Julia Exklusiv Band 388

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DAS FEUERHERZ DER WÜSTE von TARA PAMMI

„Azeez lebt.“ Die schöne Ärztin Nikhat ist wie erstarrt. Der Kronprinz von Dahaar ist seinem schrecklichen Schicksal entronnen? Der Mann, den sie so sehr geliebt und trotzdem verlassen hat? Ungläubig hört sie die nächsten Worten: „Er braucht dich. Kehr zu ihm zurück!“

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  • Erscheinungstag 26.04.2025
  • Bandnummer 388
  • ISBN / Artikelnummer 9783751533904
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Tara Pammi

1. KAPITEL

Von allen Seiten stürmten bittersüße Erinnerungen auf sie ein, als Dr. Nikhat Zakhari dem uniformierten Wachmann durch den Flur des Palasts von Dahaar folgte. Vor acht Jahren hatte sie hier jeden Gang, jeden Winkel gekannt. Dieser Palast, die königliche Familie, sie waren Teil eines Traums gewesen, den sie als naive Zweiundzwanzigjährige gewoben hatte.

Bis der Traum zerplatzt und sie am Boden zerstört gewesen war.

Nachdem sie das Büro betreten hatte, schloss der Wachmann hinter ihr die Tür. Die Absätze ihrer Pumps, die sie statt der sonst üblichen Crocs trug, versanken in dem dicken Teppich.

Sie war schon einmal in diesem Büro gewesen, als sie den Kronprinzen noch liebte. Damals hatten sie sich wie Diebe nachts in diesen Raum geschlichen.

Trotz der langärmligen dicken Seidenjacke war ihr plötzlich kalt bei der Erinnerung.

Ihr Blick ging zu dem großen Foto, das hinter dem Schreibtisch aus dunklem Sandelholz hing. Es zeigte die königliche Familie.

Alle lächelten auf diesem Bild – König Malik und Königin Fatima, Ayaan und Amira. Nur Azeez nicht. Und daran war sie schuld gewesen.

Obwohl tausende von Meilen getrennt, hatte sie das Gefühl gehabt, ihre eigene Familie zu verlieren, als sie von dem Anschlag hörte. Mit zitternden Fingern strich sie über Azeez’ Gesicht und seufzte leise.

Sie konnte und wollte dieser Erinnerung nicht so viel Macht einräumen, sich das zerstören lassen, was sie sich mühsam aufgebaut hatte.

„Wie ist es dir ergangen, Nikhat?“

Sie drehte sich um und starrte den neuen Kronprinzen an. Ayaan bin Riyaaz Al-Sharif, dem sie als Jungen Nachhilfe in Chemie gegeben hatte. Sein Blick aus kupfergoldenen Augen zeigte Wärme. Doch seine angespannten Züge, die denen von Azeez so sehr ähnelten, nahmen ihr den Atem.

Als sie damals von dem Anschlag der Terroristen gehört hatte, war sie zutiefst schockiert gewesen. Dass sie Ayaan nach so vielen Jahren nun gesund wiedersah, erfüllte sie mit Freude. Sie ging zu ihm und umarmte ihn spontan.

Vor acht Jahren hätte sie das nicht gewagt.

Als er leise lachte, trat Nikhat zurück und kämpfte gegen den Drang an, sich für ihre impulsive Geste zu entschuldigen. Auch wenn es sie erschütterte, wieder hier zu sein, war sie nicht gebrochen. Eine Frau, die obendrein nicht einmal in verwandtschaftlicher Beziehung zur Königsfamilie stand, würde den Kronprinzen nie umarmen. Aber sie war nicht länger wie die Frauen von Dahaar, die an Traditionen und Bräuche gebunden waren. „Schön, dich zu sehen, Ayaan.“

Er nickte und sah sie forschend an. „Gleichfalls, Nikhat.“

Ayaan bat sie zu der Sitzgruppe, wo ein silbernes Teeservice bereitstand. Doch Nikhat lehnte ab, nachdem sie Ayaan gegenüber Platz genommen hatte.

