2. KAPITEL
„Eine Befruchtung sollte eigentlich erotischer aussehen, auch wenn es eine künstliche ist.“
Leandra warf Ted einen finsteren Blick zu. Es war später Nachmittag, und sie drehten bereits seit dem frühen Morgen. Es war fraglich, wer erschöpfter war – Leandra und ihre Crew außerhalb der kleinen Koppel oder Evan und seine Leute, die innerhalb mit einem prächtigen Rappen arbeiteten.
„Bei der Pferdezucht wird nichts dem Zufall überlassen.“ Sie sprach leise, um nach zahlreichen fehlgeschlagenen Versuchen nicht erneut eine Störung zu verursachen. „Und die Befruchtung findet sowieso nicht jetzt gleich statt.“
„Ich weiß. Sie müssen das Pferd erst mal dazu bringen, seinen …“
„Genau“, unterbrach sie, denn sie hatte schon genügend Witze über die Samengewinnung gehört.
„Na ja, ich schätze, du kennst dich damit aus, nachdem du hier aufgewachsen bist.“
Mit „Hier“ war das Gestüt gemeint, das ihr Vater Jeff kurz nach der Heirat mit ihrer Mutter gegründet hatte. „So ist es“, murmelte sie geistesabwesend. Sie konzentrierte sich mehr auf das Geschehen auf der Koppel als auf ihre Pflichten hinter der Kamera. Ganz besonders achtete sie auf Evan. Seine Kleidung aus Jeans und T-Shirt war verstaubt, sein kurzes schwarzes Haar zerzaust, sein Gesicht von Bartstoppeln verdunkelt. Was hatte dieser Typ nur an sich, das so faszinierend auf sie wirkte?
„Erde an Leandra!“
Sie befeuchtete sich die Lippen und drehte sich zu Ted um. „Was ist denn?“
„Ich habe gefragt, ob du so was schon mal mit einem Pferd gemacht hast.“
„Nur mit einem Hengst“, konterte sie grinsend. „Ja, ich habe schon mal geholfen, Samen zu gewinnen. Und bevor du anzügliche Bemerkungen machst, es ist ein Geschäft. Ein großes Geschäft. Hast du eine Ahnung, wie hoch die Deckgebühr bei einer makellosen Abstammung sein kann?“
Es war eine hypothetische Frage, da sie schon den ganzen Tag über solche Dinge sprachen. Northern Light musste sich erst noch als Deckhengst bewähren, aber sein Erzeuger brachte Deckgebühren im sechsstelligen Bereich ein. „Es gibt Probleme mit Northern Light, weil er noch nie ‚angezapft‘ wurde. Er ist noch unerfahren.“
Ted grinste. „Unerfahren? Bestimmt würde er bloß viel lieber eine heißblütige Stute besteigen als das kalte Gerät, das Evan ihm da hinhält.“
„Das nennt man Phantom. Es ist eine künstliche Scheide. Achtung! Howard bringt eine Stute, um Northern Light in Wallung zu bringen.“ Leandra trat ein wenig beiseite und beobachtete die Reaktion des Hengstes.
Er stellte die Ohren auf; sein glänzendes schwarzes Fell zuckte; sein Schweif schlug; er warf sich gegen die Umzäunung in dem Drang, zur Stute zu gelangen.
Ihr Vater Jeff hielt die Zügel fest im Griff, um zu verhindern, dass Northern Light sich aufbäumte.
Janet Stewart, ein Teammitglied, zupfte Leandra nervös am Arm. Mit ängstlicher Miene beobachtete sie, wie eine halbe Tonne Pferd gegen die Männer kämpfte. „Es kann ihnen doch nicht ernsthaft was tun, oder?“
Ein Hengst konnte durchaus einen Mann zerquetschen. Doch Jeff verstand hervorragend mit Tieren umzugehen und war körperlich in Bestform, obwohl er die sechzig bereits überschritten hatte. Und natürlich stand Evan ihm in nichts nach. „Keine Angst. Es wird schon nichts passieren“, flüsterte sie.
Northern Light versuchte erneut zu steigen. Er schnaubte aufgeregt und stellte den schwarzen Schweif auf.
