Das Geheimnis von Winterset

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Nie hat Reed Moreland aufgehört, Anna zu lieben. Obwohl sie der Grund war, dass er vor drei Jahren voller Schmerz seinen idyllischen Landsitz Winterset verließ. Stunden ungetrübten Glücks hatte er dort mit ihr verbracht, ehe sie ohne Erklärung seinen Heiratsantrag zurückwies. Als er jetzt träumt, dass Anna in Gefahr schwebt, kehrt er unverzüglich zurück nach Winterset, um sie zu beschützen. Sofort spürt er wieder ihre magische Anziehungskraft. Doch dann geschieht ein rätselhafter Mord. Und Reed muss erkennen, dass seine Geliebte etwas zu verbergen hat ...


  • Erscheinungstag 20.01.2024
  • Bandnummer 72
  • ISBN / Artikelnummer 9783751526395
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Candace Camp

Ihren ersten Roman hat Candace Camp noch als Studentin geschrieben. Damals hat sie zwei Dinge gelernt: Erstens, dass sie auch dann noch schreiben kann, wenn sie eigentlich lernen sollte, und zweitens, dass das Jurastudium ihr nicht liegt. So hat sie ihren Traumberuf als Autorin ergriffen und mittlerweile über siebzig Romane verfasst. Candace lebt mit ihrem Mann in Austin, Texas.

PROLOG

Mit ausgestreckten Armen rannte sie ihm entgegen, ihr schönes Antlitz angstverzerrt und ihr Mund zu einem Schrei aufgerissen. Der Schrecken stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben, und wenngleich er um dessen Ursache nicht wusste, so traf ihr Anblick ihn doch wie ein gewaltiger Schlag und ließ ihn erstarren. Wie angewurzelt stand er da, konnte sich weder bewegen noch die Hand nach ihr ausstrecken, und obwohl sie rannte, als ob sie von Dämonen verfolgt würde, konnte sie ihn nicht erreichen.

Sie rief seinen Namen. „Reed!“ Ihre Stimme hallte in den langen dunklen Gängen wider.

Noch immer versuchte sie mit aller Anstrengung, zu ihm zu gelangen. Auf einmal wich sie jedoch vor ihm zurück, als würde eine unsichtbare Kraft sie mit sich ziehen. Er wusste, dass er sie nie erreichen und sie nie wiedersehen würde. Kummer, Angst und Schmerz ließen ihn am ganzen Körper erbeben.

„Anna!“ Reed fuhr hoch, riss die Augen auf und starrte blicklos in die Dunkelheit seines Schlafzimmers. „Anna.“

Beim zweiten Mal sprach er ihren Namen leiser, sodass er nur mehr wie ein leidvoll verzagter Seufzer der Verzweiflung klang. Erschöpft sank Reed zurück auf die Matratze. Es war bloß ein Traum gewesen.

Er lag eine Weile wach, sah zu dem hoch über seinem Bett gespannten Baldachinhimmel hinauf und versuchte, seine wirren Gedanken zu ordnen. Nicht zum ersten Mal hatte er von ihr geträumt, und es würde wohl auch nicht das letzte Mal gewesen sein, denn sie hatte ihn bereits unzählige Male bis in den Schlaf verfolgt.

Er hatte wilde, verlangende Träume von ihr gehabt, die ihn erhitzt und außer Atem erwachen und nicht mehr zur Ruhe hatten kommen lassen, und es hatte wütende, verzweifelte Träume gegeben, die voller Schmerz und Leid gewesen waren. Im Laufe der Jahre hatte er aber immer seltener von Anna geträumt. Eigentlich waren schon Monate vergangen, seit er ihr das letzte Mal im Traum begegnet war. Doch noch nie hatte ein Traum von ihr ihn mit einem solch herzerschütternden Schrecken erfüllt wie der, den er gerade gehabt hatte.

Sie ist in Gefahr. Reed wusste nicht, weshalb er sich dessen so sicher war, aber er wusste es. Etwas ängstigte Anna und bedrohte sie, und die bloße Vorstellung verursachte ihm ein elendes Gefühl der Ohnmacht.

Er setzte sich auf, schob die zerwühlten Laken beiseite und ging zum Fenster. Die Vorhänge waren zurückgezogen, und durch das geöffnete Fenster wehte ein leichter Sommerwind herein, der seine Haut kühlte. Einen Moment blieb er stehen und blickte auf die weitläufigen Gärten von Broughton House. Aus dem Rosengarten drang der betörende Duft hunderter Blumen zu ihm hinauf.

Doch während er auf den mondbeschienenen Garten schaute, waren es weniger dessen ordentliche und gepflegte Beete, die er vor sich zu sehen glaubte, sondern das verwilderte, überwucherte Grundstück von Winterset. Drei Jahre waren nun vergangen, seit er zuletzt dort gewesen war, die Erinnerung daran war ihm allerdings fast so lebendig wie die an Annas Gesicht.

Er schloss die Augen und spürte, wie die altvertraute, bittere Traurigkeit über ihn kam. Deutlich sah er Annas tiefblaue Augen und ihr fein geschnittenes herzförmiges Gesicht vor sich, das von einem wilden Schopf hellbrauner Locken gerahmt wurde, in denen einzelne goldene Strähnen aufleuchteten. Ihr Mund drückte Entschlossenheit aus, und die Mundwinkel waren leicht nach oben gezogen, was ihr stets den Ausdruck verlieh, als würde sie alles auf der Welt ein wenig amüsieren. Als er sie das erste Mal gesehen hatte, wie sie im Garten von Winterset stand, ihm entgegenblickte und dabei mit einer Hand ihre Augen vor der Sonne schützte, war er wie vom Schlag gerührt gewesen und hatte sofort gewusst, dass dies die Frau war, die er für den Rest seines Lebens lieben würde.

Er bedauerte immer noch, dass er damals recht gehabt hatte – weil die besagte Frau leider nicht dasselbe für ihn empfand.

Seufzend wandte Reed sich vom Fenster ab und ließ sich in einen Sessel sinken. Er stützte seine Ellbogen auf die Knie und fuhr sich mit beiden Händen durch sein dichtes dunkles Haar.

Nach drei Jahren, so dachte er sich, sollte der Schmerz eigentlich nachlassen. Nur war davon nichts zu merken. Zwar litt er nicht mehr dieselben Qualen, die er während der ersten Monate seiner Rückkehr nach London empfunden hatte – kurz nachdem Anna seinen Antrag abgelehnt hatte –, doch ganz in Ordnung war seine Welt danach nicht mehr gekommen. Keine Frau hatte seitdem sein Interesse für mehr als einen Tanz oder eine höfliche Konversation zu wecken vermocht. Immer noch dachte er hin und wieder an Anna, und jedes Mal, wenn er sich an sie erinnerte, spürte er erneut einen schmerzlichen Stich tief im Herzen. Aber vielleicht sollte er einfach froh darüber sein, dass dies nur ein schwacher Nachhall des Leids war, in dem er einst gefangen gewesen war.

Reed versuchte, nicht mehr an die Wunden der Vergangenheit zu denken und sich stattdessen erneut seinem Traum zuzuwenden. Er erinnerte sich noch genau an die Angst in Annas Augen und an den Schrei, der aus ihr hervorzubrechen schien, während sie vor etwas floh. Wovor rannte sie davon? Was hatte das alles zu bedeuten? Und warum nur war er sich letztlich so sicher, dass dieser Traum ihn auf eine tatsächliche Gefahr für Anna hinweisen wollte?

Reed Moreland gehörte keineswegs zu jenen Männern, die an Visionen und Vorzeichen glaubten. Er hatte zwar eine Großmutter gehabt, die behauptete, mit den Verstorbenen in Verbindung zu stehen – woraufhin seine Mutter immer gesagt hatte, dass es typisch für ihre Schwiegermutter sei, ihre Verwandtschaft auch nach deren Tod nicht in Frieden zu lassen –, aber alle waren sich einig gewesen, dass Großmutter schon immer ein wenig schrullig gewesen sei. Wer bei klarem Verstand war, sah weder Dinge, die es nicht gab, noch empfing er geheimnisvolle Botschaften in seinen Träumen oder hörte himmlische Stimmen. Vernünftige, gebildete Männer wie er selbst folgten in ihrem Leben dem Prinzip der Logik und nicht irgendwelchem Aberglauben.

Gleichwohl konnte Reed nicht einfach so abtun, was seinen Schwestern vor zwei Jahren geschehen war. Sie waren keineswegs hysterische Frauen, die zu Ängstlichkeit und Ohnmachten neigten, doch sowohl Olivia als auch Kyria hatten mit seltsamen, geheimnisvollen Kräften Bekanntschaft gemacht, die sich nicht mit dem bloßen Verstand begreifen ließen. Seitdem hatten sie jedenfalls aufgehört, die Dinge grundsätzlich erklären zu wollen. Wenn auf dieser Welt tatsächlich unsichtbare Kräfte am Werk waren – und diese Möglichkeit mochte Reed mittlerweile nicht mehr ausschließen –, dann war es sehr wahrscheinlich, dass die Morelands einen ganz speziellen Zugang zu ihnen hatten.

