Romana Extra Band 158

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HEISSER FLIRT AM GARDASEE von EMILY LARK

Ein Trip an den Gardasee soll Lilly helfen, ihren Ex zu vergessen! Bei einer Strandparty in Limone flirtet sie mit dem faszinierenden Alessandro. Als es immer verführerischer zwischen ihnen prickelt, weist er sie jedoch jäh ab. Ist sie erneut an den Falschen geraten?

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  • Erscheinungstag 12.04.2025
  • Bandnummer 158
  • ISBN / Artikelnummer 9783751533096
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Emily Lark

1. KAPITEL

„Wie bitte? Sag das noch mal!“

Lilly stieß einen tiefen Seufzer aus und presste sich ihr Handy ans Ohr. Es war nicht so, dass sie Fabiennes Einwände nicht verstand. Sie konnte die Empörung ihrer besten Freundin sogar gut nachvollziehen. Nur änderte das nichts an den Umständen, die zu ihrer Entscheidung geführt hatten. Wobei … War es bei der Sache überhaupt um ihre eigene Entscheidung gegangen?

Bei dem Gedanken an die vergangenen Tage begann es hinter ihren Lidern zu brennen, und sie schluckte hart gegen den Schmerz an, der ihr den Hals zuzuschnüren drohte. „Lass es gut sein, okay? Italien läuft mir ja nicht weg. Ich werde einfach ein anderes Mal …“

„Es gut sein lassen?“ Fabienne dachte nicht daran, sie ausreden zu lassen. Es schien, als habe sie sich gerade erst in Rage geredet. „Hat er dir das eingeredet, dein Mr. Ich will noch was Spaß haben, bevor ich mich fest an jemanden binde?“

Lilly hörte ein erbostes Schnauben am anderen Ende der Leitung. Sie konnte sich gut vorstellen, wie Fabienne wütend mit dem Fuß aufstampfte, bereit, es mit jedem aufzunehmen, der sich ihr in den Weg stellen wollte.

Nicht nur in diesem Punkt waren die beiden Freundinnen wie Feuer und Eis. Während Lilly vor allem darauf Wert legte, es allen recht zu machen, konnte Fabienne ihre Gefühle mit beeindruckender Präzision zum Ausdruck bringen. Ob das an ihrer feuerroten Mähne lag, die ihr etwas Ungestümes verlieh?

Lilly warf einen Blick auf ihr eigenes Spiegelbild und verzog dabei kritisch den Mund. Mit einem männerverschlingenden Vamp konnte sie es mit diesem satten Straßenköterblond jedenfalls nicht aufnehmen. Einzig ihre Figur war ganz passabel, wenn auch nicht so üppig wie Fabiennes, die die Männer mit ihren Kurven reihenweise um den Verstand brachte.

„Hey, Süße.“ Ihre Freundin, die ihr Schweigen falsch interpretierte, verlieh ihrer Stimme einen besonders sanften Klang. „Dir bin ich nicht böse, das weißt du doch, oder? Es ist nur … Wenn ich mir nur vorstelle, wie dieser Idiot um die Häuser zieht, während du dir daheim die Augen ausheulst, könnte ich … Auf jeden Fall bist du, Lilly Baker, mein unbestrittener Lieblingsmensch. Und mit dir KANN man jede Menge Spaß haben. Lass dir bloß nichts anderes einreden!“

„Danke“, murmelte Lilly und spürte einen Anflug von Wärme in sich aufsteigen. „Wenn ich dich nicht hätte …“

„…würdest du dich vermutlich bis in alle Ewigkeit in einer dunklen Höhle verkriechen und Trübsal blasen. Dabei ist er es gar nicht wert, dass du ihm hinterhertrauerst. Das ist kein Typ auf dieser Welt.“

„Ich weiß.“ Lilly seufzte erneut und starrte blicklos aus dem Fenster. Draußen begann es bereits zu dämmern. Dicke Regentropfen, vermischt mit Hagelkörnern, peitschten an die Scheibe, und die Zweige der stattlichen Eiche vor dem Londoner Stadthaus bewegten sich im Sturm. Ein typischer Aprilabend. Nur dass sie dem englischen Schmuddelwetter in ihrem jetzigen Zustand noch weniger als sonst entgegenzusetzen hatte. Wenn sie bloß an die nächste Nacht allein in dieser Wohnung dachte, die ihr seit Harrys Auszug viel zu groß und zu leer vorkam, überfiel sie wieder bleischwere Traurigkeit.

Sie hatte die Wohnung in dem schicken Londoner Viertel noch nie sonderlich gut leiden können und nur lose Kontakt zu den Nachbarn geknüpft, von denen die meisten bis spät in die Nacht zu arbeiten schienen. Kein Wunder bei den Preisen hier. Im Gegensatz zu ihr war Harry die Lage äußerst wichtig gewesen, weil er es liebte, im Small Talk mit den Kollegen seine Adresse fallen zu lassen.

Eine von vielen seiner Eigenschaften, die sie bis zum Schluss nie wirklich hatte nachvollziehen können. Und jetzt musste ausgerechnet sie sich um die Wohnung kümmern, weil er zu einem Freund aus Studientagen gezogen war. Sie kniff die Augen zusammen und dachte schnell an etwas anderes. Sie hatte in den vergangenen Tagen schon genug geweint und keine Kraft mehr, auch an diesem Abend in Tränen zu versinken.

„Ich verstehe trotzdem nicht, warum du den Urlaub an den Gardasee nicht antreten willst“, fasste Fabienne nach und holte sie damit in die Gegenwart zurück. „Liebes, ich weiß, wie lange du dafür gespart hast. Denk doch nur an die romantischen Altstadt-Gässchen, ein lauer Frühlingsabend, du mit einem Glas Chianti in der Hand am Wasser, während dir eine sanfte Brise den Duft von Blumen um die Nase weht. Das war doch immer dein Traum.“

„Unser Traum“, wisperte Lilly und spürte, wie sie bei diesen Worten erneut eine riesige Woge der Traurigkeit überrollte. „Ich weiß doch gar nicht, wie …“

„… es ohne Harry weitergehen soll?“, ergänzte Fabienne sanft, die ihre Gedanken wie immer erriet.

„Genau. Ich halte mich hier in London gerade so über Wasser. Wie aber soll ich ausgerechnet in das Land fahren, in dem wir die schönste Zeit des Jahres verbringen wollten? Das Hotel, die Ausflüge – das alles hat Harry geplant, während ich …“

Lilly schniefte leise ins Handy. Um sich von ihrer Trauer abzulenken, die sie seit Tagen auffraß, angelte sie sich einen Keks vom Backblech. Sie hatte die süßen Gebäckteilchen gerade erst aus dem Ofen geholt. Sie waren noch warm, und wenn der Tag so weiterging wie bisher, würde sie all die leckeren Teilchen noch vor dem Abkühlen verspeist haben.

„Lieber halte ich mich an meine Cookies“, nuschelte sie mit vollem Mund. „Da bin ich mir wenigstens sicher, was ich an ihnen habe.“

„Und bei mir?“, fragte Fabienne mit leisem Vorwurf in der Stimme.

„Bei dir natürlich auch. Das weißt du doch!“

Fabienne kicherte leise, und Lilly musste grinsen. Ihre Freundin schaffte es immer wieder, sie aufzuheitern. So schlecht es ihr auch ging, Fabienne brachte sie zum Lachen. Das war schon so, seit sie sich in der ersten Klasse kennengelernt und seither nie aus den Augen verloren hatten. Obwohl Fabienne aus beruflichen Gründen längst in einer anderen Stadt wohnte und nur selten auf Stippvisite in London vorbeikam, hielten sie ihre Freundschaft aufrecht.

Zum Glück gab es heutzutage viele Möglichkeiten, in Kontakt zu bleiben, und Lilly versäumte es nie, ihre Freundin an den wichtigsten Momenten ihres Lebens zumindest am Telefon teilhaben zu lassen. Auch wenn Harry ihre Freundschaft aus irgendeinem Grund nicht gefallen hatte. Jetzt war sie froh, dass sie wenigstens in diesem Punkt nicht auf ihn gehört hatte. Fabienne war ihre wichtigste Bezugsperson. Und das würde auch immer so bleiben.