Janet rang nach Atem und rief: „Wow! Ist er gerade dabei …“
Leandra bedeutete ihr mit einem Finger an den Lippen, den Mund zu halten. Die Antwort auf die halb formulierte Frage ergab sich von selbst, als Northern Light schlagartig das Interesse an der Stute verlor.
Howard, der älteste Rancharbeiter, brachte die Sammelröhre mit dem wertvollen Beitrag zur Zucht fort. Jeff führte Northern Light zurück in den Stall.
Normalerweise war die Anwesenheit eines Tierarztes bei diesen Vorgängen nicht erforderlich. Da Evan jedoch Mitbesitzer des Pferdes war, hegte er ein persönliches Interesse.
Eine Augenweide, wie Marian gesagt hat, dachte Leandra, als er sich ihr nun mit lässigem Gang näherte.
„Ist dir eigentlich klar, was für ein gewaltiger Störfaktor du mit deinem Team bist?“, fragte er vorwurfsvoll. „Ihr habt Northern Light dermaßen abgelenkt, dass es fast einen ganzen Tag gekostet hat, was sonst in zwei Stunden zu schaffen ist. Ein Wunder, dass Jeff euch überhaupt erlaubt hat, hier zu drehen.“
„Das ist wohl einer der Vorzüge, die einzige Tochter vom Boss zu sein.“ Ihre Stimme klang genau so schroff wie seine.
Er presste die Lippen zusammen und blickte zu Ted hinüber. „Filmt der etwa immer noch?“
„So war es abgemacht. Hast du das vergessen? Unser Team verfolgt anderthalb Monate lang deine täglichen Aktivitäten. Wie sonst können unsere Zuschauer sich in deine Lage versetzen?“
„Ich erinnere mich durchaus an die Vereinbarung. Das bedeutet aber nicht, dass sie mir gefällt. Am wenigsten gefällt mir, dass sich die Unannehmlichkeiten auf meine Kunden erstrecken. Ob er nun dein Daddy ist oder nicht, Jeff ist einer meiner besten Kunden und soll es auch bleiben, wenn du deinen süßen Hintern zu deiner nächsten Eskapade bewegst.“
„Schnitt!“, wies Leandra zwischen zusammengebissenen Zähnen an. „Janet, geh mit Ted zu Howard ins Labor. Lasst euch erklären, was er macht, und nehmt alles auf. Da steckt ganz schön viel Wissenschaft drin. Das könnte unsere Zuschauer interessieren.“ Sie spürte ihr Handy vibrieren, ignorierte es aber. „Danach machen wir Schluss für heute.“
Den Dreh vorzeitig zu beenden, sagte Janet eindeutig zu. Sie beabsichtigte, das Wochenende zusammen mit Paul, einem weiteren Teammitglied, in Cheyenne zu verbringen. Beide waren Mitte zwanzig und wollten mehr Rummel erleben, als die verschlafene Kleinstadt zu bieten hatte. Ted dagegen hatte Frau und Kleinkind zu Hause in Los Angeles und wollte in Weaver bleiben.
Sobald die Kamera nicht länger stummer Zeuge war, bemerkte Evan spöttisch: „Erstaunlich, dass du dermaßen die Chefin herauskehrst, Leandra.“
„Bei diesem Dreh bin ich aber nun mal der Boss.“
„Solange Marian es zulässt.“
Sie ignorierte den Seitenhieb. „Wie auch immer, ich habe es nicht nötig, mich vor meinen Leuten von dir zurechtweisen zu lassen, weil du die Situation gelegentlich unangenehm findest.“
„Gelegentlich?“ Er zog die Augenbrauen hoch. „Du hast ja keine Ahnung, wie es ist, den ganzen Tag von einer Kamera verfolgt zu werden. Du weißt nur, wie es dahinter ist.“
Die Tatsache, dass er recht hatte, erleichterte ihr Gewissen keineswegs. Das Handy vibrierte erneut. Sie riss es sich vom Gürtel, klappte es auf und fragte schroff: „Ja bitte?“
Ein tiefes Lachen ertönte. „Deinem Ton nach zu urteilen, bist du überglücklich, von mir zu hören.“
„Oh! Hallo, Jake.“ Leandra beobachtete, wie Evan sich abwandte und davonging. „Ich dachte, es wäre Marian. Was ist passiert?“
„Wer sagt denn, dass etwas passiert sein muss?“
„Du rufst mich normalerweise nicht an, wenn ich mitten im Dreh bin.“
Schon seit der Trennung erkundigte er sich regelmäßig etwa einmal im Monat, wie es ihr ging. Auch wenn sie es als Ehepaar nicht geschafft hatten, waren sie sich nicht gleichgültig geworden.