Auch wenn es gegen seinen klaren Verstand ging, so konnte Reed doch nicht vergessen, wie gewaltig die Empfindungen gewesen waren, die ihn während seines Traumes durchfahren hatten. Dieses Erlebnis war zu wirklich gewesen, als dass er es einfach so abtun konnte. Anna ist in Schwierigkeiten. Daran konnte kein Zweifel bestehen – die Frage war nur, was er mit diesem Wissen anfangen sollte.

1. KAPITEL

Anna Holcomb stieg die Treppe zur Küche hinab. Es war ziemlich früh, und sie hatte noch nicht einmal gefrühstückt, aber sie wollte sich vergewissern, dass die Köchin nicht vergessen hatte, Backwerk für ihre Anstandsbesuche vorzubereiten. Sie musste heute davon zwei absolvieren, von denen der erste einem ihrer Pächter galt, dessen Frau gerade ein Kind bekommen hatte, und der andere würde sie zu ihrer allwöchentlichen Visite ins Pfarrhaus führen. Anna und ihr Bruder Kit waren die letzten Nachfahren der beiden Familien, die in dieser Gegend seit Jahrhunderten Macht und Einfluss hatten, und deshalb war es nun an ihr, sich um derlei gesellschaftliche Aufgaben zu kümmern. Anna hatte sich nie vor ihren Verpflichtungen gescheut – doch es gab manchmal Momente, in denen sie sich etwas ungehalten fragte, ob ihre sogenannten Pflichten nicht eigentlich ihr ganzes Leben ausmachten. Solche Momente waren aber zum Glück selten, und meist fand Anna sich ohne zu klagen mit den Dingen ab, wie sie eben waren. Sie war sich bewusst, dass sie eigentlich ein sehr sorgloses Leben führte, und es wäre töricht und kleinlich, sich über das Wenige zu beschweren, das ihr Kummer bereitet hatte.

Während sie über den Hauptkorridor in Richtung der Küche ging, sah sie, dass die niedrige Tür am Ende des Ganges offen stand. Diese war noch ein pittoreskes Überbleibsel des mittelalterlichen Klosters, auf dessen Grundmauern das Herrenhaus erbaut worden war. Eigentlich wurde dieser Eingang nur selten benutzt, und deshalb überraschte es Anna, als sie nun eine junge Frau verstohlen hereinkommen sah.

Das Mädchen fuhr erschrocken zusammen, als sie Anna erblickte. Ein schuldbewusster Ausdruck huschte über ihr Gesicht, und unschlüssig sah sie zur Hintertreppe, die nur wenige Schritte von Anna entfernt lag. Anna wusste, dass die junge Frau Estelle hieß und eines der Zimmermädchen war, die sich um die oberen Räume kümmerten. Zunächst verstand sie nicht, warum Estelle sich heimlich hereinschlich, doch dann ging Anna auf, dass sie wahrscheinlich gerade erst ins Haus zurückkehrte – was bedeutete, dass sie die Nacht nicht oben in ihrem Bett verbracht hatte.

Anna wollte sie gerade ansprechen, als aus dem Seitengang laut die Stimme der Haushälterin ertönte. „Estelle!“

Sowohl Anna als auch das Zimmermädchen zuckten zusammen. Die junge Frau warf Anna einen bittenden Blick zu und eilte zur Hintertreppe.

„Verflixt! Wo steckt dieses Mädchen nur?“, schimpfte die Haushälterin und kam schweren Schrittes auf Anna zu, die genau dort stand, wo der Seitengang auf den Hauptkorridor traf. Doch noch war Mrs. Michaels zu weit entfernt, um auch das Dienstmädchen zu sehen, das unschlüssig am Fuß der Treppe verharrte. „Oh, Miss Anna, ich wusste ja gar nicht, dass Sie hier sind. Ich suche eigentlich nur Estelle, dieses dumme Ding.“

Anna lächelte und log ohne mit der Wimper zu zucken. „Ich glaube, ich habe sie vorhin oben beim Aufräumen der Schlafzimmer gesehen.“

Seit Anna denken konnte, war Mrs. Michaels die Haushälterin der Holcombs gewesen. Sie war eine sehr tüchtige und zuverlässige Bedienstete, aber auch von recht strengem und unnachsichtigem Wesen. Anna zumindest hätte nicht gerne unter ihrer Fuchtel gestanden.

Estelle warf Anna einen dankbaren Blick zu und eilte dann die Treppe hinauf. Anna unterhielt sich derweil weiter mit der Haushälterin. „Ich wollte nach den Pasteten sehen, die ich mit zum Pfarrhaus und zu Mrs. Simmons nehmen möchte.“

„Aber ja, Miss“, versicherte ihr Mrs. Michaels. „Darum habe ich mich gekümmert. Die haben wir gleich als Erstes heute Morgen gebacken, und die Köchin hat sie gerade aus dem Ofen genommen, damit sie noch ein wenig abkühlen können.“

„Danke. Wenn Sie so gut wären, eine Nachricht in die Stallungen zu schicken, damit mein Pferdewagen um zehn Uhr vorgefahren wird.“

„Natürlich, Miss.“

Anna ging über den Korridor zurück, die Treppe hinauf und zu dem kleineren der beiden Speisezimmer, in dem sie und Kit meist aßen. Ihr Bruder, der schon immer ein Frühaufsteher gewesen war, saß bereits am Tisch und trank eine Tasse Kaffee, wie es ihm seit seiner Grand Tour auf den Kontinent vor einigen Jahren zur Gewohnheit geworden war.

„Hallo, Anna“, begrüßte Kit sie, stand auf und rückte ihr den Stuhl zu seiner Linken zurecht. „Ich hoffe, dass es dir heute Morgen gut geht.“

„Sehr gut. Und dir?“ Sie goss sich eine Tasse Tee ein.

Bei ihnen zu Hause herrschten nicht die üblichen Förmlichkeiten. Ihre Mutter war gestorben, als Anna erst vierzehn Jahre alt gewesen war, und von da an hatte sie ihrem Vater und ihrem Bruder den Haushalt geführt. Es wäre ihr lächerlich erschienen, wenn sie auf Holcomb Manor, ihrem gemütlichen Herrenhaus, das sie jetzt nur mehr zu dritt bewohnten, den aufwendigen Stil ihrer Mutter beibehalten hätte, die eine geborene de Winter gewesen und daher einen prunkvolleren Lebenswandel gewohnt war. Um diesen Wechsel in den Gepflogenheiten herbeizuführen, hatte es einiger heftiger Auseinandersetzungen mit der Haushälterin bedurft, der Traditionen heilig waren. Dabei hatte Anna sogar gelegentlich ihren Vater um Unterstützung bitten müssen, aber letztlich hatte sie sich durchsetzen können, denn trotz ihres liebenswerten Wesens konnte sie durchaus sehr starrköpfig sein. Und so kam es nun, dass die Hausdiener keine Livreen trugen, die Mahlzeiten von nicht mehr als zwei Bediensteten serviert und die Speisen für das Frühstück nicht in unglaublichen Mengen zubereitet wurden.

Während sie aßen, unterhielten Kit und Anna sich mit der Unbeschwertheit zweier Menschen, die fast ihr gesamtes Leben miteinander verbracht hatten. Da sie sonst keine Geschwister besaßen und nur zwei Jahre sie trennten, waren sie einander von Kindesbeinen an beste Freunde und Vertraute gewesen. Als Kit in die Internatsschule kam, hatten sie sich natürlich seltener gesehen, und auch, als er seine Reise auf den Kontinent angetreten hatte, wie sie für junge Männer seines Standes üblich war. Doch als ihr Vater vor zwei Jahren gestorben und Kit zurückgekehrt war, um das Erbe von Sir Edmund anzutreten, war es ihm und Anna nicht schwergefallen, zu ihren alten Gewohnheiten zurückzufinden.

Sie waren sich vom Wesen her sehr ähnlich, waren beide von ruhiger, umgänglicher Art, lachten oft und gerne und waren nur schwer in Rage zu bringen. Beide liebten sie ihren alten Familiensitz, der zum Teil noch aus dem Mittelalter stammte, und die weitläufigen Ländereien. Obwohl sie noch so jung waren, hatten sie ohne zu klagen die Verantwortung für den größten Grundbesitz in diesem Teil Gloucestershires übernommen.

Äußerlich sahen sie sich jedoch weniger ähnlich. Anna war schlank und hochgewachsen wie ihr Vater und hatte die tiefdunklen Augen und das hellbraune Haar mit den goldblonden Strähnen ihrer Mutter, während Kit robuster gebaut war und mit seinem blonden Haar und den grünen Augen nach seinem Vater kam. Annas fein geschnittenes herzförmiges Gesicht unterschied sich sehr von Kits, der ein kantiges entschlossenes Kinn hatte, aber ihre Verwandtschaft offenbarte sich in der Mundpartie, deren stets leicht nach oben gezogene Mundwinkel beiden den Ausdruck heimlicher Belustigung gaben.

Sie redeten über den Tag, der vor ihnen lag. Während Anna ihre Besuche im Dorf machte, würde Kit die meiste Zeit in seinem Arbeitszimmer verbringen, um etwas mit dem Gutsverwalter zu besprechen. Obwohl die Holcombs lange Zeit im Schatten der de Winters gelebt hatten, die einen sehr prächtigen Stil pflegten, verfügten sie doch über ein nicht unbeträchtliches Vermögen und entsprechenden gesellschaftlichen Einfluss. Seit dem Mittelalter hatte es in dieser Gegend Holcombs gegeben, und da Annas verstorbene Mutter und deren Bruder die letzten Abkömmlinge der de Winters gewesen waren, musste Kit sich nun auch noch um die Güter dieser Familie kümmern.

