Maskenball um Mitternacht

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Auf einem Maskenball in London begegnet Callie einem mysteriösen Fremden. Erst rettet er sie vor einem aufdringlichen Verehrer, dann stiehlt er ihr dreist einen Kuss. Callie ist sofort hingerissen von diesem Mann - und kann nicht glauben, was ihr Bruder über ihn erzählt. Versucht der Earl of Bromwell wirklich nur aus Rache, ihr Herz zu erobern? Oder ist er das Opfer einer schmählichen Intrige? Auf der Suche nach der Wahrheit kommt Callie dem verführerisch charmanten Brom immer näher. Doch dann stößt sie auf ein Netz aus Lügen und Geheimnissen, das ihre junge Liebe auf eine gefährliche Probe stellt...


  • Erscheinungstag 10.04.2013
  • Bandnummer 3
  • ISBN / Artikelnummer 9783862787715
  • Seitenanzahl 320
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Candace Camp

Maskenball um Mitternacht

Roman

Aus dem Amerikanischen von
Traudi Perlinger

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MIRA® TASCHENBUCH


MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2013 by MIRA Taschenbuch

in der Harlequin Enterprises GmbH

Deutsche Taschenbucherstausgabe

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

The Wedding Challenge

Copyright © 2008 by Candace Camp

erschienen bei: HQN Books, Toronto

Published by arrangement with

HARLEQUIN ENTERPRISES II B. V./S.àr.l.

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Bettina Lahrs

Titelabbildung: Harlequin Enterprises S.A., Schweiz

Autorenfoto: © Harlequin Enterprises S.A., Schweiz

Satz: GGP Media GmbH, Pößneck


ISBN 978-3-86278-771-5

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

1. KAPITEL

Lady Odelia Pencullys großer Maskenball versprach einer der glanzvollen Höhepunkte der Saison zu werden – die eigentlich noch lange nicht begonnen hatte. Wer keine Einladung zu diesem wichtigen gesellschaftlichen Ereignis erhalten hatte, fühlte sich brüskiert, wenn nicht gar von der Gesellschaft gemieden. Und wer eine Einladung in Händen hielt, setzte alles daran, an dem Fest teilzunehmen.

Lady Pencully war entweder durch Blutsbande oder Heirat mit der Hälfte der mächtigsten und vornehmsten Adelshäuser des Königreiches verwandt, denn sie war die Tochter eines Dukes und Gattin eines Earls. Somit stellte sie eine der Säulen der Gesellschaft dar, und niemand hätte riskiert, sich mit ihr zu überwerfen. Einst, in der Blüte ihrer Jahre, war sie durch ihre spitze Zunge und einen eisernen Willen die unangefochtene Alleinherrscherin sowohl ihrer Familie als auch des gesamten ton gewesen. Und obgleich sie nun im fortgeschrittenen Alter die meiste Zeit des Jahres auf ihrem Landsitz in Kent verbrachte und nur während der Saison in London weilte, übte sie nach wie vor einen nicht zu unterschätzenden Einfluss aus. Dank eifriger Korrespondenz hielt sie sich stets über die neuesten Nachrichten und Skandale auf dem Laufenden und scheute sich nicht, Freunden und Familienangehörigen schriftlich ungebetene Ratschläge zu erteilen, wenn sie dies für nötig erachtete.

Bereits die Ankündigung, sie beabsichtige, ihren fünfundachtzigsten Geburtstag mit einem großen Ball zu begehen, sorgte für helle Aufregung. Niemand wollte dem Fest fernbleiben, obgleich es im Januar stattfand – außerhalb der Saison, in der unwirtlichsten Zeit des Jahres. Weder Eis noch Schnee oder die Beschwernisse, ein Stadthaus im Winter für kurze Zeit zu öffnen und bewohnbar zu machen, konnte die Damen des ton daran hindern, sich aller Mühen zu unterziehen, um ihre Teilnahme zu garantieren. Immerhin konnte man sich damit trösten, dass London nicht wie sonst um diese Jahreszeit ausgestorben war, da alles, was Rang und Namen hatte, Lady Odelias Fest besuchen würde.

Unter den Gästen, die von ihren Landsitzen angereist waren, befanden sich auch der Duke of Rochford und seine Schwester Lady Calandra in Begleitung ihrer Großmutter, der verwitweten Duchess of Rochford. Der Duke, einer der wenigen, der es gewagt hätte, die Einladung abzulehnen, war von seiner Großmutter streng gemaßregelt worden. Er sei schließlich Lady Odelias Großneffe und habe sich als Gentleman und Erbe des Titels an familiäre Verpflichtungen gebunden zu fühlen. Im Übrigen hatte er geschäftliche Angelegenheiten in London zu erledigen.

Die Dowager Duchess of Rochford, die der älteren Schwester ihres verstorbenen Gemahls wenig Sympathien entgegenbrachte, war der Einladung gefolgt, da Lady Pencully zu den wenigen noch lebenden Angehörigen ihrer Generation zählte – wobei die Duchess gern betonte, Lady Pencully sei um einige Jahre älter als sie selbst. Außerdem zählte sie ihre Schwägerin zu den wenigen Damen der Gesellschaft, die sie als wirklich ebenbürtig erachtete. Lady Odelia gehörte schlicht und einfach zu ihren Kreisen, auch wenn die Duchess gelegentlich Odelias schockierend schlechte Manieren beklagte.

Von den drei Fahrgästen in der Karosse, die sich in der langen Wagenschlange im Schneckentempo dem Portal des eleganten Herrenhauses in Cavendish Crescent näherte, war nur Lady Calandra von echter Vorfreude erfüllt.

Mit ihren dreiundzwanzig Jahren war Callie, wie sie von Freunden und der Familie genannt wurde, bereits vor fünf Saisons in die Gesellschaft eingeführt worden. Ein Londoner Ball zu Ehren ihrer hochbetagten Großtante hätte daher nicht ohne Weiteres besonderen Reiz auf sie ausgeübt. Allerdings hatte sie drei endlos lange Monate auf dem Familiensitz Marcastle zugebracht – die sich noch quälender in die Länge zogen wegen der ungewöhnlich häufigen trüben Regentage und der ständigen Gegenwart ihrer Großmutter.

Für gewöhnlich pflegte die Dowager Duchess einen Großteil des Jahres in ihrem Haus in Bath zu verbringen, wo sie über die betulich biedere und ehrenwerte Provinzgesellschaft herrschte. Nur gelegentlich, vorwiegend während der Saison, reiste sie nach London, um darüber zu wachen, dass ihre Enkelin sich sittsam benahm.

Gegen Ende der letzten Saison hatte sie indes beschlossen, es sei an der Zeit, dass Lady Calandra sich vermähle, und es sich zur Hauptaufgabe gemacht, eine Verlobung ihrer Enkelin zu arrangieren – selbstredend mit einem untadeligen jungen Aristokraten. Aus diesem Grund hatte sie auf ihre alljährliche Winterkur in Bath verzichtet und die Unbequemlichkeiten des alten zugigen Familiensitzes in Norfolk auf sich genommen.

Callie war also in den letzten Monaten nicht nur wegen des unerfreulichen Wetters in dem alten Gemäuer eingesperrt, sondern auch gezwungen gewesen, sich die unablässigen Ermahnungen der alten Dame anzuhören. Vorträge über sittsames Betragen und ihre Pflicht, sich tunlichst bald zu vermählen, hatten ebenso dazugehört wie etliche Vorschläge, welchen Kandidaten aus den Kreisen der Hocharistokratie sie ihr empfehlen würde.

Es war also nur verständlich, warum die Vorfreude auf einen festlichen Ball Callie in Hochstimmung versetzte. Sie fieberte dem Vergnügen entgegen, zu den Klängen schwungvoller Musik über das Parkett zu wirbeln und mit Freundinnen zu plaudern und zu scherzen. Zudem war Lady Odelias großes Fest als Maskenball avisiert, was Callies Vorfreude noch steigerte und dem Ball in ihren Augen ein gewisses geheimnisvolles Flair verlieh.

Mit großer Begeisterung hatte sie sich auf die Wahl eines Kostüms gestürzt und sich nach langem Überlegen und Beratungen mit ihrer Schneiderin für das Gewand einer Dame am Hofe Heinrichs VIII. entschieden. Die eng anliegende Tudorhaube rahmte vorteilhaft ihr fein geschnittenes ovales Antlitz. Das historische Kostüm aus tiefrotem Samt bildete einen vortrefflichen Kontrast zu ihren schwarz glänzenden Locken und ihrem zarten Teint und war ihr überdies eine willkommene Abwechslung zu den üblichen hellen Farben, die einer unverheirateten jungen Dame der Gesellschaft zugebilligt wurden.