„Eigentlich rufe ich an, um zu hören, wie es Ev geht.“
Ev war inzwischen zwanzig Schritte entfernt und redete mit Jeff, der gerade aus dem Stall gekommen war. „Warum? Er ist doch schon ein großer Junge.“
„Ja, aber er hasst so viel Rummel um seine Person. Das weißt du genau.“
„Dann hätte er dem Dreh nicht zustimmen dürfen. Es wäre für alle Beteiligten viel einfacher gewesen, wenn du eingewilligt hättest. Dann hätte ich überhaupt nicht nach Weaver kommen müssen. Du hast mir nicht mal eine Ausrede genannt. Nur, dass du einen Grund hättest.“
„Das stimmt ja auch. Also, gib ihn mir mal. Ich muss mit ihm reden.“
„Ach, und deswegen rufst du mein Handy an?“, entgegnete sie gespielt empört. Sie kroch durch die Umzäunung. „Du willst gar nicht mit mir reden, sondern bloß mit deinem Kumpel!“
„Von ihm erfahre ich wenigstens, wie es dir wirklich geht.“ Jakes Stimme klang ernst.
Leandra trat zu Evan. „Hier, du Maulwurf. Dein Komplize Jake will mit dir reden.“ Sie reichte ihm das Handy und wandte sich ab. Sie wollte nicht hören, was er zu berichten hatte. Es ärgerte sie maßlos, dass er überhaupt etwas über sie verlauten lassen könnte. Sie spann lustvolle Fantasien um ihn, doch er behielt sie nur für ihren Exmann im Auge.
Ihr Vater hatte ihren finsteren Blick aufgefangen und holte sie ein. „Du stehst immer noch in Kontakt zu Jake?“
„Keine Sorge, Dad. Wir kommen nicht wieder zusammen.“
„Er ist ein guter Kerl. Vielleicht nicht gut genug für mein Mädchen, aber …“
Sie hakte sich bei ihm unter. Trotz seines Alters hielt er sich so gerade, dass er sie um ein gutes Stück überragte. Sein blondes Haar war zwar von Silberfäden durchzogen, aber noch immer dicht und schulterlang.
„In deinen Augen ist niemand gut genug für mich, Dad.“
„In meinen?“ Es zuckte um seine Lippen. „Es ist deine Mutter, die so schwer zufriedenzustellen ist.“ Er deutete mit dem Kopf zu der schlanken dunkelhaarigen Frau, die ihnen gerade entgegenkam, und drängte: „Sag es ihr.“
„Was soll sie mir sagen?“ Emily war zehn Jahre jünger als Jeff und wurde oftmals für Leandras große Schwester gehalten.
„Er behauptet, dass nicht ihm, sondern dir kein Mann gut genug für mich ist.“
Emily lächelte. „Na ja, wir wissen beide, was für Märchen sich dein Vater ausdenkt. Sag mal, wie lange willst du den armen Evan heute noch verfolgen? Du weißt doch, dass wir uns am Abend alle im Colbys treffen, oder?“
„Ja. Sarah hat es mir gesagt.“
„Willst du nicht doch bei uns auf der Farm wohnen, solange du in der Gegend bist? Ich weiß, dass es unter der Woche unpraktisch wäre wegen der Fahrerei, aber was ist an den Wochenenden?“
Einerseits wollte Leandra nichts sehnlicher, als an den Zufluchtsort ihrer Kindheit zu fliehen. Sich von der Fürsorge ihre Eltern trösten zu lassen, deren Liebe eine Konstante in ihrem Leben war. Doch wenn sie diesem Wunsch nachgab, würde sie niemals ihren eigenen Weg finden. „Ich arbeite auch an den Wochenenden, selbst wenn nicht gedreht wird. Und jetzt muss ich meine Crew zusammentrommeln und in die Stadt zurückbringen. Wir sehen uns später im Colbys.“
„Auch wenn du nicht bei uns bleiben willst, bin ich froh, dass du hier bist. Es ist so lange her, seit du zu Hause warst.“
Nicht mehr seit Emi. Leandra lächelte, aber es fiel ihr schwer. „Also dann, bis später.“ Sie wandte sich hastig ab und kehrte zurück zu der kleinen Koppel.
