Der spanische Viscount und das Mauerblümchen

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Manch junge Dame wünscht sich nichts sehnlicher, als an der Seite eines reichen Verehrers über die Tanzfläche zu schweben. Nicht so Miss Hattie Woodchurch! Ihr innigster Herzenswunsch ist es nur, dem ganzen Trubel und vor allem ihrer schrecklich peinlichen Familie zu entfliehen. Dafür muss sie finanziell auf eigenen Beinen stehen, und so nimmt Hattie eine Stelle als Sekretärin von Mateo Vincente, dem neuen Viscount Abbot, an. Auf diese Weise hat sie sogar die Möglichkeit, ihrer schüchternen Freundin Flora zu helfen, den Viscount zu umgarnen. Wenn doch nur Hatties eigenes Herz nicht so verräterisch höherschlagen würde in seiner Nähe …


  • Erscheinungstag 12.04.2025
  • Bandnummer 414
  • ISBN / Artikelnummer 9783751532068
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Julia London

Julia London hat sich schon als kleines Mädchen gern Geschichten ausgedacht. Später arbeitete sie zunächst für die US-Bundesregierung, sogar im Weißen Haus, kehrte aber dann zu ihren Wurzeln zurück und schrieb sich mit mehr als zwei Dutzend historischen und zeitgenössischen Romanzen auf die Bestsellerlisten von New York Times und USA Today. Sie lebt mit ihrer Familie in Austin, Texas.

Das Leben ist nicht fair, nur fairer als der Tod, das ist alles.

William Goldman: „Die Brautprinzessin“

1. KAPITEL

London, England

1870

In dem Frühling, als der santiavanische Herzog nach London kam, wurde es für jede Frau, unabhängig von ihrem Alter oder gesellschaftlichem Rang, äußerst ratsam, eine verlässliche Freundin zu haben, die ihr auf den Kopf zusagte, was niemand sonst ihr sagen würde.

Für Miss Harriet Woodchurch war diese Person Miss Flora Raney. Die Tochter des ehrenwerten Viscount Raney war nicht nur ihre beste Freundin, sondern in gewisser Weise auch ihre Arbeitgeberin, da ihr Vater Hattie eine bescheidene Entschädigung dafür zahlte, dass sie Flora auf deren irrlichternden Wegen durch die Stadt begleitete.

Flora führte Hattie unmissverständlich vor Augen, was diese nicht selbst imstande war zu erkennen. Etwas Schreckliches, etwas, das Hattie weder vergessen noch vergeben konnte … jedenfalls am Anfang.

Tatsächlich schlug sie es sich in den folgenden Wochen komplett aus dem Kopf. Doch an jenem speziellen Tag erschien ihr dergleichen als vollkommen unmöglich, da die Neuigkeit nicht nur per se herzzereißend war, sondern auch noch mit dem Anblick des aufsehenerregendsten Junggesellen in ganz London einherging.

Es begab sich, als Hattie, Flora und Floras älteste Freundin Queenie gemeinsam durch die Läden stöberten. Alle drei hatten zur selben Zeit die Iddesleigh-Schule für außergewöhnliche Mädchen besucht. Als Töchter aus adeligem, reichem Haus setzten sich Flora und Queenie automatisch von den anderen ab, und auch Hattie, die mit einem Stipendium angetreten war, fiel aus dem üblichen Rahmen – wenn auch auf gänzlich andere und keineswegs schmeichelhafte Art. Doch sie und Flora hatten ein Semester lang das Zimmer geteilt und sich angefreundet.

Die Frauen betraten einen Putzmacherladen, um die im Preis reduzierten Handschuhe in der großen Auslage zu begutachten. Oder vielmehr, Flora und Queenie begutachteten die Sonderangebote. Hattie hatte kein Geld übrig für Dinge wie Handschuhe, Unterröcke oder Hüte.

„Aber wie kommt es, dass du kein Geld hast?“, hatte Queenie sich erst kürzlich erkundigt. „Dein Vater besitzt das größte Unternehmen für öffentliche Verkehrsmittel in ganz London.“

Das stimmte. Mr. Hugh Woodchurch stellte den Menschenmassen, die sich tattäglich durch die Metropole bewegten, rund um die Uhr Hansom-Taxis, Clarence-Kutschen und Pferdeomnibusse zur Verfügung. Ein einträgliches Geschäft. Aber er hielt nichts davon, diesen Reichtum mit seiner Tochter zu teilen. Was sie brauchte, pflegte er zu sagen, hatte sie zu Hause. Geld für Handschuhe, Hüte und Kleidung auszugeben war vollkommen überflüssig, wenn eine junge Frau über zwei brauchbare Tageskleider, einen Hausmantel und ein Abendkleid verfügte. Seiner Meinung nach spielte es auch keine Rolle, dass besagtes Abendkleid einst ihrer Mutter gehört hatte und der Mode einer komplett anderen Epoche entsprach. Hatties Vater sagte, wenn sie mehr wollte, sollte sie gefälligst heiraten.

Hattie wollte nichts lieber als das und sehnte sich nach dem Tag, an dem sie und ihr Verlobter, Mr. Rupert Masterson, endlich die Räumlichkeiten über seinem Geschäft beziehen würden. Da ihre Verlobung jedoch noch nicht offiziell war – obwohl Rupert beabsichtigte, so schnell wie möglich bei ihrem Vater vorzusprechen –, hatte Hattie Arbeit angenommen, um sich die paar Dinge, die sie gerne hätte, leisten zu können. Und war nun stolze Besitzerin von vier ordentlichen Tageskleidern, einem zeitgemäßen Abendkleid und zwei Hausmänteln, vielen Dank auch.

Flora und Queenie kamen zu dem Schluss, dass sie dringend achtknöpfige Handschuhe aus Seide und Leinen benötigten, für den Fall, dass sie diesen Sommer zu einer Wochenendgesellschaft auf dem Land eingeladen wurden. Hattie verfügte über exakt zwei Paar Handschuhe, die ebenfalls von ihrer Mutter stammten, mit jeweils nur drei Knöpfen. Da ihr mageres Budget nicht erlaubte, sich neue zuzulegen, folgte sie den anderen beiden einfach nur durch den Laden und faltete die Modelle, die Flora und Queenie ihr, wenn sie das Interesse daran verloren, gedankenlos reichten, um sich dem nächsten Paar zu widmen.

Plötzlich kam eine Frau herein, derart ungestüm, dass sie sämtliche Türglocken zum Klirren brachte. „Mrs. Perkins!“

Die Ladeninhaberin stürzte so hastig hinter dem Vorhang hervor, der den Eingang zum Hinterzimmer verdeckte, als fürchtete sie, ihr Geschäft stünde in Flammen. „Was ist los? Was ist passiert?“

Die Frau lief zum Schaufenster, vor dem Flora und Queenie standen, und drängte sie beiseite, um nach draußen zu schauen. „Um Himmels willen!“, rief Queenie indigniert.

„Er ist hier!“

„Wer ist hier?“, wollte Queenie wissen, die sich nie scheute, Antworten einzufordern.

Hier?“ Mrs. Perkins schnappte nach Luft und sprang dann, einer Gazelle gleich, ans Fenster. „Wo?“

Stumm deutete die Frau zur gegenüberliegenden Straßenseite. Queenie packte Floras Arm. „Sieh doch!

„Du tust mir weh“, sagte Flora.

„Wirst du ausnahmsweise mal tun, was ich dir sage?“, verlangte Queenie. „Sieh dir das an!

Verwirrt starrte Hattie auf die vier Damen im Schaufenster, die sich emsig vorbeugten und über die ausgelegten Handschuhe hinweg spähten. „Du liebe Zeit. Du liebe Zeit“, stieß Flora hervor und winkte dann hektisch nach Hattie. „Komm her, komm her, das musst du sehen!“

Es gab vor dem Fenster nicht genug Platz für alle fünf Frauen, daher stellte Hattie sich auf die Zehenspitzen, um über Floras Schulter zu schauen. „Ich kann nichts Besonderes erkennen.“

Die anderen ignorierten sie. „Wo?“, rief Mrs. Perkins noch einmal. Sie klang panisch.

Ihre Freundin zeigte nach draußen.

Hattie reckte ihren Hals, soweit es ging, erspähte aber nichts anderes als den Kurzwarenladen auf der anderen Straßenseite. Davor standen drei Gentlemen und unterhielten sich. „Meint ihr diese Herren dort?“, fragte sie und sank zu ihrer normalen Größe zusammen.