Callie warf ihrem Bruder einen Blick zu. Rochford hatte, wie nicht anders zu erwarten, jegliche Kostümierung abgelehnt. Er trug einen eleganten schwarzen Abendanzug und eine blendend weiße, makellos geschlungene Halsbinde. Sein einziges Zugeständnis an die Kleiderordnung des Abends bestand aus einer schwarzen Halbmaske. Mit seinem lackschwarzen Haar und den markant geschnittenen Gesichtszügen strahlte er die Verwegenheit eines geheimnisumwitterten Romanhelden aus, dem nicht wenige weibliche Ballgäste schmachtende Blicke zuwerfen würden.

Er fing ihren Blick lächelnd auf. „Freust du dich, wieder einmal tanzen zu dürfen, Callie?“

Sie erwiderte sein Lächeln. Mochten viele Menschen ihren älteren Bruder auch für reserviert und kühl halten, ihn sogar als abweisend bezeichnen, sie wusste, dass er keineswegs gefühlskalt war. Er war lediglich zurückhaltend und scheute sich, allzu schnell Sympathien zu zeigen. Und Callie hatte Verständnis für seine Haltung, da auch sie gemerkt hatte, dass sich Menschen bei ihr einschmeicheln wollten, weniger, um sich mit ihr anzufreunden, sondern wegen gesellschaftlicher und finanzieller Vorteile, die sie sich durch die Bekanntschaft mit der Schwester eines Dukes erhofften. Vermutlich hatte Sinclair noch bedeutend schlechtere Erfahrungen gemacht, denn er war bereits in jungen Jahren zu Rang und Reichtum gekommen, ohne den Schutz und die Anleitung eines älteren Verwandten zu genießen.

Ihr Vater war verstorben, als Callie fünf Jahre alt war. Ihre Mutter, eine liebenswürdige Frau, stets umgeben von einem Hauch der Trauer, der sie umwallte wie ein feiner Schleier, folgte dem geliebten Gatten neun Jahre später ins Grab. Außer der Großmutter war Sinclair Callies einziger naher Verwandter. Der um fünfzehn Jahre ältere Bruder hatte die Rolle des Vormunds übernommen und war ihr stets mehr wie ein junger verständnisvoller Vater erschienen denn wie ein älterer Bruder. Callie vermutete, er habe sich nicht zuletzt dazu bereit erklärt, zum Geburtstagsfest ihrer Großtante nach London zu reisen, um seiner kleinen Schwester damit einen Gefallen zu erweisen.

„Oh ja, ich freue mich sehr darauf“, antwortete sie. „Schließlich habe ich seit der Hochzeit von Irene und Gideon nicht mehr getanzt.“

Jeder in der Familie und im näheren Bekanntenkreis wusste, dass Lady Calandra eine unermüdliche und leidenschaftliche Tänzerin war oder es vorzog, im gestreckten Galopp querfeldein zu reiten und ausgedehnte Wanderungen zu unternehmen, statt mit einer Handarbeit vor dem Kamin zu sitzen oder Etüden auf dem Pianoforte zu üben.

„Und Weihnachten?“, fragte der Duke mit hochgezogenen Brauen.

Callie verdrehte die Augen. „Ich bitte dich! Zur Klavierbegleitung der Gesellschafterin von Großmama mit dem eigenen Bruder zu tanzen zählt wirklich nicht.“

„Zugegeben, es war ein langweiliger Winter“, räumte Rochford ein. „Bald reisen wir nach Dancy Park, versprochen.“

Callie lächelte. „Oh ja, es wäre sehr schön, Constance und Dominic bald wiederzusehen. Ihre Briefe sind geradezu überschäumend vor Glück, seit sie in anderen Umständen ist.“

„Aber Calandra, über so etwas spricht eine Dame nicht im Beisein eines Gentlemans“, tadelte die Dowager Duchess.

„Aber es ist doch nur Sinclair“, gestattete Callie sich einen Einwand und unterdrückte ein Seufzen. Sie war stets bemüht, die strikten Ansichten ihrer Großmutter über gesittetes Benehmen zu respektieren, aber nach drei Monaten ständiger Zurechtweisungen war ihr Nervenkostüm ziemlich wund gescheuert.

„Richtig“, pflichtete Rochford seiner Schwester schmunzelnd bei. „Schließlich bin ich es nur, und außerdem kennen wir ihr loses Mundwerk.“

„Lach du nur!“, tadelte seine Großmutter. „Aber eine Dame von Callies gesellschaftlichem Rang hat sich stets mit äußerster Diskretion zu benehmen, zumal sie noch unverheiratet ist. Ein wahrer Gentleman wünscht sich keine Braut, die sich nicht untadelig zu benehmen weiß.“

Rochfords Gesicht nahm den Ausdruck distanzierter Arroganz an, den Callie als seine „Aristokratenmiene“ bezeichnete. „Gibt es etwa einen Gentleman, der es wagt, Calandra als indiskret zu bezeichnen?“

„Natürlich nicht“, beeilte die Duchess sich zu versichern. „Aber eine Dame, die sich auf der Suche nach einem Gatten befindet, sollte besonders achtsam sein in allem, was sie tut oder sagt.“

„Bist du auf der Suche nach einem Gatten, Callie?“, fragte Rochford mit einem spöttischen Blick an seine Schwester gewandt. „Davon weiß ich ja gar nichts.“

„Nein, bin ich nicht“, erklärte Callie knapp.

„Natürlich bist du das“, widersprach ihre Großmutter. „Jede unverheiratete Frau ist auf der Suche nach einem Ehemann, ob sie es zugibt oder nicht. Du bist keine Debütantin mehr in deiner ersten Saison, meine Liebe, sondern dreiundzwanzig. Beinahe jedes Mädchen, das mit dir in die Gesellschaft eingeführt wurde, ist bereits verlobt – sogar die mondgesichtige Tochter von Lord Thripp.“

„Ist ihr Verlobter nicht der ‚irische Earl mit mehr Pferden als Erfolgsaussichten‘?“, fragte Callie. „So nanntest du ihn noch vor einer Woche.“

„Natürlich erwarte ich mir einen weitaus besseren Ehemann für dich“, entgegnete ihre Großmutter. „Aber ich finde es geradezu peinlich, dass dieses Pummelchen sich vor dir verlobt hat.“

„Callie bleibt noch genügend Zeit, einen Ehemann zu finden“, erklärte Rochford leichthin. „Und ich kann dir versichern, verehrte Großmama, es gibt eine Reihe von Herren, die bei mir um ihre Hand anhalten würden, hätten sie auch nur die geringste Ermunterung.“

„Die du, wenn ich darauf hinweisen darf, bisher noch keinem Kandidaten gegeben hast“, warf die Duchess spitz ein.

Der Duke zog skeptisch die Brauen hoch. „Aber Großmutter, du wärst doch gewiss nicht damit einverstanden, wenn ich Lebemänner und Glücksritter dazu ermutigen würde, Calandra den Hof zu machen, nicht wahr?“

„Selbstverständlich nicht. Wie kannst du nur so reden?“ Die Dowager Duchess gehörte zu den wenigen Menschen, die nicht in ehrfürchtigem Respekt vor Rochford verstummten, im Gegenteil, sie ließ sich kaum eine Gelegenheit entgehen, ihn ihre Meinung wissen zu lassen. „Ich will damit nur sagen, es ist doch allgemein bekannt, dass jeder Verehrer deiner Schwester mit einem Verhör deinerseits zu rechnen hat. Und die wenigsten Herren wollen es auf eine Auseinandersetzung mit dir anlegen.“

„Wirke ich denn so Furcht einflößend? Das ist mir völlig neu“, entgegnete Rochford milde. „Wie dem auch sei, ich verstehe nicht, warum Callie sich für einen Mann erwärmen sollte, der nicht zu einer Unterredung mit mir bereit ist.“ Er wandte sich an Callie. „Bist du denn an einem bestimmten Herrn interessiert?“

Callie schüttelte den Kopf. „Nein, ich bin mit meinem Leben ganz zufrieden, so wie es ist.“

„Du wirst aber nicht ewig eine der begehrtesten jungen Damen Londons sein“, gab ihre Großmutter zu bedenken.

„Umso mehr sollte sie ihr Leben jetzt genießen“, stellte Rochford fest und beendete damit die Diskussion.