„Ich beneide dich nicht um deine Aufgabe“, meinte Anna lächelnd. „Meiner Ansicht nach sind sogar Anstandsbesuche noch vergnüglicher.“

Kit zuckte die Schultern. „Da wäre ich mir nicht so sicher – zumindest nicht, wenn sie einen zur Frau des Squires führen. Ich könnte es nicht ertragen, mir anzuhören, wie sie die Vorzüge ihrer Kinder gen Himmel lobt. Gegen Miles ist sicher nichts einzuwenden. Er ist zwar etwas launisch …“

„Empfindsam“, korrigierte Anna ihn und schaute ihren Bruder vergnügt an. „Seine Mutter hat mir versichert, dass er sehr empfindsam ist, vielleicht sogar eine poetische Ader hat.“

Kit schnaubte verächtlich. „Nun, zumindest ist er meist ruhig. Seine Schwester hingegen ist eine alte Klatschbase. Und dann kichert sie auch noch die ganze Zeit. Aber wenn man Mrs. Bennetts Worten Glauben schenkte, könnte man meinen, ihre Tochter wäre der Inbegriff von Charme und Anmut.“

„Ihre Mutter hegt nun einmal große Hoffnungen, dass du Miss Bennett eines Tages heiraten wirst.“

Kit sah sie fassungslos an. „Das kann nicht dein Ernst sein.“

„Aber natürlich. Warum sollte sie denn sonst die ganze Zeit Anspielungen darauf machen, was für eine vorzügliche Ehefrau Felicity abgeben wird?“

„Aber … ganz abgesehen davon, dass Felicity Pickel hat, ein Trampel ist und unaufhörlich schnattert, ist sie erst siebzehn Jahre alt – sie hat noch nicht einmal ihr Debüt gehabt!“

„Ich kann dir versichern, dass dies in Mrs. Bennetts Augen keine durchschlagenden Hinderungsgründe sind. Aber glücklicherweise muss ich sie heute nicht besuchen, weshalb es mir auch erspart bleibt, wieder die gute Felicity vorgeführt zu bekommen. Wahrscheinlich hofft Mrs. Bennett, dass ihre Tochter und ich beste Freundinnen werden und Felicity dich auf diese Weise für sich einnehmen kann.“

Kit lachte schallend. „Eine halbe Stunde in ihrer Gesellschaft sollte dich eigentlich davon überzeugen, dass ihr euch niemals miteinander anfreunden könntet.“

Anna lächelte zustimmend, und sie beendeten ihr Frühstück in einvernehmlichem Schweigen. Danach verbrachte Anna einige Zeit über den Haushaltsbüchern, bevor sie ihren Hut aufsetzte, ihre Handschuhe anzog und aus dem Haus ging, vor dem bereits ihr Pferdegespann auf sie wartete.

Zwei der Küchenjungen brachten die Pasteten herbei und stellten sie vorsichtig auf einige Leinentücher, die sie am Boden des Wagens ausgebreitet hatten. Anna stieg hinein und ließ sich vom Stallknecht die Zügel reichen. Sie gab dem Pferd einen leichten Klaps mit den Zügeln, und der Wagen setzte sich in Bewegung. Als sie die Auffahrt hinunterfuhr, erblickte sie den Wildhüter, der ehrerbietig seinen Hut zog, und Anna brachte das Gespann neben ihm zum Stehen.

„Rankin“, grüßte sie ihn und nickte ihm freundlich zu.

„Guten Tag, Miss Anna.“ Er sah zu ihr auf. „Ich habe das Päckchen abgeliefert.“

„Sehr schön“, erwiderte Anna. „Und ist sonst alles in Ordnung?“

Der Mann zuckte ratlos die Schultern. „Wie immer, Miss.“

Anna nickte kurz. „Brauchen sie dort oben noch etwas?“

„Nein, zumindest hat Bradbury um nichts gebeten. Ich habe ihnen auch einen Fasan gebracht, weil er den eigentlich immer mag.“

„Schön. Danke, Rankin.“

„Miss.“ Er nickte ihr zum Abschied zu, drehte sich dann um und ging davon.

Anna schlug einmal kurz mit den Zügeln, und das Pferd setzte sich erneut in Bewegung. Zügig fuhr sie die sanft geschwungene Auffahrt entlang, bis sie schließlich auf die Straße stieß, die ins Dorf führte. Sie war gerne draußen an der frischen Luft, und an einem warmen Junitag wie diesem, an dem die Sonne die Rhododendronblüten leuchten ließ, war es ihr ein reines Vergnügen, einfach nur herumzufahren und sich an der Landschaft zu erfreuen. Hierher gehörte sie. Die Umgebung war ihr vertraut und genauso ans Herz gewachsen wie das Haus, in dem sie ihr ganzes Leben verbracht hatte. Manchmal, wenn sie anfing, etwas selbstmitleidig zu werden, rief sie sich immer ins Bewusstsein, was sie hier alles hatte – sie war umgeben von den Schönheiten der Natur und von freundlichen Menschen, die ein Teil ihres Lebens geworden waren.

Zuerst fuhr sie zum Haus des Pächters, wo sie eine der Pasteten ablieferte und pflichtschuldigst das laut schreiende Baby bewunderte. Dann brach sie zum Pfarrhaus auf, das unmittelbar neben der Kirche gelegen war.

Als sie dort eintraf, sah sie die Kutsche des Squires vor dem Haus stehen, was nur heißen konnte, dass Mrs. Bennett der Pfarrersfrau gleichfalls einen Besuch abstattete. Anna überlegte einen Augenblick, ob sie nicht lieber umdrehen und zurückfahren sollte. Aber nein, dachte sie, das ging natürlich nicht. Eine der Frauen könnte sie schon durch das Fenster gesehen haben, und ihr Verhalten würde zu Recht als sehr unhöflich empfunden werden. Also stieg sie aus ihrem Wagen, band das Pferd am Gartenzaun fest, nahm die verbliebene der beiden Pasteten und tröstete sich damit, dass ihr schon etwas einfallen würde, um den Besuch so kurz wie irgend möglich zu halten.

Das Hausmädchen machte einen Knicks, als sie die Pastete von Anna entgegennahm, und führte die Besucherin in die Wohnstube. Dort traf sie nicht nur Mrs. Bennett und Mrs. Burroughs, die Frau des Pfarrers, sondern auch den Landarzt. Als sie hereinkam, sprang Dr. Felton mit einem so erfreuten Lächeln auf, dass Anna nicht zum ersten Mal vermutete, er wisse Mrs. Bennetts Unterhaltung wohl ebenso wenig zu schätzen wie sie selbst.

„Miss Holcomb, was für ein glücklicher Zufall“, begrüßte er sie und kam auf sie zu, um ihr die Hand zu geben. Martin Felton war Ende dreißig, nicht verheiratet und gehörte dem kleinen gesellschaftlichen Kreis an, in dem Anna und ihr Bruder sich bewegten. Sie sah ihn oft auf Festen und Versammlungen, und wenngleich sie ihn nicht unbedingt als einen Freund bezeichnen würde, so war er doch ein guter Bekannter.

„Oh ja, Miss Holcomb, es ist ganz reizend, Sie zu sehen.“ Mrs. Burroughs, eine zierliche, immer ein wenig aufgeregt wirkende Frau, eilte auf Anna zu. „Wie nett von Ihnen, uns zu besuchen. Und dann auch noch eine der köstlichen Pasteten mitzubringen, die Ihrer Köchin immer wunderbar gelingen! Das ist wirklich sehr aufmerksam von Ihnen.“ Sie bewunderte die Pastete, die das Hausmädchen in den Händen hielt, und wandte sich dann erneut Anna zu, nahm sie beim Arm und führte sie zum Sofa, wo sie sich neben sie setzte.

Mrs. Bennett, die im Gegensatz zu ihrer zierlichen Freundin recht korpulent war, stimmte nun in die überschwängliche Begrüßung ein. „Es ist so schön, Sie zu sehen, Anna! Wie geht es Ihrem Bruder, meine Liebe? Er ist ja so ein netter junger Mann. Rachel, habe ich Ihnen nicht kürzlich erst gesagt, dass ich Sir Christopher für den Inbegriff eines Gentlemans halte?“

„Oh ja, da bin ich mir ganz sicher. Ein perfekter Gentleman“, stimmte Mrs. Burroughs ihrer Freundin zu.

„Sie sollten ihn dafür schelten, dass er Sie nicht begleitet hat. Wir freuen uns immer sehr, ihn zu sehen“, meinte Mrs. Bennett vorwurfsvoll zu Anna.

„Er hat heute leider sehr viel mit dem Gutsverwalter zu besprechen“, erwiderte Anna.

„Aber natürlich, er ist ja so ein pflichtbewusster junger Mann. Ich wünschte, dass mein Miles dasselbe Interesse für unser Gut zeigte, aber er interessiert sich nun einmal gar nicht für geschäftliche Dinge. Ich denke, dass er eher ein Gelehrter wird, so wie er sich die ganze Zeit mit seinen Büchern in seinem Zimmer vergräbt.“

Auf Anna, die sich bei verschiedenen Anlässen mit dem jungen Mann unterhalten hatte, hatte er nie einen sonderlich gelehrten Eindruck gemacht, sie enthielt sich jedoch lieber einer Bemerkung. Eigentlich war es auch kaum möglich, Mrs. Bennetts Redefluss zu unterbrechen, selbst wenn man das wünschen sollte.

