete. Die Vorstellung war deshalb absurd, weil Blanche um ihre Unfähigkeit wusste, sich zu verlieben.

Aber sie würde heiraten, denn obwohl Harrington zu schnell gestorben war, um noch einen letzten Wunsch zu äußern – er war ganz plötzlich an einer Lungenentzündung erkrankt –, wusste Blanche, dass er sich nichts sehnlicher gewünscht hätte, als sie in einer sicheren Ehe mit einem ehrbaren Gentleman zu sehen.

Drei Dutzend Kutschen entstellten die schöne Auffahrt. Vor sechs Monaten hatte es fünfhundert Beileidsbesuche gegeben. Von den zurückgelassenen Karten hatten zweihundertachtundzwanzig heiratsfähigen Junggesellen gehört. Wie viele davon mochten wohl Taugenichtse sein, die nur ihr Geld wollten? Blanche gefiel diese Vorstellung nicht, doch sie hatte einen Entschluss gefasst. Da sie schon vor langer Zeit die Hoffnung aufgegeben hatte, irgendeinen Mann zu lieben, beabsichtigte sie nun, aus dieser Menge einen anständigen, vernünftigen, ehrenhaften Mann auszuwählen.

„Oh Liebes.“ Bess Waverly trat zu ihr. „Du grübelst – ich kenne dich besser, als du dich selbst kennst. Wir sind Freundinnen, seit wir neun Jahre alt waren! Bitte sag nicht, dass ich alle wegschicken soll, nachdem ich verkündet habe, dass deine Trauerzeit vorüber ist! Hat es denn Sinn, weitere sechs Monate zu trauern? Du würdest das Unvermeidliche doch nur hinausschieben.“

Nachdenklich sah Blanche ihre beste Freundin an. Sie waren so verschieden wie Tag und Nacht, und das war einer der Gründe, warum sie so sehr aneinander hingen. Bess hatte eine Vorliebe für dramatische Auftritte, war lebhaft und lebenslustig. Sie hatte bereits den zweiten Ehemann und mindestens den zwanzigsten Geliebten, und sie machte kein Hehl daraus, dass sie das Leben in vollen Zügen genoss, und dazu gehörte so viel Leidenschaft wie nur möglich. Blanche war beinahe achtundzwanzig Jahre alt, hatte sich bis jetzt entschieden, nicht zu heiraten, und sie war noch Jungfrau. Sie fand das Leben recht angenehm, ging gern im Park spazieren, mochte Einkaufsbummel und Tee, die Oper und die Bälle. Aber sie kannte keine Leidenschaft und wusste nicht, wie sich das anfühlte.

Ihr Herz schlug zwar, aber es empfand keine heftigen Gefühlsregungen.

Die Sonne schien für sie gelb und niemals golden. Eine Komödie war amüsant, niemals mitreißend. Schokolade war süß und ein kurzer Genuss. Ein Mann konnte gut aussehen, aber keiner raubte ihr den Atem. Noch nie in ihrem ganzen Leben hatte sie sich nach einem Kuss gesehnt.

Vor langer Zeit schon hatte sie erkannt, dass sie nicht die Leidenschaft für das Leben besaß, die eine Frau haben sollte. Aber andere Frauen hatten auch nicht im zarten Alter von sechs Jahren ihre Mutter verloren. An jenem Wahltag war sie bei ihrer Mutter gewesen, doch sie konnte sich nicht daran erinnern – ebenso wenig wie an ihr Leben vor diesem Tag. Noch schlimmer war, dass sie sich auch nicht an ihre Mutter erinnern konnte. Wenn sie das Porträt betrachtete, das über der Treppe hing, dann sah sie eine schöne Frau. Aber ihr schien es, als sähe sie eine Fremde.

Irgendwo ganz hinten in ihrem Kopf lebten jedoch noch vage, dunkle Erinnerungen an die Vergangenheit. So war es immer gewesen. Sie wusste es so genau, wie manche Leute behaupteten, mit einem Geist zu leben, oder wie Kinder wussten, dass eingebildete Freunde in ihrem Zimmer wohnten. Doch es spielte keine Rolle, denn sie wollte diese Ungeheuer nicht finden. Außerdem – wie viele Erwachsene konnten sich an das Leben vor ihrem sechsten Lebensjahr erinnern?

Jedenfalls hatte sie seit dem Aufstand damals keine einzige Träne vergossen. Auch Trauer war ihrem Herzen fremd. Blanche war sich darüber im Klaren, dass sie anders war als andere Frauen, aber das war ihr Geheimnis. Ihr Vater hatte die Wahrheit gekannt und den Grund dafür auch. Ihre beiden besten Freundinnen nahmen an, dass sie eines Tages genauso leidenschaftlich und unvernünftig sein würde wie sie selbst. Und sie warteten darauf, dass sie sich heftig verliebte.

Blanche war immer vernünftig gewesen. Jetzt drehte sie sich zu Bess um. „Nein. Ich sehe keinen Sinn darin, das Unvermeidliche aufzuschieben. Vater war vierundsechzig Jahre alt, und er hatte ein herrliches Leben. Er würde wollen, dass ich weitermache, so wie wir es geplant haben.“

Bess legte den Arm um sie. Sie hatte mittelbraunes Haar, wunderschöne grüne Augen, eine wohlgerundete Figur und volle Lippen, von denen sie behauptete, dass Männer sie bewunderten – in mehr als einer Weise. Da Bess gern über ihre Liebhaber sprach, wusste Blanche genau, was sie damit meinte, und konnte sich nicht vorstellen, dass eine Frau so etwas tat.

Einst hatte Blanche sich gewünscht, so wie Bess zu sein, oder zumindest eine zahmere Version von ihr. Kürzlich hatte sie festgestellt, dass sie sich nicht ändern würde. Was immer das Leben ihr auch bieten mochte, sie würde ernsthaft und vernünftig ihren Weg gehen. Es würde kein Drama darin geben, keine Qualen und ganz bestimmt keine Leidenschaften.

„Ja, das stimmt. Du hast dein ganzes Leben damit zugebracht, dich zu verstecken“, erklärte Bess entschieden. Blanche wollte widersprechen, doch die Freundin fuhr fort: „So tragisch es auch ist, Harrington ist tot. Du hast keine Entschuldigungen mehr, Blanche. Er ist nicht mehr hier. Wenn du dich weiter versteckst, wirst du ganz allein sein.“

Es war unglaublich, aber bei der Erwähnung ihres Vaters empfand sie nahezu nichts. Sie fühlte sich wie taub, wenn sie doch hätte schluchzen und weinen sollen. Seit seinem Tod hatte sie sich so gefühlt. Der Kummer war wie eine sanfte Brise und beinahe schmerzlos. Sie vermisste ihn – wie hätte es anders sein sollen? Er war der Anker in ihrem Leben gewesen seit jenem schrecklichen Tag, an dem ihre Mutter gestorben war.

Wenn sie doch nur vor Wut und Zorn weinen könnte! Aber in ihren Augen hatte nur selten eine Träne geschimmert.

Blanche lächelte finster und trat vom Fenster zurück. „Ich verstecke mich nicht, Bess. Niemand empfängt so häufig Besucher wie ich.“

„Du hast dich vor der Leidenschaft und dem Vergnügen versteckt“, rief Bess aus.

Blanche musste lächeln. Darüber hatten sie öfter gestritten, als sie es hatten zählen können. „Ich bin eben von Natur aus nicht leidenschaftlich“, sagte sie leise. „Und Vater ist nicht mehr da, aber zum Glück habe ich dich und Felicia“, erklärte sie mit einem leichten Lächeln. „Ich verlasse mich auf euch beide. Ich wüsste nicht, was ich ohne euch tun sollte.“

Bess verdrehte die Augen. „Wir suchen dir einen gut aussehenden jungen Burschen, auf den du dich stützen kannst, Blanche, damit du endlich dein eigenes Leben führen kannst. Mehr als zweihundert Bewerber – und du darfst wählen!“

Bei dem Gedanken verspürte Blanche einen Anflug von Unsicherheit. „Ich fürchte mich vor dem Andrang“, gestand sie. „Wie soll ich da wählen? Wir wissen beide, dass sie nur meine Mitgift wollen, und Vater wollte für mich mehr als das.“

„Nun, ich kann mir nichts Besseres vorstellen als einen fünfundzwanzigjährigen Mitgiftjäger. Solange er nur unverschämt gut aussieht und …“, sie lächelte, „ … sehr viril ist.“

Blanche sah sie nur an und errötete nicht einmal, da sie an solche Bemerkungen gewöhnt war. „Bess.“

„Mit dem richtigen Ehemann wirst du glücklich werden, Liebes, vertrau mir. Wer weiß? Deine Gleichgültigkeit all jenem gegenüber, was dir das Leben zu bieten hat, könnte sich in Luft auflösen.“

Blanche musste lächeln, aber sie schüttelte den Kopf. „Das wäre ein Wunder.“

„Eine gehörige Portion Leidenschaft kann wahre Wunder bewirken!“ Bess wurde ernst. „Ich versuche dich aufzuheitern. Felicia und ich werden dir bei der Entscheidung helfen, außer natürlich, es geschieht tatsächlich ein Wunder und du verliebst dich.“

„Wir wissen beide, dass das nicht passieren wird. Bess, sieh mich nicht so finster an. Ich habe ein beinahe perfektes Leben gehabt. Mir ist so viel zuteilgeworden.“

Bess schüttelte den Kopf und war jetzt ebenso verärgert, wie sie eben noch glücklich gewesen war. „Sag niemals nie! Auch wenn du noch nie verliebt gewesen bist, gebe ich die Hoffnung nicht auf. Ach, Blanche, du ahnst ja nicht, was dir entgeht! Ich weiß, du glaubst, dass dein Leben perfekt gewesen ist, bis Harrington starb, aber ich weiß es besser. Du bist wie eine einsame Insel … der einsamste Mensch, den ich kenne.“

Blanche erstarrte. „Bess, dieser Tag ist schon schwierig genug, mit all den Bewerbern, die vor meiner Tür warten.“

„Ehe Harrington starb, warst du allein, und jetzt bist du noch einsamer. Ich hasse es, dich so zu sehen, und ich glaube, dass eine Ehe und Kinder das ändern werden.“ Bess ließ sich jetzt durch nichts mehr aufhalten.

Blanche wollte leugnen, aber die Freundin hatte recht. Wie viele Besuche sie auch machte, wie viele sie auch empfing, wie viele Partys sie gab, auf wie viele Bälle sie ging – sie war anders, und sie wusste es nur zu gut. Tatsächlich fühlte sie sich stets abgesondert und den anderen entfremdet.