Janet, die gerade mit Paul die Ausrüstung in den Van lud, hielt ein Klemmbrett hoch. „Vermisst du vielleicht das hier?“
„Danke. Wo steckt Evan?“
„Er ist schon weg.“
„Seit wann?“
„Ein paar Minuten. Wieso? Wir sind doch fertig hier, oder?“
„Richtig“, bestätigte Leandra geistesabwesend. Missmutig dachte sie daran, dass sie ihn nun erst am Sonntag bei der Werbeveranstaltung wiedersehen würde, die im Colbys zeitgleich mit der Ausstrahlung der ersten Folge stattfinden sollte.
Entschieden richtete sie die Aufmerksamkeit auf das Klemmbrett. Schließlich war sie nach Weaver gekommen, um zu arbeiten. Ihr Blick fiel auf eine große rosa Haftnotiz mit der Nachricht: Marian anrufen. Automatisch griff sie sich an den Gürtel. „Er hat dir nicht zufällig mein Handy gegeben, bevor er gegangen ist?“
Janet schüttelte den Kopf. „Tut mir leid.“
„Dann musst du mir deins leihen.“ Selbst die Aussicht auf ein nervendes Telefonat mit ihrer anstrengenden Chefin konnte nicht verhindern, dass sich Leandras Stimmung ganz beträchtlich hob. Denn das verliehene Handy lieferte ihr einen perfekten Vorwand, um sich nicht bis Sonntag gedulden zu müssen, was das Wiedersehen mit Evan anging.
„Weiß dein Daddy eigentlich, dass du immer noch Poolbillard spielst?“
Leandra, über ihren Queue am Billardtisch gebeugt, wandte den Kopf zur Seite. Evan hatte, von ihr unbemerkt, Colbys Bar & Grill betreten und stand mit einer Flasche in der Hand neben ihr. „Weiß dein Daddy denn, dass du Bier trinkst?“
Es zuckte um seine Mundwinkel. „Ich würde Ja sagen, da er es mir gekauft hat.“ Er deutete zur Theke. „Er sitzt da drüben.“
Sie blickte zu Drew Taggart hinüber. Das Einzige, das sich im Laufe der Jahre an ihm geändert zu haben schien, waren die Silberfäden in seinem schwarzen Haar. „Hast du nicht gesagt, dass deine Eltern in Florida sind?“
„Sie sind gestern zurückgekommen.“
Sie vollführte den Anstoß. Die im Dreieck angeordneten Kugeln sausten kreuz und quer über den Tisch. „Waren sie lange weg?“
„Zwei Wochen.“ Evan stellte die Bierflasche auf den breiten Bandenspiegel und nahm sich einen Queue von der Wandhalterung. Auch wenn Colbys die besten Steaks in der ganzen Stadt servierte, war es eine gewöhnliche Bar mit Jukebox, rustikalem Holztresen und einem halben Dutzend Billardtischen. „Sie sind früher als geplant zurückgekommen. Weil die Sendung im Fernsehen ausgestrahlt wird.“ Seine Stimme klang mürrisch.