„Nein, nicht die“, erwiderte die Frau. „Den Viscount.“

Da draußen auf der Regent Street trieben sich an jedem beliebigen Tag mindestens ein Dutzend Viscounts herum. „Welchen?“

„Welchen?“, wiederholte Flora entrüstet und funkelte sie über ihre Schulter hinweg missbilligend an. „Viscount Abbott natürlich.“

„Natürlich“, murmelte Hattie. Sie kannte keinen Viscount Abbott. Und hatte auch keine Ahnung, warum die anderen Frauen sich so brennend für ihn interessierten.

„Der gleichzeitig der Herzog von Santiava ist“, fügte Queenie hinzu.

Hattie blinzelte verständnislos.

„Warum weißt du so was nie, Hattie?“, echauffierte sich Queenie. „Es ist, als ob du irgendwo in einer Höhle leben würdest.“

Sie wusste nie von solchen Dingen, weil sie in dieser Hinsicht gänzlich unbeleckt war. Hattie verkehrte nicht direkt in denselben gesellschaftlichen Kreisen wie Flora und Queenie. Sie wusste nur das, was die beiden ihr erzählten, und von diesem Viscount hatten sie ihr nichts erzählt.

Plötzlich packte Flora ihre Hand und drückte sie so fest, dass Hattie zusammenzuckte. Queenie kippte eine komplette Handschuhauslage zur Seite, um Platz zu schaffen, und die vier Frauen klebten förmlich an der Fensterscheibe. Flora zerrte Hattie mit sich.

Ein Mann kam aus dem Kurzwarengeschäft. Seinen Hut hielt er in der Hand. Er war hochgewachsen, mit sonnengebräunter Haut. Seine Garderobe saß wie angegossen und ließ keinerlei Zweifel an seiner durchtrainierten, athletischen Gestalt. Das Haar reichte ihm bis zum Kragen. Als einer der anderen Gentlemen eine Bemerkung machte, hob er den Blick und lächelte. Nur ein wenig, doch es war ein Lächeln, das durch Hattie hindurchglühte wie ein Sonnenstrahl. Dieser Gentleman war höchstwahrscheinlich der schönste Mann, den sie je im Leben gesehen hatte – elegant, kraftvoll und von erstaunlich angenehmer, liebenswerter Erscheinung.

Einen Augenblick lang sagte niemand etwas.

Dann fuhr eine Kutsche zwischen den Geschäften vor und blockierte die Aussicht auf den Kurzwarenladen. Als sie weiterrollte, waren die Gentlemen verschwunden.

Die Damen beruhigten sich wieder. Seufzend trat Queenie vom Fenster zurück. Die achtlos beiseitegeschobenen Ausstellungsstücke ließ sie liegen. Hattie sammelte die verstreuten Handschuhe zusammen und richtete sie wieder ordentlich im Fenster aus.

„Du stehst sicher ganz oben auf dieser Liste, Flora“, erklärte Queenie bestimmt.

Sie war klein und rundlich, mit weichen goldblonden Locken, die sich anmutig um ihre Schultern schmiegten. Queenie hielt sich nicht nur wie eine Königin, sondern benahm sich gelegentlich auch so. Flora war groß und schlank, mit kastanienbraunen Haaren – und definitiv hübsch, ganz gleich, welche Maßstäbe man anlegte. Wenn Hattie mit den beiden unterwegs war, fühlte sie sich oft wie die unscheinbare Cousine vom Dorf, die zu Besuch in der großen Stadt war. Ihr Haar war von stumpfem Braun, ihre Figur unauffällig.

Auf Queenies Bemerkung reagierte Flora mit einem schrillen, atemlosen Lachen, das Hattie noch nie von ihr gehört hatte. „Sei nicht albern!“, sagte sie dann.

„Sei nicht kokett“, konterte Queenie. „Du weißt, dass es so ist.“

„Ich bin mir sicher, dass die Liste ziemlich lang ist. Was ist zum Beispiel mit Hattie? Sie könnte ganz oben stehen.“

„Ganz oben von was?“, erkundigte sich Hattie.

„Also wirklich, Hattie!“ Queenie klang verärgert. „Wie kannst du bloß so ignorant sein, wenn es um Neuigkeiten aus der Gesellschaft geht? Wir reden natürlich von der Liste potenzieller Bräute für den Viscount.“

Hattie lachte. Laut.

„Da bin ich ganz deiner Meinung, es ist praktisch unmöglich“, befand Queenie. „Ich will dir nicht zu nahetreten, aber er ist immerhin der Herzog von Santiava und nun, als einziger männlicher Erbe seines englischen Großvaters, auch noch Viscount Abbott. Selbstverständlich wird er eine junge Dame aus adeligem Haus heiraten, mit entsprechend üppiger Mitgift und den richtigen Verbindungen.“

Santiava? Der Name sagte Hattie irgendwas. Ein Herzogtum am Mittelmeer, einstige Kolonie von Westloria, wenn ihre vagen Erinnerungen sie nicht trogen.

„Er ist der regierende Fürst seines Landes und ziemlich reich“, fuhr Queenie fort. „Aber man sagt, dass er ein Einsiedler ist. Vor Einsiedlern muss man sich immer in Acht nehmen.“

Tatsächlich? Von dieser Regel hatte Hattie noch nie gehört.

„Und natürlich ist er unvermählt“, fügte Flora hinzu.

Sie verließen den Hutmacherladen und schlenderten langsam Richtung Hyde Park.

„Wird er sich nicht eher eine Frau aus Santiava suchen?“, fragte Hattie.

„Nein!“ Queenie schnaubte abfällig, und Hattie fühlte sich wieder mal extrem uninformiert. „Er ist hergekommen, um seinen Titel und seinen Besitz in Anspruch zu nehmen und, wie nun wirklich jeder weiß, mit einer englischen Ehefrau verkuppelt zu werden. Für ein kleines Herzogtum ist es immer hilfreich, eine britische oder weslorische Herzogin zu haben, für den Fall, dass es mal Rückendeckung von einer größeren Nation benötigt. In Kriegszeiten beispielsweise oder in Wirtschaftskrisen. Eine entsprechende Heirat würde das praktisch garantieren.“

Sie sprach mit einer solchen Autorität über den Mann, dass sich Hattie beinahe die Frage aufdrängte, ob Queenie sich etwa mit dem Viscount persönlich beraten hatte. Sie selbst bezweifelte allerdings, dass eine Heirat mit Flora ihm irgendwas in dieser Richtung garantieren konnte. Doch sie behielt diese Bedenken für sich.

„Hattie“, sagte Flora, „stell dir doch mal vor, wie es wäre, wenn du das Bindeglied zur machtvollen königlichen Marine wärst, sollte das Herzogtum sie benötigen.“

Alles, was Hattie sich vorstellen konnte, war sie selbst auf einem leckenden, baufälligen Boot. „Ich werde kein Bindeglied zu was auch immer sein, weil ich bereits verlobt bin“, erwiderte sie lächelnd.

Flora und Queenie wechselten einen Blick. „Du hast es ihr noch nicht erzählt?“, fragte Queenie.

„Was erzählt?“, fragte Hattie verwirrt.

Sag es ihr. Sie kann nicht weiter ahnungslos durchs Leben stolzieren, ohne es zu wissen.“

Hattie rutschte das Herz in den Magen. „Was soll ich wissen? Wovon redet ihr?“

„Oh, Hattie … Mr. Masterson hat mir einen Besuch abgestattet“, platzte Flora heraus. „Ich wollte es dir sagen. Ich habe nur auf den richtigen Moment gewartet.“

„Nun, der ist ja wohl kaum jetzt“, bemerkte Queenie gedehnt, offensichtlich ignorierend, dass sie Flora gerade erst dazu gedrängt hatte, mit der Information rauszurücken.

Aber worum konnte es gehen? Dass Rupert bei Flora vorgesprochen hatte, war seltsam – so gut kannten die beiden einander nicht. „Mr. Rupert Masterson hat dich aufgesucht“, wiederholte Hattie, um sicherzustellen, dass tatsächlich von ihrem Mr. Masterson die Rede war, dem Besitzer und Betreiber von „Masterson Kurz- und Gemischtwaren“.

„Er … er kam im Vertrauen zu mir.“ Flora unterstrich diese Bemerkung durch einen mitfühlenden Blick.