„Und zudem ist Miles derzeit ein wenig unpässlich“, fuhr Mrs. Bennett fort. „Ich hoffe nicht, dass er sich eine Erkältung zugezogen hat. Kürzlich ist er vom Regen überrascht worden, und dabei habe ich ihm noch gesagt, dass er einen Schirm mitnehmen soll, bevor er zu seinem Spaziergang aufbricht, aber Sie wissen ja, wie die jungen Leute sind …“ Sie kicherte kurz und hielt sich dann die Hand vor den Mund. „Oh, er wäre ganz wütend auf mich, wenn er mich so reden hörte. Erst gestern meinte er zu mir, dass er wahrlich nicht mehr jung sei, denn immerhin ist er ja schon einundzwanzig! Natürlich ist er das, aber mir erscheint das immer noch sehr jung. Ihnen wahrscheinlich gar nicht, denn Sie sind ja selber fast noch ein Kind.“

„Nun, das wohl kaum, Madam“, wandte Anna ein.

Zu ihrer Überraschung ging Mrs. Bennett nicht weiter auf die angeschlagene Gesundheit ihres Sohnes ein. Nicht einmal die üblichen Bemerkungen über ihre Tochter machte sie. Bevor Anna sich noch wundern konnte, was Mrs. Bennett dazu bewegt haben mochte, von ihrem üblichen Verhalten abzuweichen, bemerkte sie die kaum verhohlene Aufgeregtheit und ein ungeduldiges Funkeln in deren Augen. Aus Erfahrung wusste Anna, dass dies untrügliche Anzeichen dafür waren, dass die Frau des Squires außerordentliche Neuigkeiten hatte, die sie kaum noch für sich behalten konnte.

Anna warf ihrer Gastgeberin einen kurzen Blick zu und stellte fest, dass Mrs. Burroughs Wangen ebenfalls leicht gerötet waren und ihre Augen vor Aufregung leuchteten. Was um alles in der Welt geht hier vor sich?

Als sie es nicht mehr länger aushielt, brach es auf einmal aus Mrs. Bennett hervor: „Haben Sie schon das Neueste gehört, Miss Holcomb? Es ist so unglaublich aufregend …“

„Nein, ich fürchte, in letzter Zeit ist mir nichts Aufregendes zu Ohren gekommen.“ Anna sah den Doktor fragend an, aber der zuckte nur mit den Schultern, als wisse auch er nicht, wovon die Rede war.

„Also, der Squire hat mir erzählt – und ich nehme an, dass er es von Mr. Norton persönlich erfahren hat, der ja sein Anwalt ist – also, er hat mir erzählt, dass Reed Moreland nach Winterset zurückkehren wird!“

Mrs. Bennett hielt inne und sah Anna erwartungsvoll an. Anna war fassungslos. Reed Moreland! Ihr war, als müsse ihr das Herz plötzlich in die Kniekehlen sinken.

„Ist das nicht wundervoll?“, rief die Pfarrersfrau erfreut.

„Ja“, bemerkte Anna mit tonloser Stimme. „Ja, natürlich.“

„So ein vornehmer Gentleman“, fuhr Mrs. Burroughs ganz beglückt fort. „So belesen und kultiviert und dazu aus bester Familie. Er hat alles, was man von dem Sohn eines Dukes erwarten würde.“

„Und dabei ist er keineswegs überheblich“, fügte Mrs. Bennett hinzu.

„Oh nein, da haben Sie natürlich völlig recht“, pflichtete ihre Freundin ihr bei. „Ganz und gar nicht überheblich. Aber auch nicht zu vertraulich.“

„Nein, genau richtig, um ein vollendeter Gentleman zu sein.“

„Ein Musterexemplar von einem Mann, wie mir scheint“, bemerkte Dr. Felton mit einem leicht belustigten Unterton.

„Sie sagen es.“ Mrs. Bennett, der jegliche Ironie entging, nickte zustimmend mit dem Kopf. „Sind Sie ihm schon einmal begegnet, als er damals hier war?“

„Ich glaube, ich bin ihm auf einer Abendgesellschaft vorgestellt worden. Er schien mir ein recht erfreulicher Zeitgenosse zu sein.“

Anna verspürte eine aufkommende Übelkeit. Warum nur kehrt Reed nach all der Zeit hierher zurück? Wie soll ich das ertragen? Sie malte sich aus, dass sie ihm begegnen würde, sobald sie ein Fest in der Nachbarschaft besuchte. Nein, das ist ganz einfach unmöglich!

„Ich kann mir denken, dass Sie diese Neuigkeit auch sehr aufregend finden“, bemerkte Mrs. Bennett mit einem verschwörerischen Lächeln. „Ich erinnere mich, dass er sich damals sehr um Ihre Aufmerksamkeit bemühte.“

„So würde ich das nicht nennen“, widersprach Anna halbherzig. „Er war freundlich und zuvorkommend, dennoch glaube ich nicht, dass er ein besonderes Interesse an mir hatte.“

Die beiden anderen Frauen warfen sich bedeutsame Blicke zu.

„Das haben Sie sehr schön gesagt, meine Liebe“, stellte Mrs. Burroughs anerkennend fest. „Ihre Bescheidenheit spricht für Sie, aber es ist auch nicht verwerflich, das Augenmerk eines so vortrefflichen Mannes auf sich zu ziehen.“

„Und da Sie ja nicht einmal eine Saison in London hatten …“, fügte Mrs. Bennett hinzu.

„Es war natürlich sehr vorbildlich von Ihnen, stattdessen auf dem Land zu bleiben und Ihrem Vater und Ihrem Bruder den Haushalt zu führen …“, warf die Pfarrersfrau ein.

„… weshalb niemand es mehr verdient hätte als Sie, von einem solchen Mann auserwählt zu werden“, schloss Mrs. Bennett triumphierend.

„Das ist sehr nett von Ihnen“, erwiderte Anna und bemühte sich, ihre Stimme fest und klar klingen zu lassen. „Nur kann ich Ihnen versichern, dass Lord Moreland und ich nie mehr als flüchtige Bekannte waren. Wahrscheinlich wird er sich kaum noch an mich erinnern.“

Anna wusste jedoch genau, dass dies mehr als zweifelhaft war. Reed Moreland mochte sich vielleicht nicht gerne an sie erinnern, aber es war sehr unwahrscheinlich, dass der Sohn eines Dukes die Frau vergaß, die ihn damit brüskiert hatte, seinen Heiratsantrag abzulehnen.

„Es wäre wirklich interessant, zu wissen, warum Lord Moreland nach so langer Zeit hierher zurückkehrt“, bemerkte Dr. Felton, und Anna bedachte ihn mit einem dankbaren Blick, weil er die Unterhaltung von ihrer Beziehung zu Reed wegzuführen versuchte.

„Er hat Mr. Norton geschrieben, dass er beabsichtige, Winterset zu verkaufen“, erklärte Mrs. Bennett. „Und nun will er sich selbst ein Bild vom Zustand des Anwesens machen und entscheiden, was an Reparaturen notwendig ist. Er hat Mr. Norton damit beauftragt, Dienstboten einzustellen, die alles für seine Ankunft vorbereiten sollen.“

„Wissen Sie … wann er kommt?“, fragte Anna.

„Ich denke bald, meine Liebe“, erwiderte Mrs. Bennett. „Der Squire meinte, dass Mr. Norton den Eindruck hatte, Lord Moreland könne es kaum noch erwarten, wieder hier zu sein.“ Sie warf Anna einen vielsagenden Blick zu.

„Wenn er alles verkaufen würde, wäre das sicher gut“, überlegte der Doktor laut. „Es ist besser, wenn wieder jemand dort lebt. Winterset ist ein wunderbares Haus, das nicht so lange Zeit leer stehen sollte.“

„Oh ja, es ist herrlich“, stimmte Mrs. Burroughs schnell zu, fügte dann jedoch zögernd hinzu: „Wenngleich es auch ein wenig … befremdlich ist, nicht wahr?“ Sie sah Anna entschuldigend an. „Ich weiß, dass es der Familiensitz Ihrer Vorfahren ist …“

Anna lächelte beschwichtigend. „Ich bitte Sie, fürchten Sie nicht, mich zu beleidigen. Wir wissen doch alle, dass der Lord de Winter, der es hat erbauen lassen, ein wenig … nun, ein wenig eigen war.“

„Sie sagen es.“ Die Pfarrersfrau nickte und war offensichtlich erleichtert, dass Anna sie so gut verstand.

„Es wäre wunderbar, wenn dort wieder jemand leben würde“, bekräftigte Mrs. Bennett, und ihre Augen leuchteten bei der Vorstellung. „Stellen Sie sich nur die herrlichen Feste vor … Erinnern Sie sich noch an den Ball, den Lord Moreland damals gegeben hat? Es war ein großartiger, unvergesslicher Abend.“

„Oh ja, wahrlich“, stimmte Mrs. Burroughs zu.