„Ich muss sie nachher begrüßen.“ Leandra ging um den Tisch herum und bereitete den nächsten Stoß vor. Sie betete, dass Evans Missfallen an den Dreharbeiten nicht weiter zunahm. Es gefiel ihr nicht, jemandem das Leben zu verleiden, nur um ihre eigenen Ziele zu erreichen. „Wo war deine Schwester, während sie weg waren?“
„Bei Tristan und Hope. Obwohl sie inzwischen achtzehn ist. Sie hätte allein zu Hause bleiben können. Übrigens weiß Jake nichts von deinem Eh-duh-ahr.“
Der Stoß ging daneben. Sie richtete sich auf und stützte den Queue auf ihren Tennisschuh. „Hast du ihn etwa danach gefragt?“
„Ja.“
„Ich habe dir doch gesagt, dass es Jake nichts angeht. Übrigens geht es dich genauso wenig an.“
„Das klingt verdächtig defensiv.“ Evan beugte sich über den Tisch und versenkte zwei Kugeln.
„Und du klingst verdammt neugierig. Was interessiert es dich überhaupt?“
„Jake ist einer meiner besten Freunde.“
„Und aus lauter Loyalität ihm gegenüber meinst du, er sollte von Edouard wissen?“
„Sollte er nicht?“
Leandra beobachtete, wie geschickt er mit dem Queue umging. Obwohl sie sich ganz darauf konzentrierte, die Kugeln durch die Kraft ihres Geistes in eine andere Richtung umzulenken, rollten sie genau dorthin, wo er sie haben wollte. Wenn er so weitermachte, gelang es ihm im Nu, den Tisch abzuräumen. „Ich habe doch schon gesagt, dass es nichts für ihn zu wissen gibt. Warum bauschst du die Sache so auf?“
„Weil du so ein großes Geheimnis daraus machst.“ Nur noch die Acht blieb übrig. Er zielte, und einen Moment später rollte sie in die Mitteltasche. Mit selbstgefälliger Miene richtete er sich auf.
„Ich wette, das schaffst du kein zweites Mal.“
Seine Lippen zuckten belustigt. „Wetten, dass doch? Vergiss nicht, dass ich schon Spielergenie war, lange bevor du weggezogen bist.“
„Vielleicht habe ich mich ja in Kalifornien dem Billardzirkus angeschlossen.“
„Du bist eine verdammt schlechte Lügnerin. Genau wie damals, als du Mr. Pope davon überzeugen wolltest, dass du bei der Mathearbeit nicht geschummelt hast.“
„Das hab ich ja auch gar nicht!“
„Hast du dir das selbst eingeredet?“
„Ich muss mir überhaupt nichts einreden. Ganz egal, was du glaubst.“ Sie ging um den Tisch herum und blieb direkt vor Evan stehen. „Wenn du es unbedingt wissen willst, es war Tammy Browning, die von mir abgeschrieben hat. Ich habe noch nie bei irgendwas geschummelt. Du versuchst ja bloß, dich vor der Wette zu drücken. Was ist mit dir los? Hast du Angst, gegen ein Mädchen zu verlieren?“
„Es würde nichts ändern, wenn du kein Mädchen wärst. Wie viel?“
„Zwanzig“, schlug sie vor.
„Feiger Einsatz.“
„Vierzig.“
Er wartete.
Leandra zog Geld aus der Vordertasche ihrer Jeans, zählte es durch und knallte mehrere Scheine auf den Tisch. „Fünfzig.“
Er grinste, als hätte er sie geködert statt umgekehrt.
Es ärgerte sie maßlos.
„Bau auf, Sportsfreund.“
Sie machte eine große Show daraus, die Kugeln in die Triangel zu sortieren. „Was soll das mit dem ‚Sportsfreund‘?“
Gemächlich kreidete Evan die Spitze seines Queues ein. „Weil du so angezogen bist.“
Sie blickte an sich hinab: Kapuzenjacke, Jeans und Turnschuhe. Dazu trug sie eine Baseballkappe mit dem Logo von WITS auf dem Schirm, doch das war kein Mode-Statement. Die gesamte Crew und sogar viele Leute aus der Stadt trugen diese Kappen.
Sie schob das Plastikdreieck hin und her und entfernte es schließlich. „Hau rein, Doc.“
Ihm gelang ein guter Anstoß, der die Kugeln über den ganzen Tisch verteilte. Dann musterte er eingehend die Lage.
„Na, kriegst du kalte Füße?“, fragte Leandra in zuckersüßem Ton.