In Hatties Magen breitete sich ein merkwürdiges Gefühl aus. „Warum?“

„Er meinte … das er es für das Beste hielte, wenn du und er …“ Sie unterbrach sich, als müsse sie nach der richtigen Formulierung suchen.

Durchbrennen? Das musste es sein! Welchen Grund sollte er sonst haben, im Vertrauen mit Flora zu reden? Er hatte höchstwahrscheinlich ihre Unterstützung angestrebt. „Durchbrennen?“, fragte sie. „… das Ganze nicht weiterverfolgen würdet“, sagte Flora im selben Moment.

Danach herrschte eine Weile Schweigen. Sogar Queenie hielt ihren Mund.

„Was?“, stieß Hattie schließlich hervor und blieb stehen. Das alles war ihr vollkommen unverständlich. Sie presste eine Faust gegen ihren Magen, um die Übelkeit niederzukämpfen, die plötzlich in ihr aufstieg. „Was … was hat … er … gesagt? Oder du?“, stammelte sie.

„Oh, Hattie, meine Liebe.“ Sie waren bis zum Eingang des Parks gekommen, und Flora zog sie zu einer Bank und zwang sie, sich hinzusetzen. Dann nahm sie Hatties Hände in ihre. „Es tut mir schrecklich leid, aber es gibt keine andere Möglichkeit, es auszudrücken, oder? Er will, dass du eure Verlobung abbläst. Sie beendest, meine ich. Er ist zu dem unglücklichen Schluss gekommen, dass es sein muss. Da er dir gegenüber aber größtmögliche Rücksicht walten lässt, möchte er deinen Ruf schützen, indem er es dir überlässt, ihm zu schreiben, um eure Vereinbarung aufzulösen.“

Das kam Hattie kein bisschen rücksichtsvoll vor – sie fühlte sich, als hätte sie ein Vierspänner überrollt. Ihr war nicht mal genug Luft geblieben, um nach dem Grund zu fragen. Es musste sich um ein Missverständnis handeln! Sie und Rupert waren auf bestem Weg in den Hafen der Ehe. Oder etwa nicht? Erst kürzlich hatte er ihre Familie kennengelernt und ihr noch am selben Abend versprochen, binnen einer Woche offiziell bei ihrem Vater vorzusprechen. Und dann war er zu Flora gegangen, statt zu ihr zu kommen? Nein, das konnte nicht sein.

Energisch erhob sie sich. „Du musst da was falsch verstanden haben, Flora.“

„Ach, Darling“, erwiderte Flora traurig.

„Aber es muss so sein! Das Ganze ergibt doch gar keinen Sinn!“

„Nun, ein bisschen Sinn ergibt es schon“, warf Queenie ein.

„Nein, tut es nicht“, widersprach Flora hastig und funkelte Queenie finster an. „Oder allerhöchstens vielleicht ein ganz winziges bisschen.“

„Am Sonntag war er zum Abendessen bei uns zu Hause!“, rief Hattie. „Heute ist Mittwoch! Was hätte denn zwischen Sonntag und heute passieren können?“

„Hmm“, machte Queenie und ging ein paar Schritte weiter, um so zu tun, als bewundere sie einen Rosenstrauch.

„Ich glaube“, begann Flora vorsichtig, „dass du dir, wenn du dir euer Sonntagsdinner noch mal gründlich vor Augen führst, möglicherweise mindestens einen Grund für diese Entwicklung vorstellen könntest. Vermutlich mehr als einen. Wahrscheinlich viele Gründe.“

Das Herz schlug Hattie bis zum Hals, und Hitze kroch in ihre Wangen, als sie sich an das Abendessen in ihrem Elternhaus erinnerte, das an der Blandford Street lag, ganz in der Nähe des mondänen Portman Square … oder, wie Flora mal gesagt hatte, auf der weniger mondänen Seite des Platzes, wo niemand wohnen wollte.

Aber Rupert hatte gesagt, es wäre ein schönes Haus. Er hatte ihrer Mutter eine Schachtel Pralinen mitgebracht, was Hattie ganz bezaubernd von ihm fand. „Ich fand, dass der Abend sehr gut verlief.“

Flora tätschelte ihr den Arm. „Nun … zum einen bereitete ihm ein gewisser Geruch Sorgen, den er speziell mit Katzen in Verbindung bringt.“

Überrascht schaute Hattie ihre Freundin an. Ja, ihre Mutter pflegte eine unvernünftige Zuneigung zu Katzen, aber das hatte sie Rupert erklärt. „Er sagte, dass er Katzen mag! Er sagte, dass er gar nicht wüsste, was er in seinem Laden ohne Bobo machen sollte.“

Wieder lächelte Flora mitfühlend. „Mag sein, aber ich glaube, es ist ein Unterschied, ob man eine Katze hat oder … wie viele sind es inzwischen?“

Hattie schluckte. „Acht.“ Vielleicht sogar … zehn? Offen gestanden, hatte sie den Überblick verloren. Und Rupert hatte ein wenig fassungslos gewirkt, als er die Eingangshalle betrat und sämtliche Katzen gleichzeitig auf ihn losstürzten, weil sie eine Leckerei erwarteten.

„Das ist noch nicht alles“, sagte Flora.

Wie sich herausstellte, nahm Rupert auch an der Teeservice-Sammlung ihrer Mutter Anstoß. Und an den Standuhren. Und den Schneiderbüsten. Zugegeben, es waren wahrscheinlich mehr als hundert Teeservices, was ohne die Standuhren und Schneiderbüsten vermutlich nicht so ins Auge gefallen wäre. Na schön, es stimmte – Theodora Woodchurch war eine über alle Maßen enthusiastische Sammlerin, und selbst ein so großes Haus wie das der Woodchurchs konnte klein wirken, wenn es mit derart vielen Sammlerstücken vollgestopft war.

Dieses Hobby war ein ständiger Streitpunkt zwischen ihren Eltern, da Mrs. Woodchurch das Geld mit beiden Händen zum Fenster rauswarf, während Mr. Woodchurch ein ausgesprochener Geizhals war.

Hattie war so froh gewesen, dass er beim Essen nicht die Frage aufgeworfen hatte, was die finanzielle Untergrenze wäre, die Mr. Masterson als Mitgift akzeptieren würde, dabei allerdings offenbar übersehen, wie geschmacklos es von ihrem Vater war, sich nach Mr. Mastersons monatlichem Gewinn zu erkundigen. Laut Flora war Mr. Masterson darob sehr bestürzt gewesen, da er fand, dass solche Gespräche unter Männern besser in die Privatsphäre eines Arbeitszimmers passten als an den Esstisch.

In Hatties Familie gab es kein Thema, das beim Essen als unhöflich galt. Kein einziges.

Ihr unvermittelter Herzschmerz begann, sich in unvermittelten Zorn zu verwandeln. Sie und Rupert hatten nie auch nur ein böses Wort miteinander gewechselt – sie hatte keine Ahnung gehabt, dass er derart entschiedene Ansichten über solche Dinge vertrat. Hattie war bewusst, dass ihre Familie ungewöhnlich war, aber als sie ihm das erklärte, hatte er ihr versichert, dass exzentrische Angehörige das Leben interessanter machten.

Außerdem fühlte sie sich gedemütigt, weil er all diese Ansichten Flora offenbart hatte. Flora war ihre Freundin! Schlimmer noch, Flora hatte ganz offensichtlich Ruperts Ansichten mit Queenie geteilt.

Um ein wenig Würde zu demonstrieren, straffte Hattie die Schultern. „Hat er noch mehr zu beanstanden? Oder ist die Tatsache, dass meine Mutter zu viele Katzen und Teekannen hat …“

„Er erwähnte deine Brüder“, fiel Flora ihr ins Wort.

Oh nein. „Welche?“

Flora blinzelte. „Nun, alle.“ Ihr Ton suggerierte, wie überflüssig sie diese Frage fand.

Hatties Herz wurde bleischwer. Das war es also.

„Er sagte, dass die jüngeren sich während des Essens lautstark um ein bestimmtes Stück Fleisch gestritten haben.“ Flora hob die Brauen, als könne sie gar nicht glauben, dass so etwas möglich sein könnte.

