Geheimnis um Mitternacht

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Heiraten? Niemals! Das hat Lady Irene Wyngate sich geschworen. Erfolgreich hält sie sich dank ihrer scharfen Zunge die Verehrer vom Leib. Nur einen scheint ihr freches Mundwerk nicht zu schrecken, sondern zu bezaubern: Gideon, der lang verschollene Earl of Radbourne, der als Kind entführt wurde und in den Straßen Londons aufgewachsen ist. Beharrlich wirbt er um sie, doch ebenso beharrlich sagt Irene Nein. Auch wenn sie im Stillen zugeben muss, dass sie sich gegen ihren Willen immer stärker zu diesem ungewöhnlichen Mann hingezogen fühlt. Doch gerade als sie beginnt, ihm ihr Herz zu öffnen, kommt ein unglaubliches Geheimnis ans Licht...


  • Erscheinungstag 18.05.2014
  • Bandnummer 2
  • ISBN / Artikelnummer 9783862788842
  • Seitenanzahl 320
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Candace Camp

Geheimnis um Mitternacht

Roman

Aus dem Amerikanischen von
Birte Lilienthal

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MIRA® TASCHENBUCH


MIRA® TASCHENBÜCHER
erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,
Valentinskamp 24, 20354 Hamburg
Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2012 by MIRA Taschenbuch
in der Harlequin Enterprises GmbH
Deutsche Taschenbucherstausgabe

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:
The Bridal Quest
Copyright © 2008 by Candace Camp
erschienen bei: HQN Books, Toronto

Published by arrangement with
HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln
Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln
Redaktion: Bettina Lahrs
Titelabbildung: Harlequin Enterprises S.A., Schweiz
Autorenfoto: © by Harlequin Enterprises S.A., Schweiz
Satz: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN (eBook, EPUB) 978-3-86278-884-2

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

PROLOG

London, 1807

Die Vordertür fiel mit einem Krachen ins Schloss. In der Bibliothek im oberen Geschoss drehte sich Lady Irene Wyngate überrascht um, und das Buch, das sie in der Hand hielt, fiel zu Boden.

Es war schon weit nach Mitternacht, und alle im Haus außer ihr selbst schliefen bereits tief und fest. Tatsächlich war auch sie vor einer Stunde ins Bett gegangen. Aber weil sie nicht einschlafen konnte, war sie wieder aufgestanden, um in die Bibliothek zu huschen und ein Buch zum Lesen zu suchen. Eigentlich sollte niemand mehr auf sein – schon gar keiner, der die Tür ins Schloss warf.

Während sie noch lauschend dastand, wurde die Stille der Nacht von einem weiteren Krachen unterbrochen, diesmal gefolgt von einem Fluch. Irene entspannte sich und verzog das Gesicht. Auch wenn ihr die Erkenntnis keine Freude bereitete, wusste sie nun wenigstens, wer den Lärm im unteren Geschoss verursachte. Ohne Zweifel war ihr Vater, Lord Wyngate, nach Hause gekommen und stolperte nun in seinem üblichen betrunkenen Zustand herum.

Schnell beugte sie sich hinunter und hob das heruntergefallene Buch vom Boden auf. Dann nahm sie ihren Kerzenhalter und schlich auf Zehenspitzen aus dem Zimmer. Auch wenn sie erst sechzehn Jahre alt war, war sie doch die Einzige, die sich ihrem tyrannischen Vater entgegenzustellen wagte. Schon häufig war sie dazwischengegangen, wenn er sich wieder gegen ihre Mutter oder ihren Bruder wandte, die Menschen, an denen er am häufigsten seine Wut ausließ. Aber Irene war nicht dumm. Wie alle anderen versuchte sie, ihrem Vater aus dem Weg zu gehen, vor allem, wenn er sturzbetrunken nach Hause kam.

Leise eilte sie durch den Korridor und hoffte, dass sie es in den Schutz ihres Schlafzimmers schaffen würde, bevor ihr Vater in den ersten Stock hinaufkam. Von unten hörte sie eine wütende Stimme, laut und tief, gefolgt von der unverständlichen Antwort ihres Vaters. Irene blieb abrupt stehen. Sie runzelte die Stirn, während sie sich fragte, wer dort wohl mit ihrem Vater sprach. Dann hörte sie das laute Klatschen von Fleisch auf Fleisch und ein weiteres Krachen.

Irene eilte zu der Brüstung am oberen Ende der Treppe und spähte hinab in die Eingangshalle. Ihre Sicht wurde vom unteren Teil der gewundenen Treppe behindert, aber sie konnte ihren Vater ausgestreckt auf dem Rücken liegen sehen, die zersplitterten Reste einer Vase um ihn herum auf dem Perserteppich verteilt. Die gepuderte Perücke, die er immer noch trug, auch wenn sie unterdessen aus der Mode gekommen war, hing schief auf einer Seite seines kahlen Schädels wie ein kleines pelziges Tierchen. Blut lief aus seiner Nase.

Während Irene ihn noch fassungslos anstarrte, kam ein Mann in ihr Sichtfeld und ging mit langen Schritten zu Lord Wyngate hinüber. Der Fremde wandte ihr den Rücken zu, sodass sie nur sehen konnte, dass er groß war und wie ihr Vater einen schwarzen Abendanzug trug. Sein Haar trug er jedoch offen, da er auf eine altmodische Perücke verzichtet hatte.

Während Irene gebannt dastand, packte der Fremde ihren Vater bei den Rockaufschlägen und zog ihn unsanft auf die Füße. Lord Wyngate legte beide Hände gegen die Brust des Mannes und stieß ihn weg, allerdings ohne große Wirkung.

„Verdammter Grünschnabel“, knurrte er mit undeutlicher Stimme. „Wie können Sie es wagen.“

„Ich wage noch verdammt viel mehr!“, antwortete der andere Mann heftig und hob seine geballte Faust.

Noch bevor der Schlag fiel, wirbelte Irene herum und lief in das Arbeitszimmer ihres Vaters. Sie eilte durch den Raum und öffnete eine der Glasvitrinen. Vorsichtig nahm sie einen Kasten von einem der Regale, stellte ihn auf den Schreibtisch und klappte ihn auf.

Vor ihr lagen, gebettet auf roten Samt, ein Paar Duellpistolen. Sie wusste, dass ihr Vater sie immer fertig geladen aufbewahrte, aber sie überprüfte es sicherheitshalber noch einmal, bevor sie aus dem Zimmer eilte, in jeder Hand eine Pistole. Je näher sie der Treppe kam, desto lauter wurden die Geräusche. Sie konnte die Männer nicht mehr sehen – ihre Position hatte sich leicht verändert –, aber der Lärm ließ keinen Zweifel daran, dass der Kampf noch immer andauerte.

Irene lief die Stufen bis zum ersten Absatz hinunter. Als sie um die Ecke kam, konnte sie sehen, dass die Männer miteinander rangen. In diesem Moment machte der Jüngere der beiden sich frei und rammte seine Faust in Lord Wyngates Magen. Als ihr Vater sich zusammenkrümmte, ließ der andere Mann die Faust hart nach oben schnellen und landete einen Volltreffer gegen das Kinn seines Gegners. Wyngate stolperte einige Schritte zurück und brach zusammen.

„Aufhören!“, rief Irene. „Sofort aufhören!“

Keiner der Männer schenkte ihr jedoch Beachtung. Sie wandten sich ihr nicht einmal zu. Der Fremde ließ nicht von ihrem Vater ab, sondern streckte sogar wieder die Hand aus, um ihn ein weiteres Mal auf die Füße zu ziehen.

„Aufhören!“, schrie Irene noch einmal. Als sie sah, dass sie weiter ignoriert wurde, hob sie eine Pistole und feuerte in die Luft. Sie hörte das leichte Klirren, als die Kugel den Kronleuchter über ihr traf und einige der Kristalle zu Boden fielen.

Beide Männer erstarrten. Der Fremde richtete sich auf und drehte den Kopf in ihre Richtung, und auch ihr Vater lenkte seinen Blick zu ihr. Irene bemerkte ihren Vater kaum. Ihre Augen waren wie gebannt auf den anderen Mann gerichtet.

Er war groß, und seine breiten Schultern füllten seinen Anzug erstaunlich gut aus. Es war offensichtlich, dass sein Schneider es nicht nötig hatte, seinen Gehrock auszupolstern, um ihm die gewünschte Form zu geben. Sein Haar war schwarz wie die Nacht, und er trug es ein wenig länger, als die Mode es diktierte. Sein Gesicht schien nur aus scharfen Linien zu bestehen – attraktiv, aber doch hart und undurchdringlich. Die einzig sichtbaren Zeichen seiner Wut waren eine leichte Färbung auf seinen Wangenknochen und das unmissverständlich zornige Glitzern in seinen Augen.

Sie hatte schon attraktivere Männer als ihn gesehen. Es war etwas Raues, beinahe Rohes an ihm, das ihn eindeutig von den anderen, eleganteren Gentlemen der Gesellschaft unterschied, an die sie gewöhnt war. Und doch hatte er eine größere Wirkung auf sie als jeder Gentleman, den sie je getroffen hatte. Als sie ihn ansah, fühlte sie ein seltsames Ziehen in ihrem Körper, eine Art Aufruhr tief in ihrem Innersten, und sie hatte Mühe, den Blick von ihm abzuwenden.

„Irene?“, keuchte Lord Wyngate und kam mühsam auf die Beine.

„Natürlich bin ich es“, antwortete sie, nicht sicher, ob sie sich mehr über ihren Vater ärgerte, der so ein Chaos in ihr Haus brachte, oder über den unbekannten Mann, der solch seltsame und beunruhigende Gefühle in ihr weckte. „Wer sollte es wohl sonst sein?“

„Gutes Mädchen“, nuschelte Wyngate, der leicht hin und her schwankte. „Wusste, ich kann mich auf dich verlassen.“

Irene presste die Lippen zusammen. Es verdross sie, dass sie ihrem Vater helfen musste.

