Julia Ärzte zum Verlieben Band 202

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KANN EIN KUSS EIN FEHLER SEIN? von KATE MACGUIRE

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  • Erscheinungstag 05.04.2025
  • Bandnummer 202
  • ISBN / Artikelnummer 9783751533478
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Kate MacGuire

1. KAPITEL

Weiße Strände, so weit das Auge reichte. Eine Kajak-Tour am frühen Morgen. Ein eleganter Abend in der weltberühmten Oper in Sydney.

Charlotte blätterte durch ihren Social-Media-Feed. Ihre Freunde meinten es nicht böse, aber jedes Foto des fantastischen Australienurlaubs war wie ein kleiner Nadelstich.

Während sie auf ihren Mietwagen wartete, grollte über ihr der Donner. Keine weißen Strände hier in Seattle, Washington, im Regen. Sie warf einen letzten sehnsüchtigen Blick auf die Bilder des Urlaubs, der ihr entgangen war, und schloss die App. Das reichte für heute.

Alle paar Jahre machten sie und ihre Freunde – allesamt Vertretungsärzte – eine gemeinsame Reise, nahmen eine Auszeit vom Stress der ständig wechselnden Jobs. Das erste Mal waren sie nach Bora Bora geflogen, dann nach Madrid, Rom und Singapur. Charlotte hielt diese Reisen und ihre beruflichen Erfahrungen in ihrem Blog GypsyMD fest. Über die Jahre hatte sie einen kleinen, aber treuen Kreis von Followern gewonnen, der gern ihre Berichte und Anekdoten las.

Die Reise nach Sydney zu organisieren, war anstrengend gewesen. Immer mehr von ihren Freunden gründeten Familien und ließen sich irgendwo nieder. Das machte es schwer, genügend Leute für eine Gruppenreise zusammenzutrommeln. Und gerade, als sie mit allem fertig gewesen war, war ihr aus heiterem Himmel etwas dazwischengekommen. Ein Mann hatte sie kontaktiert – angeblich der Anwalt ihres Vaters. Sie müssen unbedingt nach Seattle kommen. Es gibt einige wichtige Dinge zu regeln, was den Nachlass Ihres Vaters betrifft.

Dabei war allein das Wort „Vater“ ein Fremdwort für ein Mädchen, dessen Vater nie ein Teil ihres Lebens gewesen war. Als Charlotte jünger gewesen war, hatte sie sich in ihrer Fantasie ausgemalt, wer er wohl war. Ein reicher Rockstar, der jede Nacht in einer fremden Stadt verbrachte? Ein Offizier der US Navy, der heldenhaft das Land verteidigte? Ein Bergsteiger, der hohe Gipfel bezwang und in einer Jurte schlief?

In ihrer Lieblingsversion war er ein mächtiger König, der nichts unversucht ließ, um sie endlich wiederzufinden und in die Arme zu schließen.

Natürlich war sie irgendwann über diese Tagträume hinausgewachsen und hatte ihr Schicksal akzeptiert. Immerhin hatte sie eine Mutter, die sie über alles liebte.

Aber als Charlotte gerade dreizehn gewesen war, war ihre Mutter bei einem Verkehrsunfall gestorben. Danach hatte sie kein Zuhause mehr gehabt und keine Angehörigen, die sich um sie kümmern konnten.

„Ma’am?“

Die Stimme eines Mannes hinter ihr riss Charlotte aus ihrem Grübeln. Sie rückte in der Schlange auf. Wieder donnerte es. Unablässig prasselte der Regen gegen die Fensterscheiben der Autovermietung.

Dieser unerwartete Abstecher in ihre alte Heimat wurde wirklich mit jeder Minuten besser.

Eine Stunde später hatte Charlotte ihren Mietwagen und war unterwegs zu der Adresse, die der Anwalt ihr mitgeteilt hatte. Der Regen hatte ein bisschen nachgelassen. Sie hielt am Straßenrand. Der Blick auf das zweistöckige Haus wurde durch eine steile Böschung erschwert, die landschaftsgärtnerisch mit Steinen und Gehölzen gestaltet war, um den Boden vor Erosion und Erdrutschen zu schützen. Eine große Tanne dominierte den Vorgarten.

Jemand klopfte gegen das Beifahrerfenster. Sie zuckte zusammen. Ein kleiner Mann mit Hakennase und kleinen dunklen Augen spähte durch das Fenster.

„Charlotte? Dr. Charlotte Owens?“

Sie nickte.

„Ich bin Jeffrey Bain, der Anwalt Ihres Vaters.“

Charlotte nickte wieder und ließ den Blick über das Haus und die Nachbarschaft wandern. Sie erinnerte sich daran noch aus ihrer Kindheit. Das Queen-Anne-Viertel lag nordwestlich der Stadtmitte auf einem Hügel mit fantastischem Ausblick auf den Puget Sound. Eine Oase für Wohlhabende. Wer hier wohnte, hatte deutlich mehr Geld, als ihre Mutter verdient hatte. Einmal hatten Charlotte und ein paar andere Kids aus ihrer Wohngruppe versucht, zu Halloween hier Süßigkeiten zu sammeln, nur, um zu sehen, ob die Leute hier tatsächlich ganze Schokoladentafeln auf einmal verschenkten. Nur bei einer Familie waren sie erfolgreich gewesen.

„Wollen wir?“ Der Anwalt deutete auf das Haus. Er schien es eilig zu haben.

Sie folgte ihm die Steintreppe zum Haus hinauf. „Sie haben ein wunderschönes Heim“, sagte sie mit Blick auf die künstlerisch angelegten Beete und die handbemalten Blumentöpfe entlang des Wegs. Allerdings fiel ihr auf, dass viele Pflanzen ungepflegt wirkten oder abgestorben waren.

Über seine Schulter warf ihr der Anwalt einen seltsamen Blick zu. „Nein, Ma’am“, sagte er. „Sie haben ein wunderschönes Heim. Ihr Vater hat es Ihnen hinterlassen.“

Es dauerte einen Moment, bis Charlottes Gehirn die Worte verarbeitet hatte. Dann blieb sie wie angewurzelt stehen. Sie hatte angenommen, es sei das Haus des Anwalts. Dass es ihrem Vater gehört haben sollte, ergab keinen Sinn.

Ihr Mutter hatte immer gesagt, es sei nur eine flüchtige Sommerliebe gewesen. Wenn sie überhaupt etwas gesagt hatte. Er war ein Nichtsnutz.

Fragen wirbelten durch ihren Kopf wie neugierige Sommermücken.

Der Anwalt schloss die Eingangstür auf und winkte sie herein.

Charlotte folgte ihm auf eine Hausbesichtigung im Rekordtempo. Das Haus hatte fünf Schlafzimmer, die meisten davon mit eigenem Badezimmer. Es hatte ein fast perfektes Layout und Innendesign. Die Möbel wirkten teuer und geschmackvoll. Aber die Holzböden und die Fenster waren dreckig, Staub sammelte sich auf den Fensterbänken und in den Ecken hingen Spinnweben.

Was Charlotte nicht fand, waren Hinweise darauf, wer ihr Vater gewesen war. Nichts, was auf ein Familienleben hindeutete. Keine Bleistiftmarken an den Wänden, wo ein Kind gemessen worden war. Keine Leuchtsticker an der Tür des Raums, der die perfekte Größe für ein Kinderzimmer hatte. Es war, als hätte hier nie jemand gelebt.

Die Tour endete in der Küche, wo der Anwalt seine überdimensionale Aktentasche auf die marmorne Arbeitsfläche wuchtete. Er zog einen grauen Ordner mit dem Emblem seiner Kanzlei hervor.

„Dies hier ist das Testament Ihres Vaters, zusammen mit den Unterlagen zum Rest seines Treuhandvermögens und anderen wichtigen Dokumenten. Wie Sie vielleicht wissen, hat Ihr Vater in den letzten Jahren durch geschäftliche Fehlentscheidungen einen großen Teil seines Kapitals verloren. Dieses Haus ist das Einzige von echtem Wert.“

Nein, sie wusste gar nichts davon.

Und wie konnte ihr Vater ihr ein Haus hinterlassen haben, wenn er nicht einmal gewusst hatte, dass sie existierte?

Sie wollte die Frage gerade stellen, als sie beim Durchblättern der Dokumente auf ein Blatt stieß, das ihre Aufmerksamkeit erregte.

Formular JU 04.0100. Antrag auf Befreiung von der elterlichen Sorge.