Anna schwieg und hörte der Unterhaltung nur noch mit halbem Ohr zu. Sie erinnerte sich sehr gut an den Ball – allzu gut. Die Erinnerung daran verfolgte sie seit Jahren.

An jenem Abend hatte sie hinreißend ausgesehen und war sich dessen auch bewusst gewesen. Ihre Haare waren zu einer jener raffinierten Frisuren aufgesteckt, zu denen ihre Kammerzofe Penny sie immer zu überreden versuchte, und dazu hatte sie ein Kleid in einem kräftigen Blauton getragen, das ihre Augen tiefblau wie den mitternächtlichen Himmel schimmern ließ. Vor Aufregung hatten ihre Augen gefunkelt, ihre Wangen waren leicht gerötet gewesen, und ihre Vorfreude und ihr Glück hatten ihr natürliches gutes Aussehen in strahlende Schönheit verwandelt.

Der Ballsaal auf Winterset war hell erleuchtet, und der liebliche Duft von Gardenien hing in der Luft. Anna erinnerte sich, dass sie Reed einmal erzählt hatte, wie sehr sie Gardenien mochte, und sobald sie erkannte, dass er den Blumenschmuck als ein Geschenk für sie gedacht hatte, empfand sie ein unbeschreibliches, überschwängliches Glück. Und als sie in seine lächelnden Augen sah, fand sie ihre Gefühle bestätigt.

Es war der schönste Abend ihres Lebens. Sie hatte nur zweimal mit Reed getanzt, da die Regeln des Anstands nicht mehr erlaubten, aber diese Momente in seinen Armen waren der Himmel auf Erden. Nie würde sie sein Gesicht vergessen, während er sie lächelnd angeblickt hatte – seine grauen Augen, die ganz sanft und zärtlich wurden, wenn er sie ansah, die dunklen Brauen, die sich darüber wölbten, und die markanten Züge seines Gesichts, die ihr so vertraut und lieb geworden waren, als hätte sie ihn schon ihr ganzes Leben gekannt und nicht erst seit einem Monat. Die Musik, die anderen Gäste, selbst die Worte, die sie und Reed gewechselt hatten, waren an diesem Abend weniger von Bedeutung gewesen, als vielmehr seinen Arm um ihre Taille zu spüren und ihre Hand in die seine zu legen.

Später, nach dem Mitternachtsessen, war er mit ihr auf die Terrasse gegangen, wo sie den neugierigen Blicken der anderen entkommen konnten. Sie schlenderten die Steintreppe hinunter in den Garten. Obwohl der Abend recht kühl war, empfanden sie die frische Luft nach der Hitze des Ballsaals als wohltuend. Während sie durch den Garten spazierten, hielt Reed ihre Hand, und Anna spürte, wie ihr das Herz bis zum Halse schlug. Schließlich blieb er stehen und wandte sich ihr zu, und Anna hatte zu ihm aufgeblickt und genau gewusst, was nun geschehen würde, und auch, dass sie es von ganzem Herzen wollte.

Sobald er sich zu ihr beugte und sie küsste, meinte sie, dass etwas in ihr bersten würde. Verlangen und Sehnsucht, eine ungeahnte, wilde Freude, die sie nie zuvor empfunden hatte, stürmten auf sie ein. Sie hatte sich an ihn geschmiegt, und außer Reed und dem Vergnügen, das seine Lippen ihr bereiteten, schien nichts mehr zu existieren. In diesem Moment war ihr bewusst geworden, dass sie den Mann gefunden hatte, der wie für sie geschaffen war, und dass ihre Liebe ein Leben lang andauern würde.

Auch jetzt musste sie sich nur jenen Abend in Erinnerung rufen und spürte sofort, wie ein scharfer Schmerz ihr so gewaltig durch die Brust fuhr, dass sie fast keuchend nach Atem gerungen hätte. Anna schloss kurz die Augen und versuchte, den qualvollen Erinnerungen Einhalt zu gebieten, die auf sie einstürmten. Nichts war ihr in ihrem Leben so schwergefallen, wie Reed Moreland aufzugeben. Sie hatte drei lange Jahre gebraucht, um an einen Punkt zu gelangen, an dem sie wieder … nun, nicht unbedingt glücklich, aber doch zumindest zufrieden mit ihrem Leben war.

Es kam ihr wie eine grausame Ironie des Schicksals vor, dass Reed ausgerechnet jetzt beschlossen hatte, hierher zurückzukehren. Sie wagte kaum daran zu denken, was geschehen würde, wenn sie ihn wiedersehen sollte. Würde sein bloßer Anblick ihren mühsam errungenen inneren Frieden mit einem Schlag zunichtemachen?

Anna fing an zu zittern und ballte entschlossen die Fäuste, um ihre Aufgewühltheit in den Griff zu bekommen. Sie musste von hier fort, denn sie wollte allein sein, um in Ruhe über alles nachdenken zu können und sich keine Sorgen darüber machen zu müssen, was die anderen wohl dachten. Hoffentlich war sie lange genug geblieben, um ihren Aufbruch nicht unhöflich erscheinen zu lassen! Trotz dieser Bedenken nutzte sie die erste Gesprächspause, um zu sagen, dass sie jetzt nach Hause müsse, um Kit von den Neuigkeiten zu berichten.

Zunächst lenkte sie ihr Pferd in die Richtung, die nach Holcomb Manor führte, doch dann schlug sie den Weg ein, der nach links abzweigte und auf dem man nach Winterset gelangte. Sie fuhr die lange Auffahrt hinauf, die zu beiden Seiten von alten Lindenbäumen gesäumt war. Die Zügel entglitten mehr und mehr ihren Fingern, und das Pferd fiel in einen langsamen Schritt. Zwischen den Bäumen taten sich immer wieder Lücken auf, weil einige der Linden im Laufe der Jahre abgestorben waren und gefällt werden mussten. Dafür wuchsen die Sträucher am Wegesrand umso wilder und überwucherten fast schon die Auffahrt. Trotz der Spuren der Verwahrlosung war Anna alles noch so vertraut, dass ihr ganz beklommen ums Herz wurde. Das Anwesen von Winterset grenzte an die Ländereien von Holcomb Manor, und doch war sie diesen Weg seit nunmehr drei Jahren nicht mehr entlanggefahren.

Am Ende der Lindenallee erstreckte sich eine weitläufige Rasenfläche, die zum Haus hinaufführte. Wie ein kostbares Juwel in seiner Fassung lag Winterset auf einer leichten Anhöhe. Die Zufahrt führte in einer sanft geschwungenen Kurve bis zu dem auf eine niedrige Steinmauer aufgesetzten schmiedeeisernen Zaun, der das Anwesen umschloss.

In der Mitte der Mauer standen zwei steinerne Säulen, die den Zaun überragten und auf denen je ein in Stein gehauener Jagdhund mit aufmerksam gespitzten Ohren wachte. Es hieß, dass die Jagdhunde von Lord Jasper de Winter, der das Herrenhaus im siebzehnten Jahrhundert hatte erbauen lassen, für die beiden grimmig aussehenden Skulpturen Modell gestanden hatten.

Zwischen dem Zaun und dem Haus befand sich ein kleiner Hof, durch den ein breiter Kiesweg verlief, der von der Auffahrt bis zur Eingangstür führte. Das Haus selber war symmetrisch angelegt, mit einem weitläufigen Mittelbau und je zwei kurzen Seitenflügeln mit spitzen Giebeln. Es war aus einem gelblichen, fast schon honigfarbenen Sandstein erbaut, der im Laufe der Jahre jedoch nachgedunkelt und an vielen Stellen von Flechten bedeckt war. Wenn die Sonne so hell schien wie heute, leuchteten die Steine in einem warmen Goldton, an trüben Tagen jedoch wirkte das Gebäude düster und unheimlich.

Seine großen Fenster und die steinerne Balustrade, die den Mittelbau krönte, verliehen dem Haus ein elegantes Aussehen. Über das Dach verstreut ragte eine Vielzahl von Schornsteinen auf, die spiralförmig behauen waren, und an den Dachfirsten befanden sich Skulpturen wilder Greifvögel.

Anna sah zu dem Gebäude hinauf. Sie hatte Winterset schon immer geliebt, und bereits als Kind hatten die fantastischen Vogelwesen und die gedrehten Schornsteine auf den Dächern sie begeistert. Doch als sie das Haus nun betrachtete, verstand sie auf einmal die fast abergläubische Unruhe, die manche Leute beim Anblick von Winterset überkam. Die vielen Schornsteine und die Statuen schufen eine befremdliche Atmosphäre und ließen das Haus – besonders an wolkenverhangenen Tagen – unheimlich und furchterregend wirken. Die Statuen der beiden Jagdhunde, die ihren lebenden Vorbildern erschreckend ähnlich sahen, verstärkten die Atmosphäre unbestimmter Bedrohung nachdrücklich. Trotz der Spuren, die die Zeit hinterlassen hatte, erschienen die Gesichter der Hunde noch immer lebensecht, sodass man fast meinen konnte, sie würden einen bedrohlich ins Auge fassen. Anna dachte, dass das künstlerische Geschick des Steinmetzes sicher zu der Legende beigetragen hatte, die besagte, dass die beiden Jagdhunde bei Vollmond von ihren Säulen sprangen, mit rot glühenden Augen dem Ruf ihres längst verstorbenen Herren Lord Jasper de Winter folgten und mit ihm auf eine gespenstische Jagd durch die Nacht gingen.