„Ich wünschte, du wärst jetzt hier“, sagte sie, bevor sie sich bremsen konnte. Ihrer Freundin ein schlechtes Gewissen machen, wollte sie nun wirklich nicht. Aber sie vermisste sie in diesem Augenblick so stark, dass es ihr in der Brust schmerzte. „Ohne dich …“

„… würdest du vermutlich noch mehr Kekse backen.“

„Ertappt!“ Lilly lachte laut auf. „Vor dir kann ich wohl nichts verbergen, was? Hast du hier eine Kamera installiert?“

„Nein, nur gute Ohren. Und wenn du weiter lautstark einen Keks nach dem anderen am Telefon knusperst, bekomme ich direkt Hunger.“ Fabienne machte eine bedeutungsschwere Pause. „Auch wenn eure Trennung damit am Ende etwas Gutes hatte.“

„Na, vielen Dank auch. Auf das Chaos in meinem Leben hätte ich gerne verzichten können.“

„Das weiß ich doch, Süße.“ Ihre Freundin schlug sofort einen versöhnlichen Ton an. „Allerdings … du bist in letzter Zeit nur noch selten zu deinem liebsten Hobby gekommen. Immerzu warst du damit beschäftigt ...“

„… Harry jeden Wunsch von den Augen abzulesen“, ergänzte diesmal Lilly die Gedanken ihrer Freundin. „Ja, ich weiß. Aber ich … habe ihn nun mal geliebt.“

Die letzten Worte flüsterte sie fast, doch Fabienne verstand sie auch so.

„Es ist an der Zeit, für dich zu sorgen und dich auf das zu besinnen, was dir wichtig ist. Darauf, was du im Leben brauchst.“

„Zum Beispiel Kekse?“

„Wenn es denn sein muss, auch die.“ Fabienne lachte auf, wurde aber sofort wieder ernst. „Nein, ehrlich, Süße. Wann hast du das letzte Mal etwas für dich gemacht?“

Lilly räusperte sich. „Also …“

„Das dachte ich mir. Dabei ist das so wichtig. Glaub deiner alten, weisen Freundin.“

„Als ob die zwei Jahre einen Unterschied machen würden.“

„Siebzehn Monate, um genau zu sein. Und ja, das tun sie.“ Fabienne machte erneut eine kurze Pause. „Was auch immer du in Zukunft vorhast, versprich mir, dir Zeit zu nehmen. Herauszufinden, was du dir wirklich vom Leben erwartest. Und zwar unabhängig von irgendwelchen Männern. Oder Keksen. Obwohl deine Backkünste bekanntlich entzückend sind.“

„So entzückend, dass ich in kürzester Zeit zu einem Hefekloß mutieren werde, wenn ich weiterhin so viele Frustkekse verdrücke.“

„Das, meine Liebe, müssen wir unbedingt verhindern.“

Es wurde still am anderen Ende der Leitung, und Lilly fragte sich schon, ob Fabienne in ein Funkloch gekommen war. Doch dann redete ihre Freundin bereits weiter: „Und wenn ich dich begleite?“, sprudelte sie plötzlich heraus.

„Du meinst an den Gardasee?“

„Klar, warum nicht?“

Lilly konnte Fabiennes Begeisterung geradezu spüren.

„Pass auf, die Welpen sind aus dem Gröbsten raus. Um die kann sich meine Mitbewohnerin kümmern. Und Missy hat noch ein paar Tage … Ehrlich, Süße, nach den letzten stressigen Rassehundeschauen kann ich definitiv ein paar Tage Urlaub gebrauchen. Sonst fange ich am Ende noch selbst zu bellen an.“

„Du würdest für mich also tatsächlich deine teuren Zuchthunde im Stich lassen? Aber das ist doch deine Arbeit“, begann Lilly, wobei sie der Gedanke durchzuckte, dass ihr eigener Job seit Harrys Auszug nun hinfällig war. Sie hatte zwar fürs Erste ihren Resturlaub in der Firma eingereicht, doch solange ihr Ex-Freund in der Chefriege saß, war an eine Rückkehr in den Job nicht zu denken. Ihre Kollegen hatten sich ausgiebig das Maul über den Bruch in ihrer Beziehung zerrissen. Da reichte es ihr schon, sich die Gespräche hinter vorgehaltener Hand nur vorzustellen. Um sich den mitleidigen Blicken der anderen zu stellen, fehlte ihr derzeit die Kraft.

„Na hör mal“, setzte Fabienne an. „Ist ja nicht so, dass Urlaub mit meiner Busenfreundin eine Strafe wäre, oder?“

„Wenn ich an Harrys Worte denke …“

„Die vergisst du am besten ganz schnell wieder“, sagte Fabienne resolut. „Und zwar den ganzen Typen. Im Ernst, Lilly, der hat dich nicht verdient, denn du bist die netteste, attraktivste, intelligenteste und empathischste Person, die ich …“

„Jetzt hör schon auf“, unterbrach Lilly ihre Freundin lachend. „Oder ich werde noch furchtbar eingebildet.“

„Du?“ Fabienne gluckste. „Nie im Leben. Also nimm es endlich an. Oder muss ich es dir noch tausend Mal sagen?“

„Tausend Mal?“

„So lange, bis du es mir endlich glaubst!“

„Also ist der Urlaub abgemacht?“

„Aber so was von. Wie heißt es doch so schön? Arrivederci, bella Italia?“

„An deinen Italienischkenntnissen müssen wir wohl noch was feilen.“

Fabienne schnaubte. „Ach was. Solange ich die Sprache der Liebe verstehe, bin ich für alle Regionen dieser Welt gewappnet. Ach, und Lilly?“

„Ja?“

„Tu mir bitte einen Gefallen und bringe ein paar von deinen Keksen mit, klar?“

„Du meinst die Pecannuss-Cookies mit flüssigem Karamellkern nach einem Geheimrezept von Grandma Anni?“

„Und das sagst du erst jetzt?“ Fabienne stöhnte genüsslich auf. „Allein für diese Cookies würde ich bis ans Ende der Welt reisen.“

2. KAPITEL

„Wach auf, du Schlafmütze!“

Lilly blinzelte verwirrt. Es dauerte einen Moment, bis sie wieder wusste, wo sie war: auf dem Flug nach Verona. Sie rieb sich die Augen und gähnte verstohlen hinter vorgestreckter Hand. Der Preis für die vergangenen Nächte, in denen sie mehr schlecht als recht geschlafen und immer wieder über die Gründe ihrer gescheiterten Beziehung nachgegrübelt hatte. Doch die Anwesenheit ihrer besten Freundin wirkte anscheinend Wunder. Kurz nach dem Start war sie in einen nahezu komatösen Schlaf gefallen und erst aufgewacht, als Fabienne sie mit dem Ellenbogen anstupste.

Sie konnte es noch immer nicht fassen, dass ihre Freundin sie vor drei Wochen überredet hatte, den Urlaub gemeinsam mit ihr anzutreten. Ihr hätte allein dazu sicherlich der Mut gefehlt, doch mit Fabienne an ihrer Seite hatte sie zum ersten Mal seit Langem das Gefühl, es tatsächlich schaffen zu können.

Entschuldigend sah sie zu ihrer Freundin hinüber, die ihr die mangelnde Aufmerksamkeit nicht übel zu nehmen schien. Im Gegensatz zu Harry, der garantiert furchtbar beleidigt gewesen wäre und sie die Missachtung seiner Person hätte spüren lassen. Und zwar so lange, bis sie sich seine Liebe mit irgendeiner Wiedergutmachung erkauft hätte. Fabienne hingegen grinste sie entspannt an.

„Wie sieht’s aus? Wollen wir auf den Urlaub anstoßen?“

Lilly sah zu dem Servierwagen hinüber, der wenige Sitze entfernt stand und mit einigen knallrosa Flaschen beladen war. Geschmackvoll waren die Etiketten nicht gerade. Jedenfalls nicht auf die Art, die sie in den vergangenen Jahren gewohnt war.

„Hm …“, machte sie und zuckte unbestimmt mit den Schultern.

„Ach, und was heißt das jetzt?“

„Dass ich mir nicht sicher bin, ob mir das noch schmeckt.“

Fabienne hob eine Augenbraue und blickte sie ungläubig an. „Hilfe, meine beste Freundin ist von Außerirdischen entführt worden. Süße, du weißt schon, dass wir den Fusel früher flaschenweise gekauft haben? Nach dem Motto: Girls just wanna have fun“, trällerte sie.

Lilly blickte sich peinlich berührt um, doch die anderen Passagiere waren mit eigenen Dingen beschäftigt. Niemand beachtete sie. Dennoch senkte sie ihre Stimme: „Da waren wir gerade erst volljährig und konnten uns nichts anderes leisten.“

„Und mit fünfundzwanzig Jahren gehörst du zu den Scheintoten?“ Fabienne verzog das Gesicht. „Also, ich für meinen Teil habe jetzt Urlaub. Und dazu gehört, auf ein paar schöne Tage anzustoßen.“ Sie winkte die Stewardess herbei. „Ein Glas Prosecco, bitte. Und für meine Freundin …“

„Ebenfalls ein Glas“, hörte Lilly sich sagen und spürte dabei ihren eigenen Herzschlag in der Brust, als wäre sie im Begriff, etwas Ungehöriges zu tun. Es war nicht selten vorgekommen, dass Harry sie für ihr Verhalten gerügt hatte. Wenn sie darüber nachdachte, war das öfter passiert, als es für sie und ihre Beziehung gesund gewesen wäre.