Seit sie denken konnte, war ihr Vater die Hauptursache für Unglück und Sorge im Leben jeder Person um ihn herum gewesen. Die Dienerschaft, ihre Mutter, ihr Bruder und sie selbst lebten in ständiger Furcht vor ihm. Er hatte ein unberechenbares Temperament, ein unstillbares Verlangen nach Alkohol und geriet immer wieder in Scherereien. Als Kind hatte sie nur gewusst, dass er ihre Mutter zum Weinen und die Dienerschaft zum Zittern brachte. Sie hatte gelernt, ihm aus dem Weg zu gehen, vor allem, wenn er betrunken war. Mit zunehmendem Alter durchschaute sie seine vielen Sünden immer besser – das Spielen und das Huren, das mit seiner Trunksucht Hand in Hand ging, seine vielen Exzesse, sowohl die finanziellen als auch die des Fleisches. Lord Wyngate war ein Wüstling, und noch schlimmer, häufig auch ein grausamer Mann, der die Angst, die die Menschen um ihn herum fühlten, genoss.

Irene war trotzdem beigebracht worden, dass sie ihn lieben solle und dass er Respekt verdiene, weil er ihr Vater war. Diese Lektion hatte sie nie wirklich verinnerlicht. Sie wusste, dass sie kein so guter Mensch war, ihm einfach zu vergeben oder ihn trotz all seiner Fehler zu lieben, so wie ihre Mutter es anscheinend konnte. Anders als ihr Bruder Humphrey machte sie auch nicht immer das, was von ihr erwartet wurde, und fühlte sich nicht verpflichtet, ihm Loyalität und Respekt entgegenzubringen, nur weil die Tradition es verlangte.

Wenn jemand Vater angreift, dachte Irene, hat er es vermutlich verdient. Trotzdem war er ihr Vater, und sie konnte diesem Fremden nicht einfach erlauben, ihn zu töten.

„Denkst du nicht, dass es ein bisschen spät ist, um sich in der Eingangshalle zu prügeln?“, fragte sie in dem kalten Kommandoton, der bei ihrem Vater immer noch die größte Wirkung zeigte, wie sie inzwischen wusste.

Lord Wyngate zog seinen Gehrock glatt und klopfte ihn in der ungeschickten, vorsichtigen Art der Betrunkenen ab. Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und blickte dann mit offensichtlicher Überraschung auf das Blut in seiner Handfläche.

„Verdammt! Ich glaube, Sie haben mir die Nase gebrochen, Sie betrügerischer Parvenü!“ Lord Wyngate sah den anderen Mann finster an.

Doch sein Gegner gönnte ihm nicht einen einzigen kurzen Blick. Seine Augen blieben auf Irene gerichtet.

Erst jetzt ging ihr auf, wie sie aussehen musste. Sie hatte sich nicht die Mühe gemacht, einen Morgenmantel über ihr Nachthemd zu ziehen. Ihre Füße waren nackt, und ihr dickes blondes Haar ergoss sich in wilder Unordnung über Schultern und Rücken.

Ihr wurde bewusst, dass die Wandleuchter vom oberen Stockwerk Licht von hinten auf sie warfen und dem Mann die Silhouette ihres unter dem Baumwollnachthemd nackten Körpers enthüllten. Sie errötete von Kopf bis Fuß. Warum konnte er nicht wegsehen? Ganz offensichtlich war der Mann ein schrecklicher Grobian ohne jegliche Manieren.

Leicht hob sie das Kinn und erwiderte seinen Blick. Dieser Flegel sollte auf keinen Fall merken, wie verlegen sie war. Aus dem Augenwinkel sah sie jedoch, wie ihr Vater rückwärts schlich und seine Hand um eine kleine Statue legte, die auf einem Sockel an der Wand stand. Er hob sie hoch und bewegte sich auf den anderen Mann zu.

„Nein!“, stieß Irene heftig aus und richtete die geladene Pistole in ihrer linken Hand auf ihren Vater. „Stell das sofort wieder hin!“

Lord Wyngate bedachte seine Tochter mit einem beleidigten Blick, stellte die Statue aber zurück an ihren Platz.

Der andere Mann sah kurz zu Lord Wyngate hinüber, während sein Mund sich verächtlich verzog. Dann wandte er sich von ihm ab und deutete eine Verbeugung an.

„Danke, Mylady.“ Seine Stimme war tief und rau, sein Akzent nicht der eines Gentlemans.

„Ich ziehe es vor, dass nicht noch mehr Blut auf dem Perserteppich verteilt wird“, antwortete Irene scharf. „Er ist viel zu schwierig zu reinigen.“

Ihr Vater lehnte, offensichtlich immer noch beleidigt, an der Wand und weigerte sich, sie anzusehen. Zu ihrer Überraschung lachte der andere Mann auf, und sein amüsierter Blick ließ sein Gesicht weicher erscheinen. Sie konnte sich ein Lächeln gerade noch verkneifen.

„Kaum zu glauben, dass dieser alte Bock eine so schöne Tochter hat“, sagte der Mann.

Irene verzog das Gesicht, genauso verärgert über sich selbst wie über ihn. Der Mann besaß ein gehöriges Maß Frechheit, sie so anzugrinsen. Und wie hatte sie nur versucht sein können, das Lächeln des Halunken zu erwidern?

„Ich denke, Sie sollten jetzt gehen“, beschied sie. „Sonst wäre ich gezwungen, die Dienerschaft zu rufen und Sie hinauswerfen zu lassen.“

Er hob eine Augenbraue, um ihr zu zeigen, wie wenig ihn ihre Drohung beeindruckte. „Natürlich. Ich will auf keinen Fall weiter Ihre Ruhe stören.“

Er trat zu Lord Wyngate, der nervös ein wenig zurückwich, packte ihn am Hemdkragen und beugte sich drohend vor.

„Wenn mir je zu Ohren kommt, dass Sie Dora wieder belästigt haben, komme ich zurück und breche Ihnen jeden einzelnen Knochen im Leib. Haben wir uns verstanden?“

Das Gesicht ihres Vaters färbte sich rot vor Wut, aber er nickte.

„Und kommen Sie niemals wieder in mein Etablissement. Niemals.“ Der Fremde sah ihren Vater wieder eindringlich an, ließ ihn dann los und ging mit langen Schritten auf die Haustür zu. Er öffnete sie, drehte sich noch einmal um und blickte zurück die Treppe hoch zu Irene.

Ein leicht sarkastisches Lächeln spielte um seine Lippen. „Gute Nacht, Mylady. Es war mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen.“

Dann verbeugte er sich und verschwand.

Irene atmete auf. Erst jetzt bemerkte sie, wie angespannt sie gewesen war. Ihre Knie fühlten sich weich an, und sie ließ die Hand fallen.

„Wer war das?“, fragte sie.

„Niemand“, antwortete ihr Vater und wandte sich zur Treppe. Seine Schritte waren unsicher, und er musste nach dem Geländer greifen, um nicht zu stolpern. „Dreckiger Rüpel … denkt, er kann so mit mir reden … ich sollte es ihm zeigen.“ Er blickte hoch zu Irene, sein Ausdruck berechnend und voller Tücke. „Gib mir die Pistole, Mädchen.“

„Ach, sei still“, sagte sie und fühlte sich plötzlich sehr müde. „Sorge lieber dafür, dass ich nicht bedauern muss, ihn daran gehindert zu haben, dich zu töten.“

Sie drehte sich um und ging langsam die Treppe hinauf. Zur Sicherheit würde sie die Pistolen mit in ihr Schlafzimmer nehmen, wo ihr Vater nicht an sie herankommen könnte.

„So spricht man nicht mit seinem Vater“, bellte ihr Lord Wyngate hinterher. „Du solltest mir Respekt erweisen.“

Abrupt drehte Irene sich um. „Das werde ich, wenn du es verdienst“, sagte sie hart.

„Du bist wirklich die schlechteste Tochter, die ein Vater nur haben kann“, erwiderte er, und seine Augen wurden schmal. „Kein Mann wird dich heiraten, so wie du dich aufspielst. Und was wirst du dann machen, hm?“

„Froh und glücklich sein“, kam Irenes knappe Antwort. „Nach allem, was ich hier erlebe, muss ein Leben ohne Ehemann wirklich angenehm sein. Ich werde niemals heiraten.“

Erfreut darüber, dass ihre Worte ihn wenigstens für den Moment mundtot gemacht hatten, drehte Irene sich um und stolzierte die Treppe hinauf.

1. KAPITEL

London, 1816

Irene unterdrückte ein Seufzen, während ihre Schwägerin ausführlich das Kleid beschrieb, das sie gestern gekauft hatte. Nicht, dass Irene nicht gerne über Mode redete. Im Gegenteil, Gespräche über Stil, Farben und Accessoires machten ihr sogar mehr Spaß, als sie selbst zugeben wollte. Vielmehr langweilte es Irene, Maura beim Reden über deren Garderobe zuzuhören. Denn alles, was Maura sagte, drehte sich immer mehr um sie selbst, ihren eigenen Geschmack, Witz und ihre Schönheit, als um irgendetwas anderes.

Maura war wie eine Sonne, um die alle Personen und jedes Interesse sich drehte, wenigstens in ihrer eigenen Vorstellung. Sie war sehr selbstbezogen, was Irene nicht so viel ausgemacht hätte, wäre sie nicht obendrein langweilig und wenig originell gewesen.

Unauffällig ließ Irene ihren Blick über die Gesichter der anderen Frauen wandern und stellte fest, dass keine der drei Besucherinnen so gleichgültig oder gelangweilt aussah, wie sie selbst sich fühlte. Sie fragte sich, ob ihr eigener Gesichtsausdruck auch so wenig von ihren wahren Gefühlen widerspiegelte. Es war schwer zu sagen, da alle Damen guter Herkunft schon früh lernten, höfliches Interesse an anderer Leute Konversation zu zeigen, egal, wie stumpfsinnig sie war.

