Miss Desirees gefährliches Geheimnis

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Endlich ein Hinweis auf ihren Vater! Nach einer schweren Kindheit in Armut und Schande hat Desiree Malone jetzt die Chance, etwas über ihre Vergangenheit und ihre Familie herauszufinden. Die Detektei Moreland & Quick hütet die Informationen, also verschafft sich die resolute Desiree kurzerhand Zutritt zu deren Büros. Dabei wird sie von einem der beiden Detektive ertappt. Desirees Herz pocht wie wild! Zuerst ist Tom Quick nicht bereit, einer Einbrecherin weiterzuhelfen. Doch schon bald entdecken Desiree und Tom ein Geheimnis, das sie beide in höchste Gefahr bringt. Um zu überleben, müssen sie zusammenarbeiten – und kommen einander dabei verlockend nahe …


  • Erscheinungstag 01.03.2025
  • Bandnummer 171
  • ISBN / Artikelnummer 9783751532167
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Irgendwo im Stockwerk unter ihm war ein Kratzen zu hören, nicht laut, aber doch laut genug, um Tom in der Wohnung darüber aufschrecken zu lassen. Er hatte einen leichten Schlaf, eine tief verwurzelte Gewohnheit aus seiner Kindheit, als stete Wachsamkeit überlebensnotwendig gewesen war. Er lag einen Moment still da und lauschte. Er kannte das Gebäude in- und auswendig, wohnte dort, seit Con vor einem Jahr geheiratet hatte, und verbrachte seine Tage seit fünfzehn Jahren im Büro der Agentur darunter. Er kannte jedes Knarren und jeden Ächzer, normale Geräusche hätten ihn nicht aus dem Schlaf gerissen.

Mehr noch, er wusste, wie sich die stille Leere des Gebäudes in der Nacht anfühlte. Und im Moment fühlte sich irgendetwas falsch an. Er schwang die Beine aus dem Bett, schlüpfte in seine Hose, pflückte das Hemd von der Stuhllehne und lief zur Zimmertür. Vorsichtig öffnete er sie und horchte. War das ein Poltern? Es war schon vorgekommen, dass jemand in einen der Läden im Erdgeschoss hatte einbrechen wollen, und auch wenn er als Bewohner der obersten Wohnung nicht dazu verpflichtet war, fühlte er sich doch genötigt, das Gebäude zu schützen. Schließlich war es für Tom das einzige Zuhause, das er je gekannt hatte.

Er nahm den Schlüsselring vom Haken, legte die Finger um die einzelnen Schlüssel, damit sie nicht klirrten, und bewegte sich lautlos zur Treppe. Ebenso leise schlich er sich hinunter, mied dabei eine knarrende Stufe. Auch die Verstohlenheit war ihm zur zweiten Natur geworden.

Da. Also, das war jetzt wirklich ein Rumsen, da war er sich ganz sicher. Mit einem Satz war er die Treppe hinuntergestürmt und kam neben Alex’ Büro zum Stehen. Alles war dunkel und still, und er wandte sich um und warf einen forschenden Blick in den schummrigen Flur.

Er hatte damit gerechnet, dass sich der Einbrecher im Geschoss darunter befände, in der Apotheke oder der Uhrmacherei, aber dann sah er den Streifen Licht, der am Ende dieses Korridors unter der Tür hervordrang. Der Tür, die ins Büro von Moreland & Quick führte. Sein Büro. Er fing an zu laufen. Der Türknauf ließ sich nicht drehen, die Tür war immer noch verschlossen, und er vergeudete wertvolle Sekunden damit, den Schlüssel ins Schloss zu stecken.

Als er die Tür endlich aufbekam, war das Licht erloschen, und eine dunkle Gestalt kletterte durchs Fenster hinaus. Mit einem Knurren stürzte Tom durch den Raum, packte den Einbrecher mit beiden Händen am Arm und zerrte ihn ins Zimmer zurück. Sie taumelten beide rückwärts und landeten auf dem Fußboden. Der Einbrecher kam schneller auf die Füße als er, doch Tom schlang den Arm um die Unterschenkel des Mannes und zog, worauf der Einbrecher auf die Knie fiel.

Beide rappelten sich wieder auf, rangen miteinander, doch der Einbrecher war kleiner und schwächer als er, sodass Tom die Arme um ihn schlingen und ihn festhalten konnte. Zu seiner Überraschung verströmte der Eindringling einen verführerischen Duft. Noch seltsamer war, dass er weder Hose noch Hemd trug, sondern ungewöhnliche Kleidungsstücke, die sich an jede Kurve seines Körpers schmiegten. Und es war ein sehr kurvenreicher Körper. Weich und einladend.

Der Einbrecher war eine Frau.

Schockiert lockerte Tom den Griff, was die Diebin sofort nutzte. Sie trat ihm auf den bloßen Fuß, rammte ihm den Ellbogen in den Magen und entwand sich ihm. Im nächsten Moment war sie aus dem Fenster. Tom stürzte ihr nach, versuchte sie festzuhalten, doch seine Hände griffen ins Leere.

Die kleine dunkle Gestalt entwischte über den schmalen Steinsims unterhalb der Fenster. Der Sims war nicht breiter als eine Hand, doch sie lief rasch und sicher darüber, stützte sich dabei mit einer Hand an der Hauswand ab. Was zum Teufel würde sie tun, wenn sie am Ende angelangt war?

Die Frage wurde beantwortet, als sie vom Sims sprang und die Eisenstange griff, an der das Schild über den Läden befestigt war. Durch den Schwung geriet sie ins Pendeln, holte mit ein paar Beinbewegungen noch mehr Schwung und arbeitete sich an der Stange nach außen.

Nach ein paar weiteren Schwüngen stieß sie sich einfach ins Leere ab. Tom schlug das Herz bis zum Hals, als sie durch die Luft flog und sich auf dem metallenen Vordach des Nachbargebäudes abrollte. Sie glitt auf dem Dach nach unten, hielt sich kurz am Rand fest, um ihren Rutsch etwas zu bremsen, und sprang dann leichtfüßig auf den Boden.

Neben dem Gebäude lag ein ordentlich zusammengelegtes Bündel. Sie hob es auf und rannte die Straße hinunter. Bei dem Bündel schien es sich um einen Umhang zu handeln, denn sie schüttelte den Stoff im Laufen aus und warf ihn sich um die Schultern. Fassungslos vor Staunen sah Tom ihr nach, während sie in der Dunkelheit verschwand.

2. KAPITEL

Einen langen Augenblick regte Tom sich nicht von der Stelle, den Blick voll Staunen auf die Stelle gerichtet, wo die Frau in der Dunkelheit und dem Nebel verschwunden war. Das Wirbeln ihres Umhangs hatte die Szene noch unwirklicher erscheinen lassen, wie der Abschluss eines Zaubertricks. Geheimnisvoll, fast unheimlich … und absolut faszinierend.

„Mein lieber Schwan“, flüsterte er nicht sehr angemessen und schüttelte den Kopf, als könnte das die Gedanken und Fragen verscheuchen, die wie verrückt von allen Seiten auf ihn einstürmten.

Das war kein Zaubertrick gewesen, sondern eine gut geplante und gelungene Flucht. Sie hatte ja sogar ihren Umhang zusammengelegt, damit sie ihn auf dem Rückweg an sich nehmen konnte. Sie brauchte weiß Gott etwas, um ihre Kleidung zu bedecken. Was war das nur für ein merkwürdiger Aufzug gewesen?

Der Stoff hatte sich weich angefühlt, und er hatte sich wie ein Strumpf an ihre Gestalt geschmiegt. Der Anzug hatte sie vom Hals bis zu den Knöcheln umschlossen, einschließlich ihrer Arme, war jedoch keineswegs züchtig und überließ der Fantasie keinerlei Spielraum. Oder vielleicht auch zu viel, was zu allen möglichen verwirrenden Gedanken führen könnte. Zu dem Anzug hatte ein äußerst kurzer Rock gehört, der nur ein paar Zoll über ihre Oberschenkel reichte und eher verlockte als bedeckte.

Das war natürlich nicht der Grund, warum sie ihn getragen hatte, er ermöglichte es ihr, ein Gebäude zu erklimmen und diese erstaunlichen akrobatischen Kunststücke auszuführen. Natürlich. Das war es. Kleidung wie ihre trugen auch die Artisten im Zirkus, zwar in Weiß und verziert mit glitzernden Perlen und Pailletten und dergleichen, aber im Wesentlichen war es dasselbe. Sie war Akrobatin, eine der Frauen, die durch die Luft flogen und darauf vertrauten, dass ein Mann, der kopfüber an einem Trapez hing, sie auffing.

Er fragte sich, ob sie in einem Zirkus oder einem Varietétheater auftrat und sich etwas durch Einbrüche hinzuverdiente. Vielleicht hatte sie auch den Flitterkram an den Nagel gehängt, um sich Vollzeit dem Diebstahl zu widmen. Fähigkeiten wie ihre wären einem Einbrecher sicher von Nutzen. Und ihre Fähigkeiten waren wahrhaftig eindrucksvoll.