Er lachte leise und beugte sich vor. Eine Kugel nach der anderen, manchmal sogar zwei auf einen Stoß, versanken in den Taschen.
Im Stillen verabschiedete sie sich von ihrem Geld. „Wer hat dir eigentlich das Spielen beigebracht?“
„Mein Dad.“
„Das hätte ich mir denken können. Ich weiß, dass er viel mit meinen Onkeln gespielt hat – in ihrer wilden Jugend.“
„Und mit deinem Dad. Der ist einer der Schlimmsten, wenn es darum geht, richtig zur Sache zu gehen.“
„Er ist der Beste“, murrte sie. Nicht ein einziges Mal war es ihr gelungen, ihren Vater am Billardtisch zu besiegen.
Sarah trat zu ihr und warf ein: „Unser Großvater ist an allem Schuld. Er war es, der seine Söhne auf den Geschmack gebracht hat.“
Leandra nickte. „Das stimmt.“ Nachdem seine erste Frau bei Tristans Geburt gestorben war, hatte Squire seine Söhne allein aufgezogen und ihnen angeblich wenig Milde entgegengebracht, bis seine jetzige Frau Gloria in sein Leben getreten war.
Evan versenkte zwei weitere Kugeln. Erneut war der Tisch fast abgeräumt, und Leandras Hoffnung, überhaupt zum Zug zu kommen, schwand dahin.
„Du musst was unternehmen“, raunte Sarah. Sie hatte ihr braves Outfit abgelegt und trug nun hautenge Jeans, ein pinkfarbenes Häkeltop und schwarze Stiefel mit schmaler Spitze und hohen Absätzen, die sie noch langbeiniger wirken ließen, als sie ohnehin war.
Im Vergleich zu ihr fühlte Leandra sich dürftig und unvorteilhaft angezogen. „Was soll ich denn dagegen tun? Ich komme mir schon dumm genug vor, weil ich überhaupt Geld gesetzt habe.“
„Lenk ihn ab.“
„Womit denn?“ Sie war im Gegensatz zu ihrer Cousine nicht der Typ dafür. Sie war weder groß noch kurvenreich, und aus Zeitmangel lag ihr letzter Besuch im Schönheitssalon schon eine ganze Weile zurück.
Sarah verdrehte die Augen. „Hast du denn alles vergessen? Du hast doch was unter der Kapuzenjacke an, oder?“
„Ein Unterhemd.“
„Ist es total erbärmlich?“
Es war dünn, weiß und ärmellos. „Es ist sauber.“
„Okay, beeil dich. Er braucht höchstens noch drei Stöße.“
Mit finsterer Miene zog Leandra sich die Kapuzenjacke aus und warf sie auf den nächsten Barhocker. Dann stützte sie sich provokant auf den Tischrand. „Was hältst du von doppelt oder nichts?“
Evan blickte nicht einmal zu ihr hinüber. „Wir könnten uns die Zeit sparen, und du gibst mir gleich das Geld.“
Sie verdrehte die Augen und fing einen aufmunternden Blick von Sarah auf. Langsam näherte sie sich Evan, der die Position der restlichen Kugeln studierte. Gerade als er sich über den Queue beugte, flüsterte sie ihm ins Ohr: „Vielleicht sind drei nicht alle guten Dinge für dich.“
Er zuckte zusammen und richtete sich auf, ohne den Stoß auszuführen. „Was soll das?“
Verzweifelt suchte sie nach einer Antwort. „Ich kühle mich nur ab. Findest du nicht, dass es ziemlich heiß hier drinnen geworden ist?“
Er musterte sie von Kopf bis Fuß. „Allerdings, es ist ziemlich heiß. Wenn du die Halben versenkst, zahle ich dir hundert Mäuse.“
„Eine interessante Idee. Aber es geht nicht um meine Fähigkeiten, sondern um deine.“
„Ich glaube nicht, dass du meine Fähigkeiten wirklich infrage stellst.“ Er nahm ihre Hand, legte sie um den Queue und hielt sie mit seiner eigenen fest. „Oder?“
Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Sie konnte kaum atmen. Seine Finger fühlten sich heiß auf ihren an.