Irenes Mutter, Lady Claire, war eine der Frauen, die Maura mit einem freundlichen und interessierten Gesichtsausdruck zuhörten. Sie würde es als sehr schlechten Stil empfunden haben, sich irgendeinen anderen Ausdruck zu erlauben, aber Irene wusste, dass noch mehr im Spiel war. Ihre Mutter hatte Angst, Missfallen oder auch nur Desinteresse an den Äußerungen ihrer Schwiegertochter zu zeigen. Seit Humphrey Maura im letzten Jahr geheiratet hatte, verhielt sich Lady Claire äußerst vorsichtig, denn sie wusste, dass Maura nun die wahre Macht im Haus war und ihr das Leben und das ihrer Tochter ganz leicht zur Hölle machen konnte.

Irene hingegen war der Meinung, es sei ohnehin die Hölle, jeder Laune Mauras nachgeben zu müssen, sodass es mehr als unnötig war, sich ständig darum zu bemühen, nicht ihre Missbilligung auf sich zu ziehen. Sie konnte sich auch nicht vorstellen, dass ihr Bruder so schwach war, seine Mutter und Schwester aus dem Haus zu werfen, sollte Maura dies fordern. Doch ihr war trotzdem bewusst, dass es durchaus in seiner Macht stand, so etwas zu tun, genauso wie es in Mauras Natur lag, tatsächlich so eine selbstsüchtige Forderung zu stellen. Und es stimmte leider, dass sie und ihre Mutter nach dem Tod von Lord Wyngate praktisch mittellos und vollkommen von der Großzügigkeit ihres Bruders abhängig waren.

Lord Wyngate war vor drei Jahren nach einer besonders trinkfreudigen Periode bei einem Sturz vom Pferd ums Leben gekommen. Es hatte Irene überrascht, wie traurig sie gewesen war. Nach all den Jahren des Kampfes mit diesem Mann und der Verachtung, die sie für ihn empfand, hatte es scheinbar doch noch einen kleinen Rest von Liebe in ihr gegeben, den selbst sein abscheuliches Verhalten nicht vollkommen hatte vernichten können. Dennoch konnte man nicht abstreiten, dass sein Ableben bei all denen, die mit ihm zu tun hatten, ein großes Gefühl der Erleichterung hinterlassen hatte.

Endlich lauerten keine Geldeintreiber mehr vor ihrer Tür. Denn Humphrey hatte sich mit ihren Gläubigern zusammengesetzt und einen Plan ausgearbeitet, die Schulden ihres Vaters komplett abzubezahlen. Auch kamen nicht mehr plötzlich suspekte Gestalten auf der Suche nach Lord Wyngate vorbei. Sie mussten nicht länger befürchten, dass er mit irgendeinem Skandal Schande über die Familie bringen würde. Am besten war natürlich, dass seine Anwesenheit nicht mehr wie eine dunkle Wolke über dem Haus hing, die jeden zwang, alles nur Menschenmögliche zu tun, um ihm nicht zu begegnen oder einen seiner Wutanfälle heraufzubeschwören, wenn ihm etwas nicht passte.

Erst nachdem Lord Wyngate tot war und Irene eines der Dienstmädchen beim Möbelpolieren fröhlich singen hörte, wurde ihr bewusst, wie still und kalt das Haus vorher gewesen war. Trotz des schwarzen Kranzes an der Tür und dem schwarzen Stoff, der über Lord Wyngates Bild drapiert war, war das Haus plötzlich ein hellerer und freundlicherer Ort.

Ihr jüngerer Bruder Humphrey, ein eher ernster, schüchterner junger Mann, hatte den Titel und den Besitz von ihrem Vater geerbt. Neben dem unveräußerlichen Land und dem Haus in London hatte Lord Wyngate seinem Erben wenig mehr als Schulden hinterlassen. Für seine Witwe und Tochter war nichts übrig geblieben.

Doch Humphrey war ein liebender Sohn und Bruder und glücklich, für Irene und Claire zu sorgen. Zwei Jahre jünger als Irene, hatte er immer zu ihr aufgesehen und sich auf sie und ihr Urteil verlassen. In ihrer Kindheit war sie es gewesen, die ihn vor den Beschimpfungen und Schlägen des Vaters geschützt hatte.

Humphrey hatte sich daran gemacht, die Schulden seines Vaters abzubezahlen und den Besitz wieder aufzubauen; seiner Schwester hatte er es überlassen, den Haushalt für ihn zu führen, so wie sie es schon lange für ihre Mutter getan hatte. Nachdem die Trauerzeit vorbei war und sie ihre gesellschaftlichen Aktivitäten wieder aufgenommen hatten, verlief ihr Leben in ruhigen und geordneten Bahnen. Die Schulden waren zum größten Teil zurückgezahlt, und wenn es auch noch eine hohe Hypothek auf dem unveräußerlichen Land gab, hatte sich die finanzielle Situation doch so weit entspannt, dass sie sich neue Kleider kaufen und Festlichkeiten veranstalten und besuchen konnten.

Irene wusste, dass einige sie bemitleidenswert fanden, da sie schon Mitte zwanzig und noch immer unverheiratet war, sodass ihr vermutlich ein Leben als alte Jungfer bevorstand. Aber das war ihr egal. Tatsache war, dass sie glücklich war und gebraucht wurde. Außerdem gehörte sie nicht zu den Frauen – die sie persönlich als dumme Gänschen bezeichnete –, die ihr Leben leer fanden, wenn es nicht mit dem eines Mannes verbunden war. Nachdem sie die Stürme des Ehelebens hatte mit ansehen müssen, war es vielmehr so, dass sie ein Leben ohne einen Ehemann und dessen Launen vorzog.

Dann hatte Humphrey mit einem Freund einen Jagdausflug nach Nordengland unternommen. Der Besuch hatte sich erst um eine, dann um zwei Wochen verlängert, und am Ende der dritten Woche war er nach Hause gekommen und hatte glücklich und errötend verkündet, dass er sich verlobt hatte.

Maura Ponsonby, die Tochter eines örtlichen Gutsherrn, hatte Humphreys Interesse geweckt … und dann sein einsames Herz erobert. Sie sei ein Juwel, teilte er ihnen mit, und er war der glücklichste Mann auf Erden. Er versicherte ihnen, sie würden Maura genauso lieben, wie er es tat.

Als sie Maura kennenlernten, war nicht schwer zu verstehen, warum er sich in sie verliebt hatte. Sie war sehr hübsch und überschüttete Humphrey mit Aufmerksamkeit und Zärtlichkeit. Doch es dauerte nicht lange, bis sie erkannten, dass sie ihn mit ihrem niedlichen Schmollen und ihrer lebhaften Art, mit ihm zu flirten, kontrollierte. Jetzt war sie hart und unnachgiebig, wenn sie nicht ihren Willen bekam.

Vor ihrer Hochzeit mit Humphrey war sie Lady Claire gegenüber stets freundlich, charmant und respektvoll gewesen. Nach der Trauung hingegen rauschte sie voller Selbstherrlichkeit ins Haus. Sie machte sowohl Claire als auch Irene sofort klar, dass nun sie als die neue Lady Wyngate das Sagen hatte. Auch wenn Irene natürlich vorgehabt hatte, die Aufsicht über die Haushaltsangelegenheiten in Wyngate Hall in Mauras Hand zu geben, ließ sie ihr keine Gelegenheit dazu, sondern informierte nur die Haushälterin und den Butler, dass jetzt sie alle den Haushalt betreffenden Entscheidungen fällen würde.

Maura ergriff jede Gelegenheit, um zu zeigen, dass sie die erste Frau im Haus war, drängte sich in jede Konversation, teilte dem Butler mit, wen sie als Besucher empfangen würden und wen nicht, und akzeptierte oder lehnte Einladungen nicht nur für sich und ihren Ehemann, sondern auch für Irene und Claire ab.

Lady Claire hatte sich, wie es ihre Art war, diesem Verhalten demütig ergeben. Irene hingegen hatte sich geweigert, so einfach übergangen zu werden, und das Ergebnis war eine lange Reihe von Auseinandersetzungen zwischen den beiden Frauen gewesen.

Jetzt brach Maura, die wohl Irenes Desinteresse gespürt hatte, ihre Beschreibung der Schleifen am Saum ihres neuen Kleides mittendrin ab und wandte sich mit weit geöffneten Augen und einem so hochmütigen Lächeln ihrer Schwägerin zu, dass die sie am liebsten dafür geohrfeigt hätte. „Aber wir langweilen die arme Irene mit unserem Gerede über Spitzen, nicht wahr, Liebes?“ Übertrieben fröhlich wandte sie sich den anderen Frauen zu und sagte: „Irene interessiert sich kaum für Mode, fürchte ich. Sie erlaubt mir nur sehr selten, ihr etwas zum Anziehen zu kaufen.“

Maura schüttelte den Kopf, ein Bild liebevoller Verzweiflung über Irenes seltsame Art, und brachte ihre braunen Locken zum Tanzen.

„Sie sind so großzügig, meine liebe Lady Wyngate“, murmelte Mrs Littlebridge.

„Ich bin sehr zufrieden mit meiner Kleidung“, bemerkte Irene kühl.

Wie immer in so einem Fall mischte Lady Claire sich schnell in die Unterhaltung ein, um einen Streit zu verhindern. „Miss Cantwell, Sie müssen uns von der Hochzeit in Redfields erzählen. Sicher brennen alle darauf, etwas darüber zu erfahren.“

Damit hatte Irenes Mutter ein gutes Thema gewählt. Die Hochzeit des Viscount Leighton mit Constance Woodley vor einer Woche war in der gehobenen Gesellschaft der Höhepunkt des Jahres gewesen und eine Einladung zu der Zeremonie auf dem Landsitz von Leightons Familie ein hoch geschätztes Privileg. All jene, denen es vergönnt gewesen war, dabei zu sein, wurden gerne überall willkommen geheißen, weil man unbedingt von ihnen etwas über die Hochzeit erfahren wollte.