Tom stieß ein angewidertes Knurren aus. Was fiel ihm ein, hier herumzustehen und die Fähigkeiten der Einbrecherin zu bewundern oder daran zu denken, wie sich ihre Brust unter seinen Fingern angefühlt hatte und dass ihr Duft ihn tief in seinem Innersten berührt hatte? Nein, er musste herausfinden, was hier vor sich ging. Er drehte die Gaslampen auf, bis der Raum in Licht getaucht war, und machte sich daran, den Schaden zu begutachten. Groß war er nicht.

Offenkundig war sie eine Professionelle, sie hatte rasch und sauber gearbeitet. Wenn er nicht aufgewacht wäre, wäre ihm vielleicht nicht einmal aufgefallen, dass das Büro durchsucht worden war. Das Geräusch war vermutlich von dem Schränkchen hinter Cons Schreibtisch gekommen – seit einiger Zeit gab die Tür beim Öffnen ein nervenaufreibendes Kreischen von sich. Er hatte vorgehabt, die Beschläge zu ölen, aber vielleicht sollte er es lieber bleiben lassen.

Hier und da waren ein paar Schubläden zu weit herausgezogen, die Dinge auf seinem Schreibtisch waren ein wenig anders angeordnet. Von einem Bücherstapel war das oberste Exemplar heruntergefallen – zweifellos der dumpfe Schlag, den er gehört hatte, als er die Treppe hinuntergeschlichen war. Doch die Geräusche zuzuordnen half ihm nicht dabei herauszufinden, worauf sie es abgesehen hatte. Was es auch war, sie hatte es nicht mitgenommen, dessen war er sich sicher. In ihren Anzug hatte sie es jedenfalls nicht gesteckt, und in den Händen hatte sie nichts gehabt. Was alles schön und gut war, aber er wusste immer noch nicht, worauf er nun speziell ein Auge haben musste.

Tom nahm an, dass sie es auf Geld abgesehen haben könnte, doch gab es keinen Grund, warum sie im Büro mehr als geringfügige Beträge verwahren sollten. Ihre Gewinne landeten auf der Bank, und es war nicht so, als nähmen sie riesige Summen an Bargeld ein. Nein, wenn man auf Geld aus war, würde man sein Glück beim Uhrmacher oder beim Apotheker versuchen, wo sehr viel wertvollere Objekte zu finden waren. Und auch mehr Bargeld in der Kasse durch ihre täglichen Einnahmen.

Höchstwahrscheinlich hatte sie es auf etwas Bestimmtes abgesehen, das auf andere Weise wertvoll war als auf finanzielle. Und da ein Berufseinbrecher normalerweise nur an Geld interessiert war, stand zu vermuten, dass man sie angeheuert hatte, um dieses bestimmte Objekt zu finden. Aber worum handelte es sich dabei? Wer hatte sie angeheuert? Und warum?

Die logische Antwort wäre, dass es mit einem ihrer Fälle zu tun hatte, und so ging er sie in Gedanken durch, während er im Raum umherging und all die kleinen Dinge zurechtrückte, die die Einbrecherin durcheinandergebracht hatte. Moreland & Quick war bekannt dafür, vermisste Personen und verloren gegangene oder gestohlene Objekte aufzuspüren. Wenn ein Objekt wertvoll war, bewahrten sie es im Safe im Büro auf, bis sie es dem Besitzer überreichen konnten, doch im Moment befand sich nichts darin. Im Moment hatten sie nur einen Diebstahl in Bearbeitung, doch sie mussten das Objekt erst noch finden.

Dann blieben nur noch Informationen übrig. Was erklärte, warum die Einbrecherin Schubladen und Schränke geöffnet hatte, statt sich am Safe zu schaffen zu machen. Die Agentur hatte nur ein paar offene Fälle. Eine Frau, die ihren Ehemann einer Affäre verdächtigte. Eine andere, die sich sicher war, dass ein Dienstbote Sachen stahl, und den Übeltäter identifizieren wollte. Ein Vermisstenfall, der nun schon seit Monaten ungelöst in den Akten lag; Tom hatte keinen einzigen Hinweis finden können, nicht einmal Alex’ und Cons spezielle Fähigkeiten hatten etwas bewirkt.

Also hatten sie im Vermisstenfall keinerlei nützliche Informationen. Was den missratenen Ehemann anging, so war Tom dem Mann mehrmals gefolgt und hatte sich Notizen gemacht, wo er sich herumtrieb. Da er den Eindruck gewonnen hatte, dass der Mann sich nicht nur eine Geliebte hielt, sondern hin und wieder auch eine gewisse verheiratete Dame aufsuchte, hätte der Ehemann, falls er von den Nachforschungen erfahren hatte, vielleicht Schritte unternehmen können, sie zu unterbinden. Doch Tom hatte die Informationen im Kopf, er brauchte die Notizen eigentlich gar nicht. Außerdem brauchte er dem Mann ja nur wieder zu folgen, solange der seine Affäre weiter verfolgte.

Dasselbe galt für den diebischen Dienstboten – das Interessante an diesem Fall war, dass Tom inzwischen keinen Dienstboten in Verdacht hatte, sondern eine Freundin der Frau, aber auch hier waren die Notizen nicht notwendig, sie bestanden aus Befragungen der Dienstboten, die jederzeit wiederholt werden konnten, und er hatte die Informationen im Kopf.

Es lag nicht mal einer von Cons merkwürdigen Fällen vor. Jetzt, da Cons Frau Lilah ein Kind erwartete, interessierte Con sich weitaus weniger für merkwürdige Phänomene und suchte das Büro nur hin und wieder auf. Stattdessen blieb er lieber zu Hause und machte viel Aufhebens um Lilah. Der Gedanke entlockte Tom ein Lächeln. Tom und Alex hatten eine Wette abgeschlossen, wann Lilah unter Cons überbordender Fürsorge zusammenbrechen und ihm mit Körperverletzung drohen würde.

Vielleicht dann einer ihrer alten Fälle? Er konnte sich keinen Grund denken, warum irgendwer versuchen sollte, sich eine ihrer alten Akten zu schnappen. Er trat an seinen Schreibtisch und zog den Stuhl heraus. Hier, wo sie miteinander gerungen hatten, lag immer noch eine Spur ihres Dufts in der Luft. Er war anders als alle Parfüms, die er bisher gerochen hatte – exotisch und üppig –, und er berührte ihn wie keines zuvor – unmittelbar, instinktiv.

Selbst die schwachen Spuren erregten ihn. Er schüttelte das Gefühl ab und nahm Platz. Dabei fiel ihm ein metallisches Glitzern unter dem Schreibtisch auf, das bisher vom Stuhl verdeckt worden war. Er griff nach unten und hob eine zarte Kette mit einer silbernen Scheibe auf.

Er erinnerte sich daran, während er mit der Einbrecherin gerungen hatte, hatte er an einem Punkt eine Kette an den Fingern gespürt. Das musste die Halskette gewesen sein, und sie war während des Kampfes gerissen und auf den Boden gefallen. Ihm gehörte sie jedenfalls nicht, und als er das Büro an diesem Abend verlassen hatte, hatte sie noch nicht dort gelegen.

Tom hielt sie hoch und betrachtete sie. Die Scheibe war rechteckig, mit einem kleinen Loch an einer Ecke, damit man die Kette durchfädeln konnte. Die Kette wirkte weitaus kostbarer als der Anhänger, der aussah, als wäre er aus Blech, und die Aufschrift war gedruckt statt graviert. Aber er wirkte stilvoll, und die Aufschrift war fließend und elegant: Farrington Club.

Tom schloss die Faust um die Spielmarke und lächelte grimmig. „Nun, wie es aussieht, hat man mir eine Visitenkarte dagelassen.“

Desiree Malone sprang aus der Droschke und lief mit flatterndem Umhang die Stufen zum Haus empor. In der Hoffnung, dass keiner mehr wach war, schlüpfte sie durch die Eingangstür und wandte sich Richtung Treppe, wobei sie auf ihren dünnen, flexiblen Sohlen lautlos über den Perserteppich huschte.