„Bess, es macht mir nichts aus, allein zu sein.“ Das stimmte. „Ich weiß, du kannst das nicht verstehen. Um ehrlich zu sein, fürchte ich, immer noch allein zu sein, wenn ich heirate. Im Geiste.“

„Wenn du Kinder hast, wirst du nicht allein sein.“

Blanche lächelte. „Ein Kind wäre schön.“ Bess hatte zwei Kinder, die sie anhimmelte – trotz ihrer Affären war sie eine wunderbare Mutter. „Auch wenn du die Vorstellung hast, mich mit einem gut aussehenden jungen Burschen zusammenzubringen, so möchte ich jemanden, der etwas älter ist. In mittlerem Alter vielleicht. Er muss freundlich sein und einen starken Charakter haben. Ein echter Gentleman eben.“

„Natürlich möchtest du einen älteren Mann, der dich schrecklich verwöhnen soll – und der den Platz deines Vaters einnimmt.“ Bess seufzte. „Aber du kannst deinen Vater nicht ersetzen, Blanche. Dein Mann muss jung und attraktiv sein. Nun, da wir das geklärt haben – darf ich unter denen wählen, die du verschmähst?“

Blanche lachte leise bei diesem Gedanken. Sie wusste, dass Bess wirklich unter ihren mehr als zweihundert Verehrern einen neuen Liebhaber finden wollte.

„Natürlich.“ Blanche verlor sich in ihren Gedanken, und ein Bild erschien vor ihrem geistigen Auge. Einer der Junggesellen, die infrage kämen, hatte nicht bei ihr vorgesprochen. Er hatte ihr vor sechs Monaten nicht einmal sein Beileid ausgedrückt.

Blanche wollte nicht weiter darüber nachdenken. Und zum Glück eilte in diesem Augenblick ihre andere beste Freundin herein. Felicia hatte kürzlich zum dritten Mal geheiratet, nachdem ihr letzter Gemahl, ein junger, gut aussehender und sehr kühner Reiter, bei einem gefährlichen Sprung über den Zaun ums Leben gekommen war. „Jamieson öffnet die vorderen Türen, meine Lieben!“, rief sie lächelnd. „Oh, Blanche, ich bin so froh, dich endlich ohne dieses schreckliche Schwarz zu sehen. Das Taubengrau steht dir so viel besser.“

Und Blanche hörte Dutzende von männlichen Stimmen und Schritten. Die Horde der Verehrer war eingetroffen.

Blanche lächelte höflich über Felicias Scherz, ohne ihn wirklich gehört zu haben. Sofort war sie von sechs jungen Männern umringt, und einundfünfzig weitere strömten in den Salon, sodass bald kein Platz mehr frei war. Mit den meisten, die vorgesprochen hatten, war sie bereits bekannt – viele Jahre lang war sie schon Harringtons Dame des Hauses gewesen. Aber in diesem Moment fühlte sie sich erschöpfter als je zuvor in ihrem Leben. Denn jetzt stand sie in ganz anderer Weise im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Sie war nicht sicher, ob sie einen weiteren bewundernden Blick aushalten oder auf eine weitere Bemerkung eingehen könnte.

In den vergangenen Stunden musste man ihr wohl hundertmal gesagt haben, wie gut sie aussah. Einige besonders Kühne hatten es sogar gewagt, ihr zu erklären, sie sei eine Schönheit. Da sie sich im Vergleich zu anderen heiratsfähigen Frauen für beinahe uralt hielt, war sie es leid, so zu tun, als glaubte sie diese Schmeicheleien. Und wie viele Galane hatten sie um eine Ausfahrt im Park gebeten? Zum Glück hatte Bess ihr zugeflüstert, dass sie sich um all diese Einladungen kümmern wollte. Ihre liebe Freundin stand an ihrer Seite, und Blanche war sicher, dass ihr Terminkalender nun für wenigstens ein Jahr voll war.

Es war so stickig hier drinnen. Während sie Ralph Witte, dem schneidigen Sohn eines Barons, höflich zulächelte, fächelte sie sich mit der Hand Luft zu. Entnervt fragte sie sich, wann der Nachmittag enden würde oder ob sie es wagen könnte zu fliehen.

Doch es kamen immer mehr Gäste an. Blanche sah ihre liebe Freundin, die Countess of Adare, die den Salon mit ihrer Schwiegertochter Lizzie de Warenne betrat. Dann entdeckte sie den großen, dunklen Mann hinter den Frauen. Einen Moment lang war Blanche wie erstarrt vor Überraschung.

Rex de Warenne zeigte sich nur selten in Gesellschaft, und sie hatte sich Gedanken über ihn gemacht. Wer tat das nicht? Aber es war Tyrell de Warenne, nicht sein Bruder, der ihren Salon betrat. Natürlich würde der zukünftige Earl of Adare seine Gemahlin begleiten.

„Blanche?“, fragte Bess. „Was ist denn?“ Blanche drehte sich um und fühlte sich seltsamerweise ein wenig enttäuscht. Es war Unsinn, sich im Stich gelassen zu fühlen, weil Sir Rex von Land’s End nicht zusammen mit seiner Familie vorgesprochen hatte, denn sie kannte ihn kaum. Sie war nur kurz mit seinem Bruder Tyrell verlobt gewesen, und daher war sie mit seiner Mutter und Tyrells Ehefrau befreundet. Dennoch glaubte sie nicht, mehr als ein halbes Dutzend Mal mit Sir Rex gesprochen zu haben in den acht Jahren seit ihrer Verlobung. In der Gesellschaft wusste man, dass er ein Einsiedler war – er zog sein Anwesen in Cornwall dem ton vor und war selten öffentlich zu sehen. Dennoch begegneten sie einander von Zeit zu Zeit auf einem Ball oder bei einem Tee. Er war immer ruhig und höflich, genau wie sie.

Und sie entschied, dass es am besten war, dass er ihr nicht kondoliert und auch nicht vorgesprochen hatte, denn sein eindringlicher Blick verursachte ihr stets ein unbehagliches Gefühl.

„Ich werde Lady Adare und Lady de Warenne begrüßen“, sagte sie rasch, erfreut über deren Gegenwart.

„Ich werde andeuten, dass du erschöpft bist“, erwiderte Bess. „Es sollte nicht lange dauern, bis alle fort sind.“

„Ich bin tatsächlich erschöpft“, gab Blanche zurück und bahnte sich den Weg durch die Menge. Dazu gehörte ein wenig Entschlossenheit, damit sie nicht aufgehalten wurde. Dann lächelte sie. „Mary, ich freue mich, dass du gekommen bist!“

Mary de Warenne, Countess of Adare, war eine gut aussehende blonde Dame. Die Frauen umarmten einander. Als Blanche vor Jahren ihre Verlobung mit Tyrell gelöst hatte, damit er die Frau heiraten konnte, die er liebte, war es ihnen leichtgefallen, eine tiefe Freundschaft zu entwickeln. „Meine Liebe, wie geht es dir?“, fragte Mary besorgt.

„Es geht mir gut, den Umständen entsprechend“, versicherte Blanche. „Lizzie, du siehst blendend aus!“ Tyrells rothaarige Gemahlin strahlte. Ihr Jüngstes – das vierte Kind – war inzwischen ein Jahr, und Blanche fragte sich, was ihr Geheimnis sein mochte.

„Ty und ich haben den Nachmittag genossen“, sagte Lizzie und drückte ihr die Hände. „Ich habe ihn so selten für mich ganz allein! Ach, Blanche, es ist wirklich verblüffend, wie die Sache sich entwickelt hat.“

Blanche brachte ein Lächeln zustande. „Und es sind alles Bewerber.“ Sie sah Tyrell an, den sie jetzt nicht mehr mit Rex verwechseln konnte. Rex war ein Kriegsheld und der besser aussehende von den beiden, auch wenn er nur selten lächelte. Außerdem waren Tyrells Augen sanft und dunkelblau – Rex’ Augen hingegen waren haselnussbraun, und sein Blick zuweilen beunruhigend. „Mylord, vielen Dank für diesen Besuch“, sagte sie und beachtete dabei höflich seinen Rang.

Er verneigte sich. „Es ist mir ein Vergnügen, Sie wieder hier zu wissen, Blanche. Geben Sie mir Bescheid, wenn ich irgendetwas tun kann.“

Sie wusste, dass er ihr gegenüber noch immer sehr dankbar war, weil sie ihn hatte gehen lassen, damit er Lizzie heiraten konnte. Dann wandte sie sich wieder den beiden Frauen zu. „Werdet ihr lange in der Stadt sein?“ Da der Familiensitz der Adares in Irland lag, wusste sie nie, ob die Familie gerade an- oder abreiste.

„Wir sind seit Neujahr in der Stadt“, antwortete Mary lächelnd. „Daher werden wir bald wieder fort sein.“

„Oh, wie schade!“ Ihr Bedauern war doch nur der Höflichkeit geschuldet, oder nicht? „Sind Captain de Warenne und Amanda auch mitgekommen? Wie geht es ihnen?“

„Nur wir drei sind hier“, sagte Lizzie. „Und natürlich meine vier Kinder. Cliff und Amanda sind auf den Inseln, aber später im Frühling werden sie auch kommen. Es geht ihnen sehr gut. Sie sind noch sehr verliebt.“

Blanche zögerte und dachte an Sir Rex. „Wie geht es den O’Neills?“

„Sean und Eleanor sind in Sinclair Hall, und Devlin und Virginia feiern ihren neunten Hochzeitstag in Paris. Ohne die Kinder.“

Sie lächelte und spürte ein wenig Anspannung. Jetzt wäre es unhöflich, sich nicht nach dem letzten de Warenne zu erkundigen. „Und Sir Rex? Geht es ihm gut?“

Lizzie lächelte weiterhin. „Er ist noch immer auf Land’s End.“

Mary warf ein: „In der letzten Zeit hat nur Cliff ihn gesehen, und das auch nur, weil er auf seinem Weg zurück auf die Inseln im letzten Herbst auf Land’s End Station gemacht hat. Rex behauptete, er würde sein Anwesen renovieren und könnte nicht fort. Ich habe ihn nicht mehr gesehen, seit Cliff mit Amanda als seiner Braut nach London zurückgekehrt ist.“

Das war vor anderthalb Jahren gewesen. Blanche empfand eine leise Besorgnis. „Sie glauben doch sicher, was Sir Rex sagt? Sie meinen doch nicht, dass etwas nicht stimmt?“

Mary seufzte. „Natürlich glaube ich ihm. Du weißt, dass er die Gesellschaft um jeden Preis meidet. Aber wie soll er eine Ehefrau finden, wenn er sich im Süden Cornwalls versteckt? Dort gibt es kaum junge Damen, die infrage kämen.“

Blanches Herz schlug schneller. Das war an sich schon eine seltsame Empfindung, denn sie geriet niemals in Erregung. „Wünscht er jetzt zu heiraten?“ Er war zwei Jahre älter als sie und hätte längst verheiratet sein sollen, dennoch war dies eine unerwartete Neuigkeit.