Als sie neben sich im Gebüsch ein Rascheln vernahm, fuhr sie herum. Von dem dichten Laubwerk fast verdeckt, stand ein Mann und beobachtete sie.

2. KAPITEL

Anna fasste die Zügel wieder fester, und das Herz schlug ihr plötzlich bis zum Hals. Doch als die Gestalt aus dem Gebüsch hervorkam und schließlich vor ihr auf dem Fahrweg stand, entspannte sie sich.

„Grimsley. Ich habe Sie gar nicht erkannt.“

Jahre der gebückten Arbeit über Pflanzen und Gräsern ließen den schmächtigen Mann ein wenig gebeugt gehen. Er hob die Hand und nahm seine Kappe ab, unter der ein wirrer Schopf grau gesträhnter dunkler Locken zum Vorschein kam.

„Guten Tag, Miss“, erwiderte Grimsley und neigte zur Begrüßung ehrerbietig den Kopf. Einst war er Hauptgärtner auf Winterset gewesen, und während all der Jahre, in denen das Haus leer gestanden hatte, war er als Hausmeister geblieben.

„Wie geht es Ihnen?“, erkundigte Anna sich höflich.

„Sehr gut, Miss. Nett von Ihnen, danach zu fragen.“ Er grinste sie an und zeigte dabei seine schiefen Zähne. „Das alte Anwesen ist immer noch eine prächtige Schönheit, nicht wahr, Miss?“

„Ja. Mir hat Winterset schon immer sehr gefallen.“ Anna zögerte kurz und fügte dann hinzu: „Wie ich gehört habe, wird der Eigentümer bald zurückkehren.“

Grimsley nickte eifrig. „Ja, Miss, das stimmt. Mr. Norton war heute hier und hat es mir gesagt. Er meinte, dass die Herrschaften zurückkommen. Vielleicht sind Sie dann ja auch wieder öfter hier.“

Rasch schüttelte Anna den Kopf. „Nein, das denke ich nicht.“

„Es ist nicht gut für das Haus, wenn keine de Winters mehr dort leben.“

„Ich bin mir sicher, dass Lord Moreland Ihnen ein guter Dienstherr sein wird.“

„Er ist aber kein de Winter“, beharrte Grimsley. Er drehte sich um und sah zu dem Gebäude hinauf. „Das Haus ist einsam ohne die Familie. Es war nicht gut, dass Lord de Winter es verlassen hat, um in die Wildnis zu gehen.“

„Nach Barbados“, ergänzte Anna. Wenn sie und Mr. Grimsley sich in den letzten Jahren begegnet waren, kamen sie früher oder später immer darauf zu sprechen.

„Einfach so das Haus zu verkaufen …“ Die Miene des Gärtners drückte Missbilligung aus.

„Es war für meinen Onkel viel zu groß“, sagte Anna, „und er wollte dort nicht mehr leben.“

Der Lord de Winter, über den sie sprachen, war Charles, der Bruder ihrer Mutter. Er hatte nie geheiratet, und da er keine Kinder hatte, waren er und Annas Mutter Barbara die letzten de Winters gewesen. Nachdem er beschlossen hatte, Winterset zu verlassen, überließ er seinen gesamten Besitz der Vormundschaft von Annas Vater, damit nach seinem Tod alles an Kit und Anna übergehen würde. Kit verwaltete nach wie vor die Ländereien und das Vermögen der de Winters, doch ihr Vater hatte das Haus verkauft, da sie alle es vorzogen, auf Holcomb Manor zu leben.

Anna konnte sehen, dass ihre Worte Grimsley wie immer nicht hatten beschwichtigen können. Wahrscheinlich würde ihr das auch nie gelingen, denn der Mann war von Winterset und den de Winters geradezu besessen. Er war auf dem Anwesen geboren worden und hatte dort sein ganzes Leben verbracht. Auch während der letzten drei Jahre, in denen Winterset leer gestanden hatte, hatte er weiterhin in dem kleinen Gärtnerhaus gelebt. Es war allgemein bekannt, dass er seit einiger Zeit ganz gerne dem Gin zusprach, und Anna vermutete, dass seine seltsamen Ansichten nicht wenig damit zu tun hatten.

Sie versuchte, die Unterhaltung wieder zu dem Thema zurückzubringen, das ihr nicht aus dem Kopf wollte. „Wissen Sie, wann Lord Moreland eintreffen wird?“

Grimsley schüttelte finster den Kopf. „Bald, meinte Mr. Norton. ‚Bringen Sie alles gut in Schuss, Grimsley.‘ Das hat er gesagt. Ich frage mich, wie ich das allein schaffen soll.“

„Ich glaube nicht, dass er Unmögliches von Ihnen erwartet“, beruhigte Anna ihn. „Ree… Lord Moreland ist ein sehr gerechter Mann.“

Grimsley nickte, aber Anna konnte ihm trotzdem seine Zweifel ansehen.

„Zudem“, fuhr sie unverdrossen fort und wusste, dass sie weniger dem Gärtner als vielmehr sich selbst Mut zu machen versuchte, „wird er nicht lange bleiben. Ich denke, dass er sich nur noch einmal alles genau ansehen will, bevor er über den Verkauf entscheidet.“

„Ja, sicher.“ Grimsley wirkte betreten und wandte den Blick ab. Auf einmal verstand Anna, was den alten Mann beunruhigte.

„Selbst wenn Lord Moreland das Haus verkauft“, versicherte sie ihm in ihrer verständnisvollen Art, die sie bei allen Bediensteten von Holcomb Manor so beliebt gemacht hatte, „wird der neue Besitzer Sie bestimmt als Gärtner behalten wollen. Wahrscheinlich werden sogar noch Leute eingestellt, die Ihnen helfen, das Anwesen wieder so herzurichten, wie Sie es sich wünschen.“

Er sah zu ihr auf und lächelte vorsichtig. „Ja, Miss, das wird er wohl – wenn er so ist wie Sie und Ihr Bruder.“

„Sie sollten wissen, dass auf den Ländereien von Winterset immer ein Platz für Sie sein wird“, erwiderte Anna.

„Ich danke Ihnen, Miss. Auf Wiedersehen, Miss.“ Er verbeugte sich ehrerbietig und zog sich dann in das Gebüsch zurück, aus dem er gekommen war.

Anna sah wieder zum Haus hinauf. Sie musste Kit von Reeds Rückkehr erzählen, denn es würde einen sehr seltsamen Eindruck machen, wenn sie das nicht täte. Kit wusste nichts von dem, was zwischen ihnen beiden vorgefallen war, weil er sich im Ausland aufhielt, als ihr Vater das Anwesen an Reed verkaufte, und Anna hatte ihrem Bruder nie erzählt, was geschehen war. Es mochte wohl sein, dass ihm Gerüchte zu Ohren gekommen waren, von sich aus hatte er indes das Thema nie zur Sprache gebracht. Wenn Reed eintraf, würde Kit ihm seine Aufwartung machen müssen. Alles andere wäre in hohem Maße unhöflich und würde Gerede verursachen. Doch in Anbetracht dessen, was zwischen ihm und Anna geschehen war, würde Reed den Besuch wohl kaum erwidern, und wenn sie sich noch dazu von allen Gesellschaften fernhielte, auf denen sie ihm begegnen könnte …

Aber sie wusste selbst, dass dies eine lächerliche Vorstellung war. Sie konnte nicht während all der Tage oder gar Wochen, die Reed hier sein würde, Unwohlsein vortäuschen. Auf einmal überkam sie ein feiger Fluchtimpuls. Wenn sie doch nur irgendeine Verwandte hätte, der sie einen Besuch abstatten könnte! Nur leider war sie nicht gerade mit vielen Verwandten gesegnet. Ihr Onkel hatte keine Kinder, und die Großtante, die ihre Mutter nach dem tragischen Tod der Eltern aufgezogen hatte, war vor einigen Jahren gestorben. Die einzige Möglichkeit wäre eine Cousine ihres Vaters, die allerdings alle Hände voll damit zu tun hatte, ihre fünf Töchter an den Mann zu bringen. Schon vor Jahren hatte sie Anna gegenüber unmissverständlich klargemacht, dass sie wenig Interesse daran hatte, noch ein Mädchen bei sich im Haus zu haben – zumal eines, das ihre eigenen, wenig reizvollen Töchter in den Schatten stellen würde.

Dann gab es natürlich noch ihre Freundin Miranda, die einen Pfarrer geheiratet hatte und nun in der Nähe von Exeter lebte. Anna hatte sie schon oft besucht und wusste, dass Miranda sie willkommen heißen würde, aber ihre Freundin hatte bereits zwei Kinder und lag derzeit das dritte Mal im Wochenbett. Ihre Schwiegermutter war gekommen, um ihr mit dem Baby zu helfen, und Anna bezweifelte, dass für sie neben der Amme, den Kindern und der Schwiegermutter noch viel Platz in dem kleinen Pfarrhaus sein würde.

Zudem würde ihre plötzliche Abreise just in dem Moment, wo Reed zurückkehrte, Anlass zu allerlei unwillkommenen Vermutungen geben – und das musste Anna unbedingt vermeiden. Sie würde also hierbleiben und versuchen, Reed aus dem Weg zu gehen. Und sollten sie sich doch zufällig einmal begegnen, würde sie höflich lächeln, ein wenig belanglos plaudern, und alles wäre überstanden.