Dankbar für das Eingreifen ihres Bruders wandte Callie den Blick aus dem Fenster, spähte durch den Spalt des Vorhangs auf die Karossen vor ihnen. Allerdings fiel es ihr schwer, die Worte ihrer Großmutter zu verdrängen.

Dabei hatte Callie die Wahrheit gesprochen. Eigentlich war sie mit ihrem Leben recht zufrieden. Im Frühling und in den Sommermonaten stürzte sie sich mit Begeisterung in den Londoner Gesellschaftstrubel – besuchte Tanzveranstaltungen, Empfänge, Theater und Oper – und wusste sich auch die übrige Zeit des Jahres zu beschäftigen. Sie verfügte über einen großen Freundeskreis und hatte sich in den letzten Monaten besonders mit Constance angefreundet, der frischgebackenen Gemahlin von Viscount Leighton. Wenn sie Sinclair nach Dancy Park begleitete, verbrachte Callie viel Zeit mit ihr, da Redfields, das Herrenhaus, das Dominic und Constance bezogen hatten, nur wenige Meilen entfernt lag. Der Duke besaß noch eine Reihe anderer Residenzen, die er in regelmäßigen Abständen besuchte, und Callie begleitete ihn häufig auf diesen Reisen. Sie langweilte sich eigentlich nie, liebte es, lange Ausritte zu unternehmen oder ausgedehnte Wanderungen in der Umgebung, und sie hatte keinerlei Vorbehalte, mit den Dorfbewohnern und der Dienerschaft zu plaudern. Seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr kümmerte sie sich zudem um den Haushalt des Dukes, in dem es ständig etwas zu tun gab.

Trotz alledem wusste sie, dass ihre Großmutter recht hatte. Es wurde bald Zeit für sie, sich zu vermählen. In zwei Jahren wurde sie fünfundzwanzig, ein Alter, in dem die meisten jungen Mädchen verheiratet waren. Wenn sie nach diesem ominösen Datum immer noch ledig wäre, würde sie über kurz oder lang als Mauerblümchen gelten, eine Bezeichnung, der sie keinen Reiz abgewinnen konnte.

Es war ja auch nicht so, als hätte Callie etwas gegen eine Heirat einzuwenden. Nicht wie ihre Freundin Irene Wyngate, die stets im Brustton der Überzeugung erklärt hatte, sie würde niemals heiraten – eine Einstellung, die sie in der Sekunde aufgegeben hatte, als sie Lord Radbourne kennenlernte. Nein, Callie hatte durchaus den Wunsch zu heiraten, wollte einen Ehemann, hübsche Kinder und ein eigenes Haus haben.

Das Problem bestand bloß darin, dass ihr noch kein Mann begegnet war, den sie heiraten wollte. Zugegeben, es hatte Zeiten gegeben, in denen sie sich in das Lächeln eines hübschen jungen Mannes verliebt hatte oder breite Schultern in einer Husarenuniform ihr Herz höherschlagen ließen. Aber diese Episoden waren nur flüchtige Schwärmereien gewesen, und der Mann war ihr bisher noch nicht begegnet, mit dem sie sich vorstellen konnte, jeden Morgen am Frühstückstisch zu sitzen – ganz zu schweigen von der vagen geheimnisumwitterten dunklen Faszination, mit ihm das eheliche Bett zu teilen.

Callie hatte den Gesprächen anderer jungen Frauen gelauscht, die von diesem oder jenem Gentleman schwärmten, und sie hatte sich gewundert, wie bedenkenlos andere sich in den Bann der Liebe verstrickten. Sie hatte sich gefragt, ob diese jungen Mädchen eine Ahnung hatten von der anderen Seite tiefer Liebe und wehmütig an die bitteren Tränen gedacht, die ihre Mutter noch Jahre nach dem Tod ihres geliebten Ehemannes vergossen hatte. Eine Frau, die sich in ihrem Schmerz in ein stilles trauriges Gespenst verwandelt hatte, bis der Tod sie endlich erlöste. Callie fragte sich, ob das Wissen um den Kummer, den die Liebe mit sich bringen konnte, sie daran hinderte, sich wirklich zu verlieben … oder ob ihr diese Empfindung einfach ganz fehlte.

Sie verdrängte ihre trüben Gedanken, als die herzogliche Kutsche an den Marmorstufen vor dem hell erleuchteten Haus hielt, ein Lakai herbeieilte und den Wagenschlag öffnete. Sie nahm sich fest vor, sich durch nichts, weder durch die Kritik ihrer Großmutter noch durch ihre Selbstzweifel, diesen Abend verderben zu lassen.

Eilig rückte sie ihre zierliche Halbmaske zurecht, bevor sie die Hand ihres Bruders ergriff, der ihr beim Aussteigen behilflich war.

Im Ballsaal wurden sie von Lady Francesca Haughston begrüßt, die von Callie trotz der blauen Satinmaske sofort erkannt wurde. In einen Traum aus cremefarbenem Tüll, goldener und blauer Seide gehüllt, näherte sich Lady Francesca den neuen Gästen. Sie hatte das Kostüm einer romantischen Schäferin gewählt und sah aus, als sei sie einem Gemälde von Watteau entstiegen. Ihre blonde, kunstvoll hochgesteckte Lockenfrisur war mit blauen Schleifen verziert, den Knauf ihres weißen, blau umwickelten Hirtenstabs schmückte ebenfalls eine große blaue Satinschleife. Der weite blaue Satinrock, seitlich gerafft und von Rosetten gehalten, gab den Blick auf cremefarbene Tüllwolken des Unterkleides frei. Goldene Seidenpumps vervollständigten das bezaubernde Kostüm.

„Welch ein entzückender Anblick“, meinte Rochford gedehnt, während er sich über Lady Francescas Finger beugte.

„Während Sie, wie ich sehe, sich nicht der Mühe einer Kostümierung unterzogen“, entgegnete sie spitz. „Das hätte ich mir denken können. Ich fürchte, Sie schulden Lady Odelia eine Erklärung. Sie war richtig besessen von der Idee eines Maskenballs, müssen Sie wissen.“

Sie wies mit dem Fächer zur entlegenen Stirnseite des Ballsaals. Auf einem Podest thronte Lady Odelia auf einem hohen, mit Samt bezogenen Lehnstuhl. Sie trug eine karottenrote Perücke, deren Kringellöckchen von einem Goldreif gehalten wurden. Ihr Gesicht war weiß geschminkt. Im Nacken ragte der Halbmond einer hohen steifen Halskrause auf. An ihrem durch ein enges Schnürkorsett flach gedrückten Busen hingen viele Reihen Perlenketten, die bis zur spitz zulaufenden Taille des prächtigen Brokatgewandes reichten. Jeden ihrer Finger schmückte ein kostbarer edelsteinbesetzter Ring.

„Aha, die gute Queen Bess“, stellte Rochford fest, der Francescas Block gefolgt war, „allerdings nicht mehr in der Blüte ihrer Jahre.“

„Hüten Sie sich um Himmels willen, eine Bemerkung diesbezüglich fallen zu lassen“, warnte Francesca. „Sie kann nicht mehr lange genug stehen, um alle Gäste zu empfangen, deshalb beschloss sie, stattdessen Hof zu halten. Ziemlich gewitzt, wie ich finde.“

Francesca wandte sich mit einem liebevollen Lächeln an Callie: „Wie schön, dich zu sehen, meine Liebe. Auf dich ist wenigstens Verlass. Du siehst ganz entzückend aus.“

Callie erwiderte Francescas Begrüßung herzlich. Sie kannte Lady Haughston seit ihrer Kindheit, da Francesca, die Schwester von Viscount Leighton, in Redfields aufgewachsen war, in direkter Nachbarschaft von Dancy Park, einem Landsitz des Dukes. Als Kind hatte Callie die um einige Jahre ältere Francesca sehr bewundert. Nachdem sie Lord Haughston geheiratet hatte und aus Redfields fortgezogen war, hatte Callie sie nur noch bei ihren seltenen Besuchen im Elternhaus gesehen. Später, nachdem Callie in die Gesellschaft eingeführt worden war, waren sie sich wieder häufiger begegnet. Und mittlerweile nahm die seit fünf Jahren verwitwete Lady Francesca eine führende Position in der vornehmen Gesellschaft ein. Ihr unfehlbarer Geschmack in Mode- und Stilfragen war berühmt, und sie zählte auch mit Anfang dreißig nach wie vor zu den schönsten Frauen Londons.