Mary zögerte. „Das lässt sich schwer sagen.“

Lizzie nahm ihren Arm. „Sagen wir es so – die Frauen der Familie de Warenne haben beschlossen, dass er eine eigene Familie haben sollte, und dafür ist eine Ehefrau nötig.“

Die Frauen der Familie de Warenne würden also dafür sorgen, dass er heiratete. Blanche lächelte. Seine Tage als Junggeselle waren zweifellos gezählt. Sie hatten recht. Er sollte heiraten. Es war falsch, dass er so einsam lebte.

„Und es ist nötig, dass er Land’s End verlässt“, fügte Mary hinzu. „Wie auch immer. Im Mai werden Edward und ich hier in der Stadt unseren dreiundzwanzigsten Hochzeitstag feiern. Rex wird auch kommen – die ganze Familie wird da sein, um zu feiern.“

Blanche lächelte wieder. „Das klingt wundervoll. Herzlichen Glückwunsch, Mary.“

„Ich habe so viele Enkelkinder, dass ich aufgehört habe zu zählen“, sagte Mary leise, und ihre Augen schimmerten feucht. Dann nahm sie die Jüngere bei der Hand. „Blanche, seit deiner Verlobung mit Tyrell bist du für mich wie eine Tochter. Ich hoffe sehr, dass du eines Tages ebenso viel Glück und Freude findest wie ich.“

Die Countess war eine der freundlichsten und großzügigsten Frauen, die Blanche kannte. Auch ihr Gemahl, ihre Kinder und Enkel liebten sie sehr. Ihr war ernst mit dem, was sie sagte, doch aus irgendeinem Grund machte das Blanche traurig. Sie würde nie dieselbe Freude und das Glück finden wie Mary de Warenne. Besäße sie die Fähigkeit, sich zu verlieben, würde das gewiss inzwischen anders aussehen. Gentlemen waren schon immer um Harrington Hall herumgeschlichen. Sie konnte nur vermuten, wie das wohl sein müsste, so geliebt zu werden, so sehr zu lieben, und von solch einer wunderbaren Familie umgeben zu sein.

„Ich werde einer Heirat nicht länger aus dem Weg gehen“, sagte sie langsam. „Es hat keinen Sinn. Ich kann dieses Anwesen nicht allein verwalten.“

Mary und Lizzie tauschten zufriedene Blicke. „Hast du schon jemanden im Sinn?“, fragte Lizzie aufgeregt.

„Nein, das nicht.“ Blanche bemerkte, dass der Raum inzwischen halb leer war – und ihr das Atmen jetzt leichter fiel. Sie fächelte sich Luft zu. „Das war ein langer Nachmittag.“

„Und er fängt erst an.“ Lizzie lachte, während Blanche einen Anflug von Unbehagen empfand. „Nun, mir sind einige interessante Möglichkeiten aufgefallen. Wenn ihr etwas Klatsch hören wollt, sagt Bescheid.“ Lizzie lachte wieder und streckte jetzt ihre Hand nach Tyrell aus. Sofort kam er zu ihr und umfasste ihre Finger, während sie sich einen Augenblick lang tief in die Augen sahen.

„Wir sollten gehen, denn du siehst sehr müde aus, meine Liebe“, bemerkte Mary. Die Frauen umarmten einander und verabschiedeten sich.

Blanche verbrachte die nächste halbe Stunde damit, den Herren zuzulächeln, die sich verabschiedeten, und gab sich große Mühe, so zu tun, als wäre sie an jedem Einzelnen interessiert. Als der letzte Besucher verschwunden war, ging sie zum nächsten Stuhl und ließ sich darauf fallen. Ihr Lächeln verschwand. Die Wangen schmerzten. „Wie soll ich das nur schaffen?“, stieß sie hervor.

Bess lächelte und setzte sich auf das Sofa. „Ich hatte den Eindruck, es lief ganz gut.“

Felicia bat einen Dienstboten, für alle drei Sherry zu bringen. „Es ging sogar sehr gut.“ Die wohlgerundete Brünette lächelte. „Ich hatte wirklich vergessen, wie viele interessante Männer es noch gibt!“

„Es ging gut? Ich habe eine schreckliche Migräne!“, rief Blanche aus. „Und nebenbei bemerkt – der Earl und die Countess Adare werden im Mai ihren dreiundzwanzigsten Hochzeitstag feiern.“

Felicia schien überrascht, Bess jedoch nicht. „Und Rex de Warenne wird auch dort sein“, sagte sie.

Blanche sah sie an. Was meinte die Freundin damit?

„Bist du sicher, dass du einen älteren Ehemann möchtest, Blanche?“ Bess lächelte.

Blanche fühlte sich unbehaglich. „Ja, ich bin ganz sicher. Warum hast du gerade Sir Rex erwähnt?“

„Oh, hm, lass mich überlegen. Ich habe hinter dir gestanden, als du mit seiner Familie über Sir Rex gesprochen hast“, meinte Bess.

Blanche begriff nicht. „Das verstehe ich nicht. Ich habe mich nach der ganzen Familie erkundigt, Bess. Willst du andeuten, dass ich mich in besonderem Maße für Sir Rex interessiere?“

„So etwas habe ich niemals behauptet“, rief Bess in gespielter Empörung aus. Und fügte dann hinzu: „Komm schon, Blanche. Es ist nicht das erste Mal, dass sein Name erwähnt wird.“

„Er ist ein Freund der Familie. Ich kenne ihn seit Jahren.“ Blanche war immer noch verwirrt und zuckte die Achseln. „Ich habe mich nur gewundert, warum Sir Rex nie hierhergekommen ist. Das war schon sehr auffällig. Beinahe verletzend. Das ist alles.“

Bess richtete sich auf. „Möchtest du, dass er dir den Hof macht?“

Blanche sah sie nur an. Dann lächelte sie – und lachte kurz auf. „Natürlich nicht! Ich möchte eine friedliche Zukunft. Sir Rex ist ein sehr düsterer Mann. Jeder weiß, dass er grüblerisch ist. Und ein Einsiedler. Wir würden nicht zusammenpassen. Mein Leben findet hier statt, in London, seines in Cornwall.“

Bess schmunzelte. „Wirklich? Ich habe ihn stets geradezu beunruhigend attraktiv gefunden.“

Blanche wurde blass. Sie wollte nicht wissen, was das bedeutete. Und nur bei ihrer Freundin konnte eine solch unpassende Bemerkung durchgehen. Sie beschloss, deren Worte zu ignorieren. „Wenn überhaupt, dann will ich mein altes Leben zurückhaben“, sagte sie schroff.

„Ja, natürlich willst du das. Dein altes Leben war einfach perfekt. Du konntest dich auf deinen Vater verlassen und durch mich und Felicia leben.“

Felicia zog eine Ottomane heran, als ihnen endlich der Sherry serviert wurde. „Bess, nach Hals Tod versuchte ich, ihn zu verführen. Er ist wirklich ein Bauer. Tatsächlich mangelte es ihm so sehr an Charme, dass er beinahe unhöflich war. Für Blanche wäre er der denkbar schlechteste Kandidat.“

Blanche zögerte nicht, ihn zu verteidigen, denn sie hasste böse Worte. „Du hast seine zurückhaltende Art falsch verstanden, Felicia“, erklärte sie sanft. „Sir Rex ist durch und durch vornehm. Mir gegenüber hat er sich stets wie ein perfekter Gentleman verhalten, und vielleicht, nur vielleicht, wollte er sich nicht mit dir einlassen.“

Felicia errötete. „Die Männer der Familie de Warenne sind berüchtigt für ihre Affären – bis sie heiraten. Möglicherweise ist er einfach nicht so viril.“

„Das zu sagen ist schrecklich!“, rief Blanche aus.

Jetzt mischte Bess sich ein. „Er steht in dem Ruf, Hausmädchen den Damen von Adel vorzuziehen, Felicia. Und ihm wird nachgesagt, geschickt und ausdauernd zu sein, trotz seiner Kriegsverletzung.“

Blanche starrte die Freundin an und spürte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg. „Das ist Klatsch!“ Dann fügte sie hinzu: „Ich halte es nicht für angemessen, auf diese Weise über Sir Rex zu sprechen.“

„Warum nicht? Über meine Liebhaber sprechen wir ständig – und weitaus ausführlicher.“

„Das ist etwas anderes“, beschied Blanche und merkte selbst, wie unlogisch das klang. Sie hatte in Sir Rex nie etwas anderes gesehen als einen Freund der Familie, wenn auch einen sehr entfernten.

„Es ist unglaublich, dass er mit Dienstboten ins Bett geht“, erklärte Felicia empört. „Wie unzivilisiert!“

Blanche fühlte, wie sie noch mehr errötete. „Das kann nicht wahr sein.“

„Ich hörte, wie zwei Hausmädchen sehr offen über seine Fähigkeiten sprachen – eine von ihnen kann es sogar persönlich bezeugen.“ Bess lächelte.

Blanche starrte sie an und fühlte sich jetzt noch unbehaglicher als zuvor. „Ich möchte wirklich nicht über Sir Rex sprechen.“

„Warum spielst du jetzt die Prüde?“, wollte Bess wissen.

„Es ist abscheulich, wenn ein Adliger sich mit Dienstboten einlässt“, sagte Felicia schnell, die offensichtlich nicht lockerlassen wollte.

„Nun, mit meinem Gärtner hatte ich viel Spaß“, meinte Bess und spielte auf eine frühere Affäre an.

Blanche wusste nicht, was sie von alldem denken sollte. Sie würde Sir Rex niemals verurteilen, denn es lag nicht in ihrer Natur, über irgendjemanden den Stab zu brechen. Dennoch war es nicht akzeptabel für Adlige, sich mit Dienstboten einzulassen, aber hin und wieder kam so etwas vor. Eine Mätresse konnte akzeptiert werden, solange Diskretion gewahrt wurde. Vermutlich hatte Sir Rex eine Mätresse. Doch jetzt hatte sie in Gedanken an Sir Rex einen Weg eingeschlagen, auf dem sie nicht weitergehen wollte. Wie waren sie nur auf dieses Thema gekommen? Stand er wirklich in dem Ruf, geschickt und ausdauernd zu sein? Sie wollte es wirklich nicht wissen!

„Wann hast du zum letzten Mal mit Sir Rex gesprochen?“, fragte Bess.