„Desiree?“

Verflixt. Natürlich war Brock noch auf. Sie drehte sich zu ihm und setzte ein Lächeln auf. „Was treibst du hier mitten in der Nacht?“

„Mich fragen, wo du bleibst“, lautete die trockene Antwort ihres Bruders. Brock Malone stand in der Tür zum Salon, immer noch in seiner eleganten Abendkleidung. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und runzelte die Stirn. „Ich bin vor einer halben Stunde aus dem Club gekommen, und du warst nicht da.“

„Ich bin eine erwachsene Frau, Brock“, versetzte Desiree gereizt. „Ich brauche mich nicht bei dir abzumelden.“

„Dessen bin ich mir bewusst“, erwiderte Brock. „Aber ich habe gesehen, dass du den Club vor zwei Stunden verlassen hast, und keiner wusste, wo du bist.“

„Wir haben uns einfach Sorgen gemacht, Dez.“ Ihr Zwillingsbruder war neben Brock in die Tür getreten. Wells war eine schlankere Version ihres älteren Bruders, und wie Desiree hatte er hellere Haare und Augen als Brock mit seinem schwarzen Haar und den sturmgrauen Augen. Er hatte eine lässige Art zu stehen, stand oft angelehnt oder drapierte sich auf einen Sessel, der Inbegriff eines leicht amüsierten ennui. Leute, die seine Pose für bare Münze nahmen, bedauerten das oft hinterher.

„Warum hast du nicht die Kutsche genommen?“ Brock musterte sie scharf. Die kämpferische Haltung, die sie eingenommen hatte, hatte dazu geführt, dass der Umhang auseinanderklaffte und den Blick auf ihren Aufzug freigab. „Nun, damit wäre meine Frage beantwortet. Du bist irgendwo eingebrochen.“ Ihr Bruder seufzte und rieb sich über das Gesicht. „Desiree … was machst du bloß?“

Ohne eine Antwort abzuwarten, winkte er seinen Geschwistern, mit in den Salon zu kommen, und schloss dann die Tür. Brock durchquerte den Raum, wobei sein Hinken, wie so oft gegen Abend, deutlich ausgeprägt war, und trat an den Kamin. Er verschränkte die Arme und lehnte sich an den Sims, um sein krankes Bein zu entlasten. Wells ließ sich in seinen Lieblingssessel sinken, die Beine weit von sich gestreckt, die Knöchel gekreuzt. Im Gegensatz zu Brock warf er ihr keine finsteren Blicke zu, doch Desiree sah die Neugier in seinem Blick, die Wachsamkeit, die sich hinter seiner nachlässigen Haltung verbarg.

„Und, was hast du dir jetzt wieder eingebrockt?“, fragte ihr älterer Bruder eher resigniert als streng.

„Ich habe mir gar nichts eingebrockt“, erwiderte sie, doch als sie die Sorge in Brocks Blick sah, die Falten um seinen Mund, bekam sie unwillkürlich ein schlechtes Gewissen. Seufzend legte sie den Umhang ab, hängte ihn über die Sofalehne und setzte sich. „Tut mir leid, dass du dir Sorgen gemacht hast. Aber es gab heute Nacht etwas, was ich erledigen musste, und ich konnte dem Kutscher nicht davon erzählen.“

„Du hättest es mir erzählen können“, meinte Wells. „Warum hast du mich denn nicht um Hilfe gebeten?“

„Wunderbar“, versetzte Brock sarkastisch. „Damit ihr beide erwischt werdet.“

Wells warf seinem Bruder einen kühlen Blick zu. „Ich werde nicht erwischt.“

Brock sah ihn nur spöttisch an und wandte sich dann wieder Desiree zu. „Auch wenn es nur für eine Nacht ist, zu der alten Lebensweise zurückzukehren ist gefährlich, Desiree. Das musst du doch einsehen.“

Desiree starrte ihn wütend an. „Ich wusste, dass ich in Sicherheit war. Gefahr spüren zu können ist meine spezielle Gabe, falls du dich erinnerst.“ Den Umstand, dass sie tatsächlich erwischt worden war, verschwieg sie lieber.

„Ja, wir sind uns alle bewusst, dass du Gefahren erkennst, die normalen Leuten verborgen bleiben, aber selbst du kannst nicht immer richtigliegen“, erwiderte Brock. „Und überhaupt, warum willst du auf einmal wieder in Häuser einbrechen? Du benötigst doch kein Geld. Sorge ich nicht gut genug für dich?“ Mit einer weit ausladenden Geste wies er auf den elegant ausgestatteten Raum. „Woran fehlt es dir? Du weißt doch, dass ich …“

„Mir fehlt es an nichts. Du bist immer großzügig. Ich habe es nicht des Geldes wegen gemacht. Ich habe es gemacht, weil Falk mir gesagt hat …“

„Falk!“ Brock starrte sie verblüfft an.

Wells sprang auf, sein sonst so gelassenes Gesicht war wutverzerrt. „Du hast für Falk gearbeitet? Lieber Himmel, Desiree, was ist in dich gefahren, dass du dich wieder mit diesem Schuft eingelassen hast? Hast du denn all die Male vergessen, als er …“

„Ich habe nichts vergessen“, versetzte Desiree kurz. „Ich verachte den Mann genauso sehr wie ihr beide.“

„Und doch hast du für ihn gestohlen.“ Brock kam auf sie zu. „Warum? Was zum Teufel …?“

„Ich sage es euch, sobald ihr beide aufhört, auf mir herumzuhacken, und mir stattdessen zuhört!“ Desiree stand auf. „Und hört auf, euch so vor mir aufzubauen.“ Sie warf beiden Brüdern einen strengen Blick zu, und sie gaben sich beide geschlagen. Wells ließ sich wieder in seinen Sessel sinken, und Brock nahm zum ersten Mal Platz. „Danke. Falk hat verlangt, dass ich ins Büro von Moreland & Quick einbreche.“

„Welches Büro?“, fragte Brock. „Warum?“

„Moreland wie die Familie des Duke of Broughton?“ Wells hob die Augenbrauen.

„Ja, ich glaube schon. Ich bin mir nicht sicher, was das Büro mit den Morelands zu tun hat, aber auf dem Schild steht Detektei.“

„Das wird ja immer besser“, seufzte Brock.

Sie schnitt ihm eine Grimasse. „Sie werden nicht herausbekommen, dass ich es war.“

„Ich verstehe immer noch nicht, wieso du etwas für Falk tun konntest.“

„Er hat das von mir verlangt, im Gegenzug dafür, dass er mir verrät, wer unser Vater ist.“

„Deswegen hast du das Gefängnis riskiert?“ Brock sprang wieder auf die Beine. „Ich kann dir sagen, wer dein Vater ist. Er ist ein schwacher, selbstsüchtiger Mann, der seiner Frau untreu war und dem seine Kinder egal waren. Er konnte seine Pflicht gegenüber seiner rechtmäßigen Frau nicht erfüllen und hat dich und Wells im Stich gelassen. Er floh aus seiner Ehe, wollte das aber nicht allein tun, und so nahm er unsere Mutter, seine Geliebte mit und hat uns dem Hungertod ausgeliefert. Warum willst du seinen Namen herausfinden?“

„Ich habe nicht gesagt, dass ich ihn mag. Ich weiß, dass uns unsere Eltern wie ein Paar alte Schuhe zurückgelassen haben. Ich will einfach wissen, wer er war.“

„Was wird dir das denn bringen?“, erkundigte sich Brock.

„Ich weiß nicht. Fragst du dich denn nie, wer unser Vater war? Wessen Blut in deinen Adern fließt?“

„Nein. Nie. Der Mann bedeutet mir gar nichts. Und das Blut in meinen Adern gehört mir.“ Brock hielt inne. Sein Blick hatte sich verdüstert. „Wells und ich sind deine Familie. Ist das nicht genug?“

„Natürlich seid ihr mir genug.“ Desiree kannte ihren Bruder gut genug, um den Schmerz zu sehen, der unter seiner strengen Fassade lauerte, und das Gewissen zwickte sie. Sie sprang auf und umarmte ihn. „Du und Wells, ihr seid meine Familie. Die einzige Familie, die ich brauche. Die einzige Familie, die ich will.“ Sie trat einen Schritt zurück und blickte ihm direkt in die Augen, damit er sah, wie ernst es ihr war. „Du bist der beste Bruder, den man sich wünschen kann. Du hast dich immer um uns gekümmert, sogar als du noch so jung warst, dass du selbst jemanden gebraucht hättest, der nach dir schaut. Du bist zurückgekommen, um uns zu holen, genau wie du gesagt hast, und hast uns von Falk befreit. Du hast dieses ganze wunderbare Leben für uns aufgebaut.“

Um Brocks Lippen spielte ein Lächeln, und er hob die Hände. „Es reicht, es reicht. Du hast mich überzeugt. Ich bin ein Musterexemplar von Mann.“ Er nahm ihre Hand und drückte sie. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass Falk eine belastbare Informationsquelle ist. Was hat er dir erzählt?“

„Nichts. Ich habe ihn noch nicht aufgesucht, sondern bin direkt nach Hause gekommen. Ich möchte bezweifeln, dass er mir etwas erzählt, weil ich nicht finden konnte, was er haben wollte. Aber …“ Ihre Augen begannen zu funkeln. „Wie sich herausstellt, brauche ich ihn wohl gar nicht mehr. Unser Vater war ein Moreland.“

3. KAPITEL

Wenn sie gehofft hatte, ihre Brüder zu schockieren, so hatte sie ihr Ziel gewiss erreicht. Beide Männer starrten sie ausdruckslos an. Schließlich ließ Brock sich wieder in seinen Sessel sinken. „Wie kommst du darauf?“

„Ich habe etwas gefunden in der Detektei. Ich habe eine Schreibtischschublade aufgezogen, und darin lag ein Ring. Genau so ein Ring, wie du ihn hast. Derjenige, den unser Vater dir gab.“

„Bist du dir sicher?“, fragte Wells skeptisch. „Ich meine, es war dort doch bestimmt ziemlich dunkel.“

„Ich habe ihn vor meine Lampe gehalten und habe ihn ganz deutlich sehen können. Er hat genauso ausgesehen wie Brocks Ring. Ein schlichter Goldreif mit diesem eingravierten Wappen.“

„Wappen können sich sehr ähnlich sehen“, gab Brock zu bedenken.