„Du stellst mich völlig in den Schatten, liebste Francesca“, erklärte Callie lachend. „Du siehst hinreißend aus. Hat Tante Odelia es etwa geschafft, dich zu überreden, das Fest zu organisieren und auch die Gäste zu empfangen?“

„Ach, meine Liebe, nicht nur das. Sie hatte plötzlich Bedenken, einen Ball zu ihren eigenen Ehren zu veranstalten. Also schob sie ihre Schwester Lady Radbourne vor – und natürlich die neue Countess of Radbourne. Ich nehme an, du kennst Irene?“ Francesca drehte sich ein wenig, um auch die Dame in ihrer Begleitung mit ins Gespräch einzubeziehen.

„Natürlich“, antwortete Callie. Die gehobene Gesellschaft Londons war überschaubar, und sie kannte Lady Irene seit einigen Jahren, wenn auch nur flüchtig. Als sie jedoch vor wenigen Monaten Gideon, Lord Radbourne, heiratete, der durch eine Seitenlinie mit Lady Calandra und dem Duke verwandt war, hatten die beiden sich angefreundet.

Irene begrüßte sie in ihrer offenen Art. „Guten Abend, Callie. Wie schön, dich zu sehen. Erzählt Francesca dir etwa, wie unverschämt ich ihre Gutmütigkeit ausgenutzt habe?“

„Du übertreibst, Irene“, wehrte Francesca bescheiden ab.

Irene lachte. Die hochgewachsene junge Frau mit goldblonden Locken war eine atemberaubende Erscheinung im wallenden weißen Gewand einer antiken griechischen Göttin. Ihre ungewöhnlich goldbraunen Augen blitzten vergnügt. Die Ehe bekam Irene ausgezeichnet, sie war schöner denn je.

„Francesca will damit eigentlich nur zum Ausdruck bringen, dass es noch schlimmer war“, erklärte Irene und warf Francesca einen dankbaren Blick zu. „Du weißt selbst, dass ich eine hoffnungslos schlechte Gastgeberin bin. Letztlich blieb die ganze Organisation und Arbeit an ihr hängen. Ihr allein ist es zu verdanken, dass alles dann doch noch gelungen ist und das Fest überhaupt stattfinden kann.“

Francesca wandte sich mit einem gewinnenden Lächeln den nächsten Gästen zu, während Callie Lord Radbourne die Hand schüttelte. Er war als Pirat erschienen, ein Kostüm, das Gideon vorzüglich kleidete, fand Callie. Mit seiner wilden dunklen Haarmähne und der kraftvollen Gestalt wirkte er ohnehin eher wie ein Seemann, der Schiffe enterte und plünderte, nicht wie ein vornehmer Gentleman. Man könnte meinen, er trage den Krummsäbel in der breiten roten Schärpe jeden Tag.

„Lady Calandra“, begrüßte Gideon sie mit einer knappen Verbeugung. „Hocherfreut.“ Über seine markanten Gesichtszüge flog ein verschmitztes Lächeln. „Wie schön, ein bekanntes Gesicht zu sehen.“

Es war allgemein bekannt, dass Gideon sich in Adelskreisen nicht sonderlich wohl fühlte. Widrige Umstände in seiner Kindheit hatten dazu geführt, dass er in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen war. Trotz allem hatte er es in späteren Jahren durch Fleiß und Tüchtigkeit zu Wohlstand gebracht. Nachdem ihm als Erwachsener sein rechtmäßiger Rang in der Aristokratie zugesprochen wurde, fiel es ihm allerdings nicht leicht, sich in der vornehmen Welt zurechtzufinden. Er war kein redseliger Mensch und zog es vor, sich von großen Gesellschaften fernzuhalten. Mit Irene hatte er eine ideale Lebensgefährtin gefunden, deren unverblümte Art und Gleichgültigkeit der Meinung anderer gegenüber seiner eigenen Lebensphilosophie sehr entgegenkam. Bei den seltenen Gelegenheiten, in denen Callie sich mit ihm unterhalten hatte, fand sie ihn ausgesprochen interessant.

„Und ich freue mich sehr, hier sein zu können“, versicherte Callie ihm. „Der Winter in Marcastle zog sich doch recht monoton in die Länge. Im Übrigen, wer dürfte es schon wagen, Tante Odelias Geburtstagsball zu ignorieren?“

„Halb England scheint der gleichen Meinung zu sein“, bestätigte Gideon mit einem Blick in das Gedränge der Ballgäste.

„Komm, meine Liebe, es ist Zeit, den Ehrengast des heutigen Abends zu begrüßen“, schlug Irene vor und hakte sich bei Callie unter.

„Verräterin“, knurrte ihr Gemahl halb laut, wobei der liebevolle Blick, mit dem er seine Frau bedachte, seinem Vorwurf jegliche Schärfe nahm. „Du ergreifst lediglich die Gelegenheit, um aus dieser lästigen Warteschlange auszubrechen.“

Irene lachte vergnügt. „Du bist herzlich eingeladen, uns zu begleiten, wenn du das wünschst. Francesca kommt ganz gut alleine zurecht.“

„Hmm.“ Lord Radbourne setzte eine nachdenkliche Miene auf. „Gäste begrüßen oder mit Tante Odelia Konversation machen – eine schwierige Entscheidung. Gibt es keine dritte, reizvollere Alternative – zum Beispiel, sich aus dem Fenster eines brennenden Hauses zu stürzen?“

Er schenkte seiner Gemahlin ein Lächeln, das einer Liebeserklärung glich. „Ich denke, ich bleibe lieber hier. Sonst stellt Tante Odelia mich nur wieder zur Rede, weil ich nicht als Sir Francis Drake verkleidet komme, wie sie es vorschlug … mit einem Globus unterm Arm.“

„Mit einem Globus unterm Arm?“, wiederholte Callie lachend, während sie sich mit Irene entfernte.

„Ja. Weil er um die ganze Welt gesegelt ist – wobei ich mir nicht sicher bin, dass Sir Francis Drake tatsächlich die Welt umsegelte. Aber von solchen Bagatellen lässt Tante Odelia sich nicht stören.“

„Kein Wunder, dass Gideon sich weigerte, in diesem Kostüm zu erscheinen.“

„Nein, aber eigentlich schreckte ihn weniger der Globus ab als die weiten Pluderhosen.“

Callie lachte. „Erstaunlich, dass du es überhaupt geschafft hast, ihn zu überreden, ein Kostüm zu tragen. Sinclair weigerte sich strikt, bis auf die schwarze Halbmaske.“

„Nun ja, der Duke hat zweifellos mehr Würde zu verlieren“, entgegnete Irene leichthin. „Im Übrigen war ich selbst erstaunt darüber, welche Überredungskünste einer Ehefrau zur Verfügung stehen.“ Ihre Augen funkelten hinter der goldenen Maske, und ihre Lippen umspielte ein belustigtes Lächeln.

Callie erfasste prickelnde Neugier, und sie spürte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg. Im Beisein eines unverheirateten Mädchens verstummten die Gespräche der Damen zum Thema Ehebett, und Callie wusste nur sehr wenig darüber, was in der Verschwiegenheit des ehelichen Schlafgemachs geschah. Da sie auf dem Land groß geworden war, konnte sie wenigstens eine Art Grundwissen über den Paarungsakt aufweisen, zumindest was Pferde und Hunde betraf.

Dennoch blieb ihr die Vielfalt dieser Sinneswelt verschlossen, all die seelischen Wirren und erotischen Wallungen, die mit dieser geheimnisvollen menschlichen Vereinigung verbunden waren. Es war natürlich undenkbar, direkte Fragen danach zu stellen, also war sie gezwungen, sich aus zufällig belauschten Gesprächen oder gelegentlich unbedachten Bemerkungen einen Reim auf das mysteriöse Geschehen zu machen. Irenes Bemerkung unterschied sich allerdings von ähnlichen Äußerungen anderer verheirateter Frauen. In Irenes Stimme hatte ein zufriedener Unterton geschwungen, nein, mehr noch, beinahe ein genüssliches Schnurren, als hätten ihr diese weiblichen „Überredungskünste“ große Glücksgefühle beschert.

Callie warf Irene einen flüchtigen Seitenblick zu. Wenn es eine Frau gab, mit der sie über dieses Thema sprechen könnte, dann wäre es Irene. Sie überlegte fieberhaft, wie sie das Gespräch unauffällig in diese Richtung lenken könnte, doch ehe ihr eine Idee in den Sinn kam, ließ sie ihren Blick durch den Raum schweifen, und plötzlich war sie zu keinem Gedanken mehr fähig.