In diesem Punkt bewegte sie sich auf sichererem Boden. Und über diese Frage musste Blanche nicht einmal nachdenken. „Als Amanda de Warenne in die Gesellschaft eingeführt wurde – vor ihrer Heirat mit Captain de Warenne.“

Bess starrte sie an. „Willst du damit sagen, dass du dich nach einem Mann verzehrst, den du seit zwei Jahren nicht gesehen hast?“

Blanche seufzte und lächelte. „Bess, ich verzehre mich nicht nach ihm. Und es war vor anderthalb Jahren. Ehrlich gesagt, für einen Tag habe ich jetzt genug diskutiert.“ Abrupt stand sie auf. Auch ihre Füße schmerzten, und sofort vergaß sie jeden Gedanken an den Rätselhaftesten der de Warennes.

Bess erhob sich ebenfalls. Aber wie ein Terrier, der sich in einen Knochen verbissen hatte, drängte sie weiter. „Hast du bemerkt, Liebes, dass Sir Rex nicht als Bewerber um deine Hand erschienen ist?“

„Natürlich.“ Blanche zögerte. „Ich weiß, was du denkst – er braucht ein Vermögen und eine Gemahlin. Insofern ist sein Fernbleiben seltsam. Offensichtlich ist er dem Ehestand gegenüber nicht sehr zugetan.“

„Wie alt ist er?“, fragte Bess.

„Ich glaube, er ist dreißig, aber ich bin nicht sicher. Bitte, Bess, hör auf. Ich weiß, worauf du hinauswillst. Schlag dir den Gedanken aus dem Kopf, mich mit Sir Rex zu verkuppeln.“

„Ich habe dich verstimmt“, sagte Bess nach einer kleinen Pause. „Und du wirst niemals böse. Tut mir leid, Blanche. Es muss an der Aufregung über dein öffentliches Auftreten liegen. Ich würde dich niemals gegen deinen Willen mir irgendjemandem verkuppeln wollen, das weißt du.“

Blanche war erleichtert. „Ja, ich weiß. Aber du fingst an, mich zu beunruhigen. Wir wissen beide, wie hartnäckig du sein kannst. Bess, ich kann die Aufregung wegen dieser Bewerber nicht ertragen – und dies war erst der erste Tag. Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich mich jetzt gern zurückziehen.“

Bess umarmte sie. „Geh und nimm ein heißes Bad. Ich werde Anweisung geben, dass dir das Abendessen ins Schlafzimmer gebracht wird. Wir sehen uns dann morgen.“

„Danke.“ Blanche lächelte die Freundin an, umarmte Felicia und ließ die beiden allein zurück. Als sie im Hinausgehen hörte, wie sie zu flüstern begannen, wusste sie, dass sie über sie sprachen. Es war ihr egal. Sie hatten nur ihr Bestes im Sinn, und sie war wirklich erschöpft. Außerdem musste sie weiteren Gesprächen über Sir Rex aus dem Weg gehen. Denn dieses Thema war zu verstörend.

„Ich merke doch, dass du etwas planst“, erklärte Felicia.

Bess ergriff ihre Hand. „Ich denke, Blanche ist endlich an einem Mann interessiert – auch wenn sie es nicht weiß. Meine Güte – und wie lange schon? Ich glaube, sie kennt ihn seit acht Jahren!“

Felicia starrte sie an. „Du glaubst doch nicht, sie mag Rex de Warenne? Er ist ein grober, ungehobelter Mann mit einem höchst zweifelhaften Charakter!“

„Ich habe gelauscht, als sie mit der Countess of Adare sprach. Aber ich bin nicht sicher, ob ihr dieses Interesse überhaupt bewusst ist. Ihre Miene veränderte sich völlig, als sie nach Sir Rex fragte, und ihre Wangen röteten sich. Und sag doch selbst, Felicia – wann ist sie jemals aufgeregt? Oder wird bei unserem Geplauder verlegen? Und sie ist gekränkt, weil er ihr nicht sein Beileid ausgedrückt hat. Niemand kann Blanche kränken.“

Felicia war entsetzt. „Sie könnte es besser treffen. Wie kann sie ihm den Vorzug geben? Er ist so finster.“

„Das ist er – aber manche Frauen mögen grüblerische Männer. Du bist verstimmt, weil er dich zurückgewiesen hat. Wenn Blanche an ihm interessiert ist, dann müssen wir etwas tun.“

Felicia seufzte. „Falls Blanche wirklich an ihm interessiert ist, dann sollten wir etwas tun. Aber ich hoffe, du irrst dich.“ Dann fügte sie hinzu: „Was hast du vor?“

Bess bedeutete ihr zu schweigen. „Pst. Lass mich überlegen.“ Sie begann, auf und ab zu gehen.

„Im Mai wird er in der Stadt sein“, sagte Felicia.

„Bis Mai ist es noch zu lange hin.“

Insgeheim war Felicia derselben Meinung.

Bess drehte sich um. „Du kennst das Sprichwort: Wenn der Prophet nicht zum Berg kommt, dann muss der Berg zum Propheten kommen.“

„Es heißt aber auch, dass du niemanden zu seinem Glück zwingen kannst.“

„Wir fahren nach Cornwall“, erklärte Bess.

Felicia konnte sich nichts Schlimmeres vorstellen. Cornwall lag am Ende der Welt, und um diese Jahreszeit war es dort frostig kalt. „Bitte nicht. Ich habe gerade wieder geheiratet, und zufällig mag ich meinen Ehemann.“

Bess winkte ab. „Wir werden ein paar Ferientage nur für uns Mädchen planen. Aber wenn der Tag der Abreise kommt, wirst du krank werden, und meine Tochter wird vom Pferd gefallen sein.“

Felicia sah sie aus großen Augen an.

Lächelnd sprach Bess weiter. „Ich glaube, in einer Woche wird Blanche dem Tumult hier entfliehen wollen – ich wage sogar zu behaupten, sie würde nichts lieber tun. Und wir, ihre besten Freundinnen, werden sie davon überzeugen, sich auf dem Anwesen der Harringtons im Süden zu erholen.“

„Aber ich wusste gar nicht, dass Harrington ein Anwesen in Cornwall hat.“

„Hat er nicht. Jedenfalls nicht, dass ich wüsste. Aber ich habe Blanche geholfen, ihr riesiges Erbe durchzusehen, und ich werde ein paar kleine Veränderungen an den Papieren vornehmen. Denn es gibt wirklich ein kleines Anwesen in Cornwall – ein paar Meilen von Land’s End entfernt. Stell dir nur vor, was passiert, wenn sie dort ankommt und feststellt, dass ein Fehler vorliegt. Sir Rex wird sie doch gewiss nicht abweisen.“

Langsam breitete sich ein Lächeln auf Felicias Gesicht aus. „Du bist so brillant“, sagte sie.

„Ja, nicht wahr?“

2. Kapitel

Er schlug mit dem Hammer so fest zu, wie er konnte, und trieb den Nagel derart tief in den Balken, dass der Kopf fast im Holz verschwand. Der Schweiß verschleierte ihm die Sicht und lief über seinen nackten Oberkörper. Noch einmal holte er aus, und der Kopf des Nagels verschwand völlig. Aber Rex wusste, dass die körperliche Erschöpfung nichts ändern würde.

Obwohl fast zehn Jahre vergangen waren, sah er die spanische Halbinsel so deutlich vor sich, als wäre er noch dort. Von der Anhöhe wurden die Kanonen abgefeuert, Säbel klirrten, Männer schrien. Rauch erfüllte die Luft, verdeckte die Sonne. Und er lief, ohne Pferd, um seinen Freund Tom Mowbray zu retten. Bis ein brennender Schmerz in seinem Knie zu explodieren schien …

Zorn und Empörung stiegen in ihm auf. Er wollte sich jetzt nicht an den Krieg erinnern, überhaupt nie mehr. Aufgebracht warf er den Hammer zur Seite, der über den Boden rutschte, bis er an eine Säule stieß. Die Männer, die ihm halfen, die Scheune zu errichten, widmeten sich weiterhin ihrer Arbeit und achteten nicht auf ihn.

Der Brief weckte immer wieder diese verdammten Erinnerungen und damit den verfluchten Schmerz, den er gewöhnlich unterdrückte. Schwer atmend lehnte Rex sich auf seine Krücke. Das Schlimmste war, dass er diesen Brief so dringend brauchte. Und bei Tageslicht besehen konnte er nicht bedauern, Tom Mowbrays Leben gerettet zu haben, ebenso wenig wie die kurze Verbindung mit der Frau, die er einmal geliebt hatte.

Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, und der Zorn ließ ein wenig nach. All das gehörte einer fernen Zeit an, und die Vergangenheit musste begraben bleiben. Doch den Brief, in dem es um seinen Sohn ging, konnte er nicht einfach vergessen.

Denn auch wenn er den Inhalt fürchtete, so sehnte er sich doch verzweifelt danach, ihn zu lesen. Die Lektüre bereitete ihm so viel Freude – und so viel Schmerz.

Der Brief hatte ihn früh am Morgen erreicht, und seither lag er in seinem Arbeitszimmer. Da er nur einmal im Jahr eine solche Nachricht erhielt, wollte er nicht länger warten. Rasch ging er durch das Gebäude, das einmal sein Zuchtstall werden würde. Draußen standen eine Reihe von Bauwerken aus Stein, dahinter die Kapelle aus dem vierzehnten Jahrhundert. Es war ein typischer Tag in Cornwall. Der Himmel war strahlend blau, mit einzelnen Wolken, die aussahen wie gesponnene Baumwolle, während die Moore sich unendlich weit vor ihm auszudehnen schienen, dunkel, ohne Bäume und weitgehend karg. Doch selbst von hier aus konnte er in der Ferne seine Schafe und sein Vieh sehen. Der Anblick schenkte ihm einen Moment der Befriedigung. In der Nähe teilten steinerne Umfriedungen, die er selbst errichtet hatte, die Hügel. Die Einjährigen jagten einander auf einer der Weiden, Zuchtstuten grasten auf einer anderen, mit gerundeten Leibern und kurz vor dem Fohlen. Und stets hörte er hinter sich das Rauschen des Ozeans, eine ständige Erinnerung daran, wo und wer er war.

Bodenick Castle war sein Zuhause. Es war im späten sechzehnten Jahrhundert errichtet worden, auf nackten schwarzen Klippen, die steil zum Meer hinab führten, und es besaß eine schlichte, quadratische Struktur, von dem nur noch ein Turm erhalten war. Nachdem ihm das Anwesen für seine Verdienste während des Krieges überlassen worden war, hatte er vier Jahre damit verbracht, es zu renovieren, doch er hatte nicht versucht, den zweiten Turm aufzubauen, von dem nur wenige originale Steine übrig geblieben waren. Die hiesige Legende besagte, dass Piraten ihn abgerissen hätten, einen Stein nach dem anderen, auf der Suche nach einem vergrabenen Schatz. Einige Leute behaupteten, dass dieser Schatz noch immer hier versteckt sei.

Eine einzige Eiche schmückte das Schloss, an dem alter Efeu und wilde Rosen emporrankten. Eilig betrat Rex die Halle.