„Es war das gleiche.“

„Selbst dann muss es nicht unbedingt heißen, dass es das Wappen des Dukes ist“, meinte Wells.

„Außerdem weißt du doch nicht, ob der Schreibtisch, in dem du den Ring gefunden hast, überhaupt einem Moreland gehört. Ich weiß, der Name steht auf dem Schild, aber ich möchte bezweifeln, dass tatsächlich ein Moreland dort arbeitet. Vermutlich finanziert er das Ganze, und der andere Bursche macht die ganze Arbeit. Wie hieß der noch mal?“

„Quick.“

Brock runzelte die Stirn. „Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor.“

„Du meinst, du erinnerst dich an ihn? War vielleicht das der Name unseres Vaters?“, fragte Desiree.

Brock schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht. Ich kann mich nicht an den Namen eures Vaters erinnern. Es war nichts, womit sie damals hausieren gegangen wären.“

„Quick klingt nicht nach einem Familiennamen, zu dem ein Wappen gehört“, gab Wells zu bedenken.

„Ich sehe, dass ihr beide fest entschlossen seid, mir nicht zu glauben“, sagte Desiree.

„Es ist nicht so, als würden wir dir nicht glauben“, protestierte Brock. „Du hast den Ring sicher gefunden. Ich bin mir nur nicht sicher, ob er das zu bedeuten hat, was du glaubst, dass er zu bedeuten hat.“

„Ich werde es herausfinden und es beweisen“, erklärte Desiree.

„Willst du wieder einbrechen?“, fragte Brock, und seine Augenbrauen schossen alarmiert nach oben.

„Nein, für Falk zu arbeiten gefällt mir genauso wenig wie dir, und wie du schon sagtest, ich habe keinerlei Grund zu glauben, dass Falk mir die Wahrheit sagen würde … wenn er sie überhaupt kennt.“

Wells schnaubte. „Falk würde die Wahrheit nicht mal dann erkennen, wenn sie ihm ins Gesicht spucken würde.“

„Was ich dir ebenfalls empfehlen würde, wenn er wieder auf dich zukommt. Und in diesem Sinne, Kinder“, sagte Brock und erhob sich, „ziehe ich mich jetzt zurück, obwohl ich zweifellos davon träumen werde, wie Desiree ins Gefängnis geworfen wird.“ Er wandte sich zur Tür, drehte sich jedoch noch einmal um. „Mach keine Dummheiten, Dez. Versprich mir das.“

„Ich mache keine Dummheiten.“

Er warf ihr einen zweifelnden Blick zu. „Ich habe so das Gefühl, dass du eine andere Vorstellung von Dummheiten hast als ich.“

Mit einem Nicken verließ er den Raum. Desiree sah ihm nach, seufzte dann und ging zu ihrem Zwillingsbruder. Sie schob kurzerhand seine Beine vom Schemel, setzte sich darauf und wandte sich ihm zu. „Ich fürchte, ich habe ihn verletzt. Das wollte ich nicht.“

„Ich weiß.“ Wells nickte. „Er fühlt sich schuldig, weil er all die Jahre weg war und uns nicht vor Falk bewahren konnte.“

„Brock war doch erst dreizehn, selbst noch ein Kind. Was hätte er denn tun können. Und er ist zurückgekommen und hat uns geholt, genau wie er es versprochen hat.“

„Das weiß ich doch. Er weiß es auch. Aber ich glaube, er hat das Gefühl, dass er irgendwie versagt hat, sonst würdest du jetzt nicht nach unserem Vater suchen.“

„Aber so ist es doch gar nicht. Es hat nichts mit Brock zu tun.“

„Na ja, das ist Teil seines Problems, nicht? Der Mann ist nicht sein Vater, nur unserer.“

„Ich weiß.“ Desiree seufzte und lehnte sich mit der Schulter an seinen Sessel. „Und dazu verachtet er unseren Vater auch noch.“

„Nun ja, wir waren beide noch Babys, als unsere Eltern miteinander davonliefen, aber Brock war sechs. Er kann sich an nicht mehr allzu viel erinnern, aber er war alt genug, um zu wissen, dass er uns im Stich gelassen hat. So etwas ist nicht dazu angetan, zärtliche Gefühle zu wecken.“

„Nein“, sagte Desiree traurig. „Er empfindet genauso, was unsere Mutter angeht. Er nennt sie nie Mum oder Mutter, immer nur Stella, als wäre sie eine Bekannte, nicht seine Mutter.“

„Ja, er hat so seine Art, Distanz zu wahren.“

Sie schwiegen einen Augenblick, dann fragte Desiree: „Macht es dir eigentlich etwas aus, nicht zu wissen, wer unser Vater ist? Fragst du dich nie, wer er war? Was für ein Mensch er war?“

„Ich wäre schon neugierig, und ich würde es ganz gern wissen. Aber es bedeutet mir wohl nicht so viel wie dir.“ Wells zuckte mit den Schultern. „Ich hatte wohl eher das Gefühl, dass Bruna und Sid unsere Eltern waren.“ Das Paar, das sie aufgezogen hatte, nachdem sie verlassen worden waren, hatte immer gut für sie gesorgt.

„Das hatte ich auch, in gewisser Hinsicht, und natürlich war auch noch Brock da. Zu ihm konnte ich immer gehen, wenn ich Hilfe brauchte. Und doch … Ich habe mich immer gefragt, ob es da draußen wohl noch eine Familie gibt, zu der wir gehören. Was sind das für Menschen? Sehen sie aus wie wir? Wissen sie von uns? Ich habe mir manchmal ausgemalt, dass sie nach uns suchen. Dass das alles ein Missverständnis war, dass unsere Mutter uns gar nicht verlassen hat. Und sie würde uns mit sich nehmen, und unser Vater würde uns willkommen heißen. Wir hätten Cousins und Cousinen, Onkel und Tanten, und …“ Sie zuckte mit den Schultern. „Albern, ich weiß.“

„Gar nicht“, erwiderte er. „Ich nehme an, dass wir alle uns Eltern und eine Familie gewünscht haben. Dass jemand uns aus Falks Fängen befreien und mitnehmen würde, dass wir jede Menge zu essen, ein weiches Bett und saubere Kleider hätten.“ Sie schwiegen eine Weile, und dann fragte Wells leise: „Warum hast du mir nicht erzählt, dass du einen Handel mit Falk machst?“

Desiree zuckte mit den Schultern. „Ich habe keinen Grund gesehen, warum du dich auch noch mit Falk herumschlagen solltest. Und wenn wir erwischt worden wären, wären die Leute, für die du arbeitest, sicher nicht begeistert gewesen. Ich hätte nur mit Falk fertigwerden müssen. Außerdem wurden keine zwei Leute für die Aufgabe benötigt. Nur ein Einbruch im ersten Stock, ein Kinderspiel.“ Ihr Blick verfinsterte sich. „Oder es wäre ein Kinderspiel gewesen, wenn der Mann nicht hereingestürmt wäre.“

„Was?“ Wells erstarrte. „Du wurdest erwischt?“

Sie winkte lässig ab. „Ich wusste, dass ich in keiner echten Gefahr war.“

„Desiree …“ Wells seufzte entnervt auf. „Ich weiß, dass du erkennen kannst, ob eine Mauer stabil ist oder was der sicherste Weg ist, aber bei Leuten ist das etwas anderes. Ein Gefühl dafür zu bekommen, ob jemand lügt, ist etwas anderes, als eine Gefahr zu erkennen.“

„Aber es ist dasselbe“, wandte Desiree ein. „Du verstehst meine körperlichen Fähigkeiten besser als meine geistigen, weil sie eher so wie deine sind, aber die Dinge, die ich kann, sind alle Teil einer einzigen Fähigkeit, wie verschiedene Strömungen in ein und demselben Ozean.“ So nahe Wells ihr auch stand, so viel sie gemeinsam hatten, es war Desiree nie gelungen, ihm völlig begreiflich zu machen, wie ihre Gabe funktionierte. Es war wirklich frustrierend. „Integrität oder Verworfenheit einer Person kann ich ebenso deutlich erkennen wie den Riss in einer Wand oder einem Fallrohr, das ich nicht mit meinem Gewicht belasten kann. Und die Gefahr spüre ich sogar, noch bevor ich es gesehen habe. Das weißt du doch besser als jeder andere.“