Es war nicht nur möglich, sondern ein regelmäßiger Vorgang. Die Zwillinge Peter und Perry waren zehn Jahre jünger als Hattie und, in Ermangelung eines passenderen Begriffs, unzivilisiert. Sie dachten sich nichts dabei, im Salon Ringkämpfe auszutragen oder einander mit Kricket-schlägern zu jagen. „Lass deine Brüder doch“, hatte ihre Mutter gesagt, wann immer Hattie sich über dieses wilde Betragen beschwerte. „Sie sind noch Kinder.“ Aber mittlerweile waren sie fast vierzehn und damit gewiss alt genug, um sich manierlich aufzuführen. Und ganz gewiss alt genug, um sich nicht wegen einer Putenkeule zu bepöbeln wie zwei mittelalterliche Kriegsherren.

Ihre Wangen waren jetzt hochrot.

„Und dein Bruder Mr. Daniel Woodchurch …“ Flora schaute unsicher zu Queenie hin, die geduldig wartend unter einem Baum in der Nähe stand, und senkte ihre Stimme zu einem hastigen Flüstern. „Ich würde das jetzt nicht sagen, wenn du nicht meine allerbeste Freundin wärst, das weißt du, aber sein verwegener Ruf eilt ihm voraus! Mr. Masterson sagte, dass er arg verspätet zum Essen reingeschlendert kam, von wer weiß woher, jedenfalls habe er nach Parfüm und Whisky gerochen. Und dann hätte dein Bruder gesagt, er könne sich nicht mal vorstellen, wie viele Stunden man in den Betrieb eines Gemischtwarenladens investieren müsste, und er verstünde nicht, warum jemand sich so was antun wollen würde.“

Hattie war ein bisschen übel. Ja, ihre Brüder waren lächerlich, das konnte sie nicht leugnen. Aber so langsam fragte sie sich, ob Rupert nicht noch lächerlicher war. Er besaß nicht mal den Mut, ihr diese Dinge ins Gesicht zu sagen.

Sie wusste besser als jeder andere, dass ihre Familie nicht einfach war. Aber sie hatte diesbezüglich von Anfang an reinen Tisch mit Rupert gemacht. Sie hatte ihm erzählt, dass die Zwillinge wild waren und Daniel noch wilder, auf andere Art. Sie hatte ihm erzählt, dass ihre Mutter wie besessen alles Mögliche sammelte und ihr Vater einen Igel in der Tasche hatte. Und war es nicht eigentlich das Wichtigste, dass keine dieser fragwürdigen Eigenschaften auf sie zutraf?

„Geht es dir gut?“, erkundigte sich Flora besorgt. „Du bist ganz blass und siehst aus, als ob du dich gleich übergeben müsstest.“

„Genauso fühle ich mich auch“, räumte Hattie mit schwacher Stimme ein. Noch immer konnte sie nicht glauben, was gerade passierte. Sie hatte bereits ihre Aussteuer geplant.

„Es tut mir so leid. Ich wollte nicht diejenige sein, die es dir mitteilt, und ich sagte zu Mr. Masterson, dass es doch sicher einen Weg für ihn gebe, es dir selbst zu übermitteln, aber er beharrte darauf, dass er, was dich betrifft, auch nicht den leisesten Anschein eines Skandals erwecken wolle, da er dir äußerste Hochachtung entgegenbringt.“

Hattie schluchzte erstickt auf.

„Wir sollten wirklich langsam mal weitergehen“, rief Queenie von ihrem Platz unter dem Baum.

Flora bedachte Hattie mit einem traurigen Lächeln. „Wenn du einen Moment Zeit hattest, über all das nachzudenken, wirst du feststellen, dass es gar nicht so ein großer Verlust ist. Ich weiß, dass Mr. Masterson sehr aufmerksam zu dir war. Aber er ist nun mal ein Kaufmann, Darling.“

Hattie stieß einen weiteren Schluchzer aus. Ruperts Stellung war ihr egal. Sie schätzte ihn, und ihre Position im Leben erlaubte ihr nicht, von einem Gentleman zu verlangen, eine bestimmte Tätigkeit auszuüben. Sie war weder hübsch wie Flora noch reich wie Queenie und hatte auch sonst nichts vorzuweisen, weder Erfolge noch Verbindungen. Sie betrachtete es als glückliche Fügung, dass er sie an jenem Tag, als sie seinen Laden betrat, überhaupt bemerkt hatte.

„Ich meine, du bist zu gut für einen Kaufmann“, fuhr Flora fort. „Du solltest einen Duke heiraten. Oder einen Viscount!“

„Flora …“

„Jetzt komm schon“, drängte ihre Freundin. „Du schreibst deinen Brief, in dem du die Verlobung absagst, und dann kaufst du dir ein, zwei neue Kleider für die Saison.“

Ein neues Kleid? Sicher war Flora aufgefallen, dass Hattie immer dieselben Sachen trug.

„Gehen wir jetzt endlich weiter?“, fragte Queenie ungeduldig.

„Kopf hoch, Liebes.“ Flora lächelte sie ermutigend an. „Wir besuchen sämtliche Partys der Saison und beäugen den santiavanischen Herzog. Das wird dich bestimmt aufmuntern, oder?“

„Nein“, erwiderte Hattie, entsetzt darüber, wie leichtfertig Flora das Ende ihrer Verlobung abtun konnte.

Und außerdem, was hatte sie mit einem santiavanischen Herzog zu schaffen?

2. KAPITEL

Es gab zu viele Menschen in London.

Und es gab zu viele Menschen in seinem Haus.

War es überhaupt sein Haus? Ehrlich gesagt, war sich Mateo Vincente diesbezüglich nicht ganz sicher. Er wollte nicht als unwissender Schwachkopf dastehen, weil er das nicht wusste, aber er hatte bislang noch nicht alle Unterlagen über die Besitztümer und Vermögenswerte des verstorbenen Viscount Abbott durchgesehen und musste noch viel über das Anwesen lernen, das seinem englischen Großvater gehört hatte – ein riesiges Gebilde aus Investitionen und Teileigentum. Zudem war er vollkommen vor den Kopf geschlagen von einem äußerst vertrackten Handel über einige Schafe, bei dem es offenbar zu heillosen Verwirrungen zwischen dem Anwesen des Viscount und dem Schäfer gekommen war.

Nach gerade mal zwei Wochen in England wusste Mateo eigentlich nur zwei Dinge zweifelsfrei. Erstens, dass dieses sehr große Haus mitten in London lag, in der Nähe des grandiosen Hyde Parks, und über einen schönen, wenngleich winzigen Garten verfügte, in welchem er sich in diesem Moment aufhielt, um dem Lärm im Haus zu entkommen.

Und zweitens, dass er sich jeden Tag inbrünstig wünschte, wieder zu Hause in Santiava zu sein, im Castillo Estrella, einem Schloss in den Bergen, wo er lebte, seit er vor sechs Jahren Herzog geworden war.

Die Zeitungen bezeichneten ihn als ermitaño. Als Einsiedler. Manche nannten ihn auch verrückt. Ein gewisser Gentleman, der als besonders produktiver Mitarbeiter der santiavanischen Presse hervorstach, behauptete, Mateo sei ein Einfaltspinsel, den seine Mutter vor der Welt verborgen hielt, um an seiner statt regieren zu können.

Nichts davon stimmte. Allerdings traf es zu, dass er seine eigene Gesellschaft jener der Welt vorzog.

England kam ihm fremd vor. Seine Mutter war Engländerin, doch England selbst war für ihn immer weit weg gewesen und ohne Belang für das ruhige Leben, das er in Santiava führte. Dann war sein Großvater gestorben, ohne einen männlichen Erben zu hinterlassen, und sein Vermögen und Titel waren über seine Tochter, Mateos Mutter, auf Mateo übergegangen. Was vermutlich bedeutete, dass dieses Haus und der Rest des Grundbesitzes sowie alles andere in dem dicken Aktenordner, den ihm der sehr hilfsbereite und rundliche Mr. Callum zur Verfügung gestellt hatte, nun ihm gehörte.

Viscount Abbott. Ein sehr englischer Name und Titel für einen nicht mal ansatzweise englischen Mann.