„Das Lieblingsgetränk frustrierter Hausfrauen“, murmelte sie. „So hat Harry Prosecco immer genannt.“

„Harry? Wer ist eigentlich Harry?“, fragte Fabienne und prostete ihr vergnügt zu. „Auf unseren Mädelsurlaub?“

„Auf den Mädelsurlaub!“

Schon blinkten die Anschnalllämpchen über ihren Sitzen auf, und es dauerte nicht lange, bis der Flieger den Landeanflug startete. Häuser und Straßen wuchsen quasi beim Zusehen, und bald erkannte Lilly die ersten Autos, die wie Fahrzeuge in einem Miniaturwunderland aussahen. Sie liebte den Moment, wenn sie ihr Reiseziel das erste Mal von oben sah, und konnte es kaum erwarten, all die Geheimnisse des Ortes zu entdecken, der ihnen zu Füßen lag. Es wurde gerade erst hell und als sie auf der Landebahn aufkamen, schob sich die Sonne langsam hinter den Häusern hervor.

„Sieh nur, wie schön! Der Himmel leuchtet in sattem Rosa! Das wird ein herrlicher Tag.“ Sie deutete begeistert aus dem Fenster, und auch ihre Freundin beugte sich vor, um so viele erste Eindrücke wie möglich zu erhaschen. Erst als sich ihr rechter Sitznachbar dezent räusperte, gab sie die Sicht wieder frei und ließ sich zurück in den Sitz sinken. Ohne jedoch auch nur eine Sekunde Lillys Hand loszulassen, die sie seit dem Sinkflug umklammert hielt. So furchtlos ihre Freundin sonst auch war, die leichte Blässe um ihre Nase verschwand erst, als der Flieger die Parkposition erreicht hatte und die Turbinen ausgeschaltet wurden.

Lilly schmunzelte in sich hinein und begann damit, ihre Sachen zusammenzupacken. Sobald sich die Türen öffneten, strömten die Passagiere ins Freie. Angenehm warm und gleichzeitig würzig wehte ihnen der Duft des Südens entgegen. Lilly schloss einen Moment die Augen und füllte ihre Lunge mit neuer Lebendigkeit, doch schon rumpelte ein Bus über die Rollbahn auf sie zu, der sie zum Ankunftsterminal bringen sollte.

Um sie herum summte und brummte es vor lauter Geschäftigkeit, und sie wusste kaum, wohin sie zuerst gucken sollte. Nach den vergangenen Tagen in der grauen und viel zu leeren Londoner Wohnung fühlte sie sich von den vielfältigen Sinneseindrücken geradezu überflutet, und ehe sie sich versah, traten ihr Tränen in die Augen. Sofort war Fabienne an ihrer Seite.

„He, alles in Ordnung, Süße?“

Sie nickte. „Es ist nur …“ Sie schniefte leise. „Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal so glücklich war.“

Ihre Freundin drückte sie kurz an sich und gemeinsam strebten sie auf den Ausgang zu. Lilly ließ zu, dass Fabienne das Kommando übernahm. Die manövrierte sie gekonnt durch die Passkontrolle und brachte sie anschließend zum Gepäckschalter, wo ihr kleiner grauer Koffer bereits die erste Runde drehte.

Italienische Wortfetzen drangen an ihr Ohr, und Menschen hasteten an ihnen vorbei. Dies waren in der Vergangenheit die Momente gewesen, in denen sie sich an Harry geklammert hatte. Dankbar blickte sie zu ihrer Freundin hinüber, die gerade die Gepäckstücke auf einen Wagen wuchtete.

„Komm, ich helfe dir!“

Während Fabienne wie ein Wasserfall auf sie einredete, steuerte Lilly auf die Schiebetüren zu. Dabei hielt sie nach einem Taxistand Ausschau. „Sieh mal. Der Wagen da vorne scheint frei zu sein. Wollen wir den nehmen?“

„Unbedingt. Ich kann es kaum erwarten, endlich aus den dicken Stiefeln zu schlüpfen. Wenn ich gewusst hätte, dass es so warm wird …“

Lilly lachte. „Ich hatte dich vorgewarnt, oder? Im April können die Temperaturen hier leicht zwanzig Grad erreichen.“

Fabienne schnaufte. „Warm ja, aber gleich tropisch?“

„Du übertreibst. Und wenn du Glück hast, gibt es im Auto eine Klimaanlage, die …“

„Lilly, pass auf“, schrie ihre Freundin auf, obwohl sie gerade erst einen Fuß aus dem Gebäude gesetzt hatten.

Im nächsten Augenblick bemerkte sie das Auto, das mit halsbrecherischer Geschwindigkeit auf den Zebrastreifen zuraste. Instinktiv wich sie einen Schritt zurück, gerade rechtzeitig, bevor die Luxuskarre mit quietschenden Bremsen neben ihr zum Stehen kam. Entgeistert blickte sie den Typen an, der sie durch die abgedunkelte Scheibe ebenfalls anzustarren schien.

Er sah nicht gerade freundlich aus, eher zornig. Oder aufgewühlt. Sein Mund war zu einer dünnen Linie zusammengepresst, die Stirn tief gefurcht. Und doch hatte er etwas an sich, das sie im Tiefsten ihres Inneren berührte. Es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde und durchzuckte sie wie ein Blitz. Heiß wie Feuer durchfloss Energie sie, lodernde Hitze, die ihr den Atem raubte.

„Der hat sie ja nicht mehr alle“, brüllte Fabienne und holte sie damit aus ihrer Trance. „He, Sie haben Ihren Führerschein wohl in der Lotterie gewonnen, was? Das hier ist ein Flughafen und keine Rennstrecke.“

Der Typ kniff die Augen zusammen und strich sich die schwarzen Haare aus der Stirn. Dann schob er mit einer arroganten Geste seine Sonnenbrille auf die Nase, tippte sich mit einem Finger an die Stirn und ließ den Motor aufheulen.

Fabienne schnappte empört nach Luft, doch bevor sie ihrem Ärger erneut Ausdruck verleihen konnte, war er bereits mit quietschenden Reifen davongebraust. „Was für ein Idiot“, murmelte sie. „Ein Glück, dass wir nicht wegen der Männer hier sind, nicht wahr?“

Lilly nickte schwach, ohne den Blick von der Kreuzung zu nehmen, über die der ungehobelte Typ verschwunden war. Wieso nur hatte sie auf einmal das Gefühl, dass ihr Urlaub ganz anders als geplant verlaufen würde?

3. KAPITEL

„So ein Mist.“ Alessandro schlug kräftig aufs Lenkrad und verfluchte sich dafür, dass er auch nur eine Sekunde lang unaufmerksam gewesen war. Was für ein beschissener Tag. Am liebsten hätte er noch mal aufs Lenkrad eingeschlagen, doch natürlich machte es die Sache nicht besser, wenn er die Wut am Lamborghini ausließ, den er sich als Chef seiner eigenen Unternehmensberatung hart erarbeitet hatte. Und nun sollte er seine Zeit – zumindest, wenn es nach seiner Mutter ging – für diesen Unsinn verschwenden, der von vornherein zum Scheitern verurteilt war?

Er hatte es zunächst für einen schlechten Scherz gehalten, als ihm der Notar den Passus im Testament vorlas. Seine Mutter war zwar für ihre außergewöhnlichen Einfälle bekannt, doch diesmal war sie definitiv über die Grenze des guten Geschmacks hinausgegangen.

Ohne es zu merken, war er automatisch schneller geworden. Erst als die Ampel vor ihm auf Rot sprang, ging er in die Eisen. Sofort schob sich wieder das Gesicht der jungen Frau vor sein geistiges Auge. Wie sie ihn angestarrt hatte, den Mund vor Schreck geöffnet.

Sie hatte etwas an sich gehabt, das er nicht in Worte fassen konnte. Und während ein Teil von ihm sie am liebsten wie einen verletzten Vogel in seinen starken Armen geborgen hätte, sehnte sich ein anderer Teil nach etwas ganz anderem. Hatte er sich dieses lodernde Feuer tief in ihren Augen nur eingebildet? Oder war da etwas gewesen, ein Gefühl, das sie ebenfalls überrascht hatte?