„Ja“, stimmte Wells zu. „Weiß der Himmel, du hast mir mehr als einmal das Leben gerettet. Aber ich bin mir auch bewusst, dass diese speziellen Fähigkeiten ihre Grenzen haben. Du musst dich genauso wie ich auf deine Gabe konzentrieren, um eine Situation einzuschätzen, aber man kann das innere Auge nicht dauernd offen halten. Man übersieht Dinge – das weiß ich, weil ich ebenfalls Dinge übersehe. Deswegen arbeiten wir zusammen einfach besser. Du hättest mich mitnehmen sollen.“

„Dir wäre es nicht besser ergangen als mir, er hätte dich ebenfalls erwischt. Er hat mich von hinten gepackt, sein Gesicht habe ich nicht gesehen. Vermutlich war es ein Wachmann. Er muss dort übernachten – sein Hemd stand offen.“ Sie dachte daran, wie es sich angefühlt hatte, als sie seine bloße Brust berührte – und wie seine Hände über ihren Körper geglitten waren, wie er aus Versehen ihre Brüste gestreift hatte. Sie war ebenso erschrocken wie er. Schon bei der Erinnerung begann es in ihren Fingerspitzen zu kribbeln. „Aber ich bin aus der Übung. Ich hatte angenommen, dass niemand da wäre, und ich war ungeduldig. Ich bin einfach hineingestürmt, statt mir die Zeit zu nehmen und alles in Ruhe auszukundschaften. Und als er mich gepackt hat, habe ich unnötig lang gebraucht, mich zu befreien.“

„Gut, dass wir damit nicht länger unser täglich Brot verdienen.“

„Ja.“ Desiree dachte kurz nach. „Vermisst du es je?“

„Was? Zu stehlen?“

Sie nickte. „Die Aufregung. Den Nervenkitzel bei der Flucht. Die Herausforderung, es ins Haus zu schaffen. Die Spannung im Vorfeld.“

„Manchmal“, gab ihr Zwillingsbruder zu.

„Aber vermutlich hast du das alles ja bei deiner jetzigen Arbeit, worin sie auch bestehen mag.“

„Es ist etwas angenehmer, wenn man das Ganze für die Regierung macht.“

„Glaubst du, sie würden gern eine Frau einstellen, die für sie im Verborgenen arbeitet?“

Er lachte. „Ich sehe das Gesicht des alten Pomeroy förmlich vor mir, wenn ich ihm das vorschlagen würde. Langweilst du dich, Dezzy?“

„Ich hoffe, du weißt, dass du der Einzige bist, der damit durchkommt, mich so zu nennen.“

„Ich weiß noch, wie du dich auf Willie Sparks gestürzt hast, als er dich damit angesprochen hat. Wenn ich mich recht erinnere, hat ihm das ein blaues Auge eingetragen.“

„Einen Zahn hat er auch drangeben müssen. Der Schwachkopf. Jeder wusste, dass ich schneller war als er und nicht wie ein Mädchen zuschlug.“

„Aber was ist mit meiner Frage – langweilt dich dieses Leben?“, drängte Wells.

„Vielleicht … ein bisschen. Nicht wie damals, als Brock mich in diese Schule für junge Damen geschickt hat, damit ich lerne, mich korrekt auszudrücken und zu benehmen.“

„Hmm. Die Schule war schrecklich.“

„Wenigstens haben dich die Jungs in deiner Schule gemocht. Mit mir wollte damals kaum jemand reden.“ Desiree verzog das Gesicht, als sie an die zwei einsamen Jahre dachte.

„Zuerst haben sie mich auch gemieden, bis sich herausstellte, dass ich besser reiten und schneller rennen konnte als alle anderen. Und ich konnte auf den Kirchturm klettern und die Unterhosen des Direktors an die höchste Spitze hängen – für Streiche konnte man mich sehr gut brauchen.“

„Na ja, ich kann dir verraten, mit der Fähigkeit, jemandem ein blaues Auge zu hauen, macht man sich in einem Mädchenpensionat nicht allzu viele Freundinnen.“

„Nein, wohl nicht.“ Er hielt inne. „Ich dachte, nachdem du Brock überredet hast, dich im Casino mithelfen zu lassen, wärst du … zufriedener.“

„Ich bin zufrieden. Die Arbeit macht mir Spaß. Sie wird mir nie langweilig, und die Karten aufzudecken ist immer aufregend. Ich kann dabei meine Gabe einsetzen.“ Sie lächelte ein wenig, als sie an einen ein paar Jahre zurückliegenden Abend in Brocks Club dachte, wo sie hereingerauscht kam und ihm zeigte, wie gut sie mit Karten umgehen konnte und was für ein Publikumsmagnet sie war. Ihr fürsorglicher großer Bruder musste schließlich zugeben, dass seine Bemühungen, ihr das Leben einer Dame zu ermöglichen, nicht fruchteten. „Bestimmt klinge ich sehr undankbar, aber das bin ich nicht, wirklich nicht. Ich weiß sehr zu schätzen, was Brock für mich alles getan hat – diese Kleider, das Haus, meine Freiheit, ein Leben in Sicherheit. Wenn er nicht gekommen wäre und uns gerettet hätte, wäre ich jetzt sicher tot oder säße im Gefängnis. Nicht um alles in der Welt möchte ich mein altes Leben zurück.“

„Irgendwo höre ich da ein ‚aber‘ heraus.“

„Aber ich gehöre nirgendwo dazu. Ich kann wie eine Dame reden, mich wie eine Dame bewegen, mich wie eine Dame verhalten. Aber ich bin keine Dame. Für die Leute, mit denen wir aufgewachsen sind, bin ich jetzt ein Snob. Aber eine Dame der Gesellschaft weiß sofort, dass ich keine von ihnen bin. Man kann sich nicht einfach in gesellschaftliche Kreise einkaufen, und im Gegensatz zu dir habe ich keine alten Schulfreunde. Und wenn ich welche hätte, würden sie sich nicht mit einer Frau sehen lassen wollen, die abends in einem Club hasardiert. Wie auch immer, ich würde vor Langeweile sterben, wenn ich nichts anderes täte, als Besuche abzustatten und Dinge zu machen … die Damen eben so machen. Ich bin anders.“

„Du bist einzigartig. Daran ist nichts verkehrt.“ Wells hielt inne. „Desiree … was wirst du tun, wenn du herausfindest, dass unser Vater ein Moreland war?“

„Ich weiß es nicht“, erwiderte sie freimütig.

„Brock hat recht. Sie hätten in den letzten Jahren jede Menge Gelegenheit gehabt, uns zu besuchen, wenn sie das gewollt hätten. Ich will nicht, dass man dir wehtut.“

Sie sah ihn an. Seine dunkelblauen Augen waren voll Sorge. „Ich bin nicht naiv, Wells. Mir ist bewusst, dass sie nicht begeistert sein werden, mit einer Familie verwandt zu sein, die ein privates Spielcasino betreibt, und noch weniger, wenn besagte Familie aus Artisten und Dieben besteht. Ich erwarte nicht, dass sie mich mit offenen Armen empfangen. Ich will nur wissen, wer sie sind.“

„Mir ist klar, dass du vorher keine Ruhe geben wirst.“ Wells stand auf, nahm sie bei der Hand und zog sie mit sich nach oben. Er legte ihr die Hände auf die Schultern und sah ihr in die Augen. „Wenn du Hilfe brauchst, ruf mich. Du weißt, dass ich immer für dich da bin. Mach dir keine Sorgen, dass ich es mir mit meinen Arbeitgebern verderben könnte.“ Er grinste schief. „Das schaffe ich auch ganz allein.“

Desiree musste lachen. „Ich weiß. Werde ich, versprochen.“

„Braves Mädchen.“ Er gab sie frei und trat einen Schritt zurück. „Ich habe noch etwas zu erledigen.“

„Noch mehr undurchsichtige Angelegenheiten?“

Wells grinste nur und ging aus dem Zimmer. Sie hörte nicht, wie er das Haus verließ – er war immer schon lautlos wie eine Katze gewesen –, doch sie spürte sofort, wann er nicht mehr da war. Wells hinterließ eine gewisse Leere. Desiree ging die Treppe hinauf zu ihrem Zimmer. Ihre Vergangenheit stand ihr an diesem Abend so lebhaft vor Augen, dass sie in der Tür innehielt und sich in dem geräumigen Zimmer umsah.

Als sie bei Falk gewohnt hatte, schliefen die Kinder, die bei ihm arbeiteten, alle zusammen in einem Raum, der kleiner war als ihr jetziges Schlafzimmer. Sie konnte sich immer noch an den Geruch erinnern, die ständige Wachsamkeit, die nur die Nähe ihres Zwillingsbruders abmildern konnte. Den jetzigen Luxus würde sie nie für selbstverständlich halten, und sie würde niemandem je so nahestehen wie jetzt Brock und Wells.