Mateos Mutter, Elizabeth Abbott Vincente, la duquesa viuda de Santiava, war siebzehn gewesen, als sie seinen Vater heiratete. Mit achtzehn hatte sie ihn zur Welt gebracht, in den Jahren darauf seinen Bruder Roberto und seine Schwester Sofia. Den Großteil ihres Ehelebens hatte sie in Santiava verbracht. Zwar reiste sie regelmäßig nach England, um ihre Eltern zu sehen, nahm ihre Kinder aber nur gelegentlich mit. Mateo erinnerte sich daran, wie sein Großvater von Königin Victoria mit dem Hosenbandorden geehrt wurde, er selbst war damals ungefähr zwölf gewesen. Doch nicht die erlauchte Zeremonie war ihm von diesem Besuch im Gedächtnis geblieben, sondern der schreckliche Streit, den seine Mutter mit ihrem Vater hatte, auf Englisch und so erschreckend schnell, dass er kaum folgen konnte. Kurz darauf war die Herzogin mit ihren Kindern aus England abgereist.

Danach hatte er seinen Großvater nur noch einmal gesehen.

Soweit er wusste, hatte seine Mutter das Verhältnis zu ihrem Vater nie mehr gekittet. Wie die Mutter, so der Sohn. Auch Mateos Beziehung zu seinem Vater war von Missverständnissen und Verbitterung geprägt gewesen. Er glaubte, ganz gut nachempfinden zu können, wie seine Mutter sich jetzt fühlte, nachdem ihr Vater nicht mehr da war. Nicht, dass sie willens gewesen wäre, darüber zu sprechen. „Die Vergangenheit ist tot und begraben, Teo“, würde sie sagen.

Er wünschte, er könnte das genauso sehen. Der Tod seines Vaters lag nun sechs Jahre zurück, aber unglücklicherweise war die Vergangenheit für ihn noch immer sehr lebendig.

Seine Mutter war ihm keine große Hilfe. Sie war sechsundvierzig Jahre alt, ihre Erinnerungen an das Abbott-Anwesen entsprechend nebelhaft. Doch selbst, wenn die Ankunft in England ihr Gedächtnis aufgefrischt haben sollte, wäre sie viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, Gäste zu empfangen oder Besuche zu machen, als dass sie ihn hätte unterstützen können. Ja, hin und wieder platzte sie in sein Arbeitszimmer, um ihn dafür zu tadeln, dass er sich nicht ordentlich ernährte (was er tat) oder eine Einladung abgelehnt hatte (was mehrfach vorgekommen war). Doch im Großen und Ganzen verbrachte sie ihre Zeit mit ganzen Wagenladungen von Frauen in farbenfrohen Gewändern und teuren Hüten und überließ es ihm, sich um die Angelegenheiten rund um den Nachlass ihres verstorbenen Vaters zu kümmern.

Selbst jetzt vernahm er Stimmen, die durch die geöffneten Fenster ihres Salons in den Garten drangen. Fröhliche, zwitschernde Stimmen. Dios ayúdame.

Es war ein mustergültiger kleiner Garten. Dutzende Rosensträucher säumten den Pfad, der vom Haus herführte. Die Hecken, die dieses winzige Stückchen Paradies vom Rest Londons abschirmten, waren sorgfältig in Form gebracht worden. Und wenn man durch eine Art Torbogen schritt, der in das Gebüsch geschnitten worden war, erreichte man einen noch kleineren privaten Garten mit einem zierlichen Springbrunnen und einer Bank, auf der man lesen oder einfach ein paar Minuten die Augen schließen konnte.

Oder etwas Gebäck genießen. Er hatte sich einen Teller voll davon mit in den Garten genommen.

Die süßen Teilchen hatte er eigenhändig gebacken. Das war noch so ein kleiner Teil seiner Vergangenheit, der in ihm weiterlebte. Sein Vater hatte zwar stets darauf beharrt, dass kein Herzog oder englischer Viscount, der auf sich hielt, jemals Kuchen backen würde, doch ironischerweise war er selbst im weitesten Sinne für Mateos Interesse am Backen verantwortlich. Er hatte ihn und seine Geschwister als Kinder einfach zu oft allein gelassen.

In eher praktischer Hinsicht hatte Mateo das Backen von Rosa gelernt – korrekt betitelt als Señora de Leon –, die bei Mateos Familie gewesen war, solange er denken konnte. Wann immer seine Eltern nach Madrid, Sevilla oder Paris reisten, versammelte Rosa ihn und seine Geschwister um sich wie Küken. Sie las ihnen Geschichten von santiavanischen Rittern und Edeldamen vor, von Piraten und heldenhaften Kapitänen. Sie ermutigte sie dazu, sich ein Leben jenseits des Palasts und der Burgmauern auszumalen.

In jenen Jahren hatte Mateo seiner Fantasie freien Lauf gelassen. Er hatte in den Bergbächen gefischt und in den Wäldern gejagt. Zusammen mit seinem Bruder hatte er inmitten der Wildnis eine Festung errichtet, die der berüchtigten Fuerta del Monte Parson nachempfunden war, die auf einer großen Klippe über dem Meer stand und von der aus die kleine santiavanische Armee im Unabhängigkeitskrieg die westlorianische Flotte in Schach gehalten hatte.

Mateo mochte Militärgeschichte und hatte im Laufe der Jahre viele Bücher dazu gesammelt. Auch dieses Hobby hielt sein Vater für Zeitverschwendung. „Derlei Studien mögen in früherer Zeit sinnvoll gewesen sein“, pflegte er zu sagen. „Aber heutzutage sind sie nutzlos. Wir sind nun seit mehr als fünfzig Jahren unabhängig. Beschäftige dich lieber mit Wirtschaftsverkehr. Oder Politik. Alles ist besser als alte Kriegsgeschichten.“

Mateo hingegen hielt seine Studien für ausgesprochen nützlich. Man konnte viel daraus lernen, wie die großen Schlachten geschlagen, gewonnen oder verloren worden waren. Für ein kleines Herzogtum wie Santiava war ein gewisses Maß an Gerissenheit erforderlich, um sich gegen Bedrohungen durch viel größere Länder wie Spanien, Frankreich und Westloria zu schützen. Wer wusste schon, wann diese Kenntnisse sich wieder als hilfreich erweisen würden.

Mit Mateos Interesse an Astronomie hatte sein Vater ebenfalls nichts anfangen können. Als er mit neun Jahren von einem Onkel ein Teleskop geschenkt bekam, war er so fasziniert gewesen, dass er seine eigenen Himmelskarten anfertigte und an die Wand heftete.

„Wolkenkuckucksheim“, hatte sein Vater abfällig kommentiert.

Die santiavanischen Zeitungen witterten die Enttäuschung des Herzogs über seinen Erben, was zusätzlich für Druck gesorgt hatte. Sie mokierten sich über Mateos Aussehen – als Junge war er dünn gewesen. Sie schrieben, er wirke schwach. Bei den Gelegenheiten, bei denen er gezwungen war, sich öffentlich zu äußern, hatte er so viel Angst vor der Missbilligung seines Vaters, dass er sich unweigerlich verhaspelte und die Zeitungen die Frage aufwarfen, ob er womöglich ein Einfaltspinsel sei. Daher war Mateo dazu übergegangen, in der Öffentlichkeit so wenig wie möglich zu sagen.

Seine ganze Kindheit über hatte er vergeblich versucht, es seinem Vater recht zu machen. Rosa war die einzige erwachsene Person in seinem Leben, die ihn stets so akzeptiert hatte, wie er war.

Aktuell waren Rosa und er dabei, ihre miguelitos zu perfektionieren, ein Gebäck, bei dem ein Dutzend hauchdünner Teigscheiben zu zarten Kissen geschichtet werden mussten, die dann mit Schokolade gefüllt wurden. Delicioso. Selbstverständlich hatte Mateo darauf bestanden, dass Rosa Teil seines Gefolges nach England war. Er beabsichtigte keineswegs, auf sein Hobby zu verzichten, nur, weil er jetzt ein britischer Viscount war.

Er nahm ein süßes Gebäckstück von seinem Teller, biss hinein und schloss genüsslich die Lider. Die feinen Schichten aus buttrigem Blätterteig schmiegten sich angenehm an seine Zunge, und die Schokolade schmolz in seinem Mund. Das war sein bester Versuch bislang. Mateo öffnete die Augen und überlegte gerade, welches miguelito er als Nächstes kosten sollte, als die Stimme seiner Mutter ihn so heftig zusammenzucken ließ, dass der Teller zu seinen Füßen auf dem Rasen landete, mit der Rückseite nach oben. Eine Sekunde starrte er auf die Bescherung, dann hob er den Blick zur Herzogin, die gänzlich unangemeldet in sein kleines privates Paradies hineingeplatzt war.