Charlottes Atem ging auf einmal schneller. Sie zog das Dokument hervor und las es. Sie war Kinderärztin, keine Anwältin, aber sie begriff doch sofort, dass ihr Vater alle elterlichen Rechte an den Staat Washington abgetreten hatte.

Die Zeit schien stillzustehen, als sie im Dokument nach seiner Unterschrift suchte.

Es war auf sechs Monate nach dem Tod ihrer Mutter datiert.

Sie starrte weiter auf das Dokument, aber die Worte verschwammen vor ihren Augen.

Hatte er die ganze Zeit von ihr gewusst? Oder erst erfahren, dass er Vater war, als ihn die Behörden kontaktiert hatten? Jedenfalls hatte er gewusst, dass sie keine Mutter mehr hatte, als er sein Sorgerecht abgetreten hatte.

Charlotte legte das Dokument hin und machte einen Schritt zurück. Das Atmen fiel ihr auf einmal schwer.

So weit hergeholt waren ihre Tagträume also gar nicht gewesen. Sie war die lange verlorene Tochter eines Mannes, der reich gewesen war wie ein König. Nur, dass er nicht nach ihr hatte suchen lassen, weil er längst gewusst hatte, wo sie war.

Der Schmerz überwältigte sie beinahe. Sie dachte zurück an die Jahre im staatlichen Pflegesystem, die sie so gern vergessen wollte. Die ganze Zeit hatte sie sich als Außenseiterin gefühlt, ungewollt und unwillkommen. Manchmal waren die Sozialarbeiter ohne jede Vorwarnung aufgetaucht und hatten ihr kaum zehn Minuten Zeit zum Packen gegeben, bevor sie sie zur nächsten Pflegestelle gebracht hatten. Sie hatte gewusst, sie würde nie ein echtes Heim finden. Familien wollten Babys, keine Teenager.

Charlotte kniff die Augen zusammen. Bis vor ein paar Minuten hatte sie glauben können, dass ihre schmerzhafte Vergangenheit einfach eine Laune des Schicksals war. Aber diese Papiere besagten etwas anderes. Ihr Vater hatte alle elterlichen Rechte aus der Hand gegeben, in dem Wissen, dass niemand anders für sie sorgen würde.

Nach und nach wichen Schock und Schmerz dem Ärger. Einer glühenden Wut, die nur eine Frage kannte. Wer tut einem Kind so etwas an? Besonders, wenn er die finanziellen Mittel hatte, für es zu sorgen.

Wie auf ein Stichwort hin hörte sie in diesem Moment das Zischen hydraulischer Bremsen. Als sie aus dem Wohnzimmerfenster schaute, sah sie einen leuchtend gelben Schulbus auf der Straße halten. Er öffnete die Türen. Ein halbes Dutzend Kinder sprang heraus, in Regenmänteln und Gummistiefeln, rufend und lachend, und verteilte sich in alle Richtungen – auf dem Heimweg zu wartenden Eltern und gemütlichen Elternhäusern.

Eins davon hätte sie sein können.

„Warum?“, stieß sie hervor. Ganze Sätze gingen über ihre Kraft.

Warum hatte ihr Vater sie nicht gewollt?

War etwas falsch mit ihr?

Sie begriff nicht, dass sie die Frage laut gestellt hatte, bis der Anwalt ihr sanft die Akte abnahm und durch die Papiere blätterte. „Hier“, sagte er und presste ihr einen Briefumschlag in die Hand.

Einen Umschlag aus dickem, teurem, elfenbeinfarbenem Briefpapier. „Dr. Charlotte Owens“ stand auf der Vorderseite.

„Vielleicht finden Sie darin eine Erklärung.“ Zum ersten Mal klang seine Stimme mitfühlend.

Charlotte starrte auf den Brief. Einen Moment war es, als ob sie vergessen hatte, wozu Umschläge da waren. Sie war sich nicht sicher, was sie tun sollte. Enthielt dieser Brief den Versuch ihres Vaters, sich zu rechtfertigen? Alles wiedergutzumachen? Wie konnte er es wagen! Er hatte jahrelang Zeit gehabt, sie zu finden, ihr zu schreiben, sie anzurufen. Irgendetwas zu tun. Und jetzt hinterließ er ihr diesen Brief, in dem er sich erklärte, ohne dass sie die Gelegenheit hatte, darauf zu antworten. Er würde das letzte Wort behalten.

Der Gedanke war ihr so zuwider, es fühlte sich an, als hielte sie eine Schlange in der Hand. Sie schob den Umschlag von sich. Er wäre vom Tresen gefallen, wenn Bain ihn nicht aufgefangen hätte.

„Verkaufen Sie es.“ Ihre Stimme war tonlos, kalt und fest. Sie hatte die Hände zu Fäusten geballt.

Bain schaute auf den Brief. „Entschuldigung, wie bitte?“

„Das Haus“, sagte sie. „Verkaufen Sie es und spenden Sie das Geld für wohltätige Zwecke.“

Sie wollte nichts mit dem Eigentum ihres Vaters zu tun haben. Warum hatte er ihr das Haus überhaupt hinterlassen? War das eine Form von Folter, um ihr vor Augen zu führen, was er ihr verwehrt hatte?

Charlotte schaute auf die Uhr. Der Trip hierher war eine Zeitverschwendung gewesen. Aber es war noch nicht zu spät, ihren Urlaub anzutreten. Vielleicht erwischte sie einen späten Flug nach San Francisco. Am Wochenende könnte sie in Australien sein. Eine Auszeit am Strand mit einem bunten Cocktail in der Hand wäre genau das Richtige vor ihrem nächsten Job an Bord eines Kreuzfahrtschiffs auf Rundreise durch die Karibik.

„Warten Sie“, sagte Bain. Er wühlte in seiner Aktentasche. Breitete eine Reihe von Papieren vor ihr aus. Gutachten, Marktanalysen und andere Dinge, die für Charlotte keine Bedeutung hatten. Bis er ihr erklärte, dass das Haus zwar eine fantastische Lage hatte, aber nicht im besten Zustand war. Es brauchte ein neues Dach, im Keller hielt sich der Schimmel und das Gewächshaus und das Poolhaus mussten dringend saniert werden.

„Es tut mir leid, aber ich begreife nicht, was das mit mir zu tun hat.“ Charlotte schüttelte ihren Mantel aus und zog ihn wieder über.

Der Anwalt formte aus den Papieren einen akkuraten Stapel. „Um ganz offen zu sein, Sie können das Haus nicht verkaufen. Ich meine, Sie können es versuchen. Aber aktuell wird keine Versicherung dieses Haus versichern. Und ohne eine Versicherung wird keine Bank einen Kredit bewilligen. Wenn Sie nicht gerade einen Käufer an der Hand haben, der das Geld auf dem Konto liegen hat, werden Sie niemanden finden, der es nimmt.“

Charlotte runzelte die Stirn. „Sie wollen sagen, ich werde es nicht los?“

Er bürstete sich ein unsichtbares Stäubchen vom Jackett. „Nicht unbedingt. Sie können es im Istzustand an irgendeine Immobilienfirma verkaufen. Das könnte innerhalb von wenigen Wochen über die Bühne gehen. Aber sie würden natürlich nur einen Bruchteil dessen erhalten, was das Haus wert ist. Tatsächlich …“ Wieder wühlte er in den unermesslichen Tiefen seiner Aktentasche. „Hat unsere Firma einen Investmentzweig, der Ihnen die Immobilie jederzeit abnehmen würde.“

Er schob ihr ein weiteres Dokument zu.

Charlottes Herz machte einen Satz. Nur eine Unterschrift, und sie konnte zu ihren Freunden nach Sydney, wo das Meer und die Brandung ihr erlauben würden, den Stress hinter sich zu lassen. Warme Sonne, kalte Getränke und freundliche Einheimische.

Aber als sie die Kaufsumme sah, die dort bereits eingetragen war, erstarrte sie. Sie war nicht so naiv, dass sie nicht begriff, wenn man sie über den Tisch ziehen wollte. Selbst in seinem aktuellen Zustand war das Haus locker drei- oder viermal so viel wert.

Na und? Du willst das Geld spenden. Was kümmert es dich?

Aber genau das war ein wichtiger Punkt. Das Geld, das sie für das Haus bekommen könnte, wenn es saniert wäre, könnte viel Gutes bewirken. Charlotte wusste nicht viel über ihren Vater, aber es erschien ihr unwahrscheinlich, dass er je für wohltätige Zwecke gespendet hatte. Wenn sie das Haus verkaufte und das Geld spendete, verhalf sie ihm vielleicht im Tod zu einer ersten guten Tat.