Neben einer der hohen Säulen an den Längsseiten des Ballsaales stand ein Mann, lässig mit der Schulter daran gelehnt, die Arme vor der Brust verschränkt, im Kostüm eines Cavaliers, wie die Anhänger von König Charles I. im englischen Bürgerkrieg Mitte des siebzehnten Jahrhunderts genannt wurden. Die breite Krempe seines Hutes war an einer Seite hochgeklappt und mit einer langen Feder geschmückt. Weiche Lederhandschuhe mit langen weiten Stulpen bedeckten Hände und Unterarme. Rehbraune Reithosen steckten in kniehohen Stulpenstiefeln, die an den Absätzen mit goldenen Sporen versehen waren. Über den Hosen trug er ein schlichtes geschlitztes Wams in der gleichen Farbe und darüber ein kurzes, glockig geschnittenes Cape, salopp um den Hals gebunden. Links an seine Hüfte hatte er einen eleganten schmalen Degen gegürtet.

Als wäre er einem Gemälde entstiegen aus der Zeit der tapferen Ritter, die für ihren unglücklichen König gekämpft und gefallen waren. Eine elegante, sehnige und kraftvolle Männergestalt. Die dunkle Halbmaske, die seine obere Gesichtshälfte verbarg, unterstrich das Flair von Romantik und Geheimnis, das er ausstrahlte. Er ließ seinen Blick mit arroganter, gelangweilter Miene durch den Saal schweifen. Dann sah er Callie und stutzte.

Ohne dass er sich bewegt oder seinen Gesichtsausdruck verändert hätte, spürte Callie seine Anspannung. Ihre Augen begegneten den seinen, und sie verzögerte ihre Schritte. Ein träges Lächeln überflog seine Lippen. Mit schwungvoller Geste lüftete er den Hut und vollführte eine höfische Verneigung in ihre Richtung.

Erst jetzt wurde Callie sich bewusst, dass sie ihn anstarrte. Errötend holte sie Irene mit zwei eiligen Schritten ein. „Kennst du den Herrn dort drüben an der Säule?“, fragte sie im Flüsterton. „Den Cavalier?“

Irene blickte sich suchend um. „Wo? Ach den … Nein, ich glaube nicht. Wer ist er?“ Sie wandte sich wieder an Callie.

„Ich glaube nicht, dass ich ihn schon einmal gesehen habe“, antwortete Callie. „Er sieht … so verwegen aus.“

„Das liegt zweifellos am Kostüm“, erklärte Irene mit leiser Ironie. „Der langweiligste Tölpel gibt im Gewand eines Royalisten eine blendende Figur ab.“

„Mag sein“, pflichtete Callie ihr ohne Überzeugung bei und bezähmte mit Mühe ihren Wunsch, sich noch einmal nach ihm umzudrehen.

„Calandra! Da bist du ja!“, rief Lady Odelia mit donnernder Stimme von ihrem Thron her, als die Freundinnen sich dem Podium näherten.

Callie stieg die drei Stufen hinauf, um ihre Großtante zu begrüßen. „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, liebste Tante Odelia.“

Lady Odelia war eine Furcht einflößende Dame, selbst wenn sie nicht im pompösen Prunkgewand von Königin Elizabeth auftrat. Jetzt gerade ließ sie sich indes zu einem huldvollen Nicken herab und winkte Callie mit majestätischer Geste zu sich. „Komm Kindchen, gib mir einen Kuss und lass dich anschauen.“

Callie beugte sich gehorsam vor und drückte ihrer Großtante einen Kuss auf die Wange. Tante Odelia nahm Callies Hände in die ihren und musterte ihre Großnichte scharf.

„Hübsch wie immer“, stellte sie mit zufriedener Miene fest. „Die Hübscheste von allen, das sagte ich schon immer. Ich meine natürlich von allen Lilles“, fügte sie mit einem Seitenblick zu Irene hinzu.

Irene nickte lächelnd. Sie war eine der wenigen Menschen, die keine Angst vor Lady Pencully hatten. Im Gegenteil, sie liebte die unverblümte Art der alten Dame und lieferte sich des Öfteren hitzige Wortgefechte mit ihr, die andere Beobachter meist eilig in die Flucht schlugen. Die beiden streitbaren Frauen jedoch, mit rosigen Wangen und blitzenden Augen, waren durchaus zufrieden mit sich und ihrem Gegenüber.

„Ich weiß wirklich nicht, was mit der Jugend von heute los ist“, fuhr Lady Odelia fort. „Zu meiner Zeit hätte ein junger Herr sich ein Mädchen mit deinem Aussehen bereits in ihrer ersten Ballsaison geschnappt.“

„Nun ja, vielleicht hat Lady Calandra gar nicht den Wunsch, ‚geschnappt‘ zu werden“, wandte Irene schmunzelnd ein.

„Fang du bloß nicht an, ihr mit deinen radikalen Thesen Flausen in den Kopf zu setzen“, warnte Lady Odelia. „Callie hat nicht den Wunsch, sich zum Gespött zu machen, hab ich recht, mein Kind?“

Callie unterdrückte ein Seufzen. „Nein, Tante.“ Würde sie dieses leidige Thema heute den ganzen Abend verfolgen?

„Natürlich nicht! Du bist schließlich ein kluges Mädchen. Aber es ist Zeit, dass du endlich ans Heiraten denkst, Calandra. Bitte doch Francesca, dir dabei zu helfen. Ich war zwar immer der Meinung, sie hat mehr Haare als Verstand, aber immerhin hat sie es geschafft, die da zum Altar zu schleppen.“ Lady Odelia wies mit dem Finger auf Irene, die ihre Augen zum Himmel drehte. „Dabei hätte ich beinahe gewettet, dass das nie passieren wird.“

„Also wirklich, Tante“, widersprach Irene mit leisem Vorwurf. „Wenn ich dich und Lady Radbourne so reden höre, könnte ich meinen, dein Enkel und ich hätten nichts mit der Sache zu tun gehabt, einzig und allein Lady Francesca.“

„Pah! Wenn ich euch beiden die Sache überlassen hätte, würden wir noch heute warten“, schoss Lady Odelia zurück, doch ihr Augenzwinkern schwächte die Schärfe ihrer Worte ab.

Während die beiden Frauen weiterhin spielerisch aufeinander einstichelten, stellte Callie fest, dass Irene es geschickt verstanden hatte, die halsstarrige alte Dame vom ursprünglichen Thema, nämlich Calandras unverheiratetem Status, erfolgreich abzulenken. Sie warf der Freundin einen dankbaren Blick zu, den Irene mit einem Lächeln quittierte.

Callie hörte zerstreut dem Wortgefecht der beiden kämpferischen Damen zu. Als Irene unvermutet mitten im Satz stockte, blickte Callie zu ihr auf und stellte fest, dass die Freundin den Blick über ihre Schulter gerichtet hielt. Im Moment, als Callie sich umdrehen wollte, um zu sehen, was Irenes Interesse so plötzlich gefangen nahm, ertönte eine tiefe männliche Stimme hinter ihr.

„Ich bitte untertänigst um Vergebung, Euer Majestät, Ihre Unterhaltung zu stören. Aber ich ersuche um die Gunst dieser schönen Maid, mir den nächsten Tanz zu gewähren.“

Callie wirbelte herum, ihre Augen weiteten sich, als sie in das maskierte Antlitz des Cavaliers starrte.

2. KAPITEL

V on Nahem wirkte der Fremde noch faszinierender als aus der Ferne. Die schwarze Halbmaske, die seine obere Gesichtshälfte verbarg, unterstrich seine markant geschnittene Wangenpartie und den Schwung seiner sinnlichen Lippen. Graue Augen hinter der Maske fixierten Callie mit unverfrorenem Blick, eindeutig eindringlicher und glühender, als schicklich gewesen wäre. Er war von hohem Wuchs mit breiten Schultern, kräftigem Oberkörper und schmalen Hüften. Eine Erscheinung, deren maskuline Ausstrahlung gewiss nicht nur auf das historische Kostüm zurückzuführen war.

Sie müsste ihm einen Korb geben, das wusste Callie, da sie den Mann noch nie zuvor gesehen hatte und seine Aufforderung zum Tanz eine regelrechte Frechheit darstellte. Allerdings hatte sie nicht die geringste Lust, ihn abzuweisen, es drängte sie vielmehr, ihre Hand in die seine zu legen und sich von ihm zum Tanzparkett führen zu lassen.

Aber so weit würde es gar nicht kommen, da Lady Odelia ihn zweifellos für seine Unverfrorenheit zur Rede stellen und abweisen würde. Callie wartete mit einem Seufzer des Bedauerns auf die schroffe Ablehnung der alten Dame.