Ungeduldig schüttelte er den Kopf. Er war eindeutig übermüdet. Und eine Affäre war das Letzte, was er sich in diesem Augenblick vorstellen konnte. Lieber wollte er seine Angelegenheiten so schnell wie möglich erledigen und aus dieser verflixten Stadt verschwinden, die ihn zu stark an seine Vergangenheit erinnerte. Eine Vergangenheit, der er bereits vor Jahren den Rücken gekehrt hatte.

Bevor er in die Einfahrt des Familienanwesens bog, machte er einen kleinen Umweg zu einem Supermarkt, lud den Wagen mit Süßigkeiten und billigem Fusel voll, den er zuletzt in der Studentenzeit getrunken hatte, und setzte den Weg fort. Schon während der Fahrt öffnete er die erste Tafel Schokolade und biss beherzt hinein, ohne dabei auf die teuren Ledersitze zu achten, die ihm noch nie so nebensächlich vorgekommen waren.

Die Rückkehr hierher bereitete ihm mehr Bauchschmerzen, als er angenommen hatte, doch als er schließlich das schmiedeeiserne Tor passierte, das eine ineinander verwobene Rosenhecke darstellte, fand er sein Elternhaus zumindest optisch unverändert vor.

Fast meinte er, seine Mutter jeden Augenblick über den palmenumsäumten Vorplatz des imposanten Palazzos auf ihn zukommen zu sehen, ganz die elegante Signorina, die er in Erinnerung hatte. Sie hatte ihre seidigen schwarzen Haare stets zu einem lockeren Knoten geschlungen getragen, die Schultern durchgedrückt, ihr Blick stolz, auf ihre Weise aber auch sanft. Vor allem, wenn sie ihm begegnet war.

Als nichts weiter geschah und sich auch sonst niemand zur Begrüßung des zurückgekehrten Sohnes blicken ließ, parkte er den Lamborghini auf dem ihm angestammten Parkplatz, leerte die erste Dose Birra Moretti mit einem Zug und beförderte sie durch das Fenster auf den Hof. Obwohl er wusste, wie kindisch sein Verhalten war, schien ihm die Aktion die einzige Möglichkeit zu sein, seinen Protest auszudrücken, der in diesem Hause offenbar niemanden interessierte.

Er war bereits bei der dritten Dose angekommen, als die Haustür aufging und seine Schwester Giulia auf der Schwelle erschien. Mit vor der Brust verschränkten Armen starrte sie ihn an, und ihm fiel mal wieder auf, wie ähnlich sie ihrer Mutter sah, was ihm sofort einen Stich versetzte.

Ihr Haar war seit ihrem letzten Zusammentreffen deutlich gewachsen und reichte ihr nun fast bis zur Hüfte. Und waren das Fältchen, die sich um ihre Augen, vor allem aber auf ihrer Stirn abzeichneten? Sie wirkte so distanziert in diesem Moment, dass es ihn für einen kurzen Augenblick aus dem Konzept brachte. Seine sorgfältig einstudierte Rede wollte ihm nicht mehr einfallen.

„Willst du dich den ganzen Tag so kindisch verhalten?“, ergriff sie das Wort und funkelte ihn dabei mit ihren kohlrabenschwarzen Augen an.

Ihr Blick schien bis in sein Innerstes vorzudringen und weckte bei ihm das Gefühl, sich für seine Missetaten entschuldigen zu müssen. Vor allem aber dafür, dass er erst jetzt nach Hause kam. Stattdessen öffnete er provokativ die nächste Dose. „Wenn es denn sein muss?“

Sie verdrehte die Augen und kam die Treppe herunter. „Mamma mia! Wie alt bist du, sechzehn? Du bist immer so dramatisch, fratellino. Dabei sollte man meinen, dass du die vergangenen zehn Jahre genutzt hast, um endlich erwachsen zu werden. Aber da habe ich mich wohl zu früh gefreut.“

„Selten so gelacht. Lass mich wissen, wo du diese Art von Galgenhumor gelernt hast.“

„Und du, von wem du diesen Sarkasmus hast. Aber vermutlich muss ich dankbar sein, dass du hier überhaupt mal aufkreuzt. Drei Wochen zu spät. Dass du dich nicht schämst.“

Alessandro gab ein Schnauben von sich und zwang sich, ihren Blick zu erwidern. „Sollte das nicht mein Satz sein? Wenn ich den Anwalt richtig verstanden habe, bist du diejenige, die mich um mein Erbe gebracht hat.“

„Alo, nun sei nicht so.“

Alo. Der Kosename, den sie ihm als Kind gegeben hatte.

Anscheinend war sie auf eine schnelle Versöhnung aus. Aber nicht mit ihm. Er schloss einen Moment die Augen, ehe er ausstieg und sich mit verschränkten Armen neben seinem Wagen positionierte.

„Ach ja? Wie würdest du reagieren, wenn du plötzlich nur noch zu Gast in deinem eigenen Elternhaus wärst? Wenn du nach dem Tod der Mutter erfahren würdest, dass du ausgebootet worden bist? Betrogen von der eigenen Schwester.“ Er ballte seine Hände zu Fäusten und biss die Zähne zusammen. „Sieh dich nur um – das ganze Anwesen – alles deins. Du bist eine gemachte Frau, Giulia.“

„Aber das will ich doch gar nicht, stupido. Und in dieser Angelegenheit ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Du hast das grundlegend falsch verstanden.“

Sie legte eine Hand auf seinen Arm, doch er schüttelte sie ab. „Glaub mir, ich habe alles richtig verstanden. Du warst schon immer Francescas Lieblingstochter. Ich hätte mir denken können, dass das dabei herauskommt.“

„Jetzt komm erst mal rein. Anna kann uns was zum Abendessen kochen und wir reden in Ruhe, ja? Du hast ohnehin zu viel getrunken, um heute noch weiterzufahren.“

„Die paar Bier? Das ist ja lächerlich!“

Giulia packte ihn am Arm.

„Alessandro Gustavo De Mizio. Das war keine Frage, sondern eine Aufforderung. In diesem Zustand wirst du dich keinesfalls wieder hinter das Steuer setzen. Haben wir uns verstanden?“

Er verzog das Gesicht. „Aber klar doch. Kaum ist Mutter nicht mehr da, übernimmst du das Kommando. Wie du auch alles andere an dich gerissen hast, was?“

Einen Augenblick starrte sie ihn wortlos an, ehe sie sich von ihm abwandte und ohne ein weiteres Wort zurück ins Haus lief.

„Giulia!“ Seufzend setzte er sich ebenfalls in Bewegung. „Nun warte doch.“

Hinter der schweren Eichentür schlug ihm die Kühle der Villa entgegen und machte ihn wieder nüchtern. Einen Moment blieb er stehen und ließ die Atmosphäre der Eingangshalle, den Marmorboden und die perfekt aufeinander abgestimmten Möbelstücke auf sich wirken, die es ohne Probleme in eine Reportage eines Hochglanz-Wohnmagazins schaffen könnten. Er war schon lange nicht mehr hier gewesen. Und doch erschien ihm alles so vertraut. Wie zu Kindertagen, als sie zu dritt durch die Räume getobt waren, ohne die geringste Ahnung, was ihnen die Zukunft bringen würde.

Zu dritt.

Giulia, er und Angelo.

Schmerz durchzuckte ihn wie ein Blitz, und er presste sich eine Faust an die Schläfe, atmete tief durch und zwang sich, einfach weiterzugehen. Einen Fuß vor den anderen zu setzen, so wie er es sich vorgenommen hatte. Erinnerungen wie diese waren der Grund, weshalb er sein Elternhaus und damit sein altes Leben gleich nach der Schulzeit hinter sich gelassen hatte. Und er hatte nicht vor, ausgerechnet wegen dieser Erbschaft etwas daran zu ändern.

Seine Schritte hallten von den Wänden wider, und er bemühte sich, alles auch an sich abprallen zu lassen. Nicht zu tief einzuatmen und sich nicht einzubilden, den zarten Duft des Parfüms zu riechen, das seine Mutter immer getragen hatte. Blumig und süß, so warm wie ihre Umarmung. Wieder ein Gedanke, den er sich in Zukunft versagen musste.

Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, stürmte er die Treppe hinauf bis in den ersten Stock und marschierte im Stechschritt durch den Flur, wobei ihm die brennenden Kerzen in den Wandhalterungen auffielen. Frische Blumen steckten in den Vasen, was wohl Giulias Verdienst war, die sich wie selbstverständlich der Dinge angenommen hatte, für die sonst ihre Mutter zuständig gewesen war.