„Oh, ja“, stimmte Mrs Littlebridge zu. Sie war ein schamloser Emporkömmling und liebte nichts mehr, als Klatsch und Geschichten zu sammeln, die sie weitertragen konnte, um sich selbst wichtiger erscheinen zu lassen. „War die Braut schön?“

„Sie ist auf ihre eigene Art durchaus hübsch“, räumte Miss Cantwell ein. „Aber sie hat kaum einflussreiche Verwandtschaft. Man kann sich des Gefühls nicht erwehren, dass der Viscount unter seinen Möglichkeiten geheiratet hat.“

„So ist es.“ Mrs Littlebridge nickte weise. „Sie soll ein richtiges Landmäuschen sein, habe ich gehört.“

„Das ist wohl richtig.“ Miss Cantwell schenkte der anderen Frau ein schmales Lächeln. „Aber natürlich ist Leighton immer schon etwas … nun ja, unkonventionell gewesen.“

Irene, die das Gefühl hatte, Miss Cantwells Meinung über den Viscount sei auf das Desinteresse dieses einst begehrten Junggesellen an ihr selbst zurückzuführen, sagte: „Ich mag Miss Woodley – oder Lady Leighton, wie ich sie jetzt nennen sollte. Ich finde sie erfrischend unprätentiös.“

Maura ließ ein schrilles Lachen hören. „Das findest du natürlich bewundernswert, Irene. Aber ich fürchte, nicht jeder schätzt wie du einen Mangel an Kultiviertheit.“

„Ich glaube, Lady Leighton war eine enge Freundin der Schwester des Viscounts, nicht wahr?“, warf Lady Claire schnell ein.

„Das stimmt. Lady Haughston hat sich ihrer als eines ihrer Projekte angenommen“, bestätigte Mrs Littlebridge. „Sie war es, die das Mädchen ihrem eigenen Bruder vorgestellt hat.“

„Und vorher hat sie sie komplett verändert“, meldete sich Mrs Cantwell zu Wort. „Constance Woodley war schrecklich hausbacken, bevor Lady Haughston kam und sie in einen Schwan verwandelte.“

„Dazu hat sie wirklich ein Talent“, meinte Lady Claire. „In der letzten Saison war es das Bainborough-Mädchen und davor Miss Everhart. Beide haben exzellente Partien gemacht.“

„In der Tat.“ Miss Cantwell nickte. „Was das betrifft, hat Lady Haughston ein äußerst geschicktes Händchen. Jeder weiß, dass ein Mädchen, dessen sie sich annimmt, eine vorteilhafte Heirat machen wird.“

„Nun, Irene“, sagte Maura neckend an ihre Schwägerin gewandt. „Vielleicht sollten wir Lady Haughston bitten, dir zu helfen, einen Ehemann zu finden.“

„Danke, Maura, aber ich suche keinen“, erwiderte Irene scharf und blickte der anderen Frau direkt in die Augen.

„Ach nein?“ Mrs Littlebridge lachte. „Wirklich, Lady Irene, welches junge Mädchen ist nicht auf der Suche nach einem Ehemann?“

„Ich zum Beispiel“, antwortete Irene trocken.

Ungläubig hob Mrs Littlebridge die Augenbrauen.

„Solche Worte sind schön und gut für den eigenen Stolz“, meinte Maura und warf dem Damen-Trio einen wissenden Blick zu. „Aber du bist hier unter Freunden, Irene. Wir wissen alle, dass das wahre Lebensziel einer jeden Frau die Ehe ist. Was sollte sie auch sonst tun? Ihr ganzes Leben im Haus einer anderen Frau verbringen?“ Sie machte eine kurze Pause und wandte sich Irene zu. „Natürlich würden Lord Wyngate und ich nichts angenehmer finden, als dich für den Rest unseres Lebens bei uns zu haben. Aber ich denke an dich und dein Glück. Du solltest wirklich mit Lady Haughston reden. Sie ist eine Freundin von dir, nicht wahr?“

Irene hörte die Bitterkeit, die unter dem süßen Ton ihrer Schwägerin lag. Es ärgerte Maura ungemein, dass sie aus einer Familie aus der Provinz kam, zwar mit guter Erziehung, aber einem unbedeutenden Namen. Ganz anders als Irene, die mit jedem, der Rang und Namen hatte, bekannt war und die überall empfangen wurde.

„Natürlich kenne ich Lady Haughston“, antwortete Irene. „Aber wir sind wirklich nur entfernte Bekannte. Ich würde Lady Haughston nicht eine Freundin nennen.“

„Aha. Aber es gibt ohnehin nur sehr wenige, die wirklich ‚Freund‘ genannt werden können“, gab Maura zurück.

Dieser spitzen Bemerkung folgte eine überraschte Pause, aber dann nahm Mauras Gesicht einen Ausdruck von Verlegenheit an, und sie legte die Hände an ihre Wangen. „Oh je, wie sich das angehört hat! Natürlich meinte ich nicht, dass du keine Freunde hast, liebe Schwester. Selbstverständlich gibt es eine ganze Anzahl von ihnen. Ist es nicht so, Lady Claire?“ Sie warf Irenes Mutter einen Hilfe suchenden Blick zu.

„Ja, natürlich.“ Röte übergoss Claires Wangen. „Zum Beispiel Miss Livermore.“

„Ja, die!“, rief Maura. Ihr Gesichtsausdruck zeigte deutlich ihre Erleichterung darüber, dass Irenes Mutter jemanden hatte nennen können. „Und dann die Ehefrau des Vikars in der Nähe unseres Landsitzes, die dich so mag.“ Sie machte eine kurze Pause, zuckte dann mit den Schultern, als ob sie die vergebliche Suche nach Freunden aufgegeben hätte, lehnte sich vor und sah Irene ernst an. „Du weißt, dass ich nur dein Bestes will, nicht wahr, Liebes? Wir wollen alle nur, dass du glücklich wirst. Ist es nicht so, Lady Claire?“

„Ja, natürlich“, sagte Claire sofort und warf ihrer Tochter einen unglücklichen Blick zu.

„Aber ich bin glücklich, Mutter“, log Irene, wandte sich dann wieder Maura zu und sagte trocken: „Wie könnte ich irgendetwas anderes als glücklich sein, wo ich doch hier bei dir lebe, liebe Schwester?“

Maura ignorierte ihre Worte und sprach in demselben ernsten, überheblichen Ton weiter. „Ich will dir nur helfen, Irene, damit du ein besseres Leben hast. Ich bin mir sicher, dass du das weißt. Unglücklicherweise kennt dich nicht jeder so gut wie ich. Die anderen können nur sehen, wie du dich verhältst. Deine spitze Zunge, Liebes, hält die Leute von dir fern. Wie gern sie dich auch besser kennenlernen wollen, dein … nun, dein manchmal doch recht beißender Spott, deine Unverblümtheit, schreckt die Leute ab. Das ist der Grund, warum du so wenige Busenfreundinnen hast, so wenige Verehrer. Dein Verhalten ist gerade für Männer sehr abschreckend.“

Sie wandte sich um Zustimmung an ihre Freundinnen. „Ein Mann will keine Frau, die ihn bessern will oder ihn schilt, wenn er etwas tut, was er nicht tun sollte. Stimmt das nicht, meine Damen?“

Irenes Augen blitzten, doch sie sagte nur: „Deine Hinweise, wenn auch gut gemeint, sind für mich nur von geringem Nutzen. Wie ich schon sagte, habe ich kein Interesse daran, einen Ehemann zu finden.“

„Aber nicht doch, Lady Irene“, begann Mrs Cantwell mit einem herablassenden Lächeln, dass an Irenes Nerven zerrte.

Abrupt wandte Irene sich ihr zu, und das Funkeln in ihren Augen ließ die andere Frau hinunterschlucken, was sie eigentlich hatte sagen wollen. „Ich will nicht heiraten. Ich weigere mich zu heiraten. Ich werde keinem Mann die Kontrolle über mich geben. Ich werde nicht demütig der Besitz eines Mannes werden oder mir von einem Mann mit weniger Verstand, als ich ihn habe, vorschreiben lassen, was ich sagen oder denken soll.“

Sie hielt inne und presste ihre Lippen aufeinander. Jetzt bedauerte sie, dass sie sich von Maura dazu hatte bringen lassen, so viel von sich preiszugeben.

Maura lachte leise auf und warf den anderen Frauen ein ironisches Lächeln zu. „Eine Frau muss sich nicht von einem Mann bestimmen lassen, Liebes“, sagte sie. „Sie muss ihm nur das Gefühl geben, dass er die Kontrolle hat. Und sie muss lernen, einen Mann so zu führen, dass er genau das tut, was sie will. Der Trick ist natürlich, ihn glauben zu machen, dass es alles seine Idee war.“

Ihre Besucher stimmten in Mauras hohes Lachen ein, und Mrs Littlebridge fügte hinzu: „Genau, Lady Wyngate, so ist der Lauf der Welt.“

„Ich habe kein Interesse an derlei Betrug und Täuschungen“, entgegnete Irene. „Ich möchte lieber unverheiratet bleiben, als lügen und schmeicheln zu müssen, nur um das tun zu können, wozu ich ohnehin jedes Recht habe.“

Maura schnalzte mit der Zunge und sah sie mitleidig an. „Irene, meine Liebe, wir sagen nicht, dass du jemanden hintergehen sollst. Ich spreche nur davon, das Beste aus deinem Aussehen zu machen und … gewisse Neigungen deines Charakters zu überspielen. Du ziehst dich viel zu einfach an.“ Ihre Hand flatterte abfällig in Irenes Richtung. „Zum Beispiel das Kleid, das du trägst. Warum muss es in diesem langweiligen Braun sein? Und es ist nicht nötig, dass du ein so hoch geschlossenes Kleid trägst. Warum zeigst du nicht ein bisschen von deinen Schultern und Armen? Selbst deine Abendkleider haben so ein strenges Aussehen. Kein Wunder, dass Männer dich so selten zum Tanzen auffordern! Ist es nicht schlimm genug, dass du so groß bist? Musst du so kerzengerade stehen und deinen Körper ganz verhüllen?“

Irene spürte die Enttäuschung in Mauras zuckersüßem Ton. Sie wusste, dass ihre Schwägerin es zwar sehr genoss, unter dem Deckmantel hilfreicher Hinweise über Irenes Fehler zu spotten, andererseits aber sehr verärgert über Irenes Mangel an Verehrern war. Maura würde sie zu gerne loswerden, und eine Heirat bot die einzige Möglichkeit – außer Mord. Doch selbst Irene konnte Maura nicht unterstellen, zu so etwas fähig zu sein. Denn wie sehr Humphrey auch unter der Fuchtel seiner Frau stand, so musste selbst Maura klar sein, dass er niemals zustimmen würde, seine eigene Schwester des Hauses zu verweisen. Zudem wusste sie, dass ihr ein solch hartherziges Verhalten der Schwägerin gegenüber die Missbilligung des Ton einbringen würde. Nein, solange Irene ledig blieb, musste Maura sie ertragen – eine Tatsache, die sie ohne Zweifel genauso störte wie Irene selbst.