Es wäre falsch, sich um den wahren Wert des Hauses betrügen zu lassen. Es würde niemandem etwas bringen außer skrupellosen Immobilienhaien.

Aber ihre Reisepläne aufzugeben, um die Renovierungsarbeiten zu beaufsichtigen, war, wie Salz in eine Wunde zu streuen, die nie verheilt und jetzt frisch aufgerissen war. Als sie achtzehn geworden war und dem staatlichen Pflegesystem hatte entkommen können, hatte sie sich geschworen, nie wieder andere Menschen über ihr Schicksal entscheiden zu lassen. Keine Sozialarbeiter mehr, die ihr sagten, wo sie leben würde und wie lange. Jetzt reiste sie dorthin, wo sie wollte, und blieb, solange es sich richtig anfühlte. Das war das Schöne daran, reisende Vertretungsärztin zu sein. Sie hatte keine langfristigen Verpflichtungen und bestimmte selbst über ihr Leben.

Aber wie wäre es, wenn sie noch einen anderen Grund hätte, hier in Seattle zu bleiben, außer, das Haus ihres Vaters zu renovieren? Einen Grund, der ihr erlauben würde, mit der Vergangenheit endgültig abzuschließen? Sie könnte sein Geld und ihre Zeit investieren, um Kindern und Jugendlichen zu helfen, die in der gleichen Lage waren wie sie damals – allein, verwundbar, ängstlich.

Vielleicht hätte sie dann das Gefühl, dass es gerecht auf der Welt zuginge.

Sicher konnte ihre Vermittlungsagentur ihr helfen, eine Stelle hier in Seattle zu finden. Ärzte wurden immer gesucht, und wenn wirklich keine Stelle verfügbar war, konnte sie ehrenamtlich arbeiten. Sie brauchte das Geld ihres Vaters nicht. Aber sie würde sichergehen, dass es Teenagern zugutekam, die es brauchten.

Sie schob den Vertrag zurück. „Danke für das Angebot, Mr. Bain. Aber ich habe es mir anders überlegt.“

Die Sunshine Clinic für Kinder war ein bescheidenes Backsteingebäude an der Fifth Street Ecke Monroe. Charlottes Absätze klickten auf dem Bürgersteig, auf dem sich das Unkraut breitmachte. Dieser Teil der Stadt war ein altes Industriegebiet und sah entsprechend vernachlässigt aus.

Die Klinik selbst wirkte deutlich freundlicher als der Rest der Umgebung. Die Glastür war frisch geputzt und wurde von zwei blauen Keramiktöpfen flankiert, in denen üppige Verbenen wuchsen. Luftige Vorhänge vor den Fenstern und die große gelbe Sonne, die jemand über das Namensschild gemalt hatte, halfen, den Eindruck der Strenge zu mildern. Von dem Gebäude ging ein Optimismus aus, der Charlotte gefiel. Als ob es sich weigerte, sich von seinen schäbigen Nachbarn herunterziehen zu lassen.

„Gut für dich“, sagte Charlotte.

Normalerweise sprach sie nicht mit unbelebten Dingen, aber die letzten paar Tage, in denen sie im Haus ihres Vaters festgesessen hatte, hatten sie ein bisschen verrückt gemacht. Sie kam einfach nicht darüber hinweg, wie wenig ihren Vater ihr Schicksal interessiert hatte.

Aber endlich konnte sie das hinter sich lassen. Die Agentur hatte ihr nur zu gern die Stelle in der Sunshine Clinic vermittelt, einem Ableger des größten Krankenhauses in Seattle und einer Anlaufstelle speziell für Jugendliche, die aus schwierigen Verhältnissen stammten oder auf der Straße lebten. Charlotte wusste nicht, warum es so schwierig gewesen war, jemanden für die Stelle zu finden, aber sie war mehr als bereit, sich in einen neuen Berufsalltag einzufinden. Arbeit war immer schon ihre Ablenkung von persönlichen Problemen gewesen. So hatte sie ihren Highschoolabschluss mit Topnoten gemacht und war mit einem vollen Stipendium ans College gegangen.

Heute war ein besonderer Tag. Sie hatte sich für ihr Lieblingskleid entschieden. Es war hellblau und reichte ihr bis knapp über die Knie. Eine Künstlerin in Sedona, Arizona, hatte es für sie maßgeschneidert, als Charlotte dort einen Sommer lang in einer Kinderklinik ausgeholfen hatte. Wenn sie nicht gerade die Kinder der Touristen wegen Sonnenbrand und Austrocknung behandelt hatte, hatte sie die legendären roten Gebirgslandschaften auf Kletter- und Wandertouren erkundet. Das Kleid war wie ein Versprechen: Sobald das Haus verkauft war, würde sie sich wieder auf Abenteuerreise begeben.

Die Kiste mit Büromaterialien und gerahmten Urkunden, die sie trug, erschwerte es ihr, die Tür zu öffnen. Schließlich gelang es ihr und sie steckte den Kopf hindurch. „Hallo!“

Der Mann, der mit dem Rücken zu ihr an der Anmeldung stand, schien sie nicht zu hören, wahrscheinlich, weil er gerade am Telefon war. Er trug dunkle Jeans und Motorradstiefel, dazu eine Lederjacke, die eng über seinen breiten Schultern saß.

Ein Patient oder ein Angestellter? Charlotte konnte es nicht sagen. Der Werkzeugkoffer auf dem Tresen und die Trittleiter daneben deuteten auf einen Hausmeister hin.

Wer er auch war, er hatte keinen guten Tag. „Aber Mrs. Winthrop, zumindest hat sie sich diesmal in Worten ausgedrückt, oder?“ Er lachte gezwungen. „Nein, ich stimme zu. Es ist unangemessen für eine Elfjährige, solche Wörter zu verwenden.“ Nach ein paar zustimmenden Lauten richtete er sich auf einmal gerade auf. „Nein, das wird nicht nötig sein.“ Schweigen. Er presste das Telefon dichter ans Ohr. „Nun, ja, aber, sehen Sie …“ Seine Schultern sanken herab. „Mrs. Winthrop, ich flehe Sie an. Das ist Pipers dritte Schule dieses Jahr …“ Eine lange Pause, bevor er tief einatmete. „Oh, vielen Dank! Das weiß ich zu schätzen.“ Er ließ den Daumen über den Rand des Tresens gleiten, glättete eine unsichtbare Unebenheit. „Ich verspreche Ihnen, wir werden zu Hause daran arbeiten.“

Als er auflegte und den Hörer zurück in die Halterung hinter dem Tresen legte, rutschte seine Lederjacke hoch und enthüllte schmale Hüften. Charlotte biss sich auf die Lippen, als sie sah, wie er sich in den Nasenrücken kniff.

Es war ihr unangenehm zu stören, aber heute war ihr erster Arbeitstag, und sie wollte sich nicht verspäten. Sie musste sich Doktor John Bennett vorstellen, dem Leiter der Klinik.

Sie räusperte sich. „Hallo?“

Er wirbelte zu ihr herum.

Eine Sekunde lang war Charlotte so geschockt, dass sie nichts sagen oder tun konnte. Die Stärke, die sich unter der Lederjacke abzeichnete, fand sich auch in seinem muskulösen Brustkorb und seinem Nacken. Er hatte ein offenes, ehrliches Gesicht. Das kastanienbraune Haar reichte ihm bis zum Kragen und war noch leicht feucht. Er war überaus männlich und fast ein bisschen einschüchternd mit seinem finsteren Gesichtsausdruck.

Oder vielleicht lag das an seinen Augen. Grün und golden wie die einer Raubkatze. Sein Blick war so eindringlich, dass sie sich vorkam wie ein Kaninchen.

Sie schluckte hart. Dann bemerkte sie das Stethoskop um seinen Hals, und es machte klick. Obwohl sein Gesicht wenig Ähnlichkeit mit dem langweiligen Porträt auf der Webseite der Klinik hatte, war er eindeutig Dr. John Bennett. Ihr neuer Kollege.

Um Himmels willen, Charlotte! Hör auf, ihn anzustarren!

Er überkreuzte die Arme vor der Brust und schaute sie an. „Dr. Owens, richtig? Die Vertretungsärztin?“

Charlotte deutete auf ihre Kitteltasche, auf der ihr Name mit schwarzem Garn eingestickt war. „In Person.“ Ihr eigener, viel zu aufgekratzter Ton missfiel ihr.