Sie schaute auf den Teller, dann auf ihn. „Sag nicht, dass du dich schon wieder damit abgibst.“

„Brauchst du irgendwas?“, fragte er und erhob sich.

Dich brauche ich, Darling. Ich habe schon überall nach dir gesucht. Nicht mal Señor Pacheco wusste, wohin du verschwunden bist!“ Sie klang verärgert über seinen Kammerdiener, aber Pacheco war ein kluger Mann, der gegenüber der Herzogin oft Ahnungslosigkeit vorgab.

„Ich wollte einfach einen Moment Ruhe und Frieden haben, Mami.“ Mateo beugte sich vor, um das am Boden verstreute Gebäck wieder auf den Teller zu legen. „Es fällt mitunter schwer zu denken bei all dem Lachen und Singen aus deinem Salon.“ Er stellte den Teller auf die Bank und schaute seine Mutter forschend an. „Ist alles in Ordnung?“

„Ja, alles ist gut, Teo, aber uns läuft die Zeit davon.“

„In welcher Hinsicht?“

„Du weißt doch, dass Señora Martinez und ich bald nach Paris aufbrechen.“

Si.“ Er wusste es nicht nur, er zählte die Tage, bis es soweit war.

„Und du wurstelst dich noch immer durch diese Nachlassangelegenheiten.“

Durchwursteln. Das war eine seltsame Beschreibung für etwas derart Langweiliges – und Langwieriges – wie seine derzeitige Beschäftigung. Mateo sprach fließend Spanisch, Französisch und Englisch. Doch beim Lesen und Schreiben war er nicht gleich gut in allen drei Sprachen, und am schwächsten war diesbezüglich seine Beherrschung des Englischen, das er zum Teil im geschriebenen Wort äußerst verwirrend fand, weil es so viele gleich klingende Worte mit unterschiedlicher Bedeutung gab. Hinzu kam, dass die Handschrift seines Großvaters so winzig war, dass er eine Lupe brauchte, um sie zu entziffern, was den Fortschritt seiner Arbeit signifikant behinderte.

„Ich wurstele mich nicht durch. Du magst es vergessen haben, aber der Besitz der Abbotts ist groß und die Vermögensverhältnisse sind ziemlich verzwickt.“

„Mag sein, aber wenn du nicht bald mit deiner Sichtung fertig bist und ein paar Entscheidungen triffst, werden sie uns nach Strich und Faden übers Ohr hauen, wenn sie es nicht schon getan haben.“

Qué?“ Wovon redete sie? „Wer? Mr. Callum?“ Das war der Vermögensverwalter.

„Ach, fast hätte ich vergessen, warum ich hergekommen bin“, sagte sie, ohne weiter auf ihre so nebulöse und unbegründete Anschuldigung einzugehen. „Ich werde eine Abendgesellschaft geben.“

Das war nichts Neues. Sie schien jeden zweiten Tag so etwas zu veranstalten. Hin und wieder gelang es ihr, ihn zur Teilnahme zu zwingen, doch im Allgemeinen zog er es vor, in seinen Räumlichkeiten zu speisen, um nicht die Rolle der neuesten gesellschaftlichen Sensation spielen zu müssen. „Was hat das mit mir …“

„Und ich möchte, dass du jemanden kennenlernst.“

Mateo stöhnte auf und musterte seine dunkelhaarige, blauäugige, gertenschlanke Mutter mit allem gebotenen Argwohn. Sie hatte diese Angewohnheit, ihn mit allen möglichen Dingen gleichzeitig zu konfrontieren. Dingen, die nichts miteinander zu tun hatten, ihn aber so weit aus dem Konzept brachten, dass sie ihm etwas besonders Unangenehmes unterjubeln konnte.

„Jetzt guck nicht so mürrisch, Teo. Es handelt sich doch nur um Lady Lila Aleksander aus Dänemark.“

Perdóname“, grollte eine männliche Stimme dazwischen.

Mateo und seine Mutter drehten sich zu dem grünen „Torbogen“ um, in dem der Familienbutler Borerro aufgetaucht war. Er verbeugte sich. „Ihre Gäste sind eingetroffen, Señora.“

„Was, jetzt?“ Mateo funkelte seine Mutter finster an.

„Oh, Mateo“, sagte sie und stieß einen Seufzer aus, der vor Enttäuschung geradezu vibrierte.

Er war fast neunundzwanzig Jahre alt, Oberhaupt eines Herzogtums, und es erstaunte ihn immer wieder, dass seine Mutter nach wie vor Gründe fand, von ihm enttäuscht zu sein.

„Du musst selbstbewusster sein“, fügte sie hinzu.

Was zum Teufel redete sie da? Sein Problem war nicht mangelndes Selbstvertrauen, sondern …

„Elizabeth? Wohin hat es Sie denn verschlagen?“ Eine Frau mittleren Alters und ein Gentleman kamen durch den Bogen und quetschten sich neben Borerro in den kleinen ummauerten Bereich.

„Vielen Dank, Borerro“, sagte seine Mutter und winkte ihren Gästen zu. „Kommen Sie nur herein. Unser Garten ist klein, aber angenehm.“

„Er ist sehr schön“, erwiderte die Frau. Sie schien um die fünfzig zu sein, hatte eine füllige Figur und graumeliertes Haar. Ihr Lächeln war warm und herzlich, als ob sie eine lange vermisste Cousine begrüßte. Der Gentleman war ebenfalls in mittleren Jahren und trug, wie es der herrschenden Mode entsprach, einen dichten Schnurrbart. Mateo erinnerte sich an ihn – er hatte ihn auf einem Empfang gesehen, den Mr. Gladstone, der englische Premierminister, zu Mateos Ehren gab.

Was hatten diese beiden bloß mit ihm zu schaffen? Vermutlich wollte seine Mutter, dass er irgendeine Schirmherrschaft übernahm.

Die Frau richtete ihre Aufmerksamkeit jetzt auf ihn. „Euer Gnaden!“, trällerte sie. „Welch ein Vergnügen, Ihre Bekanntschaft zu machen. Oder sollte ich Sie Don Santiava nennen? Ich weiß nicht, was angemessener ist.“

„Teo“, seine Mutter legte ihm eine Hand an den Arm. „Darf ich dir Lady Lila Aleksander von Dänemark vorstellen?“

Unwillkürlich versteifte Mateo sich. Das Ganze begann sich anzufühlen wie ein Überfall.

„Und den Earl of Iddesleigh“, fügte seine Mutter hinzu.

„Beck“, sagte der Gentleman, kam näher und streckte Mateo seine rechte Hand entgegen. „Alle nennen mich Beck. Ich nehme an, Iddesleigh kommt einem nicht so leicht über die Zunge. Bitte nennen Sie mich ebenfalls Beck.“ Er lächelte. „Es ist mir eine Freude, Sie wiederzusehen, Mylord.“

Widerstrebend trat Mateo auf den Mann zu und ergriff die dargebotene Hand.

„Ich finde, Mylord, wenn ich meine Meinung dazu äußern darf“, fuhr Beck fort, während er ihm die Hand schüttelte, „dass Sie sich, da Sie in England sind, um den Titel eines Viscount anzunehmen, vielleicht als Mylord anreden lassen sollten. Was denken Sie?“

Mateo dachte, dass es ihm vollkommen gleichgültig war, wie die beiden ihn anredeten, und glaubte naiverweise, sie nach dieser kurzen Begegnung nie wieder sehen zu müssen. „Entschuldigen Sie uns bitte einen Moment.“ Er packte seine Mutter am Ellbogen und zog sie außer Hörweite der Besucher. „Mami …“

„Lady Aleksander ist hier, um uns zu helfen“, fiel seine Mutter ihm flüsternd ins Wort.

„Mir ist ganz egal, ob sie hier ist, um meine Schuhe zu putzen …“

„Teo, mi amor.“ Sie legte ihm eine Hand an die Wange. „Du bis der regierende Herzog von Santiava und jetzt auch noch ein Viscount.“

„Was hat das …“

„Und da du mehrere Wochen in London verweilen wirst – vielleicht sogar länger, wenn man bedenkt, wie langsam zu arbeitest –, ist jetzt genau die richtige Zeit.“

Tiempo para qué?“ Unwillkürlich wechselte er ins Spanische.