Drinnen war es beinahe noch kälter als draußen. Er erschauerte, denn er hatte an der Scheunenbaustelle sein Hemd liegen gelassen. Eilig lief er zu dem Turm, in dessen Erdgeschoss sein Arbeitszimmer lag. Die Furcht stieg wieder in ihm auf.

Drinnen war es dunkel, denn nur zwei kleine Fenster erhellten das runde Zimmer. Rex ging hinüber zum Schreibtisch, wo seine Papiere sorgfältig in Ordnern abgelegt waren, seine Angelegenheiten geordnet und katalogisiert. Er musste weder auf die Marke noch auf den Absender sehen, um zu wissen, woher der Brief kam – die Schrift war ihm noch immer entsetzlich vertraut.

In seinem Innern schien der Schmerz zu explodieren. Stephen war jetzt neun Jahre alt. Der Brief kam spät – er hätte schon im Januar eintreffen sollen. Aber schließlich war Julia diejenige, die ihm die Auflistung über die Fortschritte seines Sohnes dann schickte, wenn sie dazu kam. Sie hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass diese Aufgabe unter ihrer Würde war.

Wie es Stephen wohl gehen mochte? War er noch immer so ernsthaft und korrekt, entschlossen, sich auszuzeichnen, um dem Mann zu gefallen, den er für seinen Vater hielt?

Zog er die Mathematik noch immer den Klassikern vor?

Hatten sie endlich den Fechtmeister engagiert, den er empfohlen hatte?

Rex schluckte und vermochte einen Moment nicht mehr zu atmen. Schließlich setzte er sich auf die Kante seines Schreibtischs, die Krücke unter dem rechten Arm. Dann griff er mit zitternder Hand nach dem Umschlag.

Die Erinnerungen kamen wieder. Nach einer langen Rehabilitationszeit in einem Militärkrankenhaus war er nach Hause zurückgekehrt, und seine ganze Familie war gekommen, um ihn willkommen zu heißen, zusammen mit Nachbarn und Freunden. Aber Julia, seine Verlobte, war nicht dabei gewesen – nur zweimal hatte sie ihn im Krankenhaus besucht. Sofort hatte er seine Familie verlassen, um sie zu besuchen, aber sie war nicht zu Hause gewesen. Stattdessen hatte er sie in Clarewood gefunden, dem Familiensitz der Mowbrays – und in Toms Armen.

An jenem längst vergangenen Frühlingstag im Jahr 1813 hatte er sich geschworen, weder Julia noch Mowbray jemals wiedersehen zu wollen. Er war entschlossen gewesen, ihre Existenz einfach zu ignorieren – als hätte es dieses verliebte Paar nie gegeben. Als wäre sie nie seine Geliebte gewesen, als hätte er nicht Leib und Leben riskiert, um Tom vor einem sicheren Tod zu retten.

Aber die gute Gesellschaft war eine sehr kleine und überschaubare Gruppe. Ungefähr ein Jahr später hatte er gehört, dass die Mowbrays ihren ersten Sohn bekommen hatten – im Oktober. Er hatte nicht darüber nachdenken wollen, aber die Rechnung war zu offensichtlich. Da er Julia gleich nach Neujahr verlassen hatte, konnte Stephen ebenso gut sein Kind sein – auch wenn Mowbray ihre Gunst ebenfalls genossen haben sollte. Und dann hatte er den Klatsch gehört – dass der Junge ein Wechselbalg war, adoptiert oder vielleicht sogar der Sohn eines Liebhabers von Julia. Obwohl seine Eltern sehr blond waren, war der Junge so dunkelhaarig wie ein irischer Fischer.

Überrascht hatte er den Jungen in Clarewood aufgesucht, um ihn mit eigenen Augen zu sehen. Für Rex war nur ein Blick nötig, um zu erkennen, dass das Kind ein de Warenne war. Die Männer der Familie de Warenne kamen nach zwei Vorfahren: Sie waren entweder blond oder unglaublich dunkel, und gewöhnlich besaßen sie die strahlend blauen Augen der de Warennes. Rex sah einen Jungen, der für eines der Kinderporträts seines Bruders Tyrell Modell gestanden haben könnte – oder für sein eigenes.

Damit waren sie vor langer Zeit zu einer Vereinbarung gekommen. Dies war keineswegs der erste Fall dieser Art in der Gesellschaft. Die Mowbrays würden Stephen aufziehen, denn darauf bestand Julia, und Mowbray würde ihm ein Erbe zur Verfügung stellen, wie Rex es nie könnte. Als Gegenleistung dafür, dass er sein Kind dem Paar überließ, würde Rex jährliche Berichte erhalten und den Jungen einmal im Jahr besuchen. Die Wahrheit jedoch sollte verschwiegen bleiben. Mowbray wollte niemanden wissen lassen, dass Julia mit einem anderen Mann zusammen gewesen war.

Welche Ironie, dass inzwischen ein Jahrzehnt vergangen war, und Stephen weitaus mehr von Mowbray bekommen würde als ein kleines Erbe. Als Clarewood verstarb, hatte Tom den Titel eines Duke geerbt, denn sein älterer Bruder war bei einem Schiffsunglück ums Leben gekommen. Was noch wichtiger war: Es gab keine anderen Kinder. Offensichtlich war Tom nicht in der Lage, selbst ein Kind zu zeugen. Eines Tages würde Stephen Mowbray der Duke of Clarewood werden, einer der reichsten und bedeutendsten Lords des Königreiches.

Rex tat nur, was für seinen Sohn am besten war. Daran gab es keinen Zweifel. Doch jetzt hatte er das Gefühl, ihm würde ein Messer ins Herz gestoßen. Er öffnete den Brief.

Wie immer war Stephen ausgezeichnet in seinen Studien und bei all seinen Unternehmungen. Im Lesen war er weit voraus und erhielt fortgeschrittenen Unterricht in Mathematik, noch immer sein Lieblingsfach. Er sprach fließend Französisch, Deutsch und beherrschte Latein, hatte mit dem Tanzunterricht begonnen und wusste bereits geschickt mit dem Säbel umzugehen, sodass sein Lehrer ihn gern an einem Turnier seiner Altersklasse teilnehmen lassen wollte. Seine Reitkünste waren ebenso beeindruckend, und zu seinem Geburtstag hatte er ein Vollblut geschenkt bekommen. Bereits jetzt übersprang er vier Fuß hohe Zäune vollkommen mühelos. Und kürzlich hatte Mowbray ihn auf seine erste Fuchsjagd mitgenommen.

Seit Rex zu lesen begonnen hatte, verschwamm die Schrift immer mehr vor seinen Augen. Er konnte nichts mehr erkennen, obwohl ihm noch ein Absatz fehlte. Feuchte Flecken erschienen auf dem Brief, der vor seinen Augen zitterte. Rex legte das Blatt hin und gab auf. Tränen strömten ihm über das Gesicht, Tränen, die er nicht aufzuhalten vermochte.

Er hatte es so satt, vorgeben zu müssen, Stephen wäre nicht sein Sohn. Er hasste diese Briefe – und er wollte seinen Sohn in die Arme nehmen. Er wollte ihm beibringen, wie man über diese Zäune sprang, und er wollte ihn auf die Fuchsjagd mitnehmen. Aber wie konnte er das tun? So war es am besten. Er wollte nicht, dass Stephen im Exil in Land’s End lebte, wie er selbst.

Mühsam rang er um Fassung. Ach, wenn er Stephen doch nur sehen könnte, und wäre es nur ein einziges Mal. Aber er hatte den Jungen nie besucht. Wenn er dieses Arrangement aufrechterhalten wollte, dann müsste er so viel Abstand wie nur möglich zwischen ihnen halten. Stephen als Fremden zu treffen wäre unmöglich – er war sicher, dass er den Schmerz nicht ertragen würde. Vermutlich würde er in einer Opiumhölle enden – schon jetzt trank er eigentlich zu viel. Oder er würde den Jungen treffen und seine Meinung ändern. Wie selbstsüchtig das wäre!

Auf der anderen Seite könnte er sich vor Augen halten, dass Stephen eines Tages die Wahrheit erfahren würde, aber auch dieser Gedanke war nicht tröstlich. Es würde noch Jahrzehnte dauern, ehe er auf Stephen zugehen und ihm die Wahrheit über seine Eltern sagen könnte, außer, Mowbray starb einen frühen Tod. Rex verachtete Mowbray, aber nicht genug, um ihm ein solches Schicksal zu wünschen.

Finster betrachtete Rex die dunklen Steinwände, die ihn umgaben. Er fühlte sich, als wäre er lebendig begraben, hier in Bodenick, wo er so schwer gearbeitet hatte, um eine Ruine in ein gewinnbringendes Unternehmen zu verwandeln. Aber Land’s End war von dem Augenblick an sein Exil geworden, als er begriff, dass er seinen Sohn opfern musste. Der Tag, an dem der jährliche Brief eintraf, war immer der Tag, an dem ihm die vollkommene Hoffnungslosigkeit in seinem Leben bewusst wurde. Es war der Tag, an dem es nie genug Luft zum Atmen gab und das Leben ihn zu erdrücken drohte.

Rex nahm seine Krücke und holte damit weit aus. Die Lampe fiel zu Boden, und die sorgfältig sortierten Papiere flogen herum. Er stand auf, lehnte sich an den Tisch, um das Gleichgewicht zu halten, und stieß mit der Krücke heftig gegen das, was sich noch auf dem Tisch befand. Ein Glas, eine Karaffe, Briefbeschwerer und noch mehr Papiere fielen zu Boden.

Er atmete schwer, schloss die Augen und rang um Beherrschung. Dieser Tag würde vorübergehen. So war es immer. Morgen würde er seine Zuchtstuten in Augenschein nehmen, die Arbeit an der neuen Scheune wieder aufnehmen und damit anfangen, den Teich zu füllen, den er hinter dem Schlossturm anlegen wollte. Noch immer zitterte er, während er schwer und angestrengt atmete. Der Schmerz und die Verzweiflung zerrten an ihm – er fühlte gleichsam die Klauen in seiner Brust.

Er blickte hinunter zu der Karaffe, die nicht zerbrochen war, und bückte sich. Eine Feder in der Krücke ermöglichte es, dass die sich nach seinen Wünschen zusammenzog. Langsam hob er die Karaffe wieder auf. Vor langer Zeit schon hatte er gelernt, die Krücke auf jede nur erdenkliche Weise zu benutzen. Sie war nach seinen Wünschen gefertigt, mit Federn und Haken, und er war sich gar nicht mehr bewusst, dass sie da war. Sie war ein Teil seines Körpers geworden – sein rechtes Bein.

Ein Viertel des Whiskeys war noch übrig, und er trank so viel davon, wie es ihm in einem Zug möglich war.