„Aber selbstverständlich“, hörte sie Lady Odelia sagen, nein, geradezu geschmeichelt flöten.

In Irenes Gesicht spiegelte sich ein ähnlicher Schock, als die Freundinnen sich fassungslos Lady Odelia zuwandten, die dem Cavalier ein entzücktes Lächeln schenkte. Als Callie sich nicht rührte, machte sie auch noch eine flatternde Handbewegung, um sie zu verscheuchen.

„Nun geh schon, Kindchen. Steh nicht da wie angewurzelt. Auf das Tanzparkett mit dir, ehe das Orchester wieder zu spielen beginnt.“

Das ließ Callie sich nicht zweimal sagen. Wenn Lady Odelia ihr gestattete, mit diesem Fremden zu tanzen, waren alle Regeln der Schicklichkeit gewahrt und ihrer Großmutter der Wind aus den Segeln genommen, falls sie ihr Vorhaltungen machen sollte. Dennoch empfand sie die Tatsache, mit einem völlig Fremden zu tanzen, den sie auch noch attraktiv fand, als verboten und beinahe anstößig.

Zaghaft legte sie ihre behandschuhten Finger in die angebotene Armbeuge des Cavaliers und schritt an seiner Seite zur Tanzfläche. Sie war sich der Wärme des muskulösen Männerarms unter ihrer Hand überdeutlich bewusst.

„Eigentlich dürfte ich nicht mit Ihnen tanzen“, erklärte sie und staunte selbst über ihren koketten Tonfall.

„Tatsächlich? Und warum nicht?“ Er blickte auf sie herab, und in seinen Augen tanzten belustigte Funken.

„Ich kenne Sie nicht, Sir.“

„Wie können Sie dessen so sicher sein?“, konterte er. „Schließlich sind wir maskiert.“

„Dennoch bin ich sicher, dass wir einander fremd sind.“

„Ist das nicht der Reiz einer Maskerade? Da man nicht weiß, wer der andere ist, geht man davon aus, dass man mit einem Fremden tanzt. Die normalen Regeln der Etikette sind außer Kraft gesetzt“, erklärte er, und sein Blick wanderte über ihr Gesicht in einer Art, die Callie die Hitze in die Wangen trieb.

„Trifft das etwa auf alle Regeln zu?“, fragte sie leichthin. „Ich muss schon sagen, Sir, das erscheint mir reichlich riskant.“

„Mag sein, aber das macht die Sache umso aufregender.“

„Aha. Und Sie suchen nach Aufregung?“

Er lächelte träge. „Ich suche Vergnügen, Madame.“

„Tatsächlich?“ Callie zog eine Braue hoch. Im Grund genommen müsste sie dieses Gespräch, das eine ausgesprochen vertrauliche Wendung nahm, augenblicklich beenden. Und dennoch genoss sie das Prickeln, das sie bei seinen Worten, seinem Lächeln durchrieselte.

„Oh ja, das Vergnügen, mit Ihnen zu tanzen“, fuhr er fort. Das Funkeln seiner Augen sagte ihr, dass er genau wusste, was ihr durch den Kopf ging.

Die ersten Takte eines Walzers erklangen, und der Fremde verneigte sich. Callies Herz klopfte schneller, als sie in seine Arme glitt. Sich mit einem Herrn im Walzertakt zu wiegen war weitaus intimer, als gemeinsam mit anderen Tänzern im Kreis zu einem ländlichen Reigen übers Parkett zu hopsen. Ihre Körper berührten einander beinahe, ihre Hand lag in seiner, sein Arm umfing ihre Mitte. Der vor Kurzem in Mode gekommene Tanz war schockierend intim und galt auf dem Lande in konservativen Kreisen immer noch als allzu freizügig. Selbst in London hatte Callie noch keinen Walzer mit einem fremden Herrn getanzt. Schon gar nicht mit einem, dessen Namen sie nicht kannte.

Andererseits konnte sie das erregende Gefühl nicht leugnen, sich in seinen Armen zu wiegen, und sie wusste, dass ihre glühenden Wangen nicht vom Tanzen herrührten.

Anfangs tanzten sie schweigend. Callie war vollauf damit beschäftigt, ihre Schritte den seinen anzupassen, fühlte sich beinahe ebenso gehemmt wie bei ihrem Debüt, fürchtete, aus dem Takt zu geraten und unbeholfen zu wirken. Allmählich fand sie ihr Selbstvertrauen wieder, da ihr Partner sich als exzellenter Tänzer erwies und sie sicher und schwungvoll im Dreivierteltakt durch den Ballsaal drehte.

Nach einer Weile wagte sie es, den Kopf zu heben, und stellte fest, dass der Cavalier sie sinnend betrachtete. Im Kerzenschein der Kristallleuchter glänzten seine Augen silbrig grau wie ein stürmischer Gewitterhimmel. Als er den Blick tief in ihre Augen senkte, stockte ihr der Atem. Sie war ihm so nahe, dass sie den Kranz seiner dunklen dichten Wimpern erkennen konnte. Wer mochte er sein? Nichts an ihm kam ihr vertraut vor. Kein Kostüm könnte einen Mann aus ihrem Bekanntenkreis bis zur Unkenntlichkeit verändern. Aber wie kam es, dass sie ihm noch nie begegnet war?

Ein ungebetener Gast vielleicht, der sich einen Maskenball zunutze machte, um sich unter die Gäste zu mischen, ohne eingeladen zu sein. Allerdings schien Lady Odelia ihn erkannt zu haben, also war diese Möglichkeit auszuschließen. Vielleicht ein Einzelgänger, ein Sonderling, der sich nicht gern in Gesellschaft zeigte. Aber weshalb sollte er dann ausgerechnet zu diesem großen Ball erscheinen? Im Übrigen war sein Benehmen keineswegs das eines scheuen Eigenbrötlers.

Vielleicht hatte er sich einige Jahre in den Kolonien aufgehalten. Ein Soldat oder ein Marineoffizier, vielleicht … Oder ein Diplomat im auswärtigen Dienst … Ein passionierter Weltenbummler?

Sie schmunzelte über ihre eigenen erfinderischen Spekulationen. Zweifellos gab es eine völlig banale Erklärung. Schließlich kannte sie nicht jeden Aristokraten.

„Das gefällt mir“, stellte ihr Tanzpartner unvermittelt fest.

„Was denn?“, fragte Callie verdutzt.

„Ihr Lächeln. Sie musterten mich so lange stirnrunzelnd, dass ich bereits befürchtete, in Ungnade gefallen zu sein, ehe ich Sie kennengelernt habe.“

„Dann geben Sie also zu, dass wir einander fremd sind“, entgegnete sie mit leisem Tadel.

„Ja, ich gestehe, ich kenne Sie nicht. Eine schöne Frau wie Sie würde ich gewiss wiedererkennen, auch in Kostüm und Maske. Ihre Schönheit lässt sich nicht verbergen.“

Schon wieder stieg eine verräterische Hitze in Callie auf, stellte sie zu ihrem Unmut und ihrer Verblüffung fest. Immerhin war sie kein schüchternes Schulmädchen mehr, das sich von einer plumpen Schmeichelei aus der Fassung bringen ließ. „Und Sie, mein Herr, können nicht verbergen, dass Sie ein schlimmer Charmeur sind.“

„Sie kränken mich. Dabei dachte ich, ich sei unwiderstehlich.“

Callie lachte leise und schüttelte den Kopf.

„Ein Problem ließe sich mühelos aus der Welt schaffen“, fuhr er nach einer kurzen Pause fort. „Wenn Sie mir Ihren Namen sagen und umgekehrt, sind wir einander nicht mehr fremd.“

Callie schüttelte erneut den Kopf. Der Mann hatte ihre Neugier geweckt. Es war amüsant und ungefährlich, mit ihm zu tanzen und zu schäkern, da er nicht wusste, wer sie war. Und es war unnötig, sich Fragen nach seinen Beweggründen und Absichten zu stellen. Sie musste seine Worte nicht auf ihren Wahrheitsgehalt prüfen oder sich fragen, ob er mit ihr scherzte oder mit der reichen Erbin. Selbst bei wohlhabenden Herren, die ihr den Hof machten, ohne auf ihr Vermögen zu schielen, stellte sie diese Überlegungen an, da ihre vornehme Herkunft und ihr Reichtum ebenso Teil ihrer Persönlichkeit waren wie ihr Lachen und ihr Temperament. Wie sollte sie wissen, was die Männer für sie empfinden würden, wäre sie eine einfache Bürgerstochter und nicht die Schwester eines Dukes. Es gab ihr ein angenehmes Gefühl der Sorglosigkeit, dass dieser Fremde ihr ohne Vorbehalte Komplimente machte.