Aber all das würde sie nicht davon abhalten, die Geheimnisse ihrer Vergangenheit aufzudecken. Und sie war sich sicher, dass sie auf dem richtigen Weg war. Sie hatte die Wahrheit in dem Ring schimmern sehen, hatte gespürt, wie richtig er sich in ihrer Hand angefühlt hatte. Ihr Kopf hatte geschwirrt vor all den Möglichkeiten, die sich daraus ergaben.

Das war der Grund, warum sie während der Durchsuchung des Büros abgelenkt gewesen war, warum sie all die Fehler gemacht hatte – sie war nie zuvor so ungeschickt gewesen, ein Buch vom Tisch zu fegen, und sie hatte den Mann viel zu spät kommen hören. Sie hatte entwischen können, hatte nur ihre Lampe zurückgelassen, und die schlichte Lampe erlaubte keinerlei Rückschlüsse auf ihre Identität. Doch die Unbeholfenheit schmerzte.

Desiree gähnte, und plötzlich überrollte sie eine Welle der Erschöpfung. Sie begann sich auszukleiden, knöpfte ihr Trikot im Nacken auf und zog es sich über den Kopf. Sie blickte in den Spiegel, während sie das Kleidungsstück zusammenlegte. Auf einmal begann ihr Herz wie wild zu klopfen – ihr Körper hatte vor ihrem Geist erkannt, was los war. Ihre Halskette war verschwunden.

Sie brachte die Hand an die Kehle und trat näher an den Spiegel heran. Ihr Glücksbringer, den sie immer um den Hals trug, der erste Chip, den sie in Brocks Club gewonnen hatte, war weg, samt Kette. Eisige Furcht durchbohrte sie. Sie war nicht nur aus der Übung, sie hatte einen bösen Fehler begangen. Sie hatte etwas von sich zurückgelassen.

4. KAPITEL

Tom Quick lief die Stufen zum Eingang von Broughton House hinauf. Als er das hochherrschaftliche Stadthaus zum ersten Mal gesehen hatte, war er acht Jahre alt gewesen, hungrig und schmutzig. Das Gebäude hatte ihn so eingeschüchtert, dass er zuerst geglaubt hatte, Reed Moreland hätte ihn ins Hauptquartier der Polizei gebracht. Das wäre schließlich die logische Konsequenz gewesen, nachdem der gut gekleidete Herr Tom mit der Hand in seiner Rocktasche erwischt hatte.

Stattdessen hatte Reed ihn in ein Gebäude gebracht, das offensichtlich ein Wohnhaus war, wenn es auch prachtvoller war als alle, die Tom je betreten hatte, und dort hatte man ihn gespeist (zu seinem Erstaunen und Entzücken) und gebadet (entgegen aller heftigen Gegenwehr). Anschließend war er neu eingekleidet worden mit Sachen, die einst Reed gehört hatten. Etwas so Weiches wie diese Kleider hatte Tom noch nie gespürt. Zu diesem Zeitpunkt war er überzeugt gewesen, dass ihn eine Bande Verrückter entführt hätte. Er hatte das seinem Wohltäter gegenüber erwähnt und eine Ohrfeige erwartet, doch Reed hatte nur gelacht und gesagt, dass Tom vermutlich recht hätte.

Im Lauf der Jahre hatte sich Tom an die Ausmaße des herzoglichen Stadthauses und Gartens in der übervölkerten Stadt gewöhnt, zumindest so weit, dass er nicht mehr ins Staunen geriet, wenn er den Weg zum Haus hinaufging. Er hatte sich auch angewöhnt, an die Vordertür zu klopfen. Als er anfangs erst für Reed, dann für Olivia gearbeitet hatte, hatte er sich instinktiv an den seitlichen Dienstboteneingang gehalten, doch die Familie hatte ihn bestürmt, bis er sich ihrer egalitären Haltung ergeben hatte. Es war schwierig, sich gegen die Flut der Morelands zu behaupten.

Ein Lakai öffnete die Tür, nach Kräften bemüht, eine würdevolle Miene zu wahren, trotz des Hündchens, das wild knurrend an seinem Hosenbein zerrte. „Mr. Quick. Guten Tag. Wenn Sie zu Lord Constantine wollen, er ist, glaube ich, noch im Frühstückszimmer. Hier entlang, Sir.“

Der Dienstbote schickte sich an, Tom zu dem Zimmer zu führen, während er versuchte, das wild entschlossene Hündchen abzuschütteln, leider ohne Erfolg. Tom schaffte es, sich das Lachen zu verkneifen. „Schon gut, ich kenne den Weg.“

Tom wandte sich zum rückwärtigen Teil der Eingangshalle, gerade als der Duke of Broughton um die Ecke kam. Der ältere Mann war hochgewachsen, wenngleich seine Schultern ein wenig gelehrtenhaft gebeugt waren. Sein Haar war beinahe weiß, bis auf ein paar schwarze Strähnen am Hinterkopf. An seinem Maßanzug klebte hier und da Verpackungsmaterial aus Stroh. Er hatte ein Vergrößerungsglas um den Hals hängen, und aus einer Rocktasche ragte eine Brille heraus. In einer Hand hielt er ein langes Messer. Den anderen Arm hatte er galant der Frau neben sich geboten.

Die Frau hatte eine stolze Haltung, ihr Rücken war kerzengerade, der Kopf hoch erhoben. Das Haar, das unter dem Hut hervorsah, war eisengrau und wie gemeißelt. Auch wenn sie zu vierschrötig war, um es der Duchess an Eleganz gleichzutun, war ihre Kleidung teuer und modisch, wenn auch etwas konservativ. Sie hätte attraktiv sein können, wäre da nicht der säuerliche Ausdruck in ihrem Gesicht gewesen.

Der Duke sagte gerade: „Tut mir leid, dass ich dir nicht helfen konnte, Tabitha. Aber ich verspreche dir, der Sache nachzugehen.“

„Wenn du es nicht vergisst“, versetzte die Frau scharf.

„Gewiss, gewiss. Ich gebe Smeggars Bescheid, das wird seinen Zweck erfüllen.“ Der Duke blickte auf und entdeckte Tom. „Ach, hallo, Tom.“ Er lächelte Tom auf seine wohlwollende Art an. „Wie nett, Sie zu sehen.“

„Ganz meinerseits, Sir. Wie geht es Ihnen?“

„Prächtig, danke der Nachfrage. Ich habe gerade eine neue Kiste ausgepackt, ein hervorragendes kretisches Messer.“ Er streckte Tom das Messer zur Begutachtung entgegen. „Und dazu noch eine sehr schöne Terrakottabüste – nur ein Stück vom Kinn ist abgeschlagen.“

„Sehr schön, Sir.“ Auf Tom wirkte das Messer ziemlich alltäglich, doch der Duke freute sich immer so über seine Neuerwerbungen, dass Tom nie etwas sagen würde, was ihn enttäuschen könnte.

„Wirklich, Henry“, sagte seine Begleiterin, die offenbar weniger Bedenken als Tom hatte, den Duke zu enttäuschen, „all dieses Herumhantieren mit alten Töpfen und Werkzeugen ist so würdelos.“

„Hmm, ja, da hast du wohl recht“, stimmte der Duke leutselig zu. „Aber ich habe mich nie viel um Würde geschert.“

„Das ist offensichtlich“, sagte seine Begleiterin. Ihr Blick wanderte zu dem Lakaien, der seine Hosenbeine endlich aus den Fängen des Hündchens hatte befreien können und sich nun daranmachte, das dicke Fellknäuel einzufangen. Das Hündchen hielt das für ein prächtiges Spiel und sprang fröhlich bellend durch die Eingangshalle.

„Entschuldige, ich habe dich nicht mit Mr. Quick bekannt gemacht“, sagte Henry, der den Lärm nicht zu bemerken schien. „Tabitha, das …“

„Um Himmels willen, Henry.“ Lady Moreland musterte Tom mit einem abschätzigen Blick. „Ich bin es nicht gewohnt, Dienstboten vorgestellt zu bekommen.“

Der Duke wirkte betroffen. „Oh, Tom ist kein Dienstbote.“ Verwirrt runzelte er die Stirn. „Woher weißt du dann ihre Namen?“

Sie seufzte tief auf. „Wiedersehen, Henry.“ Sie nickte ihm kurz zu und fügte an: „Denk daran.“

„Ja, natürlich.“ Der Duke sah ihr nach. Als sich die Tür hinter ihr schloss, wandte er sich an Tom. „Tut mir leid. Sie ist ein wenig …“

„Hochmütig?“, schlug Tom vor.