Der Ayaan, den sie von früher kannte, hatte immer ein vergnügtes Zwinkern in den Augen gehabt. Der Kronprinz, den sie jetzt vor sich sah, trug schwer an seinem Amt. Traurigkeit lag in seinem Blick, und seine Züge wirkten verhärmt.

Sie war noch keine vierundzwanzig Stunden wieder in der Hauptstadt Dahaar, als man sie zu einem privaten Treffen mit dem Kronprinzen gebeten hatte. Was sie im Grunde nicht verweigern konnte, selbst wenn sie es gewollt hätte. „Woher weißt du, dass ich wieder in Dahaar bin?“, fragte sie ohne Umschweife.

Er zuckte die Schultern und legte die Beine übereinander. „Ich möchte dir ein Angebot machen.“

Nikhat runzelte die Stirn. Nachdem sie acht Jahre lang kein Wort von ihrem Vater gehört hatte, war sie überglücklich gewesen, seine Stimme zu hören. Aber jetzt fühlte sie sich unbehaglich. „Du hast meinem Vater befohlen, mich nach Hause zu rufen?“, sagte sie. „Du wusstest, wie gerne ich meine Familie wiedersehen wollte. So etwas nennt man Erpressung, Eure Hoheit.“

Ayaan rieb sich über die Braue, doch sein fester Blick zeigte keinerlei Schuldbewusstsein. „Das ist der Preis, den ich für diesen Titel zahlen muss, Nikhat.“

Schlichte Worte, doch die schwere Last an Verantwortung, die darin mitschwang, erschütterte Nikhat. Sie schluckte ihre Wut herunter. „Na schön. Jetzt bin ich hier. Aber ich sollte dich warnen, denn ich bin kein Genie, das automatisch jeden deiner Wünsche erfüllen kann.“

Ein Lächeln umspielte plötzlich seinen Mund und erinnerte sie für einen Moment an ein anderes Gesicht, das diesem so ähnlich war.

Ihr schnürte sich die Kehle zu, und sie zwang sich zu atmen. Alles in Dahaar würde sie an Azeez erinnern. Aber sie wollte sich davon nicht beirren lassen.

Schließlich hatte sie genug durchgemacht, als sie vor acht Jahren gegangen war.

„Wie ich sehe, hast du dich überhaupt nicht verändert. Was gut für mich ist.“

„Sprich nicht in Rätseln, Ayaan“, gab sie zurück.

„Würde es dir gefallen, hier in Dahaar eine erstklassige Frauenklinik zu leiten? Du hättest freie Hand. Mir schwebt so etwas schon seit einiger Zeit vor, und du bist zweifellos die beste Kandidatin für diesen Posten.“

Nikhat verschlug es die Sprache. Die gesamte Wucht ihrer Sehnsucht und Einsamkeit, die sie acht Jahre unterdrückt hatte, kehrte zurück. Genau das war ihr Wunsch gewesen, als sie ihren Vater darum gebeten hatte, sie Medizin studieren zu lassen. Dass sie wieder zurückkommen und hier als Ärztin arbeiten könnte. Ihr einziges Ziel, auf das sie sich konzentrierte, als alles um sie herum zusammenbrach.

„Du könntest dich hier in Dahaar niederlassen, Nikhat, und wieder in der Nähe deiner Familie leben“, fuhr Ayaan fort.

Sie nickte, unendlich dankbar für sein Verständnis. Ayaan war immer der nettere der beiden Brüder gewesen, wohingegen Azeez … er hatte nie Kompromisse gemacht.

„Es ist das, was ich immer gewollt habe, Ayaan.“

Ein Anflug von Unbehagen blitzte kurz in seinem Blick auf. „Allerdings verlange ich im Gegenzug auch etwas von dir. Einen persönlichen Gefallen für die königliche Familie.“

„Ich habe meine Ausbildung deinem Vater zu verdanken. Ohne König Maliks Hilfe und Unterstützung hätte mein Vater mir nie erlaubt, Medizin zu studieren. Das werde ich ihm nie vergessen.“

Ayaan nickte, trotzdem lag immer noch Vorsicht in seinem Blick. „Ich möchte, dass du diese Position erhältst. Genauso wie mein Vater. Aber das, um was ich dich bitten möchte, sprengt die Grenzen der gebotenen Dankbarkeit.“

Nikhat versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass seine Worte ihr Angst machten.