In diesem Moment eilte ein Hausmädchen herein. „Mylord!“, rief sie und betrachtete mit großen Augen das Durcheinander, das er angerichtet hatte.

Rex trank auch den Rest aus der Karaffe und stellte sie dann wieder auf den Tisch. Langsam wandte er den Blick dem Mädchen zu. Es gab eine angenehmere Art zu vergessen.

Anne hockte auf den Knien und sammelte die Papiere auf. Sie war zwanzig Jahre alt, hübsch, drall und sehr, sehr lüstern. Vor zwei Monaten war sie in seine Dienste getreten und hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass sie mehr wollte, als sein Haus zu putzen und seine Wäsche zu waschen. Und er selbst wollte weder auf Vergnügen noch auf Leidenschaft verzichten – ohne körperliche Liebe könnte er nicht leben. Doch er war der Affäre mit der verwitweten Tochter des Wirtes überdrüssig. Daher hatte er Anne sofort eingestellt. Ihre erste Aufgabe war es gewesen, zu ihm ins Bett zu kommen – und sie hatten einander große Freude bereitet. Und das behielten sie seither bei. Er war nicht ihr erster Liebhaber, und er würde nicht der Letzte sein. Er hatte sie für ihre Liebesdienste entlohnt, indem er ihr extra Vorräte für ihre Familie gab. Es waren Pachtbauern auf einem benachbarten Land, die schwer arbeiteten. Und sie bekam einen großzügigen Lohn für die Hausarbeit.

Kürzlich jedoch hatte er gesehen, wie sie mit dem Dorfschmied liebäugelte, einem gut aussehenden Burschen, der in ihrem Alter und erst kürzlich in Lanhadron angekommen war. Rex ahnte, worauf das hinauslief, und es machte ihm nichts aus, denn sie verdiente ein eigenes Zuhause und eine Familie. Solange er ein neues Hausmädchen – und eine neue Geliebte – finden konnte, würde er diese Verbindung unterstützen und ihnen ein großzügiges Hochzeitsgeschenk geben. Aber noch hatte sie den jungen Schmied nicht geheiratet. Und Lust bot eine Ablenkung. Jetzt wollte er sich mit ihrem Körper ablenken. „Lass die Unordnung, Anne. Das kannst du später erledigen.“

Sie erschrak und sah ihn mit großen Augen an. „Mylord, ich weiß doch, wie wichtig Ihnen diese Briefe sind. Sie bedeuten Ihnen genauso viel wie meiner Mutter meine kleinen Schwestern.“

Er fühlte, wie eine neue Spannung in ihm erwachte und sich in seinen Lenden rührte. Genau das wollte er. „Komm her“, sagte er leise.

Sie verstand ihn. Langsam erhob sie sich und legte ein paar Papiere auf den Tisch. Ihre Blicke begegneten sich, ihre vollen Wangen röteten sich. Allmählich breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus. „Mylord, habe ich Ihnen letzte Nacht kein Vergnügen bereitet?“, fragte sie leise.

Seine Erregung wuchs. Er erwiderte ihr Lächeln und griff nach ihrer Hand. „Doch, das hast du. Sehr sogar. Aber die Nacht ist vorüber, oder?“

„Ihr seid so lüstern“, flüsterte sie, als er sie an sich zog.

„Macht dir das etwas aus?“, fragte er und ließ die linke Hand über ihren Rücken gleiten, bis er ihre Schenkel berührte. Hart presste er ihren Körper gegen seine Lenden. Er bebte jetzt und hielt dennoch auf seiner Krücke das Gleichgewicht.

„Wie kann mir das etwas ausmachen, wenn Sie so ein Gentleman sind und immer warten, bis ich mein Vergnügen hatte?“

Ihre Bemerkung gefiel ihm. Er hatte immer versucht, den Frauen in seinem Bett Lust zu bereiten – anders konnte er sich eine befriedigende Begegnung gar nicht vorstellen. Zudem versuchte er, sie gleichsam für seine Verletzung zu entschädigen. Keine Frau hatte je wieder darüber nachgedacht, nicht, nachdem er ihr Lust bereitet hatte.

„Möchten Sie hinaufgehen in Ihr Zimmer?“, flüsterte sie und griff nach unten, um ihn durch den Stoff der Hose hindurch zu berühren.

Ihm stockte der Atem. „Nein. Ich will dich gleich hier nehmen, auf meinem Sofa.“ Er zog sie herum und schob sie auf das Sofa. Mit einer fließenden Bewegung legte er sich auf sie und schob mit den Knien ihre Beine auseinander. Er drängte sich an sie, und sie stöhnte, legte die Hände auf seine nackte, schweißnasse Brust, und ihr Blick wurde glasig. Dann seufzte sie, schob die Hände tiefer bis zu seinem Hosenbund und fuhr mit den Fingerspitzen über die Wölbung unter dem Stoff.

Er stöhnte und griff unter ihre Röcke. Das Beste an einem willigen Hausmädchen war der völlige Mangel an Komplikationen, das Fehlen jeder Täuschung. Sie trat genauso auf, wie sie war. Anne wollte körperliche Liebe und Vergnügen – und für ihre Familie etwas zu essen. Sie wollte genau das, was er ihr bieten konnte, und dazu ein wenig zusätzliches Geld, mehr nicht. Dass sie ihn hintergehen könnte, war undenkbar.

Und gerade jetzt war sie bereit. Er rieb über ihre feuchte, warme Haut, bis ihr die Tränen in die Augen traten und sie ihn flüsternd bat, sich zu beeilen. Er erregte sie, bis sie sich unter ihm wand, dann beugte er sich vor, benutzte seine Zunge und genoss es, ihren Höhepunkt zu erleben.

Sie zögerte nicht. Schwer atmend öffnete sie geschickt die Knöpfe an seiner Hose. Jetzt lächelte er zufrieden und lag ganz still, ließ sie tun, was sie wollte. Als sie ihn an ihrer Hand spürte, beugte sie sich vor und berührte ihn eifrig mit den Lippen, erwiderte den Gefallen, den er ihr getan hatte. Rex legte den Kopf zurück. Und dann spürte er nur noch Lust.

Warum war sie nicht schon eher nach Cornwall gekommen?

Blanche blickte aus dem Kutschenfenster und bewunderte die wilde Einsamkeit der Moore. Eben, karg und baumlos, schienen sie sich endlos weit zu erstrecken. Sie hielt den Kopf aus dem Fenster, spürte den kühlen Wind, und ihre Nase war kalt. Aber der Himmel war strahlend blau, gefleckt mit weißen Wolken, während die Sonne hell und klar schien.

Sie zog den Kopf zurück. Vor einer Weile hatte ihr Herz begonnen, schneller zu schlagen, als sie die Hauptstraße an dem Schild verlassen hatten, das nach Land’s End zeigte und nach Bodenick Castle. Sie lehnte sich in dem Sitz zurück und spürte den Blick ihrer Zofe auf sich, die ihr gegenüber auf der Bank saß. Jetzt schob sie auch das andere Fenster hoch, um frische Luft in den Wagen zu lassen. Das Meer war von leuchtendem Saphirblau, schien noch weiter zu reichen, bis in die göttliche Ewigkeit. Weiter vorn sah sie ein Stück der Küstenlinie. Der Anblick war atemberaubend. Weiße Wogen schlugen an den hellen Strand, an dessen schwarzen Klippen riesige Felsen lagen.

„Mylady“, brachte Meg mühsam heraus. „Es ist so k… kalt.“

Blanche schloss das Fenster. Sie fühlte sich ein wenig atemlos. „Entschuldige, Meg.“ War sie tatsächlich aufgeregt, als wäre diese Fahrt ein Abenteuer? Es schien beinahe so.

Mit einer Kopfbewegung deutete Meg auf das andere offene Fenster. Blanche wollte es gerade schließen, als sie die Schafe und Rinder bemerkte, die auf dem Moor weideten. Sie mussten sehr nahe an Land’s End sein. Offenbar war sie zu lange in der Stadt gewesen. Dass sie sich so sehr auf die Ankunft freute.

Sie musste noch Penthwaite besuchen, das Anwesen ihres Vaters. Als sie erkannt hatte, dass ihre Freundinnen recht hatten und sie dem Andrang der Bewerber um ihre Hand entkommen musste und ein paar Ferientage in Cornwall gerade richtig sein würden, beschloss sie, die Gelegenheit zu nutzen und Sir Rex zu besuchen. Sie war an ihm nicht auf die Weise interessiert, die Bess angedeutet hatte. Das war Unsinn. Ihn zu besuchen, war gesellschaftlich angemessen – es nicht zu tun, wäre einer Beleidigung gleichgekommen. Natürlich wäre es korrekter, direkt nach Penthwaite zu fahren, sich dort einzurichten und dann in Land’s End vorzusprechen. Doch der Entschluss, für ein paar Tage in den Süden zu fahren, war so spontan gefasst worden, dass sie keine Zeit gehabt hatten, den Verwalter von Penthwaite über ihre Ankunft in Kenntnis zu setzen. Tatsächlich war nicht ganz klar, wer dieser Verwalter überhaupt war. Ihre Anwälte hatten überhaupt gerade erst herausgefunden, dass dieses Anwesen existierte, denn die Urkunde hatte zwischen zwei Schubladen geklemmt, und das schon seit Jahren. Bess war diejenige, die entschieden hatte, direkt nach Land’s End zu fahren, dort zu übernachten und dann zu dem benachbarten Anwesen zu reisen.

Es erschien vernünftig, Sir Rex zu bitten, ihnen für eine Nacht Quartier zu bieten. Doch abgesehen von ihrer Zofe Meg reiste Blanche allein. Im letzten Moment war Felicia krank geworden – ein Trick, wie Blanche erkannte, da sie Lord Dagwood nicht verlassen wollte. Bess’ Tochter hatte einen Reitunfall gehabt. Deshalb wollte sie sofort nach Hause, und Blanche hatte ihr versichert, dass es ihr nichts ausmachte, allein zu reisen.

Und dem war tatsächlich so. Die Einsamkeit war überwältigend, aber sie war auch seltsam wohltuend. Jeden Tag ihres bisherigen Lebens war sie von Freunden oder Besuchern umgeben gewesen. Wenn sie nicht empfing oder selbst Besuche machte, dann ging sie ihren vielfältigen wohltätigen Aufgaben nach, zu denen viele Verabredungen und Treffen zählten.

Vier Tage waren sie von London aus unterwegs gewesen. Mit jedem Tag kamen sie an weniger Dörfern vorbei, und die Entfernungen dazwischen wurden immer größer. Mit jedem Tag waren sie weniger Reisenden begegnet und nur noch an vereinzelten Häusern vorbeigekommen. An diesem Tag waren sie noch keinem einzigen Fahrzeug begegnet. Vor vielen Stunden hatten sie das letzte Dorf passiert.