Neben ihrer Sanftheit und den ausdrucksstarken Augen hatte seine Schwester auch deren scharfen Verstand geerbt, wohingegen er in der Familie seit jeher das Zahlengenie gewesen war. Ganz der Vater. Eine Fähigkeit, die ihm, gepaart mit Beharrlichkeit und Durchsetzungsvermögen, zu einer beachtlichen Größe im Finanzsektor verholfen hatte. Und diese Fähigkeiten wollte er nun bei den Verhandlungen mit Giulia einsetzen, die es ihm sicherlich nicht leicht machen würde.

Mit gestraften Schultern und entschlossenem Gesichtsausdruck hob er die Hand, um anzuklopfen, ließ sie dann aber wieder sinken. Sein Vater war nicht mehr da, kein Grund, über Gebühr höflich zu sein. Zumal er seine Schwester vor wenigen Minuten erst im Hof gesehen hatte.

Schwungvoll drückte er die Türklinke hinunter und betrat den Raum, den ein beeindruckender Schreibtisch in Nussbaumoptik dominierte, der sich vor der breiten Fensterfront erstreckte. Sein Vater hatte den unverbauten Blick geliebt, der von hier bis zum Meer reichte.

Als Kind hatte Alessandro stundenlang auf dem Teppichboden vor dem bodentiefen Fenster gehockt und die Segelboote beobachtet, während sein Vater am Schreibtisch irgendwelche Dokumente durchgegangen war. Und auch später hatte er ihm nach der Schule so manches Mal einen Besuch abgestattet, bis auch diese traute Zweisamkeit ein Ende fand. Ein weiterer Abschied innerhalb weniger Jahre.

Ausgerechnet hinter diesem Schreibtisch saß jetzt Giulia, die ihren Posten im Haus bereits erobert hatte. Ihr verkniffener Gesichtsausdruck sagte ihm, dass sie ihren kleinen Zusammenstoß noch nicht vergessen hatte, was seine Gesprächsposition keinesfalls verbesserte.

Er räusperte sich und trat auf den Schreibtisch zu. „Es tut mir leid, wenn ich eben zu … schroff war. Wollen wir uns nicht wie zwei erwachsene Menschen verhalten?“

„An mir soll es nicht liegen.“

Sie sah ihn mit gerunzelter Stirn an, wobei sie ihn diesmal an ihren Vater erinnerte, der auch nur mit einem einzigen Blick seine Meinung kundtun konnte. Aber da war auch ein verkniffener Zug um ihren Mund, der weder zu ihrem Alter von gerade mal achtundzwanzig Jahren passte und noch weniger zu ihrer sonst so lebensfrohen Art.

Kam es ihm nur so vor oder war eine gewisse Verbitterung in den vergangenen Monaten ein Teil von ihr geworden? Eine ungewohnte Härte, die er bis jetzt nicht an ihr wahrgenommen hatte.

Weil du sie mit der Pflege der Mutter und allem, was damit verbunden war, im Stich gelassen hast, höhnte eine Stimme tief in ihm. Weil sie allein damit hatte fertigwerden müssen, obwohl es eure gemeinsame Aufgabe gewesen wäre.

„Ist es eigentlich schnell gegangen?“, stieß er hervor, obwohl er den Gedanken bisher erfolgreich verdrängt hatte. „Hat Mutter leiden müssen?“

Giulia schüttelte den Kopf. „Wir hatten gute Ärzte an unserer Seite, die sie mit Schmerzmitteln versorgt haben. Zwischendurch hatten wir sogar noch Hoffnung, dass sie den Krebs überwinden würde. Sie hat bis zum Ende den Mut nicht verloren. Wenigstens das.“

Er strich sich über die Augen und atmete tief durch. „Giulia, ich …“ Hilflos hob er die Hände, ohne den Satz zu vervollständigen. Ohne eine Entschuldigung herauszubringen, die seine Schuld nicht geschmälert hätte. Was hätte er auch sagen sollen? Dass er den Gedanken an einen erneuten Abschied nicht hatte ertragen können? Dass er zu feige gewesen war, um der Tatsache, dass sie den Krebs nicht besiegen konnte, ins Gesicht zu sehen?

Obwohl er seine Gefühle nicht laut aussprach, schien Giulia seine innere Zerrissenheit zu spüren. Ihre Züge wurden weich und sie deutete mit einem fast schon liebevollen Lächeln in Richtung des Stuhls, der vor dem Schreibtisch stand.

„Willst du dich nicht erst mal setzen? Es spricht sich besser, wenn wir auf einer Ebene sind.“

Auf einer Ebene. Als ob sie das jemals gewesen wären. Dieser eine Satz genügte, um seine Wut erneut aufflammen zu lassen und ihn daran zu erinnern, warum er hier war. Vor allem aber daran, dass er keinesfalls als Bittsteller gekommen war. Vielmehr als ein Mann, der seine Rechte kannte und sie notfalls auch per Gericht einfordern wollte. Dennoch kam er ihrer Bitte nach, schlug die Beine scheinbar entspannt übereinander und lehnte sich zurück.

„In Ordnung, lass uns zum eigentlichen Thema zurückkommen. Ich hoffe, du weißt, dass das Testament in dieser Form nicht rechtens …“

„Alo, wie geht es dir?“, fragte sie.

Sie wirkte dabei so sanft, dass er sofort wieder die Enge in seiner Kehle spürte, die ihm seit Stunden ständig die Luft abzuschnüren drohte. „Gut. Ich wollte nur …“

„Du musst mir nichts vormachen. Ich bin’s, deine Schwester, und ich weiß genau, wie schwer dir diese Dinge fallen, seit Angelo …“

„Können wir diesen Teil bitte überspringen?“, unterbrach er sie hart, ehe sie noch mehr hinzufügen konnte. „Denn im Grund beschäftigt mich da nur eine Frage: Hast du’s gewusst?“ Er war unbeabsichtigt lauter geworden und sah, wie seine Schwester zusammenzuckte, was er ignorierte. Er hatte kein Interesse, auf ihre Befindlichkeiten achtzugeben. Und sie hätte über die Konsequenzen nachdenken müssen, bevor sie entschieden hatte, mit ihrer Mutter gemeinsame Sache zu machen. Ein Umstand, den sie ebenfalls zu wissen schien. Unsicherheit flackerte in ihrem Blick auf und sie vermied es, ihn direkt anzusehen.

„Also, ich …“

„Giulia, das ist eine einfache Frage, auf die ich eine einfache Antwort möchte. Hast du’s gewusst?“

„Sie hat sich Sorgen um dich gemacht“, stieß seine Schwester leise hervor und sagte damit alles.

Mit einem Stöhnen barg er den Kopf in den Händen. „Und du meinst, das wiegt den Rest auf? Soll ich ihr etwa dankbar für diesen Unsinn sein, den sie sich ausgedacht hat? Ich meine … die alte Bäckerei? Das Gebäude steht seit Jahren leer. Ich bin doch kein Handwerker.“

Sie schwieg einen Moment, ehe sie sagte: „Sieh mal, ich meine nicht, dass du es gutheißen musst. Aber versuch doch mal, Mutters Beweggründe zu verstehen. Jahrelang bist du nicht nach Hause gekommen. Hast höchstens zweimal im Jahr angerufen, und das auch nur, wenn du musstest.“

„Weil ich einen Job habe, der mich sehr beansprucht?“

Giulia nickte. „Das glaube ich dir ja, nur …“ Sie machte eine Pause. „Mutter hatte in der letzten Zeit das Gefühl, dass du unglücklich bist.“

„Und ausgerechnet diese alte Bruchbude soll daran was ändern?“ Er stieß frustriert ein Stöhnen aus und strich sich erneut durchs Haar. „Sie kann mich nicht dazu zwingen, wieder nach Hause zu kommen. Und du kannst das ebenfalls nicht von mir verlangen.“

„Dir wird nichts anderes übrig bleiben. Wenn du deinen Anteil vom Erbe ausgezahlt bekommen willst, musst du – wie hat es der Notar formuliert – der alten Bäckerei wieder neues Leben einhauchen.“

„Das ist lächerlich.“

„Du benimmst dich kindisch.“

„Und ich kann nicht verstehen, dass du dich vor ihren Karren spannen lässt.“

„Wir haben uns gedacht …“

„Jetzt also wir, ja?“ Er lächelte freudlos und schüttelte den Kopf. „Habe ich’s mir doch gedacht, dass ihr das zusammen ausgeheckt habt. Aber das lasse ich nicht mit mir machen, hörst du? Mir steht ein Pflichtanteil zu, den ich bis zum letzten Cent eintreiben werde, notfalls vor Gericht.“

„Nun halt mal die Luft an.“ Jetzt war es an Giulia, ihn wütend anzufunkeln. „Schlimm genug, dass du dich nie hast blicken lassen, als sie dich am dringendsten gebraucht hat. Wenn du also dein Erbe antreten willst, dann zu den Bedingungen, die Mama dir gestellt hat.“

„Weil ihr nicht akzeptieren wollt, dass ich mir ein Leben außerhalb dieser Provinzstadt aufgebaut habe?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Du wirst es nicht ändern können, denn der Vertrag ist rechtlich abgesichert.“

„Das werden wir ja noch sehen“, knurrte Alessandro und erhob sich so schwungvoll von seinem Stuhl, dass der zurückschlitterte und mit lautem Poltern zu Boden ging.