„Oh nein“, wehrte sie ab. „Wir dürfen einander nicht unsere Namen nennen. Das würde den Schleier des Geheimnisses lüften. Haben Sie nicht eben noch gesagt, dies sei der ganze Spaß an einer Maskerade – das Geheimnis und Rätsel, nicht zu wissen, mit wem man es zu tun hat?“

Er lachte. „Sieh da, meine Schöne, Sie haben mich mit meinen eigenen Worten geschlagen. Ich finde es eigentlich ungerecht, dass eine schöne Frau wie Sie auch noch mit Klugheit gesegnet ist.“

„Sie verlieren wohl nicht gern und wollen stets recht behalten“, konterte Callie.

„Es gibt Situationen, in denen es mir durchaus einerlei ist, zu verlieren. Aber diesmal würde ich es sehr bedauern, Sie zu verlieren.“

„Mich verlieren, Sir? Wie können Sie etwas verlieren, das Sie nicht besitzen?“

„Ich würde die Chance verlieren, Sie wiederzusehen“, entgegnete er. „Wie soll ich Sie wiederfinden, wenn ich Ihren Namen nicht kenne?“

Callie warf ihm einen schalkhaften Blick zu. „So wenig Selbstvertrauen? Ich könnte mir denken, Sie finden einen Weg.“

Er lächelte mit leiser Ironie. „Ihre hohe Meinung von mir ist durchaus schmeichelhaft. Aber Sie geben mir doch wenigstens einen kleinen Hinweis, nicht wahr?“

„Nicht den geringsten“, entgegnete Callie liebenswürdig. Es gab ihr ein wunderbar befreiendes Gefühl, nicht sie selbst zu sein, nicht abwägen zu müssen, ob ihre Worte ihrem Bruder oder ihrer Familie schaden könnten. Es war wohltuend, für eine Weile nur eine junge Frau zu sein, die mit einem gut aussehenden jungen Mann kokettierte.

„Wie ich sehe, muss ich wohl jede Hoffnung in diesem Punkt fahren lassen“, sagte er. „Sagen Sie mir wenigstens, welche historische Figur Sie in diesem Kostüm darstellen?“

„Können Sie sich das nicht denken?“, fragte Callie in gespielter Entrüstung. „Ich bin bestürzt! Dabei dachte ich, mein Kostüm sei unverwechselbar.“

„Eine Dame aus der Tudorzeit, schätze ich“, überlegte er. „Aber nicht aus der Zeit der Königin, die Lady Pencully darstellt. Aus der Regierungszeit ihres Vaters vermutlich.“

Callie neigte den Kopf seitlich. „Damit liegen Sie richtig.“

„Also können Sie niemand anderes sein als eine Königin“, fuhr er fort.

Sie nickte hoheitsvoll.

„Ich hab’s. Die verführerische Anne Boleyn.“

Callie lachte hell. „Oh nein, ich fürchte, Sie haben sich für die falsche Königin entschieden. Im Übrigen würde ich niemals wegen eines Mannes meinen Kopf verlieren.“

„Catherine Parr. Natürlich, ich hätte es wissen müssen. So schön, das Herz eines Königs zu gewinnen, und so klug, sich seine Gunst zu bewahren.“

„Und was ist mit Ihnen? Stellen Sie einen bestimmten Cavalier dar oder nur einen beliebigen Anhänger des Königs?“

„Nur einen Royalisten.“ Er seufzte leise. „Es war die Idee meiner Schwester. Ich habe den Verdacht, dass sie sich mit dieser Maskerade lustig über mich machen wollte.“

„Was an Ihrem Kostüm fehlt, ist die Perücke“, erklärte Callie. „Eine schulterlange schwarze Lockenperücke.“

Er lachte. „Nein. Gegen die Perücke sträubte ich mich. So ein Ding versuchte sie mir auch noch einzureden, aber ich blieb unnachgiebig.“

„Ist Ihre Schwester gleichfalls anwesend?“

„Nein, ich besuchte sie auf meiner Reise nach London. Sie kommt erst zu Beginn der Saison.“ Er musterte Callie mit einem spöttischen Lächeln. „Versuchen Sie zu erraten, wer ich bin?“

Callie schmunzelte. „Sie haben mich ertappt, Sir.“

„Aber ich scheue mich keineswegs, mich erkennen zu geben. Mein Name …“

„Nein, das wäre nicht gerecht. Im Übrigen erfahre ich Ihren Namen ohnehin, wenn Sie herausgefunden haben, wer ich bin, und mir Ihre Aufwartung machen.“

„Tatsächlich?“ In seine Augen trat plötzlich ein Funkeln, das nichts mit Humor zu tun hatte. „Gestatten Sie mir denn, Ihnen meine Aufwartung zu machen?“

Callie legte den Kopf seitlich und gab sich den Anschein, ihre Antwort sorgsam abzuwägen. In Wahrheit aber war sie über ihre eigenen Worte verblüfft, die unbeabsichtigt aus ihr herausgesprudelt waren. Es verstieß gegen die Etikette, einem Herrn, den sie kaum kannte, einen Besuch zu gestatten – zumal er sie gar nicht darum gebeten hatte. Sie war wieder einmal voreilig und unbedacht. Ihre Großmutter wäre entrüstet, würde sie davon erfahren.

Allerdings hatte Callie nicht den Wunsch, ihre Einladung zurückzunehmen. „Warum nicht?“, erwiderte sie schmunzelnd.

Der Walzer endete, und sie spürte einen Stich des Bedauerns, als ihr Tanzpartner sie von der Tanzfläche führte. Mit einer galanten Verneigung hob er ihre Hand, und seine Lippen strichen über ihre Finger. Obwohl sie die Berührung durch die Handschuhe nicht spüren konnte, flammte Hitze in ihr auf. Sie sah ihm nach, als er sich entfernte, und fragte sich erneut, wer dieser atemberaubend gut aussehende Mann sein mochte.

Würde er ihr seine Aufwartung machen? Hatte er eine ähnliche Anziehung gespürt wie sie? Würde er sich die Mühe machen, herauszufinden, wer sie war? Oder war er nur ein flatterhafter Charmeur, der alle Frauen umschmeichelte? Callie wusste, dass sie mit ein paar geschickten Fragen an die richtigen Adressen seinen Namen ohne Weiteres herausfinden könnte, aber seltsamerweise fand sie die Ungewissheit amüsant. Durch sie erhöhte sich die Spannung, eine ungewisse Vorfreude, eine prickelnde Erregung, ob er sie tatsächlich aufsuchen würde.

Es blieb ihr allerdings wenig Zeit, über den Cavalier zu grübeln, denn ihre Tanzkarte füllte sich, und sie verbrachte die nächste Stunde auf der Tanzfläche, bevor sie sich eine wohlverdiente Pause gönnte, an einem Glas Punsch nippte und mit Francesca plauderte. Und dann entdeckte sie ihre Großmutter, die durch das Gedränge direkt auf sie zusteuerte und den Arm eines mürrisch dreinblickenden aschblonden Herrn umklammert hielt.

Callie seufzte vernehmlich.

Francesca sah sie besorgt an. „Ist etwas nicht in Ordnung?“

„Meine Großmutter. Ich wette, sie hat schon wieder einen Heiratskandidaten an der Angel.“

Lady Haughston entdeckte die Dowager Duchess. „Aha, ich verstehe.“

„Sie ist besessen von der Idee, mich demnächst zu verheiraten. Ich fürchte, sie lebt in der ständigen Angst, dass ich unweigerlich als alte Jungfer ende, wenn ich mich nicht noch in dieser Saison verlobe.“

Francesca musterte das ungleiche Paar, das sich ihnen näherte. „Denkt sie tatsächlich, Alfred Carberry sei der Richtige für dich?“, fragte sie stirnrunzelnd.