Die Einsamkeit ist herrlich, dachte Blanch und eine große Erleichterung obendrein. Nicht nur, weil sie dem Druck entkam, täglich so viele Herren zu empfangen und sich fragen zu müssen, wen sie heiraten sollte. Es gab auch keine Besprechungen mehr mit ihren Verwaltern, um die komplizierten Angelegenheiten ihres Vaters zu klären. Keine Besucher, keine Besuche. Für diese kurze Zeit hatte sie keinerlei Verpflichtungen, und das war sehr angenehm. Ein höchst unerwartetes Gefühl von Freiheit erfüllte sie.

Eine ganze Weile hatte sie jetzt das Land betrachtet und fragte sich, ob sich nicht alle wegen Land’s End täuschten. Vor einer Stunde hatten sie die Abzweigung passiert. Die Straße, auf der sie nun fuhren, war in sehr gutem Zustand – in weitaus besserem als die Hauptstraße. Weidende Rinder und Schafe waren auf dem Moor zu sehen, und sie wirkten rund und gut genährt, anders als ein großer Teil des Viehbestands, den sie bisher gesehen hatte.

Die Zofe neben ihr bewegte sich unruhig.

„Meg?“, fragte sie.

Meg verzog das Gesicht. „Es ist so kalt, Mylady. So kalt und so scheußlich.“

Blanche schüttelte den Kopf. „Es ist ein kühler Tag, aber wie kannst du sagen, dass das Moor scheußlich ist? In der großen Einsamkeit liegt Schönheit. Schönheit und Kraft. Und hast du das Meer gesehen, Meg? Das ist ganz bestimmt Gottes Werk.“

Die Zofe sah sie an, als hätte sie den Verstand verloren.

Einige Gebäude kamen jetzt in Sichtweite, und die Hügel waren nun kreuz und quer von Hecken bedeckt. Blanche holte tief Luft, als sie plötzlich ein Schloss mit einem einzigen Turm bemerkte, das den Rücken dem Horizont zugewandt hatte, wo das Meer in den Himmel überging.

Bodenick Castle ist also mitnichten nur ein Herrenhaus, stellte sie fest, als sie aus dem Kutschenfenster blickte, um das Schloss zu betrachten, während sie näher kamen. Mehrere hohe Bäume waren zu sehen, die die Straße zum Hof säumten, wo sich ein einzelner Eichenbaum vor den dunklen Mauern erhob. Eine Herde herrlicher Pferde ergriff die Flucht beim Anblick ihrer Kutsche. Entzückt setzte Blanche sich auf und sah zu, wie die Tiere neben dem Wagen hergaloppierten. Dann wandte sich die Herde ab und verschwand hinter einem Hügel.

Als ihre Kutsche sich dem Hof näherte, schweifte ihr Blick neugierig umher. An den Schlossmauern rankten wilde Rosen und Wein empor, aber offensichtlich wurden sie gepflegt. Sie wusste nicht viel über Geschichte – aber dieses Schloss war offensichtlich mehrere hundert Jahre alt. Und es war in hervorragendem Zustand – zumindest von außen. Es gab einige Gebäude aus Stein und einen Rohbau, von dem sie vermutete, dass es ein Stall werden sollte. Sie sah verschiedene Wagen, ordentlich zwischen den Gebäuden aufgestellt, und dann hörte sie Hämmern. Neben dem Turm standen mehrere sorgfältig gestutzte Büsche. Alles wirkte sehr ordentlich und gepflegt.

Bodenick Castle schien nicht so heruntergekommen zu sein, wie die Gerüchte es vermuten ließen. Es ist hervorragend unterhalten, dachte Blanche. Seltsamerweise gefiel ihr die Vorstellung. Und die Countess musste sich keine Sorgen machen – offensichtlich war ihr Sohn mit seinem Anwesen beschäftigt und hatte weder Zeit für die Stadt noch für die Heiratspläne seiner Familie.

In der Nähe der Eingangstür hielt ihre Kutsche an. Plötzlich zögerte Blanche. Sie hatte keine Nachricht geschickt, und Sir Rex schien seine Einsamkeit zu schätzen. Doch sie war eine Freundin der Familie und nun offensichtlich sogar eine Nachbarin. Sir Rex würde sie nicht fortschicken. Doch jetzt wünschte sie plötzlich, einen Tag später gekommen zu sein, sodass eine Nachricht ihn von ihrer Ankunft hätte in Kenntnis setzen können, egal, wie Bess darüber dachte.

Zum ersten Mal seit einer Woche dachte sie daran, dass Sir Rex ihr nicht kondoliert hatte. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, dann beschäftigte sie diese Unhöflichkeit, und in gewisser Weise auch die Tatsache, dass er nicht als ihr Bewerber gekommen war. Andererseits wusste sie instinktiv, dass er kein Mitgiftjäger war, selbst wenn sein Besitz bescheiden genug war, um eine Heirat aus finanziellen Gründen sinnvoll erscheinen zu lassen. Offenbar war er nie auf die Idee gekommen, in ihr eine mögliche Gemahlin zu sehen.

Dieser Gedanke bereitete ihr Unbehagen. Dabei hielt sie ihn kaum für einen passenden Kandidaten, der um ihre Hand anhalten könnte, noch weniger für einen Ehemann; also hatte es keinen Sinn, sich zu ärgern, dass er nicht zu ihr gekommen war. Sie war eine bekannte Gastgeberin, und er war bekannt für seine Zurückgezogenheit, insofern waren ihre Charaktere sehr gegensätzlich. Und sie wollte nicht länger darüber nachdenken. Doch seltsamerweise wünschte sie sich plötzlich, Bess wäre hier. Mit einem Mal kam es ihr ein wenig seltsam vor, ihn einfach so zu besuchen. Plötzlich machte sich Unruhe in ihr breit.

Doch wann immer sie sich begegnet waren, hatte er sich wie ein Gentleman verhalten. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er sie fortschickte.

Blanche lächelte ihrem Diener zu und stieg aus. „Bitte warten Sie einen Moment, bis ich mit Sir Rex über die Möglichkeit gesprochen habe, hier ein Quartier für die Nacht zu bekommen, ehe Sie die Pferde versorgen. Meg? Bleib bitte hier bei der Kutsche, bis wir wissen, ob Sir Rex zu Hause ist.“

Die Zofe nickte.

Blanche wandte sich zur Tür und hörte dabei unentwegt das Rauschen des Meeres am Strand unterhalb des Schlosses. Sie klopfte an die Vordertür, und während sie auf eine Antwort wartete, warf sie einen Blick auf die Rosenbüsche, die vor der Schlossmauer wuchsen. Sie hatte recht gehabt, es waren wilde Rosen, aber offensichtlich hatte Sir Rex einen Gärtner, der sich darum kümmerte. Sie fragte sich, wann wohl der letzte Frost gewesen war und wann die Rosen blühen würden.

Schließlich drehte sie sich wieder zur Tür um und klopfte noch einmal, diesmal ein wenig beunruhigt. Seit fast fünf Minuten stand sie nun schon hier.

„Mylady?“, rief Meg aus der Kutsche. „Vielleicht ist niemand zu Hause?“

Blanche klopfte ein drittes Mal und stellte sich ebenfalls diese Frage. Obgleich ihr nicht kalt war, war Meg bis auf die Knochen durchgefroren. Wenn niemand zu Hause war, würden sie trotzdem hineingehen und warten, bis Clarence das Gespann versorgt hatte. Bestimmt würde Sir Rex nichts dagegen haben.

Sie klopfte sehr energisch und gab dann auf, als niemand antwortete. Ihre Zofe hatte recht – es war niemand zu Hause. Und Meg fror so sehr, dass ihre Zähne klapperten. Es würde sicher weit mehr als eine Stunde dauern, ins Dorf zurückzufahren, und es wurde spät. Gewiss machte es Sir Rex nichts aus, wenn sie im Haus warteten und sich vielleicht sogar ein Feuer machten. Warum war kein Bediensteter zur Tür gekommen?

Blanche griff nach der Klinke, und die Tür ging auf, sodass sie die Eingangshalle von bescheidener Größe betreten konnte. Sie sah sich um. Zu ihrer großen Erleichterung knisterte ein Feuer in dem Kamin, der genauso alt zu sein schien wie das Schloss. Und das Feuer wies darauf hin, dass jemand zu Hause war.

Sie rief energisch: „Hallo? Ist jemand daheim?“ Aber es antwortete niemand.

Fragend sah sie sich um. Die Wände waren frisch geweißt, die Möblierung bescheiden, doch alles passte perfekt zusammen und war neu aufgepolstert. Es gab nur zwei Sitzmöglichkeiten, eine davon vor dem Kamin, sodass die Halle viel größer wirkte, als sie eigentlich war. Es gab auch nur zwei Teppiche; Orientteppiche von guter Qualität. Sie fand den Raum freundlich. Und dann sah Blanche die Sammlung von Säbeln und Schusswaffen an der Wand.

Sie wollte hinausgehen und Meg bitten, die Arbeiter nach Sir Rex zu fragen. Doch stattdessen ging sie neugierig zu der Wand hinüber. Sie war fest davon überzeugt, dass diese Waffen Sir Rex gehörten, und dass er sie im letzten Krieg benutzt hatte.

Doch es war ihr unmöglich, diese Sammlung zu bewundern. Zwei der Säbel waren Schmuckwaffen, die Griffe mit Gold verziert, die Scheide mit Gold und Silber. Sie betrachtete einen langen Säbel mit einem dunklen, ledernen Griff und ein Kurzschwert, das ebenso handlich wie bedrohlich aussah. Die Vorstellung gefiel ihr nicht, dass er diese Waffen im Krieg benutzt hatte. Sie betrachtete den langen Karabiner, dessen Schaft matt war vom vielen Gebrauch, und die kürzere Pistole. Sie wusste, dass er diese Waffen in seinen Händen gehalten, dass er mit diesen Säbeln gekämpft hatte. Diese Sammlung verursachte ihr Unbehagen. Der Krieg war schrecklich gewesen. Nicht nur für Sir Rex. Für so viele.

Ein Geräusch war zu hören.

Ein Stoß.

Dann mehrere Stöße.

Blanche war überrascht. Der rhythmische Lärm kam von der angrenzenden Tür, die vermutlich zum Turmzimmer führte. War doch jemand zu Hause? Und wenn ja – was, um alles in der Welt, passierte da?

Zögernd starrte sie auf die verschlossene Tür. „Sir Rex?“, fragte sie zaghaft.

Dann räusperte sie sich und ging näher darauf zu. „Sir Rex? Hallo! Ist jemand zu Hause?“

Der schlagende Rhythmus wurde schneller. Und Blanche glaubte, die Stimme eines Mannes zu hören. Aber es waren keine Worte. Vielleicht ein Schmerzenslaut?