Giulia, die ebenfalls aufgestanden war, zwang sich sichtlich, nicht die Beherrschung zu verlieren. Fast schon beschwichtigend lächelte sie ihn an. „Weißt du, ich möchte dir nichts wegnehmen. Ganz bestimmt nicht. Aber wenn das der einzige Weg ist, dich zum Umdenken zu bewegen, trage ich Mutters Entscheidung mit.“ Ihre Stimme brach, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Wir sollten gemeinsam um sie trauern. Sollten uns an die Momente erinnern, die wir zusammen erlebt haben, aber stattdessen …“

Mitten im Satz brach sie ab, öffnete eine Schublade und nahm ein Foto heraus. Drei Kinder waren darauf zu sehen, seine Schwester, er selbst und ganz rechts sein kleiner Bruder. Angelo, der Engel. Als ob seine Eltern bereits bei dessen Geburt eine Vorahnung gehabt hatten.

In Alessandros Brust entbrannte erneut scharfer Schmerz. Doch bevor dieser Schmerz die Oberhand über seine Gefühle gewinnen konnte, wandte er sich ab und durchbrach die Emotionen, indem er ein Schriftstück aus seiner Aktentasche zog und es vor ihr auf den Schreibtisch knallte.

„Nur noch eine Unterschrift und ich bin weg.“

Giulia starrte ihn an. Für einen Augenblick erschien sie ihm wie ein offenes Buch, denn er konnte all ihre Emotionen in ihren Augen sehen, vor allem aber den Schmerz, der in ihr tobte. Es fehlte nicht viel und er hätte sie in die Arme gezogen und sie getröstet, wie es seine Aufgabe als großer Bruder gewesen wäre. Doch er tat nichts, hielt dem Moment stand, bis sie die Schultern sinken ließ und das Foto wieder in der Schreibtischschublade verstaute.

Stumm legte er einen Kugelschreiber zu dem Dokument, das der Notar ihm am Morgen erst ausgehändigt hatte, und sah sie ernst an. „Machen wir uns nichts weiter vor. Die Situation ist verfahren und es ist das Beste, die Angelegenheit sauber hinter uns zu bringen. Danach kann jeder seiner Wege gehen.“

„Es liegt nicht in meinem Ermessen, die Spielregeln zu ändern.“ Giulia strich sich mit dem Handrücken über die Augen.

Sie wirkte müde, geradezu erschöpft. Aber da war auch Enttäuschung in ihrem Blick, die er kaum ertragen konnte.

„Statt dich in Selbstmitleid zu suhlen, solltest du die Dinge angehen“, sagte sie schließlich, ihre Stimme hatte einen kühlen Klang angenommen. „Ich schlage vor, du schläfst eine Nacht darüber, bevor du eine Entscheidung …“

„Ist das dein letztes Wort?“

„Bitte, Alessandro. Nur eine Nacht, mehr verlange ich nicht von dir.“

„Wenn wir nicht Bruder und Schwester wären, könnte man das glatt für ein unmoralisches Angebot halten.“

Sie schenkte ihm ein müdes Lächeln. „Sorry. Der Tag war lang. Besser, ich bitte Maria, dir dein altes Zimmer herzurichten. Dann können wir morgen weiterreden.“

„Bemüh dich nicht, ich habe die Schlüssel zu Vaters Apartment mitgenommen.“

„Aber du könntest doch …“

„Keine Angst, ich nehme ein Taxi“, unterbrach er sie schroff, bevor sie den Satz beenden konnte.

Sie nickte widerstrebend. „In Ordnung. Wir treffen uns morgen früh, ja? Damit du mir deine endgültige Entscheidung mitteilst, ob du dir vorstellen kannst, dein Erbe anzutreten und dich der Bäckerei anzunehmen.“

Er presste die Lippen aufeinander und streckte eine Hand nach dem Vertrag aus, um ihn wieder in seine Tasche zu stecken. „Also gut. Aber erwarte nicht, dass ich meine Meinung bis dahin ändere.“ Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um, verließ das Arbeitszimmer und stürmte die Treppe hinunter.

Sein Leben war seit jeher von Abschieden geprägt gewesen. Und sobald er Giulias Unterschrift hatte, war er gewillt, auch unter dieses Kapitel für immer einen Schlussstrich zu ziehen.

4. KAPITEL

„Meine Güte, ist das heute heiß hier!“

Lilly, die neben Fabienne auf einer Liege in einem Strandcafé saß und träge vor sich hin dösend die Passanten auf der angrenzenden Promenade beobachtete, blinzelte überrascht. „Jetzt schon? Wir haben doch erst elf Uhr am Morgen und die Sonne ist …“

Als sie Fabiennes Blick bemerkte, der versonnen auf einem der Cabanieros klebte, der auf der Straße den Verkehr regelte, musste sie grinsen. „Ach, das meinst du also. Du bist unverbesserlich.“

Fabienne zog gespielt unschuldig die Augenbrauen in die Höhe. „Wohn du mal jahrelang mit läufigen Hündinnen und potenten Deckrüden unter einem Dach, ohne ein männliches Wesen in deiner Nähe zu haben. Da sprudeln die Hormone und du bist unfreiwillig zu Enthaltsamkeit verdammt. Die Hölle, das sage ich dir.“

„Du Arme“, entgegnete Lilly spöttisch. Sie hatte automatisch ein Bild von ihrer Freundin vor Augen, wie sie zusammen mit ihren Königspudeln auf dem Sofa saß und sich einen Liebesfilm anschaute. Denn obwohl Fabienne sich nach außen extrovertiert zeigte – einen festen Mann hatte sie nicht an ihrer Seite. Dafür aber mindestens zehn Hunde, die ihre volle Aufmerksamkeit forderten. Ein erfolgversprechendes Projekt, wenn sie den Auszeichnungen und Pokalen Glauben schenken sollte, die Fabienne bei diversen Rassehundeschauen gewonnen hatte.

„Und was gedenkst du gegen deinen notorischen Männermangel zu tun?“, griff sie den Faden wieder auf.

„Das, was alle Touristen so tun. Die Aussicht genießen und später auf Besichtigungstour gehen. Limone sul Garda, du Perle am Gardasee. Ich liebe all deine Sehenswürdigkeiten.“

Lilly legte den Kopf in den Nacken und brach in schallendes Gelächter aus. „Nur nicht gerade im klassischen Sinn. Das habe ich mir bei der Reiseplanung ein klein wenig anders vorgestellt, du Kulturbanausin.“

„Ach ja?“ Fabienne riss ihren Blick nur widerwillig von den männlichen Objekten ihrer Begierde los, nahm einen Schluck von ihrem Cappuccino und leckte sich verführerisch über die Lippen. „Dann lass mal hören, was heute auf dem Programm steht.“

„Also, ich hab hier mal die bekanntesten Ausflugsmöglichkeiten zusammengestellt“, begann Lilly und zog einen Stadtplan hervor, den sie mit allerhand bunten Post-its verziert hatte. „Schau, hier ist ein Museum mit alten Fotos und lustigen Anekdoten über die Stadt. Und dort die Chiesa di San Benedetto. Im Reiseführer stand, dass man auch unbedingt einen Abstecher nach Venedig machen sollte. Nur, wenn du möchtest, natürlich. Ich richte mich da ganz nach dir.“

„Ach, Lillylein, du weißt ja, dass meine Interessen da ein wenig anders liegen.“ Fabienne lächelte kokett einem Passanten zu und zog einen Schmollmund, als der sie nicht weiter beachtete. „Also gut, sag mir einfach, was du besichtigen willst, und ich folge dir“, willigte sie schließlich ein. „Aber wenn wir die Pflicht hinter uns gebracht haben, widmen wir uns meinem Programm, abgemacht?“

Unschlüssig sah Lilly auf die Karte und runzelte die Stirn. „Hm, ich bin mir nicht sicher, was ich von diesen Zielen zuerst sehen möchte. Wir könnten mit den Zitronengärten anfangen. Oder vielleicht eine historische Stadtführung buchen?“

„Du wirst dir doch einen Plan gemacht haben, wie ich dich kenne. Sag schon, worauf hast du Lust? Wirklich, Lilly, du kannst dir was aussuchen. Ich würde dir bis ans Ende der Welt folgen.“