„Zumindest denkt sie, Alfred Carberry ist der Richtige für sie“, antwortete Callie. „Er ist der übernächste Anwärter auf den Grafentitel. Allerdings ist sein Großvater noch quicklebendig und erfreut sich bester Gesundheit, ganz zu schweigen von seinem Vater. Bis es also so weit ist, wird Alfred weit in den Sechzigern sein.“

„Und außerdem ist er ein grässlicher Langweiler“, betonte Francesca. „Alle Carberrys sind grässliche Langweiler. Aber wie könnte es auch anders sein, da sie alle in einem gottverlassenen Nest in Northumberland leben. Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, dass du in einer Ehe mit ihm glücklich wirst.“

„Aber er ist ein respektabler Gentleman.“

„Mmm, das ist einer der Gründe, warum er so gähnend langweilig ist.“

„Aber das ist ganz im Sinne meiner Großmutter.“

„Und außerdem ist er fast vierzig.“

„Gut. Aber Männer meines Alters neigen zum Leichtsinn. So einer macht sich vielleicht auf und davon und tut Dinge, die keineswegs respektabel sind. Nein, Großmutter bevorzugt solide und langweilige Kandidaten. Natürlich aus guter Familie. Vermögen wäre ihr willkommen, ist aber zweitrangig.“

Francesca schmunzelte. „Wie ich dich einschätze, wird deine Großmutter eine Enttäuschung erleben, fürchte ich.“

„Ja, und ich bin dazu verdammt, mir ihre endlosen Moralpredigten anzuhören, die ich nun schon den ganzen Winter ertragen musste.“

„Du Ärmste“, sagte Francesca mitfühlend. „Vielleicht solltest du mich bald besuchen. Ich gebe meinem Butler Anweisung, alle langweiligen und soliden Herren abzuweisen – das gilt natürlich auch für langweilige Damen.“

Callie lachte und hielt sich den offenen Fächer vor den Mund. „Lass das bloß nicht Großmutter hören, sonst untersagt sie mir den Umgang mit dir.“

„Calandra, mein Kind, da bist du ja. Wieso tanzt du nicht? Und Lady Haughston. Sie sehen wie immer bezaubernd aus.“

„Vielen Dank, Duchess“, antwortete Francesca und vollführte einen anmutigen Knicks. „Ich darf dieses Kompliment erwidern. Sie sehen wieder einmal fabelhaft aus.“

Und das stimmte auch. Callies Großmutter, in ihrer Jugend eine gefeierte Schönheit, war mit ihrem kunstvoll hochgesteckten schneeweißen Haar, ihrer schlanken Figur und hoheitsvollen Haltung immer noch eine attraktive Erscheinung. Und Callie war stolz darauf, dass die Duchess, die über einen exzellenten Modegeschmack verfügte, nie an der Garderobe ihrer Enkelin herummäkelte. Nur einmal hatte sie ein striktes Verbot ausgesprochen, als Callie in ihrer ersten Ballsaison den Wunsch geäußert hatte, ein farbiges Ballkleid zu tragen statt der monotonen Weiß- und Cremetöne.

„Danke, meine Liebe.“ Die Duchess lächelte huldvoll. „Callie, du kennst den Ehrenwerten Alfred Carberry, nehme ich an?“ Sie stellte sich an Francescas Seite und manövrierte Mr Carberry in Callie Nähe, während sie angeregt plauderte.

„Lady Haughston, wie reizend, dass Sie sich meiner Enkelin annehmen. Sagen Sie, wie ist das werte Befinden Ihrer Frau Mutter? Wir müssen uns dringend unterhalten. Ich könnte schwören, wir haben uns seit Lord Leightons Hochzeit nicht mehr gesehen.“

Sie hakte sich bei Francesca unter und wandte sich mit einem liebenswürdigen Lächeln an Mr Carberry und Callie. „Ihr jungen Leute langweilt euch gewiss bei unserem kleinen Plausch. Warum bitten Sie Lady Calandra nicht zum Tanz, Mr Carberry, während Lady Haughston und ich uns über die letzten Neuigkeiten austauschen?“

Francesca straffte leicht indigniert die Schultern, so mir nichts dir nichts zur Altersgruppe der Duchess gezählt zu werden, während der um mindestens sieben Jahre ältere Ehrenwerte Alfred als junger Mann bezeichnet wurde, nahm aber die harmlose List der Duchess mit Humor und bewunderte ihr Talent, die Situation so pfiffig zu manipulieren. Mit einem bedeutungsvollen Blick zu Callie ließ sie sich von der alten Dame entführen.

Callie schenkte dem ihr zugewiesenen Herrn ein verkrampftes Lächeln. „Sie müssen sich nicht verpflichtet fühlen, mit mir zu tanzen, nur weil meine Großmutter …“

„Nicht der Rede wert“, erwiderte Mr Carberry im jovialen Tonfall, den er mit seinen jüngeren Geschwistern anschlug. „Es ist mir eine Ehre, Sie auf dem Parkett herumzuwirbeln. Macht Ihnen der Abend Spaß?“

Callie fügte sich in ihr Schicksal und überlegte, wie sie den plumpen Mr Carberry bald wieder loswerden könnte. Zu ihrer Freude begann das Orchester, einen lebhaften bäuerlichen Tanz zu spielen, dessen rasche Schrittfolge ein Gespräch so gut wie unmöglich machte, der allerdings wesentlich länger dauerte als ein Walzer. Während der Drehungen nach links und nach rechts hielt sie heimlich Ausschau nach der geschwungenen Feder eines Cavalierhutes.

Hinterher hörte sie sich lächelnd seinen Dank für den Tanz an, bevor ihre Hand vom nächsten Tänzer ergriffen wurde, einem Mr Waters, den sie nur flüchtig kannte. Sie hatte sich nur einmal während eines Empfangs mit ihm unterhalten, hegte aber den leisen Verdacht, der Herr sei auf der Suche nach einer reichen Frau. Wenigstens verstand er es, geistreich zu plaudern, und war ein passabler Tänzer.

Am Ende des Tanzes schlug Mr Waters einen Rundgang durch den Saal vor, und Callie nickte zustimmend. Die Zeiger der großen Kaminuhr standen kurz vor zehn, was bedeutete, dass die Musiker bald eine längere Pause einlegen würden und die Gäste sich zu einem späten Souper in den angrenzenden Speisesaal begaben. In der Befürchtung, ihre Großmutter würde ihr demnächst wieder einen potenziellen Heiratskandidaten vorstellen, beschloss Callie, sich möglichst außer Sichtweite der Duchess aufzuhalten.

Während sie an der Seite ihres Begleiters gemessenen Schrittes den Saal umrundete, machte sie höfliche Konversation über den gelungenen Maskenball, den wundervollen Klang des Orchesters und die erdrückende Wärme im Saal. Eine der hohen Flügeltüren, die auf die Terrasse führten, stand halb offen.

Ihr Begleiter hielt inne. „Eine Wohltat, die frische Luft, finden Sie nicht auch?“, fragte er. „Man kommt beim Tanzen so rasch außer Atem.“

Callie nickte abwesend, da sie Mr Waters’ Beredsamkeit mittlerweile längst nicht mehr so unterhaltsam fand. Und plötzlich entdeckte sie zu ihrem Schrecken ihre Großmutter im Gespräch mit Lord Pomerance. Hoffentlich hatte die Duchess nicht vor, ihr diesen unerträglichen Schwätzer aufzuhalsen! Er war jünger als Mr Carberry und benahm sich weniger hölzern, war allerdings von unerträglichem Dünkel erfüllt. In seiner aufgeblasenen Selbstüberschätzung war er davon überzeugt, jeder in seiner Umgebung müsse sich brennend für die geringste Kleinigkeit in seinem Leben interessieren.

„Die beiden machen es richtig“, fuhr Mr Waters fort.

„Was?“ Callies Aufmerksamkeit war völlig auf ihre Großmutter fixiert.

Ihr Begleiter nickte zur offenen Tür hinüber. „Ins Freie zu gehen, um frische Luft zu schnappen.“

„Ja, eine gute Idee.“

Die Duchess hob den Kopf und blickte sich suchend um, und Callie ahnte, dass sie Ausschau nach ihr hielt.

Brüsk fuhr sie herum und drehte ihrer Großmutter den Rücken zu. „Sie haben recht … es tut gut, ein wenig frische Luft zu schnappen.“

Sie huschte durch die Tür ins Freie. Ihr überraschter Begleiter stutzte eine Sekunde, bevor er ihr mit einem triumphierenden Lächeln folgte.

Callie entfernte sich eilig von den erleuchteten hohen Fenstern und suchte Zuflucht im Schatten der breiten Terrasse. Die kalte Nachtluft strich über ihre nackten Arme und ihren Hals, was ihr in ihrem erhitzten Zustand nach dem Tanzen im stickigen Ballsaal höchst willkommen war. An der Balustrade blieb sie stehen, in der Gewissheit, dass ihre Großmutter sie in der Dunkelheit nicht sehen konnte, falls sie einen Blick durch die offene Tür werfen sollte.

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