Immerhin waren seitdem drei Jahre vergangen. Sie dachte eigentlich gar nicht mehr an ihn … meistens jedenfalls – und wahrscheinlich erging es ihm genauso. Er hatte die letzten drei Jahre in London verbracht, und Anna war sich sicher, dass es dort nicht an Frauen mangelte, um seine Stimmung zu heben. Vielleicht hatte er ja sogar geheiratet.

Der bloße Gedanke daran versetzte ihr einen Stich im Herzen, selbst wenn sie sich streng ermahnte, nicht so dumm und selbstsüchtig zu sein. Ein begehrter Junggeselle, gut aussehend und charmant wie Reed es war, konnte mühelos eine neue Liebe finden, und genau das wünschte Anna ihm auch. Natürlich tat sie das. Denn sie war längst über ihn hinweggekommen und hatte ihre Träume von einst begraben. Wenn eine erneute Begegnung ihr nun einen immer noch beschämend großen Schmerz verursachte, dann sicher nicht deshalb, weil sie ihn noch liebte!

Verärgert schüttelte sie den Kopf und schnalzte kurz mit der Zunge, um ihr Pferd zu wenden und die Auffahrt wieder hinunterzufahren. Sie wollte sich auf keinen Fall wie ein unsterblich verliebtes Mädchen aufführen. Vor drei Jahren hatte sie nur getan, was sie tun musste, und sie bedauerte es nicht. Nein, kein bisschen. Dieser Teil ihres Lebens gehörte der Vergangenheit an, und sie würde nicht zulassen, dass Reed Morelands Rückkehr ihre Gefühle erneut in Aufruhr brachte.

Sie schlug mit den Zügeln, trieb das Pferd vorwärts und versuchte dabei, den Gedanken daran zu verdrängen, dass sie letztlich nur vor sich selbst davonlief.

Während der nächsten Tage achtete Anna darauf, sich unablässig mit etwas zu beschäftigen, damit sie möglichst wenig an Reed und seine baldige Ankunft denken musste. Sie erledigte alle Stopfarbeiten, die sich in ihrem Nähkorb angesammelt hatten, machte das Babyjäckchen für Mirandas Neugeborenes fertig und bestickte ein Fichu aus weißem Leinen, das sie sich vor einigen Monaten gekauft hatte. Außerdem beantwortete sie endlich all ihre Briefe der letzten Wochen und besuchte einige ihrer alten Pächter. Jeden Tag unternahm sie zudem einen langen Spaziergang, denn sie hatte festgestellt, dass ihr dies stets half, innerlich zur Ruhe zu kommen.

Drei Tage nach ihrem Besuch im Pfarrhaus brach sie erneut zu einer ihrer Wanderungen auf. Diesmal schlug sie den Weg ein, der hinter dem Haus durch den Garten nach Osten führte, wo er sich schon bald gabelte. In der einen Richtung gelangte man in den Wald, der sich am Fuße von Craydon Tor erstreckte und der zu Annas liebsten Ausflugszielen gehörte. Doch heute entschied sie sich für den anderen Weg, der in einem weiten Bogen um den Berg herumführte, und auf dem man schließlich bis an die Ländereien von Winterset gelangte. Anna war diesen Weg bestimmt schon hundertmal gegangen, doch in den letzten drei Jahren hatte sie es immer vermieden, bis nach Winterset zu laufen. Auch heute wollte sie auf halbem Wege bei der großen Viehweide abbiegen und über die Wiese zum Bach hinuntergehen, denn dort, unter den hohen Bäumen, durch deren Blätter das Sonnenlicht in hellen Flecken tanzte, und wo das Wasser sanft plätscherte, konnte sie in aller Ruhe nachdenken.

Eben hatte sie den Fuß des Bergs umrundet und befand sich nun auf dem langen, geraden Weg, der direkt bis nach Winterset führte. Ganz in Gedanken versunken, sah sie nicht auf das, was vor ihr lag, und es dauerte zudem eine Weile, bis sie das leise Geklapper von Hufen wahrnahm. Anna seufzte. Im Moment war ihr nicht danach zumute, mit irgendjemand auch nur ein paar höfliche Worte wechseln zu müssen, und sie überlegte, wie sie dem Reiter aus dem Weg gehen könnte – was natürlich nicht mehr möglich war, denn auf der gut einsehbaren Strecke würde er sie längst erblickt haben, und ihm nun auszuweichen, wäre sehr unhöflich. Also fügte sie sich ihrem Schicksal, wappnete sich mit einem Lächeln und sah auf.

Das Pferd, ein großer, schlanker schwarzer Hengst, kam geradewegs auf sie zugetrabt, und der Reiter hielt sich mit müheloser Anmut auf dem Rücken seines Tieres. Er war hochgewachsen, hatte breite Schultern, und die Sonne ließ sein dunkles Haar rötlich schimmern. Noch war er zu weit entfernt, als dass sie sein Gesicht hätte erkennen können, aber Anna wusste auch so, dass er ein energisches Kinn und einen breiten Mund hatte und die Augen unter seinen dunklen Brauen grau waren.

Es war Reed Moreland, der auf sie zugeritten kam.

Wie angewurzelt blieb Anna stehen und war keines klaren Gedankens mehr fähig. In den letzten Tagen hatte sie zwar immer wieder an ihn gedacht, dennoch war es ein Schock, ihn nun tatsächlich zu sehen. Ihr entging nicht eine gewisse Ironie des Schicksals, als er ihr nun entgegenritt – genauso wie damals, als sie sich das erste Mal begegnet waren.

Reed brachte sein Pferd einige Schritte von ihr entfernt zum Stehen und stieg aus dem Sattel. Einen langen Augenblick sahen sie sich wortlos an. Anna schlug das Herz auf einmal so heftig, dass sie glaubte, es würde ihr die Brust sprengen, und ihr wurde klar, dass keine einzige ihrer vielen Vorstellungen sie auch nur annähernd auf die Situation vorbereitet hatte, ihm erneut gegenüberzustehen.

„Miss Holcomb.“ Er hielt die Zügel seines Pferdes und ging einen Schritt auf sie zu.

„Mylord.“ Anna war ein wenig überrascht, wie ruhig ihre Stimme klang. Eigentlich hätte sie genauso zittern müssen, wie sie selbst es innerlich tat.

Sie ließ ihren Blick auf seinem Gesicht ruhen und suchte nach Anzeichen der Veränderung. War seine Haut gebräunter als früher? Hatte er mehr Falten um die Augen bekommen? Es traf sie wie ein Schock, wieder in seine Augen zu sehen, die von einer unbeschreiblichen silbergrauen Farbe waren und sie unter langen, dichten Wimpern hervor anblickten.

In Anna stieg das unbändige Verlangen auf, die Hand nach Reed auszustrecken und ihm mit den Fingern das Haar zurückzustreichen. Wärme breitete sich tief in ihrem Leib aus. Sie erinnerte sich an das Gefühl seiner Lippen auf den ihren, an die Hitze seiner Haut und an seine starken Arme, die sie fest umschlungen hielten … Anna schluckte und wandte den Blick ab. Sie hoffte, dass ihre Miene nichts von ihren Empfindungen verriet.

Schließlich durchbrach Anna das unbehagliche Schweigen zwischen ihnen mit den erstbesten Worten, die ihr in den Sinn kamen: „Es hat mich … überrascht, als ich davon hörte, dass Sie nach Winterset zurückkommen wollten.“

„Es schien mir unsinnig, das Haus zu behalten“, erwiderte er. „Ich wollte es mir noch einmal ansehen … und es dann verkaufen.“

„Das ist gut“, bemerkte Anna und ärgerte sich sogleich darüber, wie unfreundlich ihre Worte klangen. Sie war verlegen und kam sich in ihren festen Wanderstiefeln, dem schlichten Kleid und ihrem einfachen Hut sehr linkisch vor. Wahrlich, sie sah aus wie ein Mädchen vom Lande, und Reed fragte sich bestimmt, was er jemals an ihr gefunden hatte. Warum nur muss ich das Pech haben, ihm in diesem Aufzug über den Weg zu laufen? Und was um alles in der Welt macht er jetzt schon hier? Sie hatte gehofft, dass ihr noch einige Tage Zeit blieben, um sich auf ein Zusammentreffen mit ihm vorzubereiten.

„Ja, ich weiß, was Sie meinen“, erwiderte er kurz.

Er hasst mich immer noch, dachte sie. Genau das hatte sie erwartet. Niemand vergaß es so einfach, verschmäht worden zu sein – und der Sohn eines Dukes sicher noch weniger als andere Männer. Nur hatte sie ihm ihre Gründe nie erklären können, denn sie hätte es nicht ertragen, wie er sie angesehen und was er dann von ihr gedacht hätte. Da war es ihr schon lieber, wenn er sie für kalt und grausam hielt und glaubte, sie sei eine unverbesserlich leichtfertige Person.