Ayaan atmete tief durch. „Azeez lebt, Nikhat.“

Zunächst verstand sie nicht. Vielmehr hatte sie das Gefühl, als würde die Welt sich langsamer drehen, während sie darauf wartete, dass das Klingeln in ihren Ohren aufhörte. Als sie dann die Wahrheit in seinem Blick sah, schnürte sich ihr die Kehle zu. Ein eisiger Schauer überlief sie, und sie zwang sich, ruhig zu bleiben und nicht einfach aus dem Palast zu fliehen.

Wie oft würde sie noch davonlaufen?

Sie hatte hart daran gearbeitet, ihren Traum zu verwirklichen, hatte all die Jahre darauf gewartet, ihre Familie wiederzusehen. Sie durfte jetzt nicht zulassen, dass irgendjemand sie aufhielt. Nicht einmal der Mann, den sie einst über alles geliebt hatte.

Nikhat schluckte. „Ich habe noch kein Wort davon gehört.“

„Weil niemand außer ein paar vertrauenswürdigen Bediensteten und meine Eltern davon wissen. Und so wird es bleiben, bis ich sicher sein kann, dass diese Tatsache sich nicht negativ auf Dahaar auswirkt.“ Seine Stimme zitterte ein wenig, und Nikhat griff nach seiner Hand, auch wenn sie gegen ihre eigene Angst ankämpfen musste.

Wie konnte er nach all den Jahren noch leben? Und wo war er jetzt?

„Ich habe ihn vor vier Monaten in der Wüste gefunden, aber bis jetzt weiß ich immer noch nicht, wie er überlebt oder was er die letzten sechs Jahre gemacht hat. Er weigert sich, unsere Eltern zu sehen, und akzeptiert kaum, dass ich ihn besuche. Der wahre Prinz von Dahaar ist nun mein Gefangener.“ Tiefe Verzweiflung färbte seine Stimme. „Bis jetzt ist es mir gelungen, die Sache geheim zu halten. Die Menschen von Dahaar wären erschüttert, wenn sie ihn so sähen. Sie …“

„Sie haben ihn verehrt, ich weiß.“ Er war ihr goldener Prinz gewesen, arrogant, aber charmant, mutig und dazu geboren, sein Land zu regieren. Und er hatte Dahaar mit einer Leidenschaft geliebt, die alles, was er tat, bestimmt hatte.

Seine Liebe, seine Leidenschaft … sie waren wie ein Wüstensturm gewesen, der vernichtend sein konnte, oder den veränderte, der ihn überlebte.

„Ich hatte gehofft, dass es ihm irgendwann besser geht und dass er sich früher oder später entscheidet, wieder am Leben teilzunehmen.“ Ayaans Ton verriet, wie machtlos er sich fühlte. „Aber mit jedem Tag, der vergeht …“

Azeez lebt.

Wieder und wieder hallten die Worte in ihrem Kopf wider. „Was ist mit ihm, Ayaan?“, wollte sie wissen.

„Er ist nicht viel mehr als ein Körper, der atmet. Er weigert sich zu sprechen oder einen Arzt vorzulassen. Er weigert sich zu leben, Nikhat … und ich will ihn nicht noch einmal verlieren.“

Ihre Angst wurde größer und lag ihr wie ein Stein im Magen. „Und wie genau sieht dieser Gefallen aus, um den du mich bittest?“

„Verbring ein bisschen Zeit mit ihm.“

Nein. Das Wort hallte laut in ihr wider. „Ich bin Frauenärztin und Geburtshelferin, Ayaan, kein Psychiater. Ich kann nichts für ihn tun.“

„Er lässt niemanden an sich heran. Dich … dich würde er sicher nicht zurückweisen.“

„Du weißt doch gar nicht, was dein Bruder macht, wenn er mich sieht.“

„Alles ist besser als sein jetziger Zustand.“

„Und was ist mit dem Preis, den ich dafür zahlen muss?“ Die Frage war heraus, ehe sie darüber nachdenken konnte.