„Und dein Haar!“, fuhr Maura unerbittlich fort. „Es ist ein wenig … unbändig.“ Sie runzelte die Stirn, als sie Irenes Fülle an goldenen Locken betrachtete, die in einen strengen Knoten zurückgesteckt worden waren. „Aber die Farbe ist tatsächlich recht hübsch. Und deine Wimpern sind lang und glücklicherweise braun, nicht hell, sodass du nicht diesen nackten Ausdruck hast, den man bei manchen blonden Frauen sieht.“

„Oh, danke, Maura“, murmelte Irene trocken. „Deine Komplimente überwältigen mich.“

Maura zuckte die Schultern. „Ich sage nur, dass du dich sehr leicht etwas vorteilhafter zurechtmachen könntest, wenn du dir nur ein bisschen Mühe geben würdest. Man könnte fast meinen, dass du absichtlich versuchst, die Männer abzuschrecken.“

„Vielleicht tue ich das ja auch.“

Es folgte ein Moment überraschter Stille. Dann kam von Miss Cantwell ein nervöses Lachen. „Lady Irene! Das klingt beinahe so, als ob Sie das ernst meinen.“

Irene machte sich nicht die Mühe, auf diese Bemerkung zu reagieren. Miss Cantwell würde genauso wenig wie eine der anderen Frauen jemals verstehen, dass sie wirklich nicht heiraten wollte. So wie sie es sahen, war die Ehe der einzige Sinn im Leben einer Frau. Die Jagd nach einem Ehemann war für eine Frau das Hauptziel bei ihrer Einführung in die Gesellschaft – und danach das jeder Saison, bis sie endlich einen eingefangen hatte.

Heiratswütige Mütter entwarfen wie kriegserprobte Generäle Schlachtpläne für ihre Töchter. Scharmützel wurden auf den Schlachtfeldern der Ballsäle, Opernlogen und Fahrten in offenen Wagen im Hyde Park ausgetragen, und die Waffen der Wahl waren Kleider, Locken, flirtende Blicke über den Fächer hinweg und – die tödlichste von allen – Klatsch. Der Sieg bestand darin, einen wünschenswerten Junggesellen einzufangen, und nur wenige machten sich Gedanken über die Jahre, die vor ihnen lagen, nachdem der so sehr begehrte Ring an ihrem Finger steckte.

Ohne Zweifel befanden sich Miss Cantwell und ihre Mutter gerade inmitten dieses lebenswichtigen Kampfgeschehens. Vermutlich nahmen sie an, dass jeder Protest von Irenes Seite nur vorgeschoben war, da sie selbst die Schlacht verloren hatte – eine fünfundzwanzigjährige alte Jungfer mit der einzigen Aussicht, den Rest ihres Lebens im Schoß ihrer Familie zu verbringen.

Irene seufzte. Sie neidete Miss Cantwell die Ehe, auf die sie so sehr hoffte, nicht. Aber sie wünschte, sie könnte mit mehr Gleichmut in die Zukunft sehen, die sie erwartete, weil sie nicht heiraten würde.

Maura beugte sich vor und legte mit einem süßlichen Lächeln eine Hand auf Irenes Arm. „Komm, Liebes, keine Seufzer mehr. So schlimm ist es nicht. Wir werden schon noch einen Ehemann für dich finden. Vielleicht sollten wir Lady Haughston tatsächlich einen Besuch abstatten.“

Missmutig verzog Irene das Gesicht, weil ihr Seufzen Maura einen kleinen Blick auf ihre Unzufriedenheit gestattet hatte. „Sei nicht albern“, erwiderte sie knapp. „Ich habe dir gesagt, ich suche keinen Ehemann. Und wenn ich es täte, würde ich ganz sicher nicht so ein hohlköpfiges und flatterhaftes Wesen wie Francesca Haughston um Hilfe bitten.“

Sie stand auf, zu verärgert, um sich Gedanken über ihre schlechten Manieren zu machen. „Entschuldigen Sie mich, meine Damen. Ich fürchte, ich habe Kopfschmerzen.“

Damit drehte sie sich um und verließ das Zimmer, ohne auf eine Antwort zu warten.

Ohne zu ahnen, dass sie das Thema der Unterhaltung zwischen Lady Wyngate und deren Freundinnen war, saß einige Häuserblocks entfernt Francesca Haughston in dem Zimmer ihres Hauses, das ihr am liebsten war. Der Raum war kleiner und gemütlicher als das formelle Empfangszimmer und in einem freundlichen Gelb eingerichtet, das jeden Sonnenstrahl, der durch die nach Westen gerichteten Fenster drang, einzufangen schien. Es war ein angenehmer Ort mit Möbeln, die vielleicht nicht mehr neu, aber bequem und ihr teuer waren. Es war der Raum, den sie am häufigsten benutzte, vor allem im Herbst und Winter, denn er war wärmer als die anderen Zimmer, und es war billiger, hier ein Feuer brennen zu lassen, als im größeren Empfangszimmer. Natürlich war das Feuer jetzt, mitten im August, noch nicht wichtig, aber trotzdem wählte sie diesen Raum, wenn sie allein war.

Da die Saison beendet war und viele Mitglieder des Ton auf ihre Landsitze zurückgekehrt waren, hatte sie im Moment nur wenige Besucher; nur ihre engen Freunde. Die Konsequenz war, dass das formelle Empfangszimmer geschlossen war und Francesca ihre Zeit hier verbrachte.

Nun saß sie an einem kleinen Sekretär am Fenster, ihr Haushaltsbuch vor sich. Sie hatte sich mit den Zahlen beschäftigt, aber der Bleistift lag jetzt zwischen den Seiten, und sie blickte auf den kleinen Garten an der Seite des Hauses hinaus, wo die Rosen ein letztes Mal vor dem Herbst ihre ganze Farbenpracht und Schönheit entfalteten.

Ihr Problem war wie immer Geld – oder vielmehr der Mangel an ebensolchem. Ihr verstorbener Ehemann war ein unglaublicher Verschwender und ungeschickter Investor gewesen, und als er vor einigen Jahren gestorben war, hatte er ihr wenig mehr als ihre modischen Kleider und ihre Juwelen hinterlassen. Der Besitz war natürlich ein Familienerbe gewesen und somit an seinen Cousin gegangen, sodass sie nur noch in London ein Zuhause hatte, ein Haus, das Andrew selbst gekauft und ihr vermacht hatte. In dem Versuch zu sparen, hatte sie einen ganzen Flügel geschlossen, wenn auch mit Bedauern viele der Diener entlassen und nur das allernötigste Personal behalten. Auch ihre persönlichen Ausgaben hatte sie sehr eingeschränkt.

Trotzdem reichte es gerade einmal zum Überleben. Die einfachste und offensichtlichste Möglichkeit, wieder zu Wohlstand zu kommen – eine neue Heirat –, hatte sie nicht einmal in Erwägung gezogen. Es müsste ihr schon noch deutlich schlechter als jetzt gehen, bevor sie bereit wäre, diesen Pfad noch einmal zu beschreiten.

Sie hörte ein Geräusch an der Tür und wandte den Kopf um. Ihre Zofe Maisie stand zögernd da und blickte sie unsicher an. Francesca lächelte und bedeutete ihr, einzutreten.

„Mylady, ich wollte Sie nicht stören, aber der Schlachter hat wieder einen Mann geschickt, und der ist diesmal noch hartnäckiger. Die Köchin sagt, dass er ihr kein Fleisch mehr verkaufen wird, bis der ausstehende Betrag bezahlt ist.“

„Natürlich.“ Francesca öffnete die schmale Schublade ihres Sekretärs und griff nach ihrer Geldbörse. Sie nahm eine Goldmünze heraus und hielt sie dem Mädchen hin. „Das sollte reichen, um ihn erst einmal zufriedenzustellen.“

Maisie nahm die Münze, blieb aber stehen und sagte mit einem besorgten Gesichtsausdruck: „Ich könnte etwas für Sie verkaufen, wenn Sie wollen. Vielleicht den Armreif.“

In den Jahren nach dem Tod ihres Ehemannes hatte Francesca viel von ihrem Schmuck und eine Anzahl anderer wertvoller Gegenstände verkauft, um zu überleben. Es war Maisie gewesen, die diese Dinge zum Juwelier oder Silberschmied gebracht hatte. Von allen Menschen auf der Welt war es Maisie, die sie am besten kannte und der sie am meisten vertraute. Nur wenige Jahre älter als Francesca, war sie seit ihrer Hochzeit mit Lord Haughston ihre Zofe und mit ihr durch alle Höhen und Tiefen gegangen. Maisie war die Einzige, die Francesca nie geraten hatte, ihre jetzige Situation zu verbessern, indem sie endlich den Antrag eines ihrer zahlreichen Verehrer annahm.