Der erste Arbeitstag war immer am schlimmsten. Sie mochte es, als Vertretungsärztin herumzureisen, aber „die Neue“ zu sein, verlor doch irgendwann an Reiz.

„Ihre Akten, bitte“, sagte er und wandte endlich den Blick von ihr. Wühlte in der Werkzeugkiste, die neben ihm stand. „Damit wir starten können.“ Er fand, wonach auch immer er gesucht hatte, und stieg auf die Leiter.

„Akten?“

„Sie wissen schon. Was auch immer das Gericht Ihnen mitgegeben hat, damit Sie Ihre Stunden ableisten und Ihre Lizenz wiederbekommen. Ich unterschreibe gern, dass Sie bemüht waren, eine Stelle zu finden, und Sie können wieder gehen.“

Schon seit sie durch die Tür gekommen war, fühlte sie sich wie im falschen Film. „Es tut mir leid, aber ich weiß nicht, wovon Sie reden.“

Er hielt inne, einen Schraubenzieher zwischen den Zähnen, den er entfernte, um zu fragen: „Warum sind Sie denn hier?“

Charlotte begann sich zu fragen, ob Gina, ihre Sachbearbeiterin, einen Fehler gemacht hatte. „Weil Sie eine Vertretung brauchen. Zumindest hat man mir das gesagt.“

Bennett lachte und schüttelte den Kopf. „Hängt davon ab, wen Sie fragen, vermute ich.“

Als ob das als Erklärung reichte, steckte er den Schraubenzieher in seine hintere Jeanstasche und stieg wieder auf die Leiter.

Was sollte das heißen? Und was sollte sie jetzt tun? Die Kiste, die sie im Arm hielt, wurde mit jedem Moment schwerer. Sie hätte sie gern auf den Tresen gestellt, aber dort stand er mit seiner Leiter. Schließlich fand sie einen orangefarbenen Plastikstuhl neben dem Fenster. Sie zog ihr Telefon aus der Tasche und dachte darüber nach, Gina anzurufen. Aber sie kannten sich schon so lange, dass sie wusste, Gina überprüfte immer alles doppelt und dreifach. Sie war am rechten Ort.

Bennett begann, irgendein Lied zu pfeifen. Charlotte erkannte die Melodie nicht. Und es war ihr auch egal. So langsam wurde sie gereizt. Warum redete er nicht mit ihr?

Sie ging hinüber zur Leiter und rüttelte ein wenig daran. „Hey!“

„Hey!“, gab er von oben zurück. „Könnten Sie das bitte lassen?“

„Klar. Habe ich hier einen Job oder nicht?“

Sie bereitete sich auf eine Auseinandersetzung vor, aber während sie aus diesem Blickwinkel zu ihm aufsah, fiel ihr auf, dass seine Nase etwas krumm war. Wahrscheinlich war er auf Auseinandersetzungen deutlich besser vorbereitet als sie.

Er stützte sich mit einem Arm auf die Leiter und musterte sie, als wäre sie ein Insekt unter dem Mikroskop. „Das hängt davon ab. Bisher waren alle, die sich auf die Stelle beworben haben, ziemlich verzweifelte Individuen. Entweder mussten sie Stunden ableisten, um ihre Lizenz zurückzubekommen, oder sie waren wegen irgendwelcher Vergehen auf Bewährung.“ Er montierte die Lampe wieder an ihrer Halterung und zog die Schrauben fest. „So einen Blödsinn brauchen wir hier nicht.“

„Ich bin kein ‚verzweifeltes Individuum‘!“

Bennett stellte seine Aktivität lange genug ein, um mit dem Schraubendreher in ihre Richtung zu gestikulieren. „Das mit der Verzweiflung sei dahingestellt. Aber ihre Kleiderwahl ist definitiv individuell.“

Charlotte stieg die Hitze in die Wangen. Sie begriff, dass er sie nicht in seiner Klinik wollte.

So wenig, wie ihr Vater sie gewollt hatte.

Also schön. Sie war es leid, sich von Männern herumschubsen zu lassen, die ihre Macht ausnutzten, ohne dass es sie kümmerte, wie es anderen dabei ging.

Spontan schnappte sie sich ihre Kiste vom Stuhl und steuerte auf die Tür zu. Gina konnte eine andere Stelle für sie finden, während sie in Seattle festsaß. Oder sie verkaufte das Haus doch einfach unter Wert und machte sich auf den Weg nach Sydney.

Dann erinnerte sie sich an die gelbe Sonne über dem Eingangsschild. Wer hatte die gemalt? Einer der Teenager, die hier in Behandlung gewesen waren? Oder ein Angestellter? Vielleicht sogar derselbe, der Blumen neben der Tür aufgestellt und Vorhänge vor den Fenstern angebracht hatte?

Jemand gab sich sehr viel Mühe, damit die Klinik wie eine Zuflucht aussah. Das war sicher nicht Doktor Sonnenschein auf der Leiter. Aber es gab jemanden hier, der begriff, was zählte. Dass selbst kleine Dinge einem in dunklen Zeiten Hoffnung geben konnten.

Charlotte ließ die Schultern sinken. Was wäre sie für eine Ärztin, wenn sie ihren Patienten den Rücken kehrte, nur weil man ihr nicht den roten Teppich ausrollte? Sie seufzte und stellte die Kiste wieder ab.

Bennett war von der Leiter gestiegen. Wenn ihm aufgefallen war, dass sie beinahe gegangen wäre, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken.

„Also.“ Sie überkreuzte die Arme vor der Brust. „Wo ist mein Büro?“

Er schaute auf. In seinen Augen sah sie einen Hauch von Überraschung.

Gut so.

Er sah definitiv aus wie jemand, der es brauchte, ab und zu eine Überraschung zu erleben.

Mit routinierten Handgriffen schloss er seine Werkzeugkiste, bevor er sich ihr zuwandte. „Wenn Sie bleiben wollen, müssen wir als Erstes daran arbeiten.“ Mit dem Kinn nickte er in ihre Richtung.

„Verzeihung?“

Sein Blick wanderte über sie. „Hat die Agentur Ihnen nicht gesagt, was Sie anziehen sollen?“

Der Drang, ihn anzublaffen, war stark. Aber dann würde daraus nie ein konstruktiver Austausch werden.

„Hier, geben Sie mir das.“ Er streckte die Hand aus. Dabei stieg Charlotte ein Hauch seines Geruchs in die Nase, sauber und männlich mit einem Hauch von Gewürz.

„Was soll ich Ihnen geben?“

„Ihren Kittel.“ Er winkte mit seinen Fingern.

Was zum Geier wollte er mit ihrem Kittel? Aber immerhin sprach er mit ihr. Das war ein Fortschritt.

Sie streifte ihren Kittel ab und reichte ihn ihm.

„Haben Sie irgendetwas anderes, was Sie tragen können? Irgendwas, was weniger … extravagant ist?“

„Das ist nicht extravagant. Es ist handgemacht. Nicht von mir, aber …“ Von einer Künstlerin, deren Arbeiten in den richtigen Kreisen sehr begehrt waren.

Aber das war nicht der Grund, warum sie es gekauft hatte. Ihr gefielen einfach der blaue Farbton und das Muster aus Sykomoren, in deren Ästen kleine, pinke Eulen saßen.

„Ach so? Na ja, jedenfalls sieht man hier in der Gegend nicht viel Handgemachtes. Sie fallen auf wie ein bunter Hund. Und das ist genau das, was wir nicht wollen, Dr. Owens. Kommen Sie bitte mit.“

Neugier brachte sie dazu, ihm einen schmalen Flur entlang zu einem Kleiderschrank zu folgen, aus dem er mehrere Kisten mit der Aufschrift „Kleiderspenden“ zog. Er durchwühlte die Stapel an Textilien, checkte Etiketten und hielt schließlich eine abgetragene grüne Cargohose hoch. „Die hier könnte gehen.“

Charlotte nahm sie bei einer Gürtelschlaufe. „Wofür?“

Er antwortete nicht, sondern wühlte weiter in den Kisten, bis er ein lachsfarbenes T-Shirt mit verblichenem Aufdruck gefunden hatte. Fort Lauderdale, Florida.

Er deutete auf eine Tür hinter ihr. „Da können Sie sich umziehen. Aber mit den Schuhen kann ich nicht helfen.“

Charlotte schaute auf ihre schlichten, flachen Schuhe herab.

„Von jetzt an müssen Sie geschlossene Turnschuhe tragen.“

In ihrem Kopf drehte sich alles. Was passierte hier gerade?