„Um eine passende Partie zu finden! Die Saison fängt gerade an, das ist die ideale Gelegenheit.“

Mateo war wie vom Donner gerührt. Er konnte nicht glauben, dass seine Mutter das Thema seines Junggesellenstatus hier in seinem Garten ansprach. Verstohlen schaute er über die Schulter zu ihren „Gästen“, die offenbar die miguelitos, die er auf den Boden geworfen hatte, für sich entdeckt hatten. Dann starrte er wieder seine Mutter an. Er konnte das Grollen in seiner Brust spüren, die aufsteigende Wut, von ihr genötigt zu werden. „Du hast kein Recht …“

„Ich habe jedes Recht. Ich bin deine Mutter. Teo, du brauchst eine Ehefrau.“ Sie sprach schnell und ließ ihren Blick an ihm vorbei zu den Besuchern wandern. „Selbst dir müsste doch eigentlich klar sein, dass der Mangel eines Erben für Unruhe sorgt.“

Der Zorn entzündete sich. „Ich bin mir meiner Verantwortung bewusst“, zischte er.

Tatsächlich?“, gab sie zurück. „Du wirst deiner künftigen Braut wohl kaum in der Klausur deiner Studierstube begegnen. Daher wird Lady Aleksander dir auf die Sprünge helfen. Sie ist eine alte Freundin von mir und sehr gut in diesen Dingen.“

Mateo war so angespannt wie eine aufgezogene Feder. Nicht ausgeschlossen, dass er gleich ohne die geringste Provokation hier in diesem Garten explodieren würde. Seine Mutter hatte sich schon immer in alles eingemischt, aber das hier war nun wirklich ungeheuerlich. „Ich werde nicht …“

Unvermittelt ging seine Mutter auf Abstand. „Lady Aleksander“, rief sie. „Wären Sie so freundlich, meinem Sohn die Dienstleistung zu erklären, die Sie anbieten?“

„Selbstverständlich!“ Lady Aleksander wischte sich Kuchenkrümel von den Händen und kam näher. „Meine Dienstleistung besteht darin, Menschen zusammenzubringen. Genauer: Männer und Frauen. Ich helfe einer ganz bestimmten Klientel, passende Partien zu finden, und muss sagen, dass ich ziemlich viele Erfolge vorweisen kann, speziell bei den royalen und aristokratischen Familien Europas. Das stimmt doch, nicht wahr, Becks?“

„Unbedingt“, versicherte er mit vollem Mund. Er schluckte seinen Bissen hinunter. „Die Königin von Westloria, deren Schwester, die Duchess of Marley. Meine eigene Schwester hat einen Prinzen von Alucia geheiratet. Soll ich fortfahren?“

Seine Mutter hatte ihn in einen Hinterhalt gelockt. Wenn Mateo nicht so wütend gewesen wäre, hätte er sie womöglich dafür bewundert, wie elegant sie ihn in dieser heiklen Angelegenheit ausmanövriert hatte. Natürlich war es nicht das erste Mal, dass sie das Thema Heirat zur Sprache brachte – sie redete ständig darüber. Aber er hatte angenommen, dass die Herzogin ihm gestatten würde, hier in England zu erledigen, was zu erledigen war, bevor sie ihre diesbezüglichen Attacken wiederaufnahm.

Doch sie hatte ihn kalt erwischt. Und was empfahlen Militärstrategen, wenn man in einen Hinterhalt geriet? Den Rückzug.

Er zog sich ins Schweigen zurück. Das hatte er schon als Junge gelernt – es war besser zu schweigen als den Mund aufzumachen und festzustellen, dass jeder Gedanke, den man hatte, der falsche war. Damals hatte er auf bittere Art erfahren, dass falsche Gedanken zwangsläufig der Lächerlichkeit preisgegeben wurden, vor allem in der Öffentlichkeit.

„Du kannst nicht leugnen, dass es höchste Zeit ist“, fuhr seine Mutter fröhlich fort, ohne auch nur einen Anflug von Scham zu zeigen. „Nun, Teo, ich …“

Er hob eine Hand, um ihr Einhalt zu gebieten.

Jedes Mal, wenn sie dieses Gespräch geführt hatten, hatte er ihr erklärt, sie müsse ihm nicht vor Augen führen, dass es seine Pflicht war, sich um die Fortpflanzung zu kümmern. Das war ihm sehr wohl bewusst, und ehrlich gesagt hätte er auch nichts dagegen. Manchmal war er einsam mit seinem Titel und in seinem Haus. Aber da es ihm nicht gegeben war, charmant zu sein, und er mit einer mitunter geradezu lähmenden Schüchternheit kämpfte, hatte er bislang nicht viel Glück gehabt. Ihm war klar, dass er sich unter Menschen unbeholfen verhielt. Auf Partys fühlte er sich seltsam fehl am Platz, wenn alle ihn kennenlernen wollten. Unverbindliches Plaudern lag ihm überhaupt nicht. Teo zog ruhige Abende lauten Veranstaltungen vor und würde seine zukünftige Ehefrau gerne zu seinen eigenen verdammten Bedingungen kennenlernen.

Doch leider schienen die jungen Damen, die er bislang kennengelernt hatte – und die als passende Partien galten –, ihn nie besonders zu mögen. Und den Frauen, die er aus niedereren Beweggründen traf, war es egal, ob er redete oder nicht.

Kurz gesagt, er war noch nie einer Frau begegnet, die irgendwas mit ihm anfangen konnte, und das schloss seine eigene Mutter mit ein.

Verzweifelt überlegte er, wie er diese unerfreuliche Konversation beenden könnte, doch die Herzogin kam ihm zuvor, weiter ihren Plan verfolgend. „Wollen wir zum Tee hineingehen?“ Sie hakte sich bei ihm unter. „Dann können wir diese Diskussion fortsetzen.“

„Ich hoffe, Sie haben noch mehr von diesen köstlichen Küchlein“, bemerkte Lady Aleksander.

Mateo hätte den Besuchern sagen können, dass diese Küchlein vom Rasen aufgesammelt worden waren, aber er war zu sehr damit beschäftigt, sich in sein Schneckenhaus zu verkriechen, den Zorn auf seine Mutter zu verdrängen und sich vor einem Gespräch zu fürchten, von dem er nicht wusste, wie er es kontrollieren sollte.

3. KAPITEL

Seit Jahren vermutete Hattie, dass ihr Vater schon ihr ganzes Leben lang versuchte, sie zum Wahnsinn zu treiben, und heute könnte ihm das gelingen. In diesem Moment stapfte er Katzen aufscheuchend und Schneiderpuppen umkippend durchs Haus, auf der Suche nach seinem Lieblingsgehstock. „Der mit dem geschnitzten Falkenkopf aus Fischbein“, brüllte er seiner Frau zu, die sich pflichtbewusst durch die überall aufgestapelten Objekte wühlte.

Hattie schaute auf die Uhr, die an ihrem Kleid befestigt war. „Wir kommen zu spät“, warnte sie. Das wäre ihrer Ansicht nach eine unverzeihliche Sünde – schließlich lud einen der Earl of Iddesleigh nicht jeden Tag zum Tee ein, und wenn er es schon mal tat, wollte man ja wohl nicht so unhöflich sein und sich verspäten. „Er schert sich nicht um deinen Gehstock“, rief sie und schob eine Katze weg, die sich an ihrem Rock rieb.

„Ah, da haben wir ihn ja.“ Ihr Vater kam in die Eingangshalle, samt Gehstock, den er Hattie stolz unter die Nase hielt. „Der wird dem Earl gefallen. Ich bin sicher, er hat noch keinen feineren gesehen.“

Hattie würdigte den Stock keines Blicks. „Können wir jetzt bitte aufbrechen?“

Sie war wütend, dass ihr Vater darauf bestanden hatte, sie zu begleiten. Ihre Zufallsbegegnung mit Lord Iddesleigh war das Beste, was ihr während der zwei Wochen, seit sie Rupert Masterson die Freiheit zurückgegeben hatte, passiert war, und sie wollte nicht, dass ihr Vater ihr die Freude verdarb.

Er würde sie ihr garantiert verderben.

Nachdem sie Rupert den Brief geschickt hatte, den Flora auf seinen Wunsch hin bei ihr in Auftrag geben sollte, hatte er postwendend geantwortet, um ihr zu versichern, dass es die richtige Entscheidung war, und ihr alles Gute zu wünschen. Das war alles. Kein Wort über die Monate seines Werbens oder die Zeiten, als Hattie ihm im Laden geholfen hatte. Keine Silbe zu den Plänen, die sie gemeinsam gemacht hatten, keine Erklärung, wie er sich so leicht aus dieser Vereinbarung zurückziehen konnte. Wieso war es so einfach für ihn und so schwer für sie?