„Genau.“ Der Duke zwinkerte. „Nun, seine Verwandten kann man sich leider nicht aussuchen.“ Er zuckte mit den Schultern. „Ah, nun ja. Wollen Sie Con besuchen? Ich glaube, er hält sich dort hinten auf.“ Er deutete vage den Flur hinunter. „Ich muss zurück zu meiner Kiste. Freut mich, Sie zu sehen.“

„Mich ebenfalls, Sir.“ Tom nickte ihm zu, und der Duke lief eilig den Gang hinunter. Tom wandte sich in die andere Richtung, zu dem Raum, aus dem Gelächter und Stimmengewirr drangen. Es war schwer abzuschätzen, wie viele Personen sich dort aufhielten, drei Morelands klangen oft wie eine ganze Armee.

Als er die Tür öffnete, sah er sich tatsächlich nicht vielen Morelands gegenüber – die Zwillinge Con und Alex, ihre Ehefrauen, dazu Megan, die ihre jüngste Tochter Brigid im Arm hatte, während Alex mit Brigids älterer Schwester Athena in eine Art Klatschspiel vertieft war.

„Quick! Quick!“, krähte Brigid, als sie ihn sah, und streckte die Ärmchen nach ihm aus. Aus irgendeinem Grund hatten ihn die beiden Frätzchen besonders ins Herz geschlossen.

Tom nahm das Mädchen auf den Arm und rieb ihre Nasen in ihrem speziellen Begrüßungsritual aneinander. Athena kam zu ihm gerannt, warf die Arme um seine Beine in einer besonders stürmischen Umarmung und ließ ihn dann los und kehrte zu ihrem Spiel zurück. Tom rückte Brigid auf seiner Hüfte zurecht. „Wie ich sehe, habt ihr ein neues Hündchen.“

Die Bemerkung war ein Fehler, weil sich Brigids Miene sofort umwölkte und ihr Kinn zu zittern begann. „Rufus ist in den Himmel gekommen.“

Der alternde Hund war vor einem halben Jahr gestorben, doch Brigid war offensichtlich noch nicht darüber hinweg. Tom verspürte einen Moment Panik und wusste nicht, was er sagen sollte. „Ähm, ja, das tut mir sehr leid. Bestimmt schaut Rufus jetzt auf euch herab und ist froh, dass ihr ein neues Hündchen habt, das ihr lieb haben könnt. Wie heißt der Kleine denn?“

„Rufus Zwufus“, erwiderte Brigid schon heiterer. „Wo ist Zwufus?“ Sie sah sich im Zimmer um und schlängelte sich von seinem Arm herunter.

„Suchen wir Rufus!“ Athena lief zu ihrer Schwester, und dann rannten die beiden aus dem Zimmer.

„Ich gehe ihnen mal besser nach und rette den kleinen Hund“, sagte Megan und setzte sich in Bewegung. „Hat mich gefreut, Tom.“

Neben den beiden „Großen“ Con und Alex war Megan dasjenige Mitglied der Familie, mit dem Tom sich am wohlsten fühlte. Sie kam aus den Vereinigten Staaten und hatte, wie andere Amerikaner, wenig Verständnis für Klassenunterschiede. Außerdem war sie in einem eher rauen Viertel von New York aufgewachsen, ihr Hintergrund war dem von Tom nicht unähnlich.

„Mich auch“, sagte Tom, während Megan den Raum verließ. Er wandte sich an die verbliebenen vier Leute. Die schwarzhaarigen Zwillinge Con und Alex, die man aufgrund ihrer Namen auch „die Großen“ nannte, waren für Tom beinahe so etwas wie jüngere Brüder. Es war schwer, Ehrfurcht für jemanden zu empfinden, dem man beigebracht hatte, wie man Schlösser knackt.

„Setz dich“, sagte Alex und wies mit einer ausladenden Handbewegung auf die leeren Stühle. „Möchtest du etwas zum Frühstück? Die Sachen dürften noch warm sein.“

„Nein, danke, ich habe schon gefrühstückt.“ Zwar hatte das Brötchen, das er sich in einer Bäckerei gekauft hatte, seinen Hunger nicht gestillt, doch Tom zögerte immer noch, das Essen zu akzeptieren, das ihm die Morelands so bereitwillig anboten. Es war wohl alberner Stolz, der ihn daran hinderte, aber er wollte keinesfalls den Eindruck erwecken, er würde die Familie auf irgendeine Weise ausnutzen.

„Kann ich dir dann etwas Kaffee eingießen? Oder Tee?“ Lilah, deren Schwangerschaft sich inzwischen in ihrem volleren Gesicht und runderen Bauch zeigte, begann aufzustehen.

„Nein, nein, ich hole es.“ Con tätschelte ihr den Arm und sprang auf.

Lilah verdrehte die Augen. „Con, ich bin nicht invalide.“

Doch Con war schon zur Anrichte geeilt. Er schenkte eine Tasse Kaffee ein und reichte sie Tom. „Was führt dich in aller Frühe zu uns?“

„Nun, ich wollte …“ Eine Dienstbotin kam herein und brachte ein in eine Decke gewickeltes Baby herein.

„Ich glaube, Miss Marjorie hat beschlossen, dass es jetzt Zeit für eine Mahlzeit ist“, sagte die Kinderfrau, worauf sich Alex’ Frau Sabrina eilig erhob und das Baby entgegennahm.

„Tom, du musst dir unsere Tochter ansehen. Du wirst staunen, wie groß sie geworden ist“, sagte Alex strahlend, trat zu seiner Frau und blickte voll Entzücken auf das Baby. „Wann hast du sie zum letzten Mal gesehen?“

„Vor zwei Wochen, glaube ich“, erwiderte Tom und ging pflichtschuldig zu ihnen, um das Baby zu begutachten. Tom war der Meinung, dass das Kind hübscher war als die meisten anderen Babys, auch wenn der winzige Kopf so kahl war wie eine Billardkugel, aber er fand es immer schwer, die Veränderungen zu erkennen, auf die ihn der stolze Kindsvater hinwies. Allerdings war es leichter und freundlicher, einfach zuzustimmen. „Ah, ja, sie ist gewachsen. Ein schönes Kind!“

Er streckte einen Finger aus, und sofort klammerte sich das Baby mit einem wild patschenden Händchen daran und versuchte ihn an den Mund zu ziehen, ehe es erkannte, dass es sich dabei um nichts Essbares handelte. Im nächsten Augenblick verzog es das Gesicht und begann zu heulen.

Die Kinderfrau und Sabrina verließen eilig den Raum, während Alex sich auf seinen Stuhl fallen ließ. „Ich bin hier absolut nicht zu gebrauchen.“

„Ich glaube, sie ist sogar noch lauter als Athena“, erklärte Con mit leisem Stolz.

„Warte es ab. Deins wird noch lauter sein“, versetzte Alex. „Wie nicht anders zu erwarten steht, bei dem Vater.“

„Ich war kein lautes Kind“, protestierte Con zum allseitigen Amüsement.

„Jungs“, sagte Lilah. „Lasst Tom doch erzählen, warum er vorbeigekommen ist.“

„Ja, Mum“, erwiderte Con, nahm ihre Hand und lächelte sie liebestrunken an, ehe er sich Tom zuwandte.

„Jemand ist letzte Nacht ins Büro eingebrochen.“

„Moreland & Quick?“ Con hob die Augenbrauen.

„Ja, in die Detektei.“ Er sah zu Alex hinüber. „Nicht in dein Büro. Ich weiß nicht, ob ich sie aufgehalten habe, bevor sie dort auch noch hineingehen konnte, oder ob sie …“

„Sie?“, unterbrach Lilah ihn. „Der Einbrecher war eine Frau?“

„Ja. Allerdings hat sie nicht wie eine gekämpft. Wir haben ein wenig miteinander gerungen, dann ist sie mir auf den Fuß gestiegen und hat mir einen Schlag in den Magen versetzt. Danach ist sie durchs Fenster hinaus und wie eine Katze über den Sims gelaufen.“

„Was für einen Sims?“, fragte Alex.

„Genau.“ Tom nickte ihm zu. „Das Gesims unter den Fenstern, das sich um das gesamte Haus zieht. Kann nicht breiter sein als sechs Zoll. Dann hat sie sich zum Vordach nebenan geschwungen, ist darüber hinuntergerutscht und davongelaufen wie ein Hase.“

Die anderen drei starrten ihn an. Con sagte: „Ich weiß nicht, was mich mehr überrascht – dass jemand in unser Büro eingebrochen ist oder dass sie es auf diese Weise verlassen hat. Hat sie etwas mitgehen lassen?“

„Nicht dass ich wüsste. Du müsstest mal nachsehen, ob sie etwas von deinem Schreibtisch genommen hat, aber von meinem hat nichts gefehlt, und Akten vermisse ich auch keine. Ich bin mir sicher, dass sie bei ihrer Flucht nichts in der Hand hatte.“

„Warum sollte irgendwer in unser Büro einbrechen?“, fragte Con. „Ob es etwas mit einem Fall zu tun hat?“

„Ich wüsste nicht, warum sonst. Es ist nicht so, als hätten wir dort Bargeld oder Wertsachen. Den Safe hat sie nicht aufgebrochen, aber ich weiß nicht, ob sie daran kein Interesse hatte oder ob sie nur noch nicht dazu gekommen war.“

„Haben wir einen Fall, der so etwas nahelegen würde? Ich habe dem in letzter Zeit nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt, ich weiß schon, aber ich kann mir nichts denken, was irgendwen veranlassen würde, etwas bei uns zu stehlen, und sei es nur Information.“

„Ich glaube nicht, dass es viele Einbrecher gibt, die sich auf diese Weise bewegen können“, gab Alex zu bedenken.