Er griff eine Box mit Taschentüchern vom Regal. „Der Lippenstift – weg damit. Und die Ohrringe und die Armreifen.“ Kritisch musterte er sie noch einmal von oben bis unten. „Und Ihr Haar.“ Er deutete auf die langen, dunklen Wellen. „Versuchen Sie einfach, weniger Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Seien Sie wie ein Laternenpfahl – Sie sind da, aber man sieht Sie nicht. Okay?“

„Sie wollen, dass ich wie ein Laternenpfahl aussehe?“

Er schüttelte den Kopf. „Nein. Ich will nicht, dass Sie wie ein Laternenpfahl aussehen. Einfach nur … weniger umwerfend, okay?“ Er stöhnte, als hätte er nicht vorgehabt, das zu sagen, und fuhr sich mit der Hand durch das Haar.

Charlotte erhaschte im Spiegel einen Blick auf sich, wie sie dastand, die zerknitterten Kleider und die Packung mit Taschentüchern in der Hand. „Dr. Bennett, das wirkt sehr unprofessionell.“

Zum ersten Mal, seit sie sich getroffen hatten, wirkten seine grünen Augen weicher. „Gut. Dann reden die Kids vielleicht mit Ihnen. Und sagen Ihnen, wo es wehtut.“

Er ging zurück ins Wartezimmer und ließ Charlotte allein zurück.

Sie verschwand im Bad und versuchte, ihr inneres Gleichgewicht wiederzufinden. Es war nicht so, als hätte sie mit einer Willkommensparty gerechnet. Aber diese Konfrontation gleich am ersten Tag hatte sie auch nicht erwartet.

Sie blies sich eine lose Haarsträhne aus den Augen. „So viel dazu“, sagte sie zu ihrem Spiegelbild.

Hatte Gina deshalb solche Probleme gehabt, die Position zu besetzen? Wer weiß, wie viele wohlmeinende Ärzte schon hier gewesen waren und hatten helfen wollen, bis der gut aussehende, aber schlecht gelaunte Klinikchef sie vergrault hatte.

Sie zog ihr Kleid aus und das T-Shirt und die Cargohose über. John hatte ihre Größe richtig geschätzt. Das T-Shirt gefiel ihr, es war weich und bequem, aber es war schwer, sich nicht wie ihr jüngeres Selbst zu fühlen, das immer Second-Hand-Klamotten hatte tragen müssen.

Geh doch, sagte eine innere Stimme. Du musst ja nicht hierbleiben.

Leichtigkeit war ihr Lebensmotto. Sie ging keine festen Verpflichtungen ein, hängte ihr Herz nicht an Dinge, amüsierte sich und hatte Spaß. So hatte sie den Schmerz und den Verlust ihrer Jugend hinter sich lassen können. Aber Dr. Bennett sah nicht so aus, als wäre er ein Typ für Leichtigkeit.

Widersprüchliche Gedanken wirbelten Charlotte durch den Kopf. Diese Stelle würde eine Herausforderung werden. Aber das Leben war voller Herausforderungen. An ihnen zeigte sich der wahre Charakter eines Menschen. Und wenn sie die Gelegenheit verpasste, für die Jugendlichen, die hier Hilfe suchten, etwas Gutes zu bewirken, dann war sie ihrem Vater wahrscheinlich deutlich ähnlicher als gedacht.

Charlotte holte tief Atem und wappnete sich. Hob die Hände und begann, ihr Haar entschlossen zu einem französischen Zopf zu flechten.

Sie würde nirgendwo hingehen. Ob es Bennett gefiel oder nicht.

2. KAPITEL

John kletterte die Leiter wieder hoch, um die Reparatur zu beenden. Eigentlich hatte er keine Zeit für diese Extraaufgaben, aber wenn er erst einen Antrag bei der Hauptverwaltung stellte und wartete, bis der Hausmeisterservice Zeit für ihn fand, vergingen darüber Wochen. Seine kleine Klinik im Industriegebiet hatte nicht wirklich Priorität.

Das war ihm recht. Wenn er ein paar Reparaturen selbst ausführen musste, war das eben so. Hauptsache, sie ließen ihn ungestört. Dann konnte er die Dinge auf seine Art tun, wie er das schon immer getan hatte – seit sein Vater damals die Familie verlassen hatte. Danach war John dafür zuständig gewesen, auf seinen kleinen Bruder Michael aufzupassen, während seine Mutter sich mit zwei oder drei Jobs gleichzeitig hatte über Wasser halten müssen. Einfach war das nicht gewesen. Michael hatte einen starken Willen gehabt und jedes Schlupfloch gefunden.

So bald würde es kein Schlupfloch für ihn mehr geben. Er war wegen Drogenhandels zu fünf Jahren Haft verurteilt worden, sodass John nun die Vormundschaft für Piper übernommen hatte, seine elfjährige Nichte. Aber trotz all seiner Bemühungen fiel es Piper schwer, sich an das Leben mit ihrem alleinstehenden Onkel zu gewöhnen. Es half nicht, dass er auf einem kleinen Segelboot lebte.

In der Schule geriet sie häufig in Schwierigkeiten. John wurde zu Gesprächen mit den Lehrern einbestellt oder ein Babysitter kündigte.

Die Chefin der Pädiatrie hatte einen Blick auf seine Fehlzeiten geworfen und entschieden, es wäre besser, eine Vertretungskraft einzustellen, als ständig Bereitschaftsärzte aus ihrer Abteilung in die Sunshine Clinic zu schicken. John hatte sein Bestes getan, um ihr zu versichern, dass er alles unter Kontrolle hatte. Er brauchte keinen anderen Arzt hier, der alles durcheinanderbrachte. Seine Sprechstundenhilfe Sarah und er hatten alles im Griff.

Und die meisten Vertretungsärzte, die sich bisher vorgestellt hatten, verfolgten ihre eigene Agenda – wie zum Beispiel, Sozialstunden abzuleisten, um ihre ärztliche Zulassung zurückzuerhalten. Er hatte zu hart daran gearbeitet, sich das Vertrauen der Kids zu erarbeiten, um so jemanden in seine Klinik zu lassen. Die guten Ärzte wiederum blieben nicht lange. Lange Arbeitszeiten und ein begrenztes Budget machten den Job unattraktiv.

Also musste John sich wahrscheinlich auch keine Sorgen über die große Brünette machen, die gerade vorsichtig ihr Kleid zusammenfaltete. Zwei Wochen, maximal vier, und sie wäre nur eine Ärztin unter vielen, die so abrupt verschwanden, wie sie gekommen waren.

Zumindest sah sie jetzt etwas besser aus als vorher.

Nicht, dass sie schlecht ausgesehen hatte. Im Gegenteil. Sie war wirklich umwerfend mit ihrem aristokratischen Profil und den hellblauen Augen. Aber das zerknautschte T-Shirt und der Zopf ließen sie nahbarer wirken. Das war für die Teens hier wichtig. Viele trauten Erwachsenen nicht über den Weg, John hatte gelernt, alles zu vermeiden, was ihn wie eine Autoritätsfigur erscheinen ließ.

Ihre Kiste in der Hand, drehte sie sich zu ihm um. „Also, wo ist mein Büro?“

„Sie haben keins. Sorry.“ Er hatte sein eigenes Büro aufgeben müssen, sodass die vielen Vertretungsärzte einen zweiten Behandlungsraum hatten. Er klappte die Leiter ein und lehnte sie an die Wand. „Aber ich kann ein paar Regale in Ihrem Behandlungsraum aufstellen, wenn Sie wollen.“

„Wo soll ich meine Buchführung machen? Oder Berichte schreiben?“

John deutete hinter den Empfangsbereich. Dort hatte er aus einer alten Tür und zwei Sägeböcken einen Schreibtisch improvisiert. Zwei Computer und ein Telefon waren alles, was sie hier an Büroausstattung hatten.

Charlotte Owens kniff die Augen zusammen. John wappnete sich gegen einen Ausbruch. Es gefiel ihm, wie dunkel ihre Augen wirkten, wenn sie gereizt war. Man könnte lernen, an ihren Augen ihre Stimmung abzulesen, so wie Matrosen die Zeichen für Sturm erkannten.

Sarah kam zu seiner Rettung. Mit Schwung öffnete sie die Tür und fegte wie ein Windstoß durch den Raum. Sie verstaute ihren Mantel und ihre Handtasche. Dann erst bemerkte sie Charlotte.