Lilly seufzte leise. „Und dafür liebe ich dich, Fabs, das weißt du, oder? Aber ehrlich gesagt, war Harry bisher für unsere Ausflugsplanung zuständig. Er hatte dabei einen ganz speziellen Geschmack wie zum Beispiel das Fußballstadion in jeder Stadt. Und wir mussten uns immer mindestens ein Spiel anschauen.“

Fabienne verzog das Gesicht. „Ich hoffe, wir setzen diese Tradition nicht fort.“

„Nein, keine Angst. Das habe ich bestimmt nicht vor. Obwohl die Fußballer sicher nicht zu verachten sind.“

„Bloß keine Spielerfrau. Das klingt viel zu anstrengend. Was liegt sonst an, in dieser wunderschönen kulturellen Stätte Italiens?“

Lilly zog den Plan näher zu sich heran, ließ ihren Blick über die kleinen Klebezettel schweifen und zuckte entschuldigend mit den Schultern. „Ich habe wirklich keine Ahnung, was ich davon am liebsten sehen würde. Ich meine, wenn ich ehrlich bin, habe ich in der letzten Zeit überhaupt kein Gespür dafür, was ich erreichen will. Im Urlaub … und in meinem Leben.“

Sie senkte den Blick auf ihre Kaffeetasse, in der ein Cappuccino darauf wartete, von ihr getrunken zu werden, doch irgendwie fehlte ihr auch dafür der rechte Appetit. Früher war ihr das Leben einfacher vorgekommen, mit Harry, der in ihrer Beziehung stets den Ton angab. Er hatte im Restaurant für sie mitbestellt, entschieden, welchen Film sie am Abend sahen und wohin sie in Urlaub fuhren. Und jetzt musste sie sich plötzlich allein um all diese Dinge kümmern, von denen sie so gar keine Ahnung hatte.

Sie spürte Fabiennes Blick auf sich ruhen, und als sie den Kopf hob, sah sie, dass ihre Freundin sie nachdenklich betrachtete. Um ihre Hände zu beschäftigen, die bei dem Gedanken an ihren Ex zu zittern begonnen hatten, nahm sie nun doch einen Schluck aus der Tasse, ohne das Getränk zu genießen, das ihr irgendwie zu süß erschien.

Nachdem Fabienne ihren Kaffee ausgetrunken hatte, bezahlten sie und traten auf die Promenade hinaus, die um diese Zeit bereits gut gefüllt war. Damen mit ausladenden Sonnenhüten schlenderten an ihnen vorbei, daneben Männer in Shorts, die aufgrund ihrer Blässe klar als Touristen zu identifizieren waren. Und Kinder, die glücklich an einem Eis schleckten.

Fabienne, die die Szenerie ebenfalls beobachtete, nickte scheinbar zufrieden, als habe ein grandioser Einfall sie ereilt. Sie sah Lilly an und lächelte. „Du weißt also nicht, was dir gefällt oder was du willst?“

Lilly schüttelte den Kopf und Fabienne hakte sich bei ihr unter. „Dann habe ich eine Idee, wie wir das ganz schnell ändern können. Denn ob du’s glaubst oder nicht – auch ich habe einen Stadtführer … nun ja, sagen wir mal … durchgeblättert. Und ich habe was gefunden, was dir garantiert weiterhelfen wird.“

Lilly sah sie überrascht an, doch bevor sie etwas erwidern konnte, zog ihre Freundin sie bereits mit. Zielstrebig ging sie voran, erst in die eine Richtung, dann in die andere, ohne jedoch an Geschwindigkeit zu verlieren. Ungeduldig ließ Fabienne sich von der Handy-App durch die Straßen von Limone lenken, und Lilly versuchte gar nicht erst, sich den Weg durch die verwinkelten Sträßchen einzuprägen, die spätestens nach der dritten Abzweigung verwirrend ähnlich aussahen. Mal kamen sie an einem Andenkengeschäft vorbei, dann wieder an einem Juwelier oder einer Boutique, die farbenfrohe Kleider im Schaufenster ausgestellt hatte.

Als sie schon daran zweifelte, dass Fabienne überhaupt die richtige Adresse eingegeben hatte, blieb ihre Freundin vor einem Laden mit breiter Fensterfront stehen, hinter der sie eine gläserne Verkaufstheke ausmachen konnte.

„Eine Eisdiele?“ Lilly sah Fabienne fragend an.

„Nicht irgendeine Eisdiele. Das ist DIE Eisdiele. Und wenn ich dem Insidertipp trauen kann, bieten sie ganze hundertdreißig Sorten an.“

„Oh“, war das Einzige, was Lilly dazu einfiel. Unsicher blickte sie zur Theke hinüber, hinter der sich ihnen ein breites Sortiment verschiedenster Sorten offenbarte, die mit diversen Früchten und Saucen dekoriert waren. „Normalerweise nehme ich Vanille. Außer Harry …“

„Ich weiß, ich weiß. Aber genau darum geht es ja. Dass du nicht das nimmst, was du sonst bestellst. Oder vielmehr, was Harry bestellt. Sondern das, was du wirklich willst, Süße.“

„Und wie soll ich mich bei dieser riesigen Auswahl entscheiden können?“

„Genau dafür sind wir hier.“

Fabienne sah zu einem der Kellner hinüber, und als der ihren Blick erwiderte, ging sie zielstrebig auf ihn zu, wohingegen Lilly ihr nur zögerlich folgte. Fabienne erklärte dem Mann mit Händen und Füßen ihr Vorhaben, und als er Lilly zu sich winkte und ihr einen Probierlöffel mit Eiscreme entgegenstreckte, wurden ihre Wangen noch ein wenig heißer als zuvor.

Verwirrt sah sie zum Kellner und dann zu Fabienne. „Sag nicht, ich soll mich hier durchtesten? Das kann nicht dein Ernst sein.“

„Was wäre so schlimm daran? Oder hast du eine bessere Idee, wie du endlich deinen eigenen Geschmack finden sollst?“

Mit sichtlicher Freude beobachtete Fabienne, wie sie den ersten Löffel an ihre Lippen führte und von der kalten, aber köstlich süßen Masse kostete, die nur so auf ihrer Zungenspitze zerging. Immer wieder bot ihr der freundliche Kellner einen Löffel an, der an ihrer Aktion ebenfalls Spaß zu haben schien, wie das breite Grinsen auf seinem Gesicht verriet. Zig Sorten später winkte Lilly seufzend ab und rieb sich den Bauch.

„Noch ein Löffel und ich platze.“

„Und, was hat der Geschmackstest ergeben?“, fragte Fabienne, die sich ein Eis auf die Hand genommen hatte und dazu einen Flyer von einer Beachparty, mit dem sie sich Luft zufächelte. Gespannt sah sie Lilly an.

„Dass ich mehr auf die sahnigen Sorten stehe.“ Lilly strich sich lachend über die Hüften. „Lakritze ist hingegen überhaupt nicht mein Fall.“

„Kann ich gut verstehen. Und dein Favorit?“

Da brauchte Lilly nicht lange zu überlegen. „Eindeutig Baileys, garniert mit gerösteten Krokantstückchen.“

„Limoncello ist aber auch nicht zu verachten“, murmelte Fabienne und ließ ihre Zunge genießerisch über ihr Eis gleiten.

Lilly lächelte ihre Freundin warm an. „Danke für diese süße Idee. Ohne dich hätte ich nur wieder dieselbe Sorte genommen. Oder mich mit dem versorgen lassen, was du für richtig gehalten hättest.“

„Dafür sind wir hier.“ Fabienne hakte sich wieder bei ihr unter. „Um herauszufinden, was du mit deinem Leben anfangen willst.“

„Du meinst über das Eis hinaus?“

„Das Eis war erst der Anfang. Weißt du noch, wie viele Pläne du früher hattest und was du bewegen wolltest?“

„Das ist doch schon so lange her.“

„Trotzdem bin ich mir sicher, dass tief in deiner Brust noch ein Rest der alten Lilly zu finden ist. Du musst nur wieder Mut fassen, dann kommen die Ideen von ganz allein.“

„Wenn du meinst …“

Fabienne winkte ab. „Genug davon für heute. Wohin geht’s als Nächstes? Vielleicht die Kirche hier?“ Sie deutete auf einen historischen Glockenturm, der sich unweit von ihnen zwischen den Häusern in den blauen Himmel schob.

„Wie wäre es, wenn wir heute Nachmittag an den Pool gehen? Ich kann es kaum erwarten, meinen Füßen eine kleine Abkühlung zu gönnen.“

„Nichts lieber als das. Und heute Abend besuchen wir den Grostol-Strand.“

„Ach, gibt es dort auch Sehenswürdigkeiten?“ Lilly angelte nach ihrem Stadtplan, doch Fabienne schüttelte lachend den Kopf und reichte ihr stattdessen den Party-Flyer.