„Nein, offenbar verfügt sie über akrobatische Fähigkeiten. Ich werde mal bei ein paar Bekannten nachfragen.“ Er äußerte sich nicht weiter dazu. Alle wussten, dass Tom Kontakte zu Mitgliedern der Unterwelt unterhielt. „Aber ich habe noch einen Hinweis.“ Er holte den Spielchip aus der Tasche. „Das hier ist im Gerangel heruntergefallen.“

Die anderen beugten sich darüber. „Farrington Club“, las Lilah. „Was ist das?“

„Das ist eine fashionable Spielhölle“, erklärte Alex. „Ein Casino. Sehr exklusiv. Man muss Mitglied sein oder mit jemandem hingehen, der Mitglied ist. Oder eine Einladung vorweisen.“

„Ich weiß nicht, was ich dort herausbekommen kann, aber der Spielchip ist für unsere Einbrecherin offensichtlich von Bedeutung. Sie hatte ihn an einer Kette um den Hals, und die Kette ist gerissen.“

„Ich vermute, dass es sich um einen Talisman handelt“, sagte Con. „Glücksspieler sind dafür bekannt, dass sie glauben, bestimmte Rituale oder Gegenstände könnten ihnen Glück im Spiel bringen.“

„Soll ich mal probieren, ob ich daraus erspüren kann?“, bot Alex an.

Tom war nicht überrascht. Inzwischen war er wohlvertraut mit Alex’ ungewöhnlicher Gabe, leblosen Gegenständen Informationen zu entlocken. Sie hatten sie in der Detektei schon oft eingesetzt, um einen verlorenen Gegenstand oder eine vermisste Person zu finden.

Er gab Alex den Talisman, und der andere Mann nahm ihn fest in die Hand. Er schloss auch seine Augen, denn so war es einfacher, sich auf das Objekt zu konzentrieren. Nach einem Augenblick sagte Alex: „Lilah?“ Sie legte ihre Hand auf seine. Aus irgendwelchen Gründen, die keiner verstand, war Lilah in der Lage, die merkwürdigen Gaben der Moreland-Zwillinge zu verstärken, wobei es bei Con besser funktionierte als bei Alex.

„Ja, jetzt ist es besser. Aber ich kann immer noch nicht viel erspüren, was hilfreich wäre. Der Chip gehört einer Frau, aber ich kann mir kein Bild von ihr machen. Ich spüre eine gewisse Freude, daneben vielleicht auch Triumph? Ich würde sagen, dass er schon seit Jahren in ihrem Besitz ist und dass darüber hinaus eine große Zuneigung zu einer anderen Person damit verbunden ist.“ Alex seufzte und gab Tom den Talisman zurück. „Ich kann einen großen Raum sehen, prachtvoll, verraucht und voller Leute und Tische. Sieht aus wie ein teures Casino, aber vielleicht sehe ich das auch nur, weil ich bereits weiß, um was für einen Ort es sich handelt. Keine Gesichter. So etwas ist immer schwieriger wahrzunehmen. Tut mir leid.“

„Ja, ich werde wohl hingehen müssen, um etwas herauszufinden“, erwiderte Tom.

„Aber würde ein Einbrecher einem so teuren Club angehören?“, fragte Lilah. „Und überhaupt, frequentieren Frauen solche Orte?“

„Ein paar Frauen schon, aber nicht viele. Und ich glaube, sie würde auffallen.“

„Aber wie willst du hineinkommen, wenn man Mitglied sein muss, um Zugang zu haben?“, fragte Lilah.

„Ich habe eine Einladung“, sagte Con. Er sah seine Frau an. „Ich habe sie noch nie genutzt, lass dir das gesagt sein. Aber sie haben mir mehr als einmal eine geschickt.“

„Und du hast nie angeboten, mich dorthin auszuführen?“, sagte Lilah indigniert.

„Also, nun ja, ich habe angenommen, du würdest dich nicht gern an einem solchen Ort sehen lassen.“

Sie lachte. „Liebling, als ich dich geheiratet habe, habe ich jeden Gedanken daran aufgegeben, mich an die Regeln der Gesellschaft zu halten.“ Lilah versetzte Con einen spielerischen Stoß. „Na los, hol Tom die Einladung, geh ins Büro. Ich weiß, dass du die Sache untersuchen willst.“

„Sicher?“, fragte Con zweifelnd. „Gestern hast du dich nicht wohlgefühlt.“

„Sich nicht wohlfühlen ist eine Beschäftigung für einen allein, mein Liebster. Und daran, dass ich soeben ein üppiges Frühstück verspeist habe, kannst du erkennen, dass es mir heute nicht schlecht geht. Im Falle irgendwelcher Kalamitäten bin ich von Dienstboten und einem Großteil deiner Familie umgeben. Und wenn du hierbleibst und mich fragst, wie es mir geht oder ob du mir meine Handarbeit holen sollst, schmeiße ich dir am Ende noch irgendetwas an den Kopf.“

„Weißt du, es gibt jede Menge Frauen, die die Sorge ihres Ehegatten zu schätzen wüssten“, sagte Con leicht beleidigt.

„Vielleicht hättest du eine von ihnen heiraten sollen“, versetzte Lilah honigsüß.

„Sei nicht albern“, erwiderte er grinsend, „wen sollte ich denn dann ärgern?“

„Con. Geh.“ Sie warf ihm einen strengen Blick zu, doch als Con sich herabneigte und sie auf die Wange küsste, war ihr Lächeln alles andere als ärgerlich.

Con holte rasch die Einladung, und dann gingen die drei Männer ins Büro der Detektei. Vor der Tür hielt Tom kurz inne und zeigte den anderen den Fluchtweg der Einbrecherin. Alex pfiff bewundernd, und Con ging ein Stück an der Hauswand entlang, bis zum Vordach nebenan und wieder zurück. Wie sein Zwillingsbruder besaß auch Con eine spezielle Gabe. Er hatte einen unfehlbaren Richtungssinn und konnte oft erspüren, welchen Weg eine Person genommen hatte. Nun ging er mit geneigtem Kopf langsam die Straße hinunter bis zur nächsten Kreuzung und kehrte dann zu Tom und Alex zurück.

„Hoffnungslos“, sagte er angewidert. „Ich habe daran gearbeitet, konkreten Personen zu folgen, aber es fällt mir immer noch schwer bei jemandem, der mir nicht nahesteht. Ich erkenne, welchen Weg du heute Morgen gekommen bist, Tom, und von uns dreien finden sich hier jede Menge Spuren. Aber an öffentlichen Orten wie diesem, wo so viele Menschen unterwegs sind, ist es schwer, die diversen Spuren voneinander zu unterscheiden. Ich glaube, ich habe ihre Fährte aufgenommen, aber sie hat sich bald wieder verflüchtigt.“

Oben im Büro überprüfte Con seinen Schreibtisch und die Akten und stellte fest, dass nichts fehlte. Alex konnte Spuren von Aufregung und Angst erkennen, aber das Büro war zu sehr von Toms und Cons Anwesenheit geprägt, als dass er irgendwelche Informationen über den Dieb hätte bekommen können. Alex ging bald darauf den Flur hinunter in sein Architekturbüro, und Con setzte sich an seinen Schreibtisch, um die Post durchzusehen, bevor er mit einer gründlicheren Durchsuchung ihrer Akten begann. Tom begab sich derweil in die Schattenwelt der Kleinkriminellen, um dort bei seinen verschiedenen Bekannten um Informationen nachzusuchen.

Als Kind war Tom Teil dieser Welt gewesen, doch die Kontakte aus dieser Zeit waren weniger geworden. Viele seiner ehemaligen Bekannten waren gestorben oder saßen im Gefängnis, ein paar hatten sich einer gesetzmäßigeren Beschäftigung zugewandt. Aber über seine Arbeit in der Detektei hatte er...

Autor

Candace Camp
<p>Ihren ersten Roman hat Candace Camp noch als Studentin geschrieben. Damals hat sie zwei Dinge gelernt: Erstens, dass sie auch dann noch schreiben kann, wenn sie eigentlich lernen sollte, und zweitens, dass das Jurastudium ihr nicht liegt. So hat sie ihren Traumberuf als Autorin ergriffen und mittlerweile über siebzig Romane...
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