„Oh, Honey!“, sagte sie. „Sie müssen die neue Ärztin sein.“ Sie nahm Charlotte die Kiste ab, stellte sie auf den Tresen und ließ ihr eine dieser Bärenmutter-Umarmungen zuteilwerden, die die Kids so liebten. „Ich koche uns gleich erst mal einen Kaffee, dann machen wir die Tour.“

Warum hatte John nicht daran gedacht? Ein Kaffee und eine Führung waren ein deutlich besserer Start in den Tag als ein Besuch in der Kleiderkammer.

John hörte mit halbem Ohr zu, während Sarah ihrer neuen Vertretungsärztin die Klinik zeigte. Früher hatte das Gebäude einer Makleragentur gehört. Der wenige Platz, den sie hatten, war mit Zwischenwänden in unterschiedliche Bereiche aufgeteilt: zwei Behandlungsräume, die Apotheke und das Labor, eine kleine Küche mit Speisekammer, wo sie Snacks und Getränke für die Kinder bereitstellen konnten. Die Fläche war nur die Hälfte von dem, was er vor fünf Jahren beantragt hatte. Aber wie Sarah nur zu gern sagte: Rom war auch nicht an einem Tag erbaut worden.

„Und hier sind wir wieder“, sagte Sarah, als sie aus dem zweiten Behandlungsraum kamen.

Einen Moment lang fing er Charlottes Blick auf. Alles an ihr – von ihrem Lebenslauf, der sich wie eine Reisebroschüre las, hin zu ihrer glatten, sonnengebräunten Haut – deutete auf einen Freigeist hin, auf Wanderlust und Sinn fürs Abenteuer. Sie war wie ein Gruß aus der Vergangenheit, als John seine Zeit so hatte verbringen können, wie er es wollte. Das bedeutete lange Arbeitstage in der Klinik und die Wartung und Instandsetzung seines Hausboots, der House Call, um sie für die nächste Fahrt durch den Puget Sound flottzumachen.

Es fiel ihm ein bisschen zu leicht, sich Charlottes lange, schlanke Gestalt am Bug des Boots vorzustellen, wie der Wind durch ihr dunkles Haar fuhr und ihre Augen so blau funkelten wie das Meer …

Aber es würde keine Segeltörns geben – und keine Frau auf seinem Boot oder in seinem Bett. Nicht, solange er für Piper verantwortlich war. Die Fehler, die er mit seinem Bruder gemacht hatte, hatten Michael seine Freiheit und seine Zukunft gekostet. Diese Fehler würde er nicht wiederholen. Deshalb spielte es auch keine Rolle, dass Charlotte nach Jasmin und nach Regen roch. Er würde sich von ihr fernhalten, bis der Wind, der sie wie Mary Poppins vor seiner Kliniktür abgesetzt hatte, sie weitertrug.

Gegen Mittag versank die Klinik im Chaos. Im Wartezimmer gab es nur noch Stehplätze. Dort herrschte Partystimmung. Vorn an der Anmeldung drohte ein Stapel aus Briefen und Magazinen vom Tresen zu fallen. Wie Sarah den Überblick über alles behielt, war John schleierhaft.

Er begleitete seinen letzten Patienten zurück zur Anmeldung, während Charlotte gerade aus ihrem Behandlungsraum kam. Bei ihr war Matthew, ein stiller Junge, den John schon von vorherigen Besuchen konnte. Etwas an Matthews beunruhigtem Gesichtsausdruck und dem Stapel Rezepte in seiner Hand versetzte John in Alarmbereitschaft.

„Zunächst einmal musst du die möglichen Auslöser vermeiden“, sagte Charlotte. „Rauch, Pollenflug, kaltes Wetter.“

John zwang sich, auf seiner Seite der Klinik zu bleiben. Er musste sich nicht in alles einmischen.

Matthew spähte auf ein Rezept. „Was ist ein Zerstäuber?“

Okay, vielleicht musste er das doch. Himmel, sie hatte einen Zerstäuber verschrieben? Wusste sie nicht, dass viele dieser Kids nicht einmal …?

Nein, natürlich wusste sie das nicht. Es war nicht ihre Welt. Sondern seine. Und ob John es wollte oder nicht, er hatte jetzt eine Partnerin. Damit musste er sicherstellen, dass sie wusste, was sie tat.

Er trat zu ihnen an den Anmeldetresen „Darf ich bitte einmal sehen?“, fragte er und deutete auf die Rezepte. Er ging sie alle durch. „Dieser Inhalator ist eine exzellente Wahl.“ Er zerknüllte das Rezept und steckte es in seine Tasche. „Leider übernimmt die Versicherung die Kosten nicht.“

Charlotte runzelte die Stirn.

Er schaute auf den nächsten Zettel. „Kortison – gut. Geben wir ihm noch Antihistamine dazu. Beides haben wir in der Apotheke.“ Die in Wirklichkeit nur ein großer, vollgestopfter Schrank war. „Einen Inhalator verschreiben wir auch. Und jetzt reden wir darüber, wo du schläfst.“

Sarah drehte sich auf ihrem Stuhl um, den Telefonhörer am Ohr. „Ich habe das Haus der Hoffnung in der Leitung. Er kriegt ein Bett.“

„Und einen Sachbearbeiter?“

„Ich arbeite daran!“ Sie klopfte auf den Stuhl neben sich, damit Matthew sich setzte.

Auf einmal legte Charlotte ihm die Hand auf den Arm und drückte. Fest. „Wie soll ich diesen Kindern helfen, wenn ich ihnen nicht geben kann, was sie brauchen? Sie wissen genau, dass Matthew mehr benötigt als Kortison und Antihistamine!“

War sie der Typ Mensch, der in allem der Beste sein wollte? Oder war es ihr tatsächlich wichtig, dass Matthew die nötige Hilfe bekam?

John seufzte und steckte seinen Stift hinters Ohr. „Sie haben einen Zerstäuber empfohlen. Dafür braucht es Strom.“

„Natürlich.“

„Und hat Matthew Zugang zum Stromnetz?“

Sie runzelte die Stirn. „Ich weiß nicht.“

„Der Inhalator, den Sie aufgeschrieben haben, ist ein Markenprodukt mit allen Extras. Die Versicherung kommt dafür nicht auf, also müssen wir ihm das Standardmodell geben, das wir aber leider nicht dahaben. Wo ist die nächste Apotheke? Wie kommt er dahin?“

Sie ließ seinen Arm los. „Das weiß ich auch nicht.“

Er griff hinter den Tresen und holte einen Busfahrplan hervor. „Dann schauen Sie nach. Das ist hier auch ein Teil Ihres Jobs.“

Sie schaute zu ihm auf. „Warum lebt er auf der Straße? Warum nicht in einer Unterkunft oder in einem Pflegeheim? An einem sicheren Ort?“

Weil das Leben einfach unfair war. Es hatte keinen Sinn, darüber nachzugrübeln, warum. Alles, was zählte, war, dass sie den Jugendlichen halfen, so gut sie konnten. „Kinder wie Matthew haben hart zu kämpfen. Es gibt nur wenige Unterkünfte in Seattle, die unbegleitete Minderjährige aufnehmen. Die Wartelisten sind lang. Deshalb brauchen sie Medikamente, die sie bei sich tragen können. Das ist nicht ideal. Aber wir müssen das alles berücksichtigen, wenn wir ihnen helfen wollen.“

Charlotte trat einen Schritt zurück. Sie mied seinen Blick und zupfte nervös an einem losen Faden, der an ihrem T-Shirt hing. Er hatte diesen Blick schon an anderen Kollegen gesehen, die vor ihr gekommen waren. Würde sie das Handtuch werfen?

Aber sie überraschte ihn.

„Wissen Sie, was wir machen sollten? Wir sollten einen Bereich einrichten, wo die Kinder Atemtherapie machen können, solange wir geöffnet haben.“ Sie schaute sich in der Klinik um, ging von einem Raum zum anderen.

John fühlte sich unvermittelt wie ein junger, ahnungsloser Hundewelpe, als er ihr folgte. „Entschuldigung, wie bitte? Wir haben weder das Geld noch den Platz für …“

„Und wir sollten versuchen, Markenprodukte von Pharmavertretern als Spende zu bekommen.“

Wir? Seit wann waren sie ein „Wir“?