In den letzten Jahren hatte Francesca sich sehr geschickt damit finanziert, junge Mädchen in die Gesellschaft einzuführen und ihnen zu helfen, einen Ehemann zu finden. Mit der harten Realität konfrontiert, dass sie bald keine Gegenstände mehr zum Verkaufen oder Versetzen haben würde und es außer Heirat oder Prostitution kaum eine andere Möglichkeit für eine Frau wie sie gab, ihren Unterhalt zu verdienen, hatte sie sich hingesetzt und überlegt, was sie konnte. Und es gab eine Sache, in der sie wirklich Expertin war: Männer zu Verehrern zu machen.

Sie hatte einige natürliche Vorteile in dieser Beziehung. Ihre Figur, schlank und elegant, ihr Haar goldblond und die großen Augen von einem strahlenden dunklen Blau. Aber es hatte immer sehr viel mehr hinter Francescas Erfolg in der Welt der guten Gesellschaft gesteckt als nur ihre körperlichen Attribute. Genau wie die lange und angesehene Ahnenlinie ihrer Familie ihr zwar einen Platz in der obersten Schicht der Gesellschaft garantierte, sie aber nicht zu einer tonangebenden Person machte, so war auch ihr Aussehen nur ein Teil ihrer Anziehungskraft.

Francesca hatte Stil. Sie hatte Persönlichkeit. Sie wusste, wie sie lächeln musste, um ein Grübchen in ihrer Wange aufblitzen zu lassen, wie man einem Mann über den Rand eines Fächers zublinzelte, sodass sich sein Herzschlag beschleunigte, oder ihm auf eine Art in die Augen sah, die selbst das härteste Herz zum Schmelzen brachte. Sie konnte sich über fast jedes Thema angeregt und geistreich unterhalten und ein Lächeln auf fast alle Lippen zaubern. Sie wusste bei jeder Gelegenheit, wie man sich kleidete, und hatte, was noch wichtiger war, ein untrügliches Gespür für Farben und Schnitte, das sie fast nie im Stich ließ. Gesellschaftliche Anlässe waren ihr natürlicher Lebensraum, und sie veranstaltete nicht nur unvergessliche Feste, sondern konnte selbst der langweiligsten Feier Leben einhauchen.

Ihr ganzes Leben lang hatte sie ihre Freundinnen in Fragen des Stils und guten Geschmacks beraten. Als sie die Tochter eines der Verwandten ihres verstorbenen Mannes durch die trügerischen gesellschaftlichen Wasser einer Saison leitete und von den dankbaren Eltern mit dem Geschenk eines großen Tafelaufsatzes belohnt wurde, hatte sie endlich eine Möglichkeit gefunden, ihren Lebensstil beizubehalten – ohne den Anschein zu erwecken, sie würde sich mit dem Objekt des größten Schreckens eines jeden englischen Aristokraten auseinandersetzen: bezahlter Arbeit.

Sie hatte den silbernen Tafelaufsatz versetzt und damit ihre Dienerschaft und viele ihrer Haushaltsrechnungen bezahlt. Dann hatte sie sich daran gemacht, wie zufällig das Gespräch mit Müttern von Töchtern im heiratsfähigen Alter zu suchen, vor allem solchen, deren Töchter nicht gut angekommen waren. Ein Vorschlag hier, ein Angebot dort, und schnell hatte sie einen ständigen Strom junger Mädchen, denen sie half, in der Gesellschaft Fuß zu fassen und einen geeigneten Ehemann zu finden.

Ihr letztes Projekt war das Ergebnis einer Wette mit dem Duke of Rochford gewesen. Der Duke hatte ihr ein Armband versprochen, wenn sie ihn bei einem Besuch bei seiner Furcht einflößenden Großtante Odelia begleiten würde. Es war absurd gewesen, und sie hatte nur zugestimmt, weil er sie über alle Maßen gereizt hatte. Doch zu Francescas Überraschung hatte die ganze Sache dazu geführt, dass ihr Bruder sich in Miss Constance Woodley verliebt und sie geheiratet hatte. Das war kaum das gewesen, was ihr vorgeschwebt hatte, aber am Ende hatte es sich als etwas viel Besseres herausgestellt.

Zudem hatte der Duke ihr tatsächlich ein Armband geschenkt – einen Reif aus perfekten tiefblauen Saphiren, die mit glitzernden Diamanten verbunden waren. Der Armreif lag im untersten Fach ihrer Schmuckschatulle, neben einem Paar Saphir-Ohrringen, die ihr vor langer Zeit geschenkt worden waren und die sie nie verkauft hatte.

Jetzt sah sie zu ihrer Zofe hoch, die sie gespannt beobachtete. Francesca schüttelte den Kopf. „Nein, ich werde ihn im Moment nicht verkaufen. Man muss schließlich noch etwas in Reserve haben.“

Maisie sagte nur in unverbindlichem Ton: „Ja, Mylady“, während sie die Münze in die Tasche steckte und sich umdrehte, um den Raum zu verlassen. An der Tür blieb sie stehen und warf ihrer Arbeitgeberin einen letzten abschätzenden Blick zu, bevor sie hinaus in den Gang trat.

Francesca war der Blick nicht entgangen. Sie wusste, dass die Zofe neugierig war, aber Maisie war keine, die ihre Nase in Angelegenheiten steckte, die sie nichts angingen; Francesca hätte ohnehin keine Antwort für sie gehabt. Der Armreif und Rochford waren Themen, mit denen man sich besser nicht genauer befasste.

Aber sie musste wirklich darüber nachdenken, was sie tun sollte, um bis zur nächsten Saison durchzukommen. Die begann im April, und erst dann würde es wieder Debüts bei Hof und eine große Anzahl von Abendgesellschaften, Bällen und Soireen geben, bei denen Eltern ihre heiratsfähigen jungen Töchter vorzeigen und prüfen konnten, was es an möglichen Ehemännern gab. Es war unwahrscheinlich, dass sie vorher eine Mutter oder einen Vater treffen würde, der seine Tochter verheiraten wollte.

Es gab natürlich die sogenannte Kleine Saison zwischen September und November, zu der einige Mitglieder der feinen Gesellschaft, gelangweilt von ihrem Aufenthalt auf dem Land, zu den Vergnügungen in London zurückkehrten. Doch sie war nicht wie die richtige Saison der Hauptschauplatz bei der Jagd nach potenziellen Ehemännern. Es gab viel weniger junge Mädchen und deutlich weniger Menschen, die an einer Gesellschaft teilnahmen. Francesca wusste, dass es äußerst fraglich war, in dieser Zeit eine Anwärterin zu finden, der sie „helfen“ konnte.

Auch wenn die Bezahlung, die sie ihm gegeben hatte, den Metzger für einige Wochen zufriedenstellen würde, so gab es doch eine Anzahl anderer Gläubiger, die sie schon bald belästigen würden, und sie hatte nicht genug, sie alle zu bezahlen. Vielleicht würde sie ein Silbertablett oder etwas Ähnliches finden, das sie verkaufen könnte. Sie würde auf den Speicher gehen und die Truhen durchsuchen müssen. Aber selbst wenn sie etwas fand, glaubte sie nicht, dass ein oder zwei kleine Silberstücke sie bis in den April bringen würden.

Natürlich könnte sie das Haus verschließen und nach Redfields gehen, wo sie aufgewachsen war. Sie wusste, dass ihr Bruder Dominic und seine neue Frau sie herzlich willkommen heißen würden. Aber sie wollte sich dem frisch verheirateten Paar nicht aufdrängen, das eben erst aus den Flitterwochen zurückgekehrt war. Es war schlimm genug, dass seine Eltern in dem Herrenhaus die Straße herunter wohnten. Es wäre unfair, ihnen auch noch eine Schwester aufzudrängen.

Nein, sie würde einen Monat zu Weihnachten in Redfields verbringen, nicht mehr. Ansonsten könnte sie dem Beispiel ihres guten Freundes Sir Lucien folgen, der es bei einem finanziellen Engpass immer schaffte, sich eine Einladung auf den einen oder anderen Landsitz zu erschmeicheln. Natürlich war ein attraktiver, unterhaltsamer Junggeselle ein begehrter Gast, da es immer zu viele Frauen zu geben schien. Außerdem hasste sie es, jemanden zu einer Einladung überreden zu müssen.

Vielleicht wäre es besser, eine ihrer Verwandten zu besuchen. Da war Tante Lucinda mit ihrer tödlich langweiligen Tochter Maribel. Sie wären nur zu glücklich, sie in ihrem Cottage in Sussex willkommen zu heißen. Nach ihrer Zeit dort könnte sie einige Wochen mit Cousine Adelaide verbringen, die in einem großen, verwinkelten Herrenhaus in Norfolk lebte und sich über jeden Besucher freute, der ihr half, ihre große Kinderschar zu beaufsichtigen.

Andererseits könnte es auch nicht schaden, einigen Freunden zu schreiben und zu erwähnen, wie tödlich langweilig es nun in der Stadt war, da alle weg waren …

Als das Dienstmädchen eintrat, wurde sie von ihren Gedanken abgelenkt. „Mylady, Sie haben Besuch.“ Sie warf einen ängstlichen Blick über ihre Schulter, drehte sich wieder zu Francesca um und sagte schnell: „Ich habe gebeten, mich erst einmal nachsehen zu lassen, ob Sie zu Hause sind …“

„Unsinn!“, erklang eine laute Frauenstimme. „Für mich ist Lady Francesca immer zu Hause.“

Francescas Augen weiteten sich. Die Stimme klang vertraut. Sie stand auf, getrieben von einem vagen, aber machtvollen Gefühl düsterster Vorahnung. Diese Stimme …

Eine große, stämmige, gänzlich in violett gekleidete Frau stürmte in den Raum. Ihr Kleidungsstil war seit mindestens zehn Jahren aus der Mode. Dieser seltsame Umstand war ganz sicher kein Anzeichen für finanzielle Not, denn der Satin, aus dem ihr Kleid gefertigt war, war neu und teuer, und man sah, dass es aus der Hand einer Meisterin stammte. Vielmehr bewies die Kleidung, dass Lady Odelia Pencully rücksichtslos über alle Vorschläge ihrer Modistin hinweggetrampelt war, so wie sie es mit allem tat, was ihr nicht passte.