Angestrengt überlegte sie, was sie sagen konnte, um das neuerliche Schweigen zwischen ihnen zu durchbrechen. „Ich hoffe, dass es den Dienstboten noch gelungen ist, das Haus rechtzeitig in Ordnung zu bringen.“

Er lächelte ein wenig. „Der Butler war allem Anschein nach nicht sehr erfreut, mich jetzt schon hier zu sehen – zumal ich nicht alleine gekommen bin.“

Seine Worte ließen sie aufhorchen. Wird er jetzt sagen, dass er verheiratet ist? Hat er seine Frau mitgebracht? Womöglich sogar seine Familie? Anna wurde ganz beklommen zumute. „Tatsächlich? Sie sind in Gesellschaft angereist?“

„Ja, mit meiner Schwester und deren Mann. Die beiden sind möglicherweise daran interessiert, Winterset zu kaufen. Und meine kleinen Brüder, die Zwillinge, sind auch mitgekommen – sie haben gerade mal wieder keinen Hauslehrer.“ Nun lächelte er wirklich, und seine Augen funkelten belustigt und liebevoll zugleich.

Anna erinnerte sich noch sehr gut an diesen Blick, der sie stets hatte schwach werden lassen. „Ah, ja … Constantine und Alexander“, sagte sie rasch.

Er hob verwundert die Augenbrauen. „Sie erinnern sich noch an ihre Namen? Das überrascht mich.“

Sie erwähnte lieber nicht, dass sie sich an sämtliche Einzelheiten erinnerte, die er ihr jemals erzählt hatte – ganz zu schweigen davon, dass sie im mädchenhaften Überschwang ihrer Gefühle alles auch ihrem Tagebuch anvertraut hatte. „Es sind Namen, die man nicht so leicht vergisst“, beeilte sie sich daher zu sagen. „Zwei große Helden in einer Familie.“

„Es sind auch zwei Jungen, die man nicht so schnell vergisst“, fügte er in demselben ungezwungenen Ton hinzu, der nichts mehr von der Anspannung erkennen ließ, die zuvor in seiner Stimme gewesen war. Doch dann schien er sich wieder ins Gedächtnis zu rufen, wie die Dinge zwischen ihnen standen, denn er wandte den Blick ab, straffte die Schultern und kehrte zu seiner früheren Förmlichkeit zurück.

„Ich … wie geht es Ihnen?“, fragte er unvermittelt und sah sie mit gerunzelter Stirn an.

„Danke, es geht mir gut“, erwiderte Anna, die wirkliche Anteilnahme in seiner Stimme vermisste. Fast aufgebracht hatte er geklungen.

„Dann hat sich hier also nichts … Außergewöhnliches ereignet?“

Anna schaute ihn verdutzt an. Was will er denn damit sagen? Wollte er ihr zu verstehen geben, dass ihr ereignisloses Leben keinem Vergleich mit dem standhielt, was er ihr in London hätte bieten können? Empört hob sie das Kinn und blickte ihn herausfordernd an. „Nein, ich fürchte, dass sich in Lower Fenley nur äußerst gewöhnliche Dinge zutragen. Es ist hier wahrlich nicht so aufregend, abwechslungsreich und kultiviert, wie Sie es gewohnt sind.“

Offenbar verärgert hob er bei ihren Worten eine Augenbraue. „Sie wissen doch gar nicht, was ich gewohnt bin“, erwiderte er mit scharfer Stimme.

Sogleich hielt er inne und presste die Lippen zusammen, als wolle er zurückhalten, was ihm noch auf der Zunge lag. „Ich hätte niemals hierher zurückkehren sollen“, meinte er schließlich, und seine Worte klangen bitter.

„Nein, vielleicht wäre das besser gewesen“, stimmte Anna zu und wandte sich dann rasch ab, um die Tränen zu verbergen, die ihr plötzlich in die Augen traten.

„Anna …“ Er machte einen Schritt auf sie zu, blieb dann stehen und konnte einen leisen Fluch nicht unterdrücken.

Sie schluckte schwer und wusste, dass sie in Tränen ausbrechen würde, wenn sie auch nur ein Wort sagte. Eilig ging sie davon. Sie dachte, dass sie es nicht ertragen würde, wenn er ihr folgte, doch als sie hinter sich das Klappern der Hufe hörte, die sich in die entgegengesetzte Richtung entfernten, empfand sie auf einmal eine tiefe Kränkung. So eilig hatte er es also, ihr zu entkommen!

Sie drehte sich um und sah Reed nach. Er ritt im Galopp und machte im Sattel eine hervorragende Figur. Ihre Tränen nahmen Anna die Sicht. Sie blinzelte ungehalten, wandte sich wieder um und trat schnellen Schrittes den Heimweg an.

Während er nach Hause ritt, schimpfte Reed sich bestimmt ein Dutzend Mal einen Dummkopf. Er war in höchster Eile nach Winterset aufgebrochen, da ihm sein Traum nicht aus dem Kopf wollte, der ihn mit der unguten Gewissheit zurückgelassen hatte, dass Anna in Gefahr sei.

Aber seit er beschlossen hatte, hierher zu kommen, war eigentlich alles schiefgegangen. Und dabei hatte er einen ganz vernünftigen Grund gefunden, weswegen er nach Lower Fenley wollte – er würde Winterset verkaufen. Das war ein sehr kluger Entschluss, und Reed wusste, dass jeder vernünftige Mann – also ein Mann, der nicht unsinnigen romantischen Hirngespinsten nachhing – das Haus schon vor Jahren verkauft hätte. Nun war er daher nach Winterset zurückgekehrt, um über die für einen Verkauf notwendigen Renovierungen zu entscheiden, und vielleicht würde er auch noch so lange bleiben, bis alles seinen Vorstellungen entsprechend instand gesetzt war. Sein Vorhaben war in der Tat so vernünftig und durchdacht, dass Anna unmöglich zu dem Schluss gelangen konnte, dass er ihretwegen zurückgekommen wäre. Und er war auch davon ausgegangen, dass seine Familie seine Entscheidung fraglos akzeptieren würde.

Das Haus hatte er vor drei Jahren erworben, als er auf einmal von der Idee besessen war, sich einen Landsitz zuzulegen, auf dem er fern von seiner geliebten, aber sehr exzentrischen Familie in Ruhe leben konnte. Er stellte es sich als sein Zuhause vor, in das er eines Tages seine Braut bringen und wo sie ihre Kinder großziehen würden. Bei seinen Erkundigungen war er auf Winterset gestoßen, ein weitläufiges Anwesen in Gloucestershire, das seit fast zehn Jahren leer stand. Früher war es der Familiensitz der de Winters gewesen, einer Adelsfamilie, deren Nachfahren über die Jahre immer weniger wurden, bis nur noch der letzte Lord de Winter übrig blieb. Lord Charles, der weder verheiratet war noch Kinder hatte, war vor zehn Jahren nach Barbados ausgewandert, und da er anscheinend nicht die Absicht hatte zurückzukehren, war das Haus von Sir Edmund Holcomb, de Winters Schwager und Bevollmächtigtem, zum Verkauf angeboten worden.

Eine Beschreibung und eine Zeichnung des Hauses hatten Reeds Interesse geweckt, und er war nach Gloucestershire aufgebrochen, um sich das Anwesen anzusehen. Allerdings hatte er nicht damit gerechnet, am Tag seiner Ankunft der Frau zu begegnen, die er zu seiner Braut machen wollte.

Das Haus und die Ländereien waren genau so, wie er sie sich vorgestellt hatte. Das Gebäude war aus honiggelbem Sandstein, weitläufig und elegant, mit einzelnen baulichen Extravaganzen, die ihm ein gewisses Etwas verliehen. Er hatte es gekauft, war in den am besten erhaltenen Flügel gezogen, und während die Renovierung des Hauses voranschritt, machte er Anna Holcomb den Hof. Einige Wochen lang hatte er wie in einem glücklichen Traum gelebt, der allerdings an jenem Tag endete, als er um ihre Hand anhielt. Sie hatte ihn auf eine Weise abgewiesen, die keine Hoffnung ließ, dass sie es sich noch einmal anders überlegen würde. Am nächsten Morgen hatte Reed Winterset verlassen und war seitdem nicht mehr dort gewesen.

In seiner Familie hatte er niemandem erzählt, was sich vor drei Jahren auf Winterset zugetragen hatte, außer seinem älteren Bruder Theo, der ihm am nächsten stand und von dem er wusste, dass er ein Geheimnis für sich behalten konnte. Das Mitgefühl seiner Schwestern wäre eine Last für ihn gewesen: Es widerstrebte ihm, selbst den Menschen, die ihn liebten, etwas für ihn so Schmerzliches preiszugeben. Da in ihrer Familie alle zu mehr oder minder ausgeprägten Eigenheiten neigten, hatte es niemand verwunderlich gefunden, dass er das Haus, das er gerade erst gekauft hatte, schon wieder aufgab. Nun aber fürchtete Reed, dass seine Rückkehr nach Winterset zu den Fragen führen könnte, die er nach Möglichkeit vermeiden wollte. Deshalb hoffte er, dass sein Plan, das Haus zu v...

Autor

Candace Camp
<p>Bereits seit über 20 Jahren schreibt die US-amerikanische Autorin Candace Camp Romane. Zudem veröffentlichte sie zahlreiche Romances unter Pseudonymen. Insgesamt sind bisher 43 Liebesromane unter vier Namen von Candace Camp erschienen. Ihren ersten Roman schrieb sie unter dem Pseudonym Lisa Gregory, er wurde im Jahr 1978 veröffentlicht. Weitere Pseudonyme sind...
Mehr erfahren