John räusperte sich. „Ich weiß Ihr Engagement zu schätzen, Dr. Owens. Aber wir haben keinen Platz für eine Atemtherapie. Und Sarah hat keine Zeit für eine Telefonkampagne bei den Arzneimittelunternehmen.“

„Nennen Sie mich Charlotte. Es wäre nicht schwierig, versprochen. Wenn wir ein paar Raumteiler ein bisschen verschieben, hätten wir den Platz. Und wir könnten die Universität kontaktieren und Praktikumsplätze für Krankenpfleger in der Ausbildung anbieten.“

Sie war forsch – das musste er ihr lassen. Forsch und provokant und auch ein bisschen sexy mit ihren blauen Augen. „Das sind sehr ehrgeizige Ziele, Dr. Owens, und ich weiß es zu schätzen, dass Sie …“

„Charlotte“, korrigierte sie ihn erneut.

„Charlotte, wirklich. Ich weiß es zu schätzen. Aber wir haben jetzt schon alle Hände voll zu tun mit der Sprechstunde.“ Nicht, dass er nicht gern mehr anbieten würde. Als er angefangen hatte, hatte er Pläne gehabt, die winzige Klinik zu einem echten Gesundheitszentrum auszubauen. Aber er und Sarah hatten nur zwei Paar Hände. „Ich kann Sarah unmöglich bitten, noch mehr …“

Charlotte schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. „Sarah muss gar nichts tun. Sie haben jetzt mich! Ich fange heute Abend an, Telefonnummern herauszusuchen.“

Offenbar hielt sie das Thema für beendet. Sie wandte sich dem Computer zu und scrollte durch den Terminkalender, als hätte sie schon ewig hier gearbeitet.

John stand einen Moment lang reglos da, wütend über das Gefühl hilfloser Verzauberung. All ihre Vorschläge entsprachen genau seinen Vorstellungen für die Klinik.

Würde es einen Unterschied machen, wenn er einen Partner hätte? Könnte jemand wie Charlotte die Hindernisse aus dem Weg räumen, die ihn lähmten?

Einen Moment lang war er versucht, der Hoffnung Raum zu geben.

Aber, nein, das würde er nicht tun. Es war zu riskant. Die Jugendlichen und das Krankenhaus verließen sich darauf, dass er die Klinik am Laufen hielt. Auf keinen Fall durfte er sich dabei auf Charlotte stützen. Wenn die Wanderlust sie wieder packte, würde alles in sich zusammenfallen. Es war besser, wenn er sich darauf beschränkte, was er allein schaffen konnte.

In diesem Moment schwang die Vordertür auf, so heftig, dass sie gegen die Wand stieß.

„Hey, Doc!“, rief eine Mädchenstimme. „Der Typ hier braucht Hilfe!“

John wusste, wer es war, ohne hinzusehen. Angel begleitete oft andere Kinder in die Sunshine Clinic, während sie sich gleichzeitig weigerte, selbst Hilfe anzunehmen.

Heute war keine Ausnahme. Sie hatte einen Arm um die Schultern eines sommersprossigen Jungen gelegt, der sich die Nase am Ärmel abwischte. Er wirkte eher verwirrt als krank.

Sarah schaute über den Rand ihrer Gleitsichtbrille. „Die Tür, Angel. Darüber haben wir schon gesprochen, weißt du noch?“

„Schon klar!“ Fix drehte Angel sich um und schloss die Tür, diesmal leiser. Bei jedem Schritt schwang ihr langer Pferdeschwanz.

Sarah nahm die Daten des Jungen auf, während John weiter darüber nachdachte, wie er mit Charlotte umgehen sollte. Er wollte ihr die Begeisterung nicht nehmen. Aber er würde auch nichts anfangen, was er nicht zu Ende bringen konnte.

„Angel, würdest du unseren Patienten bitte in Zimmer zwei führen?“, sagte Sarah.

John hob den Kopf. Das war Charlottes Untersuchungszimmer.

Er zwang sich zu warten, bis Angel mit dem Jungen, der Bruce hieß, außer Hörweite war. „Sarah, was soll das? Angels Fall ist viel zu kompliziert für Charlottes ersten Tag.“

„Angel?“, fragte Charlotte verwirrt. „Ich dachte, Bruce wäre der Patient?“

Sarah erklärte, dass Angel ständig neue Patienten zu ihnen brachte. „Aber wir machen uns um Angel selbst viel größere Sorgen.“

„Oder wie auch immer sie wirklich heißt“, sagte John. „Ihren echten Namen will sie uns nicht sagen. Wir wissen nur, dass sie sich manchmal die Hand auf die Brust presst, als ob sie Schmerzen hat. Und sie hat zugegeben, dass ihr manchmal schwindlig wird. Aber sie will sich nicht untersuchen lassen. Und selbst wenn, ich kann sie nicht behandeln, bevor sie nicht die Voraussetzungen für die staatliche Versicherung erfüllt.“

Charlotte bis sich auf die Unterlippe. „Und das ist nicht der Fall, solange sie ihren echten Namen nicht nennt.“

„Richtig“, sagte Sarah. „Und deshalb denke ich auch, Sie sollten den Fall übernehmen. Sie sind brandneu. Vielleicht haben Sie eine Chance, sie dazu zu bringen, sich zu öffnen.“

„Es ist Charlottes erster Tag“, protestierte John. „Sie weiß gar nichts über Angel. Und umgekehrt auch nicht. Sie haben noch gar keine Vertrauensbasis.“

„Ich weiß, dass sie Ihnen vertraut, John, aber trotz all Ihrer Bemühungen haben Sie sie bisher nicht dazu bewegen können, sich untersuchen zu lassen.“

Das stimmte.

Um Angels willen musste er Charlotte eine Chance geben.

Er nickte. „Also schön. Aber seien Sie vorsichtig, Charlotte. Setzen Sie sie nicht unter Druck, okay? Falls sie reden möchte, gut. Wenn nicht, haken Sie nicht nach. Sonst läuft sie bloß davon und lässt sich hier nie mehr blicken.“

Charlotte nickte und ging den Flur entlang.

John behielt sie im Auge. Er wusste, Sarah hatte recht, aber aus irgendeinem Grund fühlte sich das alles an, als würde er die Kontrolle verlieren. Dabei war sein Leben schon chaotisch genug.

Nicht, dass es perfekt gewesen war, bevor er die Sorge für Piper übernommen hatte. Er hatte viel gearbeitet und war den Rest der Zeit allein gewesen. Aber es war sein Leben, und er hatte es gelebt, wie er es wollte.

Jetzt fühlte es sich an, als ob ein Sturm nahte.

Charlotte schloss die Tür und musterte ihre beiden Patienten. Bruce setzte sich gleich auf den Untersuchungstisch und baumelte mit den Beinen. Angel stand in der Ecke mit dem Rücken zur Wand, die Arme über der Brust verschränkt.

„Wo ist Doc J?“, fragte sie.

„Beschäftigt“, sagte Charlotte, was nicht gelogen war: Das Wartezimmer war zum Bersten voll. „Ich bin Dr. Charlotte Owens.“

Das war viel zu förmlich. Wäre es besser, wenn sie sich als Doc C vorstellte? Aber das fühlte sich nicht richtig an. Sie begriff, dass sie keine Ahnung hatte, wie sie mit diesen Kindern umgehen sollte.

Es wäre nett, Bennett – John – um Rat fragen zu können, aber bisher hatte sie noch keinen Draht zu ihm gefunden. Behandelte er all seine Vertretungsärzte so unfreundlich, oder war sie eine Ausnahme?

„Hallo, Bruce. Was führt dich heute her?“

Aber es war nicht Bruce, der antwortete, sondern Angel. Sie schilderte seine Symptome auf eine sachkundige Art, die besagte, dass sie schon viele Arztbesuche hinter sich hatte.

Die gründliche Diagnose ergab den Verdacht auf Heuschnupfen.

„Also braucht er Antihistamine, ja?“, sagte Angel sehr mütterlich.

Charlotte fragte sich, wie alt sie war. Etwa im Alter für den Abschluss an der Highschool, schätzte sie. Lebhaft erinnerte sie sich daran, wie es damals gewesen war. An die Angst davor, noch die letzte Unterstützung zu verlieren, die der Staat ihr gewährte. Der Gedanke, dass Angel ganz auf sich allein gestellt war, tat weh.

„Das stimmt. Möchtest du lieber etwas zum Kauen oder zum Schlucken?“, fragte Charlotte den Jungen.