„Glaub mir, die Sehenswürdigkeiten, die ich meine, wirst du in deinem Plan nicht finden.“

Nach einem Tag voller Meeresrauschen, Sonnenschein und einem Strauß kultureller Eindrücke lag Lilly am Abend träge auf ihrem Bett im Hotelzimmer und ließ ihre Gedanken schweifen. Leise Motorengeräusche drangen an ihr Ohr, sonst war es im Castello Limone ruhig, einer der wenigen Punkte, die sie Harry zu verdanken hatte, der auch dieses Mal exquisiten Geschmack bewiesen hatte. Das Doppelzimmer des im Stil eines kleinen Schlösschens erbauten Hotels war ein Traum und die Matratzen so bequem, dass sie am liebsten nie wieder aufgestanden wäre.

Im Gegensatz zu ihr schien Fabienne jedoch noch voller Tatendrang zu sein. Schwungvoll öffnete sie den Kleiderschrank und beförderte zwei Minikleider zutage.

„Was meinst du – lieber das schwarze oder das beige?“ Sie hielt ihr die beiden Kleider entgegen und sah sie auffordernd an.

„Willst du wirklich auf diese Party von dem Flyer gehen?“

„Ein DJ, der direkt am Strand auflegt, leckere Cocktails und das alles vor der Kulisse dieses zauberhaften Ortes – was spricht dagegen?“

„Mein Bett.“ Lilly gähnte ausgiebig. „Und dass ich nicht weiß, was ich anziehen soll. Meine Garderobe ist nicht gerade ausgehfreundlich. Wenn du verstehst, was ich meine.“

„Zeig mir doch mal deine Kleider. Ich bin mir sicher, dass wir was Passendes für dich finden.“

Lilly erhob sich schwerfällig und tappte barfuß zum Schrank hinüber. Als sie nacheinander die Blümchenkleider präsentierte, die ihr zu Hause in London noch als passende Wahl für die Reise erschienen waren, verzog Fabienne das Gesicht.

„Okay, in diesem Fall gebe ich dir sogar recht. Lilly, wir sind nicht hier, um mit einem Bus voller Rentner eine Gartenausstellung zu besichtigen. Hast du nichts Flotteres eingepackt?“

„Ich glaube, was abendliches Ausgehen anbelangt, bin ich ein wenig aus der Übung“, murmelte Lilly verlegen. „Harry war lieber in einer Sportsbar mit Freunden unterwegs. Und wenn er zu einem Geschäftsessen eingeladen worden ist, war ich froh, wenn ich ihn nicht begleiten musste.“

„Liebes, es wird Zeit, dass wir mal was für dein Selbstbewusstsein tun.“

Fabienne griff in ihren Teil des Kleiderschranks und zog nach kurzer Suche ein rotes Sommerkleid mit Spaghettiträgern hervor, das sie ihr prüfend hinhielt.

„Was ist hiermit? Ich könnte mir dich darin perfekt vorstellen. Deine blonden Haare bilden einen hübschen Kontrast zu dem knalligen Stoff, was meinst du?“

„Ist das Kleid nicht viel zu auffällig? Und der Ausschnitt erst! Meinst du, ich kann das überhaupt tragen?“

„Wenn nicht du, wer dann? Du hast eine wundervolle Figur. Ich wäre froh, wenn meine Beine so straff wären. Dein Dekolleté können wir mit einem Push-up-BH in Form bringen. Dann passt das Kleid perfekt.“

Mit kritisch prüfendem Blick nahm Lilly das Teil entgegen, streifte Shorts und T-Shirt ab und ließ sich den seidigen Stoff über die Schultern gleiten. Als sie sich im Spiegel sah, zuckte sie zurück, vor allem, als ihr Blick auf den Rückenausschnitt fiel, der ihr äußerst freizügig vorkam. Allerdings – da musste sie Fabienne recht geben – passte ihr das Kleid wie angegossen. Die wenigen Stunden in der Sonne hatten einen hellbraunen Schimmer auf ihre Haut gezaubert, und ihre Wangen strahlten in einem frischen Rosa, das kaum mehr an ihren fahlen Teint und die vergangenen Tage voller Tränen und Traurigkeit erinnerte.

Unsicher lächelte sie ihrem Spiegelbild zu, und als sie sich zu Fabienne umdrehte, sah sie, dass die sehr zufrieden wirkte.

„Du siehst wunderschön aus, Lilly. Und du wirst die Männer reihenweise umhauen. Das garantiere ich dir.“

„Bloß nicht. Nur nicht negativ auffallen, das ist mein Ziel.“

„Ich sag ja nicht, dass du dir gleich einen neuen Freund angeln musst.“ Fabienne zwinkerte ihr zu. „Aber was spricht gegen etwas Spaß?“

„Du denkst an einen One-Night-Stand? Nein, das ist nichts für mich.“

„Wie du meinst, aber dir entgeht definitiv was, wenn du mich fragst. Wie sieht’s aus, sollen wir uns jetzt gegenseitig die Haare machen?“

Es dauerte nicht lange, bis sie bereit waren, in die Nacht zu starten. Fabienne half ihr mit dem Make-up und sorgte dafür, dass der Lippenstift auf das Kleid abgestimmt war. Lilly schlüpfte in ihre halbhohen Pumps, die trotz des bequemen Schnitts erstaunlich gut zu dem Outfit passten, und betrachtete ihr Spiegelbild, das ihr in diesem Augenblick fremd vorkam.

Mit den Fingerspitzen strich sie über ihre Wangenknochen, die durch einen Hauch Rouge betont waren, und formte die Lippen zu einem Kussmund.

Was wohl Harry von ihrem neuen Erscheinungsbild halten würde? Und würde er sich immer noch dagegen entscheiden, sein Leben mit ihr zu teilen? Fast war sie versucht, ihm ein Bild von ihrem neuen Ich zu schicken, doch sie machte die Tasche, in der ihr Handy steckte, entschlossen wieder zu.

Harry hielt sie für langweilig? Dann war jetzt der Moment gekommen, das Gegenteil zu beweisen.

5. KAPITEL

„Wenn du noch schneller fährst, heben wir ab“, sagte Tizio, sein bester Freund, der neben ihm im Lamborghini saß, und krallte sich lachend am Türgriff fest.

Alessandro zwang sich, den Fuß vom Gas zu nehmen. Dabei hätte er gar nichts dagegen, abzuheben und dem Chaos in seinem Leben zu entfliehen. Lieber heute als morgen wollte er all seine Probleme hinter sich lassen. Aber da das nun mal nicht so schnell zu bewerkstelligen war, musste ihm ein Abend im Club dabei helfen, seine rasenden Gedanken zu beruhigen.

„Ich fahre hin und du zurück?“, fragte er und Tizio warf ihm einen verwunderten Blick von der Seite zu. Es war das erste Mal, dass er jemandem anbot, mit seinem Sportwagen zu fahren. Und bevor er es sich anders überlegen konnte, stimmte Tizio seinem Vorschlag schnell zu, obwohl das bedeutete, dass er am Abend nichts trinken konnte.

Wieder spürte Alessandro den fragenden Blick auf sich ruhen, doch sein Freund hatte genug Taktgefühl, ihn nicht weiter nach seinen Beweggründen zu fragen. Das war gut, denn er hatte keinesfalls Lust, über die vergangenen Stunden zu reden oder über das, was ihm in den kommenden Tagen bevorstand. Zu viele Fragen geisterten durch seinen Kopf. Und ehe er sich nicht für die Antworten entschieden hatte, war er nicht bereit, darüber zu reden. Das Einzige, was ihm heute helfen würde abzuschalten, war Alkohol.

Er parkte den Wagen am Hafen, stellte ...

Autor

Ann Mc Intosh
<p>Ann McIntosh kam in den Tropen zur Welt, verbrachte einige Jahre im kalten Norden und lebt jetzt mit ihrem Ehemann im sonnigen Florida. Sie ist stolze Mutter von drei erwachsenen Kindern, liebt Tee, Basteln, Tiere (außer Reptilien!), Bacon und das Meer. Sie glaubt fest an die heilenden und inspirierenden Kräfte...
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Barbara Wallace
<p>Babara Wallace entdeckte ihre Liebe zum Schreiben, als eines Tages ihre beste Freundin Kim ihr einen Roman lieh, der von Katzen handelte. Einmal gelesen und sie war gefesselt. Sie ging nach Hause und schrieb ihre eigene Geschichte. Sinnlos zu erwähnen, dass es der Roman „Ginger the Cat“ (ihre eigene Katze)...
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