„Lady Odelia“, sagte Francesca mit schwacher Stimme und machte mit bleiernen Füßen einige Schritte nach vorne. „Ich … Was für eine nette Überraschung.“

Die ältere Frau ließ ein unelegantes Schnauben hören. „Kein Grund zu lügen, Mädchen. Ich weiß sehr wohl, dass Sie Angst vor mir haben.“ Ihr Ton machte deutlich, dass sie das keineswegs bedauerte.

Francescas Blick wanderte von Lady Odelia zu dem Mann, der ihr durch den Gang gefolgt war. Groß und von aristokratischer Haltung war er von den Spitzen seiner rabenschwarzen Haare zu den Absätzen seiner polierten schwarzen, von Weston gefertigten Stiefel ebenso elegant wie attraktiv. Kein Haar war nicht an seinem Platz, und sein Gesichtsausdruck war höflich, aber sonst vollkommen nichtssagend, wenn Francesca auch ein Funkeln von gottlosem Amüsement in seinen dunklen Augen entdecken konnte.

„Lord Rochford“, begrüßte sie ihn, ihre Stimme kühl und mit einem leicht verärgerten Unterton. „Wie freundlich von Ihnen, Ihre Tante zu einem Besuch bei mir zu begleiten.“

Seine Mundwinkel zuckten ein wenig bei ihren Worten, aber seine Miene blieb weiter ausdruckslos, während er eine perfekte Verbeugung machte. „Lady Haughston. Es ist mir wie immer ein Vergnügen, Sie zu sehen.“

Francesca nickte dem Dienstmädchen zu. „Danke, Emily. Wenn du uns Tee bringen würdest …“

Erleichtert verschwand das Mädchen, während Lady Odelia an Francesca vorbei zum Sofa rauschte.

Als der Duke ihr folgte, neigte Francesca sich ein wenig zu ihm und flüsterte: „Wie konnten Sie nur!“

Rochfords Lippen verzogen sich zu einem kleinen Lächeln, das aber sofort wieder verschwand, und er antwortete mit leiser Stimme: „Ich versichere Ihnen, ich hatte keine Wahl.“

„Geben Sie nicht Rochford die Schuld“, donnerte Lady Odelia von ihrem Platz auf dem Sofa aus. „Ich habe ihm gesagt, ich würde Sie mit oder ohne ihn besuchen. Ich vermute, er ist eher hier, in dem Versuch, mich zu mäßigen, als aus irgendeinem anderen Grund.“

„Liebe Tante“, antwortete der Duke. „Ich würde niemals so kühn sein, Sie in irgendeiner Weise mäßigen zu wollen.“

Die alte Dame ließ ein weiteres Schnauben hören. „Dir wird wohl aufgefallen sein, dass ich ‚Versuch‘ sagte.“ Sie warf ihm einen herausfordernden Blick zu.

„Natürlich.“ Rochford nickte respektvoll in ihre Richtung.

„Nun setzen Sie sich doch endlich, Kind“, bellte Lady Odelia im Kommandoton in Richtung Francesca und nickte zu einem Stuhl hinüber. „Lassen Sie den Jungen nicht so lange stehen.“

„Oh. Ja, natürlich.“ Francesca ließ sich schnell auf den nächsten Stuhl fallen.

Der Duke nahm neben seiner Großtante auf dem Sofa Platz.

Wie immer in der Gegenwart der einschüchternden Lady Pencully fühlte Francesca sich, als wäre sie wieder sechzehn. Sie bezweifelte keinen Augenblick, dass Rochfords Großtante ihr Kleid sofort als das erkannt hatte, was es war – über vier Jahre alt und in einem moderneren Stil neu zusammengenäht –, und dass sie zur gleichen Zeit bemerkt hatte, dass die Vorhänge ausgeblichen waren und ein Bein des Tisches an der Wand eine tiefe Kerbe aufwies.

Francesca zwang sich, Odelia anzulächeln. „Ich muss zugeben, dass ich ziemlich überrascht bin, Sie hier zu sehen. Ich hatte gehört, dass Sie nicht mehr nach London kommen.“

„Das tue ich auch nicht, wenn es sich vermeiden lässt. Ich werde ganz offen mit Ihnen reden, Kind. Ich hätte nie gedacht, dass ich Sie einmal um Hilfe bitten würde. Ich habe Sie immer für ein flatterhaftes Geschöpf gehalten.“

Francescas Lächeln wirkte noch steifer. „Ich verstehe.“

Der Duke rutschte ein wenig auf seinem Platz hin und her. „Tante …“

„Oh, reg dich ab“, fiel ihm die alte Dame ins Wort. „Das heißt nicht, dass ich sie nicht mag. Ich mochte sie schon immer. Ich weiß auch nicht, wieso.“

Rochford presste die Lippen aufeinander, um ein Lächeln zu unterdrücken, und vermied es sorgsam, Francesca anzusehen.

„Francesca weiß das“, fuhr Lady Odelia fort und nickte ihr zu. „Die Sache ist die: Ich brauche Ihre Hilfe und bin gekommen, um Sie um einen Gefallen zu bitten.“

„Natürlich“, murmelte Francesca, während ihr Verstand voller Angst zu ergründen versuchte, welch ohne Zweifel unangenehme Aufgabe die Dame für sie im Sinn haben könnte.

„Der Grund, warum ich hier bin … nun, ich werde ganz offen sprechen. Ich bin hier, weil ich eine Ehefrau für meinen Großneffen suche.“

2. KAPITEL

Den Worten der eindrucksvollen alten Dame folgte ein Moment entgeisterten Schweigens. Francesca starrte sie an, und dann wanderte ihr Blick unwillkürlich zu Rochford.

„Ich … ich …“, stotterte sie und fühlte, wie ihre Wangen sich röteten.

„Nein, nicht für ihn!“, rief Lady Odelia und ließ ein beinahe gackerndes Lachen hören. „Bei dem da versuche ich es schon seit fast fünfzehn Jahren. Aber selbst ich habe die Hoffnung inzwischen aufgegeben. Nein, die Linie der Lilles wird durch diesen Idioten Bertrand gesichert werden müssen, wenn sie denn fortgesetzt werden soll.“ Sie seufzte tief bei dieser Aussicht.

„Es tut mir leid.“ Francescas Wangen waren flammendrot. „Ich meinte … Nun, ich bin mir nicht sicher, dass ich Sie verstehe.“

„Ich spreche von dem Enkel meiner Schwester.“

„Oh. Ich bin nicht … Ich glaube nicht, dass ich Ihre Schwester kenne, Mylady.“

„Pansy“, sagte Lady Odelia und seufzte erneut. Ihr Ausdruck ließ keinen Zweifel daran, dass sie ihre Schwester nicht besonders hoch schätzte. „Wir waren vier – neben den drei Kindern, die schon früh starben natürlich. Ich war die Älteste, und dann kam mein Bruder, der natürlich der Duke wurde. Er war Rochfords Großvater. Danach folgten unsere Schwester Mary und schließlich die Jüngste, Pansy. Pansy hat Lord Radbourne geheiratet. Gladius. Verdammt alberner Name. Seine Mutter hat ihn ausgesucht, eine törichte Frau wie keine andere. Aber das tut jetzt nichts zur Sache. Das Problem ist Pansys Enkel Gideon. Lord Cecils Sohn.“

„Oh.“ Francesca kannte den Namen. „Lord Radbourne.“

Lady Odelia nickte. „Ja, ich denke, jetzt verstehen Sie mich. Sie werden den Klatsch gehört haben.“

„Nun ja …“ Francesca wirkte ein wenig hilflos.

„Es ist sinnlos, es abzustreiten. Der Ton hat die letzten Monate von kaum etwas anderem gesprochen.“

Francesca nickte. „Natürlich.“

Odelia hatte recht. Francesca – zusammen mit dem gesamten Ton und tatsächlich ganz London – hatte den Klatsch gehört. Vor vielen Jahren, als er gerade vier Jahre alt gewesen war, war Gideon Bankes, der Erbe des Radbourne-Titels und Besitzes, zusammen mit seiner Mutter entführt worden. Weder der Junge noch seine Mutter wurden je wieder gesehen. Dann, Jahre nachdem er schon lange für tot gehalten worden war, war Gideon wieder aufgetaucht.

Das und seine Erbschaft des Titels und des Besitzes des Earl of Radbourne waren einige Wochen lang das Tagesgespräch gewesen. Jeder, den Francesca kannte, hatte eine Meinung zu dem Thema – wie der plötzlich wieder aufgetauchte Erbe wirkte, wo er all die Jahre gewesen war und ob er vielleicht ein Hochstapler sei. Es hatte mehr Fragen als Fakten gegeben, denn nur wenige Leute hatten den neuen Earl getroffen.

Francesca blickte wieder hinüber zu dem Duke. In den letzten Monaten hatte sie ihn hin und wieder bei verschiedenen Festen gesehen, aber er hatte nie ein Wort über den Erben verloren, der plötzlich wieder aufgetaucht war. Tatsächlich war ihr gar nicht bewusst gewesen, dass Rochford in irgendeiner Weise mit der Bankes-Familie verwandt war. Diese Tatsache bestätigte nur ihre Meinung, dass der Duke of Rochford der verschwiegenste Gentleman war, den sie kannte. Wie typisch für diesen Mann, dachte sie mit einem leichten Aufwallen von Ärger.

„Ich bin mir sicher, dass das, was Sie gehört haben, zum größten Teil falsch ist“, bemerkte Lady Odelia. „Ich werde Ihnen am besten die ganze Geschichte erzählen.“

„Oh, nein, ich bin mir sicher, dass das nicht nötig ist“, begann Francesca, hin- und hergerissen zwischen Neugierde und dem überwältigenden Bedürfnis, Lady Odelia schnell wieder aus ihrem Haus zu bekommen.