„Zum Schlucken.“

Sie trug alles in die Akte ein und verschrieb eine Monatspackung. „Bruce, bring das nach draußen zu Sarah. Sie gibt dir deine Medikamente.“

Angel wollte ihm folgen. Charlotte hielt den Atem an und hoffte auf das Beste. „Hey, Angel, würdest du noch einen Moment bleiben?“

Angel hielt inne, die Hand auf dem Türknauf. Sie musterte Charlotte skeptisch, bevor sie langsam wieder zurückkam. Sie lehnte sich erneut gegen die Wand, die Arme überkreuzt.

Charlotte holte tief Atem. Endlich hatte sie eine Chance, etwas zu bewirken. Deshalb war sie ja hier.

„Was wollen Sie?“

Charlotte achtete darauf, Abstand zu halten. Sie machte den Weg zur Tür frei, sodass Angel wusste, sie konnte gehen, wann immer sie das wollte. „Ich wollte mich nur einen Moment mit dir unterhalten, wenn das okay ist.“

„Worüber?“

„Über dich, schätze ich.“

Angel kniff die Augen zusammen. Ihre Körpersprache verriet tiefes Misstrauen. Und Angst.

„Doc J hat mir gesagt, manchmal tut es dir in der Brust weh. Und dir wird schwindlig.“

Angel zuckte die Schultern. „Nur ganz selten.“

„Das ist gut. Aber du bist eigentlich noch sehr jung für Schmerzen in der Brust. Wie alt bist du?“

Angel warf ihr einen wissenden Blick zu. „Netter Versuch, Doc.“

„Es gibt viele Gründe, warum du solche Symptome haben könntest“, sagte Charlotte. „Austrocknung, Stress oder Müdigkeit. Aber es gibt auch noch andere denkbare Ursachen, und einige davon sind ziemlich ernst. Ich würde dich gern untersuchen, wenn das okay ist. Zumindest einmal dein Herz abhören.“

Das traf auf Widerstand. „Ich mache mir keine Sorgen.“

Aber das Flackern in Angels Augen verriet, dass das nicht stimmte. Sie warf nervöse Blicke zur Tür.

Wie sollte sie diesem Mädchen helfen, wenn allein schon die Erwähnung einer Untersuchung sie dazu brachte, beinahe die Flucht zu ergreifen?

Bleib ruhig. Finde einen Weg.

Eher zufällig fiel Charlottes Blick auf die Halskette, die Angel trug. Vier miteinander verschlungene Herzen. Das erste war fest und aus Gold, die drei übrigen hohl. Eine Erinnerung aus ihrer Kindheit stieg in Charlotte auf, an ein anderes Mädchen, dem sie in einer Pflegefamilie begegnet war …

„Das ist eine Schwesternkette, richtig?“

Reflexhaft glitt Angels Hand zu ihrem Hals. „So was in der Art“, gab sie hörbar widerwillig zu.

„Und du bist die Älteste? Deswegen ist das erste Herz aus Gold.“

„Ja.“

Das gab Charlotte einen Einstieg. Es war klar, dass Angel zu viel Angst hatte, um Hilfe anzunehmen. Jedenfalls für sich selbst. „Ich mache mir Sorgen, Angel. Auch um deine Schwestern.“

Angel runzelte die Stirn. „Warum? Sie kennen sie doch gar nicht.“

„Ich weiß. Aber viele versteckte Herzkrankheiten sind erblich bedingt. Falls du eine davon hast …“

„Könnten meine Schwestern auch krank sein?“ Angel wirkte beunruhigt.

„Möglich ist es. Wir können es nur herausfinden, indem wir dein Herz untersuchen.“

Die widersprüchlichen Emotionen in Angels Gesicht waren herzzerreißend. Charlotte biss sich auf die Lippen. Und hoffte, dass Angels Liebe zu ihren Schwestern ausreichte, sie dazu zu bewegen, diesen wichtigen Schritt zu tun.

„Okay. Schön.“ Angel drehte sich um und sprang auf den Untersuchungstisch.

Charlotte beschränkte die Untersuchung auf die absolut notwendigsten Dinge. Angel war dünner, als ihr gefiel, und sie hätte gern Blut genommen. Stattdessen begnügte sie sich damit, sie gründlich abzuhorchen. Sie nahm sich Zeit.

Schließlich stand sie auf und hängte sich das Stethoskop wieder um den Hals. „Danke, Angel.“

„Also?“ Angel zupfte ihr Hemd zurecht. „Ist alles okay?“

Charlotte lächelte. „Insgesamt wirkst du sehr gesund. Aber dein Herz schlägt schneller, als es sollte. Wir müssen herausfinden, warum.“

„Können Sie mir nicht einfach irgendeine Tablette dafür geben?“

„Erst müssen wir wissen, was falsch ist. Deswegen würde ich dich gern zu einem Kardiologen überweisen, der ein EKG machen kann. Bei einem EKG werden die Herzströme gemessen. Daran kann man sehen, wie gut das Herz arbeitet.“

Angel mied Charlottes Blick. Sie sprang vom Tisch. Einen Moment fürchtete Charlotte, sie würde einfach gehen.

Aber in der Tür hielt sie noch einmal inne und schaute zu ihr zurück. „Würde das meinen Schwestern denn helfen?“

Charlotte spürte ein schmerzhaftes Mitgefühl. Sie wünschte sich, Angel würde ihre eigene Gesundheit an erste Stelle setzen. „Es wäre zumindest ein Anfang. Aber es könnte sein, dass hinterher noch weitere Tests nötig sind.“ Sie wartete.

„Okay“, flüsterte Angel. „Vielleicht irgendwann.“

Damit war sie aus der Tür.

Das war nicht die Antwort, auf die Charlotte gehofft hatte. Falls Angel wirklich eine Herzerkrankung hatte, trug sie vielleicht eine tickende Zeitbombe in sich.

Wohin würde Angel jetzt gehen? Würde sie zurückkommen?

Charlotte ließ den Kopf in die Hände sinken. Sie war hergekommen, um zu helfen, aber wie konnte sie das, wenn viele dieser Kinder nicht einmal eine dauerhafte Adresse oder eine Telefonnummer hatten?

Wie sollte sie einem Mädchen helfen, das wie ein Geist lebte?

Charlotte ging hinüber in das improvisierte Büro hinter der Anmeldung. John war bereits dort und tippte an seinem Computer.

Charlotte ließ sich neben ihm auf den Stuhl sinken.

„Wie ist es gelaufen?“, fragte er.

Charlotte wollte ihm nicht sagen, dass er recht gehabt hatte. Aber das hatte er. „Genau, wie Sie befürchtet haben. Immerhin konnte ich Sie überreden, sich abhorchen zu lassen.“

Johns Finger verhielten über der Tastatur. „Und?“

„Sie hatten recht. Tachykardie. Sie müsste dringend zu einem Kardiologen.“

John drehte sich auf seinem Stuhl zu ihr herum. „Was hat sie dazu gesagt?“

Verflucht. Charlotte wollte so gern stolz vermelden können, dass es ihr gelungen war, zu Angel durchzudringen. Um Angels willen. Aber auch, um zu beweisen, dass sie diesem Job gewachsen war.

„Sie hat gesagt, sie denkt darüber nach.“

John rieb sich den Nacken und schaute in die Ferne.

„Also, was heißt das? Wird sie wiederkommen?“

An seinem Gesicht sah sie, dass er es auch nicht wusste. „Wir können nur versuchen, nach und nach ihr Vertrauen zu erringen. Aber das geht nicht von heute auf morgen.“ John seufzte, wandte sich wieder seinem Computer zu und tippte weiter. Er wirkte sehr konzentriert, während er tippte, und es ging ein bisschen langsam. Sie war versucht, ihn zu necken, aber sie hatte keine Ahnung, wie er darauf reagieren würde.

„Also …“ Charlotte steckte eine Hand in die Tasche ihrer Cargohose. „Falls … ich meine, wenn Angel zurückkommt, sollten wir das mit dem EKG vielleicht schon organisiert haben. Kriegen wir das irgendwie hin?“

John schaute sie an. Einmal mehr wirkte er ehrlich überrascht. Er sah wirklich gut aus, wenn er nicht so finster blickte. Wache grüne Augen, glatte, gebräunte Haut. Und ein klassisches Profil.

Charlotte zwang sich, wegzusehen. Aber ihr Blick verharrte einen Moment zu lange auf seinem Mund, und ihre Wangen wurden heiß, als er ihren Blick auffing.

Sarah nutzte diesen Moment, um sich zu ihnen umzudrehen. „John“, rief sie zu ihnen hinüber. „Sie sollten mit Charlotte zum Mittagessen zu Guido’s gehen. Eine Gelegenheit, sich be...

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