„Nun?“
Leandra entriss ihm Queue und Hand, ignorierte das spöttische Lächeln auf seinen Lippen und drehte sich zum Tisch um. Jetzt erst merkte sie, dass sich inzwischen ein gutes Dutzend Leute versammelt hatten und aufmerksam zusahen. Ihre Eltern und Cousins, ihre Crew, alle waren da, ja sogar die Spieler von den anderen Tischen. Ihr wurde noch heißer.
„Hundert Dollar?“, fragte sie schroff. „Bist du sicher, dass du dir so viel leisten kannst?“
Evan zog eine Augenbraue hoch.
„Na gut. Bau auf.“
Sarah rückte zu ihr. „Hast du vergessen, dass du ihn ablenken solltest?“
„Ja, das war eine tolle Idee. Ich werde mich hier vor allen Leuten blamieren. Sogar vor Ted und seinem Camcorder.“
Sarah blickte zu ihm hinüber. „Ich habe gar nicht gemerkt, dass das kleine Ding, mit dem er den ganzen Abend spielt, eine Kamera ist.“
Leandra konzentrierte sich auf Evan. Er entfernte die Triangel mit einem herausfordernden Grinsen und machte eine ausladende Handbewegung über den Tisch, wie um sie aufzufordern, sich lächerlich zu machen.
„Lass dir Zeit“, raunte Sarah ihr zu. „Denk an alles, was wir über Billard gelernt haben.“
Als Allererstes hatte Leandra gelernt, niemals eine Wette einzugehen, von deren Gewinn sie nicht absolut überzeugt war.
Sie positionierte die weiße Kugel auf den Kopfpunkt, stützte die linke Hand als Führung für den Stock auf und visierte eine Kugel an.
„Brauchst du die ganze Nacht dafür, Sportsfreund?“
Sie holte aus und stieß zu. Die Kugeln stoben auseinander. Zwei Halbe versanken in den Ecktaschen.
Die Zuschauer johlten.
Leandra überhörte es. Nicht so leicht fiel es ihr, Evan zu ignorieren, während sie die Position der Kugeln aus verschiedenen Blickwinkeln studierte.
Er stand ihr im Weg und ging erst beiseite, als sie ihn anstieß. „Willst du das wirklich versuchen?“ Seine Stimme klang besorgt. „Du musst die Elf ziemlich stark anschneiden.“
Sie ließ sich nicht beirren, holte tief Luft und führte den Stoß aus. Die Kugeln klickten zusammen. Die Elf rollte langsamer als beabsichtigt, versank aber schließlich in der Tasche.
„Das ist mein Mädchen!“, hörte sie ihren Vater rufen.
„Es bleiben immer noch fünf“, murmelte Evan.
„Ich hätte dich von Ted die ganze Nacht beim Schnarchen filmen lassen sollen.“
„Wer sagt denn, dass ich schnarche?“
„Jake. Er muss es wissen. Du warst schließlich im College sein Mitbewohner.“ Leandra versenkte zwei weitere Kugeln und richtete sich auf. „Ich hoffe, du brauchst die hundert Mäuse nicht zu dringend, Sportsfreund“, sagte sie herausfordernd, bevor sie sich wieder vorbeugte.
Evan stand ihr gegenüber. „Weißt du eigentlich, dass ich dir bis zum Bauchnabel gucken kann?“
Sie zuckte zusammen und verspürte den Drang, sich aufzurichten und das T-Shirt an die Brust zu drücken – nur für den Fall, dass er die Wahrheit sagte. Ob er ihr nun in den Ausschnitt sehen konnte oder nicht, ihre Brustspitzen wurden hart, und sie betete inständig, dass er es nicht merkte.
Resolut nahm sie sich vor, die restlichen drei Kugeln zu versenken, nach Hause zu gehen und bis Sonntagabend keinen Gedanken mehr an Evan zu verschwenden.
Sie lochte eine weitere Kugel ein und atmete auf.
„Du siehst ziemlich gestresst aus“, bemerkte er. „Brauchst du vielleicht eine Pause?“
Sie ging um den Tisch herum, stieß ihm absichtlich mit dem Stock ans Schienbein und behauptete zuckersüß: „Das tut mir ja so leid.“
Wortlos hob er seine Bierflasche an die Lippen und trank.