„Unsinn. Sie müssen die Wahrheit hören.“

„Lassen Sie es sich einfach erzählen“, riet Rochford Francesca. „Sie wissen, dass das einfacher ist.“

„Sei nicht so unverschämt, Sinclair“, wies seine Tante ihn zurecht.

Francesca bemerkte leicht säuerlich, dass Rochford in keiner Weise eingeschüchtert zu sein schien.

„Nun“, fuhr Lady Odelia fort. „Ich bin mir sicher, dass Sie sich nicht erinnern werden, da Sie selbst noch ein Kind waren, aber vor siebenundzwanzig Jahren wurden die Frau und der Sohn meines Neffen Cecil entführt. Er erhielt einen Brief mit einer Lösegeldforderung – ein Halsband mit Rubinen und Diamanten, schrecklich hässliches Ding, aber natürlich ein Vermögen wert. Es war seit Generationen in der Familie. Es wurde gemunkelt, dass es ein Geschenk der dankbaren Königin Elizabeth war, als sie den Thron bestieg. Cecil gab ihnen, was sie verlangten, aber weder seine Frau noch sein Kind kamen zurück. Wir nahmen alle an, dass sie getötet worden waren. Cecil war untröstlich, aber er behielt doch immer die Hoffnung, dass sie eines Tages wieder auftauchen würden. Es hat Jahre gedauert, bis er wieder geheiratet hat. Natürlich musste er vorher Selene – das war seine erste Countess – für tot erklären lassen. Zu diesem Zeitpunkt war sie schon beinahe zwanzig Jahre verschwunden. Aber dennoch tat er bei dem Jungen nicht dasselbe. Ich nehme an, dass er es nicht über sich brachte, sich einzugestehen, dass sein Sohn tot war.“

Sie zuckte die Schultern und fuhr fort: „Aber als Cecil vor einem Jahr selbst starb, musste etwas geschehen. Falls Gideon irgendwo lebte, war er der Erbe. Doch Cecils zweite Frau Teresa hatte ihm auch einen Sohn geschenkt. Wenn Gideon also tot war, dann wäre Timothy der rechtmäßige Erbe. Bevor wir rechtliche Schritte einleiteten, schickte ich Rochford los, um zu sehen, ob er etwas über Gideon herausfinden konnte.“

Francesca blickte zu dem Duke hinüber. „Dann … sind Sie derjenige, der ihn gefunden hat?“

Rochford zuckte mit den Schultern. „Ich habe nur sehr wenig dazu beigetragen. Alles, was ich getan habe, war, einen Privatdetektiv anzuheuern, um die Sache zu untersuchen. Er hat Gideon in London gefunden. Er benutzte den Namen Gideon Cooper und hatte ein kleines Vermögen gemacht. Er hatte keine Ahnung, wer er war.“

„Er konnte sich an gar nichts erinnern?“, fragte Francesca überrascht.

„Offensichtlich nicht – außer an seinen Vornamen natürlich. Er war erst vier, als er entführt wurde. Er kann sich an nichts vor der Zeit, die er als Waise auf den Straßen Londons verbracht hat, erinnern.“

„Aber irgendjemand muss ihn aufgenommen und sich um ihn gekümmert haben“, sagte Francesca. „Wussten diese Leute nichts darüber, warum er bei ihnen war? Wo er herkam?“

„Nichts“, erklärte Lady Odelia voller Verachtung. „Er sagt, dass er niemals irgendwelche Eltern hatte, dass er mit einem Haufen verrufener Kinder in den Slums im East End aufwuchs. Stellen Sie sich vor, der Sohn eines Earls mit dem Blut der Lilles und der Bankes in seinen Adern, der mit Gott weiß was für Gesindel Umgang hatte.“ Sie schüttelte den Kopf, und die violetten Federn, die über ihre unmodern hohe Frisur ragten, wippten hin und her.

„Aber wie wussten Sie, dass er Gideon war?“, fragte Francesca interessiert. „Wenn er sich nicht erinnern konnte und es niemanden gab, der ihn aufgezogen hat …“

„Oh, er ist es ganz sicher.“ Lady Odelias Tonfall machte deutlich, dass sie nicht wirklich glücklich über diese Tatsache war. „Er hat ein Muttermal – einen kleinen himbeerfarbenen Fleck neben seinem linken Schulterblatt. Gideon ist mit genau so einem Mal geboren worden. Pansy und ich konnten uns beide daran erinnern. Natürlich sieht es bei einem Erwachsenen kleiner aus, aber es ist unverkennbar. Ein bisschen wie ein schiefer Diamant. Und natürlich hat er das Aussehen der Bankes. Und die Kinnlinie und das Haar der Lilles.“

„Ich verstehe“, sagte Francesca nicht ganz aufrichtig. Die Wahrheit war, dass sie Lady Odelias Geschichte zwar interessant fand, aber doch nicht wirklich begriff, warum die Frau sie ihr erzählte. Sie zögerte und sagte dann: „Ich bin mir sicher, dass Sie überglücklich sind, ihn nach all dieser Zeit zurückbekommen zu haben.“ Sie blickte von Lady Odelia zu dem Duke hinüber, aber in seinem bewusst neutral gehaltenen Gesichtsausdruck fand sich nichts, was ihr weiterhelfen konnte. Sie wandte sich wieder der alten Frau zu. „Ich bin mir nicht sicher … nun ja, warum Sie meine Hilfe brauchen – oder die irgendeiner anderen –, um für Lord Radbourne eine passende Ehefrau zu finden. Sie kennen jeden. Und sogar besser als ich.“

„Es geht nicht darum, eine geeignete Frau zu finden, sondern eine, die willig ist“, antwortete Lady Odelia.

Verblüfft sah Francesca sie an. „Aber mit seinem Titel und seinem Besitz sollte doch …“

„Lord Radbourne hat nicht viel Zeit in der Gesellschaft verbracht. Ohne Zweifel ist darüber gesprochen worden“, sagte Lady Odelia und fixierte Francesca mit einem ihrer durchdringenden Blicke.

„Nun … hm …“ Francesca suchte nach einer passenden Antwort.

Die Wahrheit war, dass der Klatsch wilde Blüten getrieben hatte, was die Abwesenheit des Earls in der feinen Gesellschaft betraf. Auch wenn er schon vor einigen Monaten aufgetaucht war, hatte er doch an keinem der Feste der letzten Saison teilgenommen. Die Gerüchte erzählten von einer schrecklichen Entstellung oder einer kriminellen Vergangenheit bis hin zu komplettem Wahnsinn.

„Machen Sie sich keine Gedanken darüber, wie Sie es mir schonend beibringen sollen“, fuhr Lady Odelia brüsk fort. „Glauben Sie mir, ich habe alle Geschichten gehört. Er ist weder bucklig noch verkrüppelt oder von Furunkeln bedeckt. Er ist auch nicht vollkommen verrückt. Aber die Wahrheit ist … nun, er ist … sehr gewöhnlich.“

Lady Odelia sprach die Worte mit gesenkter Stimme aus, als ob sie eines der dunkelsten Geheimnisse enthüllen würde, und straffte herausfordernd die Schultern, während sie Francesca ansah und auf ihre Antwort wartete.

„Tante Odelia, urteilst du nicht ein wenig zu hart über den Mann?“, protestierte Rochford. „Ich finde, dass Radbourne ziemlich viel aus sich gemacht hat, vor allem, wenn man die Umstände bedenkt.“

„Natürlich. Wenn du von Geld sprichst“, sagte Lady Odelia und rümpfte die Nase. „Davon hat er sehr viel.“ Es war deutlich, dass der finanzielle Erfolg ihres Neffen nicht ihre Billigung fand.

„Aber das zeichnet ihn kaum als Gentleman aus“, fuhr sie tadelnd fort. „Die Wahrheit ist, dass seine Vergangenheit, nun, zwielichtig ist. Ich bin mir der genauen Umstände nicht bewusst – und will darüber ehrlich gesagt auch nichts wissen.“ Ihr stechender Blick wanderte zu Rochford und dann wieder zurück zu Francesca. „Er hat mit der schlimmsten Art Menschen gelebt, weit weg vom Einfluss seiner Familie und seiner Gesellschaftsschicht. Das Ergebnis ist, dass ihm alle Qualitäten, die einen Gentleman ausmachen, fehlen. Seine Sprache und seine Manieren sind unkultiviert, und seine Bildung lässt bedauerlicherweise sehr zu wünschen übrig.“

„Gideon ist sehr belesen, Tante“, widersprach Rochford, aber Lady Odelia wischte die Worte mit einer Handbewegung beiseite.

„Pah!“, rief sie verächtlich. „Ich rede nicht von Büchern. Ich rede über seine Fähigkeiten bei den Dingen, die wirklich zählen. Er kann nicht tanzen, und er hat keine Ahnung, wie man höfliche Konversation macht. Und reiten kann er auch kaum.“ Sie machte eine Pause, um dieser erschreckenden Tatsache das nötige Gewicht zu verleihen. „Er hat viel zu vertrauten Umgang mit der Dienerschaft und den Pächtern und sagt doch kaum ein Wort zu seiner Familie oder dem eingesessenen Landadel. Glücklicherweise haben wir auf ihn einwirken können, die meiste Zeit auf dem Land zu verbringen, aber jetzt besteht er darauf, nach London zurückzukommen.“

„Er hat hier Geschäfte“, warf der Duke sanft ein.

„Und was ist, wenn jemand sieht, den wir kennen, wie er seine … Geschäfte betreibt?“ Ein theatralisches Schaudern überlief Lady Odelia.

Autor

Candace Camp
<p>Bereits seit über 20 Jahren schreibt die US-amerikanische Autorin Candace Camp Romane. Zudem veröffentlichte sie zahlreiche Romances unter Pseudonymen. Insgesamt sind bisher 43 Liebesromane unter vier Namen von Candace Camp erschienen. Ihren ersten Roman schrieb sie unter dem Pseudonym Lisa Gregory, er wurde im Jahr 1978 veröffentlicht. Weitere Pseudonyme sind...
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