Beunruhigt trat sie näher. Aber gerade als sie bei der Tür war, hörte sie die Männerstimme wieder. Und sie erkannte, was es war.

Es war ein Stöhnen der Lust.

Blanche regte sich nicht.

Die Stöße kamen öfter, schnell und heftig.

Oh weh, dachte sie. Denn jetzt hatte sie verstanden, dass sich dort in dem Raum zwei Menschen liebten.

Blanche war auf zahllosen Bällen gewesen und bei noch mehr Wochenenden auf dem Land. Sie war sich der Schäferstündchen im ton durchaus bewusst, jener, die hinter verschlossenen Türen stattfanden, und jener in Gängen und hinter Hecken. Zahllose Male war sie an Pärchen vorübergekommen, die sich in den Armen lagen, und hatte so getan, als würde sie sie nicht sehen. Aber mehr als einen leidenschaftlichen Kuss hatte sie nie miterlebt.

Wer immer dort in dem Turmzimmer sein mochte, tat weitaus mehr, als seine Partnerin nur zu küssen. Ihr Herz schlug schneller. Sie musste gehen – und zwar sofort.

Und bestimmt war es doch nicht Sir Rex dort in dem Turmzimmer?

Sie presste die Hände gegen die Wangen und spürte, wie sie rot wurde. Wer sollte es sonst sein?

Er bevorzugt Hausmädchen. Er steht in dem Ruf, geschickt und ausdauernd zu sein.

Sie wusste, dass sie auf der Stelle gehen musste. Dies war eine sehr private Angelegenheit. Doch ihre Füße wollten sich nicht bewegen. Das rhythmische Klopfen wurde jetzt immer schneller. Vor ihrem inneren Auge erschienen vage Bilder von Liebespaaren, ineinander verschlungen.

Blanche bemerkte, dass sie in unmittelbarer Nähe der Tür stand und dem Paar lauschte. Sie war schockiert. War Sir Rex dort drinnen? War er wirklich ein so guter Liebhaber? Sie sah sein Bild vor sich, schattenhaft, nackt. Er hielt eine Frau in den Armen.

Und dann schluchzte diese Frau vor Lust.

Blanche erstarrte. Ihr Herz begann so schnell zu schlagen wie nie zuvor in ihrem Leben. Sie geriet in Panik. Eigentlich wollte sie kehrtmachen und gehen, doch stattdessen stolperte sie gegen die Tür – und diese Tür ging auf.

Stumm und wie erstarrt stand Blanche da. Sir Rex bewegte sich heftig auf einer dunkelhaarigen Frau, die auf dem Sofa lag, und sie erhaschte einen Blick auf seine vor Schweiß schimmernden Schultern, seinen Rücken, sein strenges Profil und ein Gewirr von Röcken. Tief holte sie Luft. Er trug nichts als seine Hose und hatte den Körperbau eines mittelalterlichen Ritters – breite Schultern, muskulöse Arme, feste, starke Schenkel, die sich unter dem Stoff der Hose abzeichneten. Von seinem rechten Bein war der Unterschenkel während des Krieges amputiert worden, doch mit dem linken Bein stand er auf dem Boden, sodass sie nicht sehen konnte, was sie nicht sehen sollte.

Und doch konnte sie sich nicht abwenden. Während ihr Herz wie wild in ihrer Brust flatterte, stand sie nur da und starrte. Er sah aus wie ein schwarzer Engel – sein fast schwarzes Haar war feucht, die dichten schwarzen Wimpern lagen auf den unglaublich hohen Wangenknochen, die Flügel seiner geraden, nicht ganz perfekten Nase bebten. Er ist schön.

Und sie wollte gehen. Dies hier war schockierend – sie hatte schon zu viel gesehen. Sie befahl ihren Füßen, sich zu bewegen, sie fortzutragen. Doch nie zuvor hatte sie einen solchen Gesichtsausdruck gesehen. Sir Rex bewegte sich jetzt wild und heftig, und trotz all ihrer Naivität begriff sie. Er stöhnte tief.

Sie stöhnte ebenfalls.

Und dann wusste sie, dass er sie gehört hatte. Ganz plötzlich drehte er sich zu ihr um.

Sie sah seine dunklen, fast glasigen Augen.

Blanche war sich im Klaren, dass sie den schlimmstmöglichen Fauxpas begangen hatte. „Es tut mir leid!“, rief sie, jetzt vollkommen panisch.

Rückwärts ging sie hinaus, gerade als er ihr in die Augen sah und ihre Blicke sich begegneten.

Grenzenlos überrascht sah er sie an.

Sie machte kehrt und lief davon.

3. Kapitel

Rex saß auf dem Sofa, völlig verblüfft. Lady Blanche Harrington, eine Frau, die er wie keine andere bewunderte, hatte ihn mit Anne ertappt!

Er atmete schwer und wünschte, dass dies nur ein schrecklicher Albtraum war. Wenn er erwachte, würde er sicherlich erkennen, dass Blanche Harrington ihn nicht soeben mit seiner Geliebten erwischt hatte.

Anne flüsterte: „Wer war das, Mylord?“

Oh – das war kein schlechter Traum – Blanche Harrington hatte ihn mit seinem Hausmädchen im Bett angetroffen! Er bedeckte sein Gesicht mit den Händen, überwältigt von Unmut und Verlegenheit.

Einen Moment lang empfand er nur Entsetzen und Scham. Er kannte Blanche Harrington nicht besonders gut, obwohl sie einst ganz kurz mit seinem Bruder Tyrell verlobt gewesen war. Seit ihrer ersten Begegnung vor acht Jahren hatte er sie vielleicht ein halbes Dutzend Mal getroffen. Doch er hatte sofort Bewunderung für sie empfunden; ihre Anmut, Eleganz und ihr Benehmen waren sehr bemerkenswert, und er hatte seinen Bruder für blind und verrückt gehalten, dass dieser sich nicht für sie interessierte. Die wenigen Male, bei denen sie miteinander gesprochen hatten, hatte er sich bemüht, höflich, korrekt und galant zu sein. Er war entschlossen gewesen, in ihrer Gegenwart wie ein perfekter Gentleman zu erscheinen. Wie sollte er ihr jetzt gegenübertreten? Und was, um alles in der Welt, machte sie in Land’s End?

„Ist sie Ihre Zukünftige?“

Erst jetzt fiel ihm wieder ein, dass Anne neben ihm saß. Langsam ließ er die Hände sinken und spürte, wie seine Wangen brannten. Anne hatte ihre Kleider geordnet, aber ihr geflochtenes Haar war vollkommen zerzaust. Sie sah aus, als wäre sie mit jemandem im Bett gewesen – mit ihm.

„Nein“, stieß er schroff hervor. Wie kam sie nur auf so einen Gedanken?

Anne wurde blass und erschrak. Offenbar nahm sie seine Bemerkung als Tadel. „Verzeihung, Mylord“, begann sie.

„Du muss dich nicht entschuldigen. Ich habe mich schlecht benommen.“ Und er verachtete sich dafür. Was hatte er sich dabei gedacht – so etwas am helllichten Tag in seinem Arbeitszimmer zu machen? Oh ja – natürlich. Er hatte nicht mehr an Stephen denken wollen. Nun, das war ihm zweifellos gelungen. Konnte dieser Tag noch schlimmer werden? Und was sollte er tun – oder sagen –, wenn er Lady Harrington das nächste Mal begegnete?

Er konnte sich nichts Peinlicheres vorstellen, eine Begegnung, der er lieber aus dem Weg gehen wollte. Vielleicht könnte er sich in Luft auflösen.

Anne hatte sich erhoben und sammelte jetzt die Papiere ein, die auf dem Boden verstreut lagen. Er sah, was sie tat, ohne es wirklich zu verstehen. Von diesem Schock werde ich mich niemals erholen, dachte er. Auch wenn er im Vergleich zu einer so großen Dame ein Niemand war, hatte er sich in ihrer Nähe stets wie ein Gentleman benommen – in der Hoffnung, zumindest ihren Respekt zu erlangen. Stattdessen verachtete sie ihn jetzt sicherlich.

Und irgendwann musste er Land’s End verlassen. Im Mai würde er in der Stadt sein müssen. Und er war nicht so dumm zu glauben, dass sie bis dahin das kleine Zwischenspiel vergessen haben würde.

Aber warum war sie überhaupt in Land’s End?

Und gab es eine Möglichkeit, sein Benehmen zu entschuldigen, es zu erklären, sodass sie ihn nicht ganz und gar verabscheuungswürdig fände?

Rex griff nach seiner Krücke und erhob sich. Als er sich aufgerichtet hatte, sah er die große schwarze Kutsche der Harringtons auf seinem Hof. Er konnte es nicht glauben.

Sie ist noch immer auf Bodenick.

Wieder stockte ihm der Atem.

Rasch schwang er sich zum Fenster und sah sie mit ihrem Kutscher und einer Zofe zusammenstehen. Den Rücken zum Fenster gewandt, schien sie ins Gespräch vertieft. Er starrte sie an. Sie hielt sich so tadellos wie immer, doch ihre Schultern schienen ein wenig hochgezogen, ihre Haltung wirkte steif. Sie hatte die Fassung verloren – was nur zu verständlich war.

Er kämpfte gegen den Wunsch an, sich zu verstecken, bis sie fort war – doch dieser Kampf war schnell entschieden. Wenn sie in seiner Auffahrt stehen blieb, musste er hinausgehen, sie begrüßen und sich bei ihr erkundigen, was sie so weit nach Süden geführt hatte. Aber er war überrascht, dass sie nicht in ihre Kutsche gestiegen und so schnell sie konnte davongefahren war. Was immer sie für einen Grund gehabt hatte, nach Land’s Ende zu kommen, es musste wichtig gewesen sein.

Rex fluchte. Es gab keine Möglichkeit, ihr jetzt aus dem Weg zu gehen. Er musste sich entschuldigen, das ließ sich nicht umgehen. Nur dass eine solche Entschuldigung noch mehr Befangenheit heraufbeschwören würde – und für ihn wäre es peinlich. Aber wenn er sich nicht entschuldigte, war das noch schlimmer. Verdammt, es gab keine elegante Möglichkeit, sein Bedauern auszudrücken.

Autor

Brenda Joyce
<p>Brenda Joyce glaubt fest an ihre Muse, ohne die sie nicht New-York-Times-Bestseller-Autorin hätte werden können. Ihre Ideen treffen sie manchmal wie ein Blitz – zum Beispiel beim Wandern, einem ihrer Hobbys neben der Pferdezucht. Sie recherchiert für ihre Historicals so genau, dass sie auch reale historische Figuren und sogar echte...
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