Sie beneidete ihn ein wenig, denn ihr Mund war total ausgedörrt. Sie bereitete den nächsten Stoß vor und prüfte unwillkürlich, was dabei mit ihrem T-Shirt passierte. Es lag eng am Körper an. Sie blickte auf und sah unverhohlene Belustigung auf Evans Gesicht.
Bravourös versenkte sie den sechsten Ball in eine Ecktasche. Doch die letzte Kugel lag äußerst ungünstig von zwei Vollen an die Bande geklemmt.
Gemurmel erhob sich unter den Zuschauern. Wie Leandra ihre Familie kannte, schlossen sie untereinander Wetten ab.
„Fühlst du dich unter Druck gesetzt?“ Evan stützte sich neben ihr auf die Unterarme, als wenn sie Busenfreunde wären. „Ich bin nicht mal sicher, ehrlich gesagt, ob ich das schaffen würde.“
Trotz der verräucherten Luft im Lokal fing sie den sauberen frischen Geruch auf, den sie mit Evan und nur mit Evan in Verbindung brachte. „Ich kann es schaffen.“
„Vielleicht. Oder du beichtest einfach, was mit Eh-duh-ahr ist, und wir sind quitt.“
„Man könnte glatt denken, dein Interesse an Edouard hat gar nichts mit Jake, sondern nur mit dir selbst zu tun.“
„Vielleicht ist dem ja so.“
Dieses Eingeständnis überraschte sie, denn die spitze Bemerkung war eigentlich nur als Herausforderung gedacht.
Ted trat an den Tisch und hob seine handtellergroße Videokamera hoch. „Gibst du etwa auf, Leandra?“
Sie merkte, dass Evan sie aufmerksam beobachtete, und malte sich unverhofft aus, dass er sich vorbeugte und die Lippen auf ihre senkte.
Aufgewühlt schüttelte sie den Kopf – als Antwort an Ted und um die Vorstellung von Evans Kuss zu verdrängen.
Sie führte den Stoß aus. Die Kugel verfehlte die Tasche um mehrere Zentimeter, sicherlich als Folge ihrer erotischen Fantasien, die völlig absurd waren. Denn in all den Jahren hatte sie von Evan lediglich einen kleinen Wangenkuss bei der Abschlussfeier bekommen.
Erneut holte sie ihr Geld aus der Tasche, blätterte weitere fünfzig zu den Scheinen auf dem Bandenspiegel und faltete alle zusammen. „Hier, Doc.“
Er wollte das verdammte Geld nicht. Er wollte wissen, wer zum Teufel der Franzose war und was er ihr bedeutete. Loyalität gegenüber Jake war dabei nur ein Vorwand. Ein armseliger Vorwand, denn seine Gefühle zu Leandra waren alles andere als loyal gegenüber seinem Freund.
Doch er wusste, was sie nicht wusste: dass Jake verlobt war und sich nicht traute, es ihr zu gestehen – um ihr noch mehr wehzutun, als ohnehin bereits geschehen war. Falls sie jedoch mit diesem Franzosen liiert war, konnte er das Büßerhemd ausziehen und sein Leben genießen.
Und ich kann vielleicht endlich mein eigenes Leben genießen, ohne immer Leandra im Kopf zu haben, dachte Evan.
Leandra trat so dicht zu ihm, dass ihm ihr reizvoller Duft in die Nase stieg. Sie steckte ihm das Geld in den Ledergürtel. „Viel Spaß damit“, wünschte sie und wandte sich ab.
Am liebsten hätte er sie bei den Schultern gepackt und an sich gerissen. Nur die Tatsache, dass die umstehenden Gäste und Ted mit seiner Minikamera die Szene verfolgten, hielt ihn davon ab.
Sie klatschte in die Hände und rief der Menge zu: „Vergesst nicht, Leute! Sonntagabend um sieben wird hier Evans Fernsehdebüt gefeiert!“
Applaus und Jubel ertönten. Tapfer ließ er den Rummel über sich ergehen und redete sich ein, dass er die nächsten fünf Wochen irgendwie überleben würde. Vielleicht.