Der anfängliche Schock hatte sich gelegt. Es gab vereinzelte Phasen, in denen ihr das Ende ihrer Verlobung wie ein Traum vorkam, aber an den meisten Tagen war sie zornig, weil Rupert sich als solcher Feigling erwiesen hatte – und erbittert darüber, dass ihre Familie zu einem derart eklatanten Problem für sie geworden war.

Mehr als einmal hatte sie sich auf der Straße gegenüber von „Masterson Kurz- und Gemischtwaren“ wiedergefunden, mit dem dringenden Bedürfnis, ihn zu konfrontieren und ins Gesicht zu schlagen, so, wie sie es bei den Boxern in der Sporthalle gesehen hatte, in die Daniel sie unbedingt mitschleppen wollte. Doch hauptsächlich schmorte sie aufgebracht vor sich hin.

Und schmorte.

Und schmorte.

Was sie so verdammt wütend auf die Welt im Allgemeinen machte, war die Tatsache, dass sie alles getan hatte, was sie tun musste, um einen guten Heiratsantrag zu bekommen. Sie war sittsam und tüchtig gewesen, hilfsbereit und niemals streitsüchtig. Sogar bei den seltenen Gelegenheiten, wenn Rupert etwas so unfassbar Dummes von sich gab, dass ihr praktisch die Augen tränten, hatte sie brav den Mund gehalten. Sie war ihm in seinem Laden zur Hand gegangen! Dass er sie nun trotzdem abservierte wie einen nutzlosen alten Hund, machte ihr nicht nur schwer zu schaffen, es schürte auch ein tiefes, tiefes Misstrauen allen männlichen Wesen gegenüber.

Doch in einem war sich Hattie ganz sicher. Nie wieder würde sie ihr Verhalten an irgendeinem gesellschaftlichen Ideal ausrichten. Und schon gar nicht ihre Gedanken. Oder ihre Worte. Oder ihre Persönlichkeit. Wenn es Rupert Masterson derart leicht viel, seine Verlobung mit ihr aufzugeben, dann waren ihre grundsätzlichen Heiratsaussichten ohnehin ziemlich düster, und sie sah keinen Sinn darin, sich weiter zu verbiegen.

Sie hatte gerade mal wieder auf der anderen Straßenseite von Ruperts Laden gestanden und sich vorgestellt, wie sie weit ausholen ihm ihre Faust direkt in Gesicht rammen würde, als der Earl of Iddesleigh sie vor einem schrecklichen Fehler bewahrte. Hattie war bereits mit einem Fuß auf der Fahrbahn gewesen, nachdem sie endlich den Mut aufgebracht hatte, sich dem elenden Feigling entgegenzustellen, als sie hörte, wie jemand ihren Namen rief. Als sie sich umdrehte, sah sie, dass Lord Iddesleigh und seine älteste Tochter Mathilda sich ihr näherten. Sekunden später veränderte der Earl auf beiläufige Art den Kurs ihres Lebens.

Zum zweiten Mal.

Wenn man an Schutzengel glaubte, dann war der Earl of Iddesleigh definitiv Hatties. Als er sie zum ersten Mal rettete, war sie vierzehn Jahre alt gewesen und so erbost über den grundlosen Geiz ihres Vaters, dass sie losgezogen war, um sich Arbeit zu suchen. Ihr schwebte so etwas wie Buchhalterin oder Sekretärin vor. Irgendwas Respektables, aber ohne Kinder. Sie klopfte damals an die Tür der Londoner Residenz des Duke of Marley, da sie gehört hatte, dass er reich war – ein Gerücht, dass durch die feine Adresse in Mayfair bekräftigt wurde. Sie dachte, es wäre besser, einen reichen Mann um Arbeit zu bitten als einen armen.

Wie naiv sie doch gewesen war! Für vierzehnjährige Mädchen gab es keine Arbeit, die nichts mit dem Entleeren von Nachttöpfen, dem Schrubben von Fußböden oder eben Kindern zu tun hatte. Doch zufällig waren an jenem Tag außer dem Duke auch Lady Marley und ihr Freund Lord Iddesleigh anwesend, und beide zeigten großes Interesse an Hattie. Lord Iddesleigh kannte ihren Vater, und es gelang ihm irgendwie, den berüchtigten Hugh Woodchurch dazu zu überreden, seine Tochter nach Devonshire auf die Iddesleigh-Schule für außergewöhnliche Mädchen zu schicken.

Mit einem Stipendium, wie sie später erfuhr. Finanziert von Lady Marley.

Diese Schule hatte Hatties Leben verändert. Sie lernte dort etwas über die Welt jenseits ihres vollgestopften Zuhauses. Sie lernte etwas über Mathematik und Wissenschaft und Kunst. Und erwarb nützliche Fähigkeiten, die sie nutzen konnte, um eine Anstellung zu finden. Sie entwickelte Selbstbewusstsein und wie man für sich einstand – in einer Schule, die bis unters Dach mit Mädchen gefüllt war, ging es ums Überleben der Stärksten. Hattie war wild entschlossen, ihren Platz dort zu behaupten und erst dann nach Hause zurückzukehren, wenn es sich absolut nicht vermeiden ließ.

Das war der Fall gewesen, als sie ihren Abschluss in der Tasche hatte und nirgends anders hingehen konnte.

Es war etliche Jahre her, seit sie seine Lordschaft zuletzt gesehen hatte, aber er schien ehrlich entzückt, sie zu treffen, erkundigte sich angelegentlich nach ihrem Leben und fragte nach ihrer Familie. Und dann musterte er sie nachdenklich. „Ist Ihre Handschrift immer noch so tadellos wie zu Ihrer Schulzeit?“

Hattie hatte gelacht. „Wie merkwürdig dass sie sich daran erinnern. Aber ja, ich glaube schon.“

„Ich kenne nämlich jemanden, der dringend eine ausgezeichnete Handschrift benötigt.“

„Jemand braucht eine Handschrift?“, warf Lady Mathilda ein. „Wie kann man denn eine Handschrift benötigen?“

„Wenn die eigene Schreibkunst zu wünschen übrig lässt, was du, mein Schatz, doch gewiss nachvollziehen kannst.“

Lady Mathilda stöhnte entnervt und wandte den Blick ab.

Auch Hattie hatte noch nie von einem solchen Anliegen gehört, doch ein paar Tage später schickte der Earl eine Nachricht, in der er sie zum Tee einlud. Er schrieb, er habe eine Offerte, die sie interessieren könnte. Die Nachricht war nur an sie adressiert gewesen, doch im Überschwang ihrer Begeisterung hatte Hattie den Fehler gemacht, ihren Eltern davon zu erzählen. Wurde sie denn niemals klüger?

Ihr Vater, ein kleiner, drahtiger Mann mit Augen wie ein Habicht, hatte sich so abrupt aufgesetzt, dass er ein paar schlafende Katzen aufschreckte, die von der Stuhllehne sprangen und dabei einen Korb voller Garnrollen umkippten.

„Tee mit einem Earl!“, hatte ihre Mutter ausgerufen. „Ich will auf der Stelle erfahren, welchen Unfug du getrieben hast, um eine solche Einladung zu ergattern!“

„Unfug?“, wiederholte Hattie perplex. „Es ist eine Einladung zum Tee, Mama.“

Ihre Mutter war mollig und oft lethargisch, vor allem nachmittags, wenn sie ihren Sherry getrunken hatte. Sie lag ausgestreckt auf einer Chaiselongue, aber Hatties Neuigkeit hatte sie belebt. Mit einer achtlosen Bewegung schob sie die drei Katzen beiseite, die sich an sie schmiegten. „Du wirst nicht zu diesem Tee gehen, ohne dass dich jemand begleitet, Harriet. Das erlaube ich nicht.“

„Ich komme mit“, sagte ihr Vater sofort. „Ich würde mir gern mal Iddesleighs Haus anschauen. Man sagt, er sei ein reicher Mann, und ich möchte wissen, ob das stimmt.“

Ihre Mutter wedelte geringschätzig mit der Hand. „Man behauptet immer, dass die Earls reich sind. Nach dem, was ich so höre, sind die meisten von ihnen in Wahrheit arm wie die Kirchenmä...

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