Abrupt sah er hoch und musterte sie. Nikhat wandte den Blick ab. Die Luft zwischen ihnen war erfüllt von Fragen, die er nicht stellte und die sie nicht beantwortete.

Entschlossen umfasste Ayaan ihren Arm. In seinen Augen lag jetzt keine Trauer oder tröstliche Vertrautheit mehr. Vielmehr wirkte er nun wie der Mann, der sich trotz aller Widrigkeiten in sein Leben zurückgekämpft hatte, der jeden Tag mit seinen Dämonen rang, um seine Pflicht für Dahaar zu erfüllen.

„Wäre der Preis denn wirklich zu hoch? Ich bitte dich nur um ein paar Monate. Ich weiß mir keine Lösung mehr. Und ich muss etwas finden, dass ihn aus seinem inneren Gefängnis befreit. Verbring ein bisschen Zeit mit ihm allein im Palast. Rede mit ihm, versuche alles, das ihn vielleicht …“

„Wenn irgendetwas davon nach außen dringt, wird mein Ruf für immer ruiniert sein“, sagte sie und merkte erst beim Sprechen, dass sie seinen Vorschlag in Erwägung zog. „Diese Klinik, mit der du mich ködern willst, ist auf Sand gebaut.“

„Kronprinzessin Zohra ist schwanger. Sie braucht jemanden, der im Palast ist, eine engagierte Frauenärztin und Geburtshelferin. Und wenn du Zeit mit Azeez verbringst, wird niemand davon erfahren. Ich gebe dir mein Wort, Nikhat. Ich werde deinen Ruf schützen, mit allem, was mir zur Verfügung steht. In zwei Monaten werde ich zum König gekrönt. Dann kannst du gehen, egal, in welchem Zustand er sich befindet. Niemand wird dich aufhalten.“

Zwei Monate mit einem Mann, der die Macht besaß, sie wieder in den Abgrund zu stürzen. Zwei Monate, in denen all das wieder lebendig werden würde, was sie nicht haben konnte, nicht sein würde. „Du hast keine Ahnung, um was du mich bittest.“

„Ich hatte gehofft, dass du meinen Vorschlag akzeptierst, aber ich kann dir keine Wahl lassen, Nikhat. Von diesem Moment an bist du entweder Gast des Kronprinzen oder seine Gefangene. Und selbst wenn ich dich mit ihm einschließen muss …“ Schmerz klang in seiner Stimme mit, der ihr nur zu vertraut war. „Er ist mein Bruder. Früher war er dein Freund. Wir schulden es ihm.“

Ihr Freund? Hysterisches Lachen stieg in ihr auf.

Azeez bin Rashid Al-Sharif war nie nur ihr Freund gewesen. Sondern ihr Prinz und der Mann, der ihr versprochen hatte, ihr jeden Traum zu erfüllen.

Und er hatte jedes seiner Versprechen gehalten.

Abrupt stand sie auf und straffte die Schultern. Sie begegnete Ayaans Blick und nickte, ehe die Geister der Vergangenheit ihr den Mut nahmen, ehe ihre größte Angst ihr Pflichtgefühl zerstören konnte.

Sie würde es tun, weil sie es König Malik schuldig war. Er hatte dafür gesorgt, dass ein Mädchen aus dem Mittelstand ihren Traum verwirklichen konnte. Aber vor allem würde sie es für den Mann tun, den sie einmal mehr als alles auf der Welt geliebt hatte.

Es war nicht seine Schuld, dass sie nicht die Frau war, für die er sie gehalten hatte. „Ich werde es tun“, flüsterte sie und fühlte sich von der Schwere der drohenden Last niedergedrückt.

Starke Arme umschlangen sie. „Ich muss dich warnen, Nikhat. Er ist nicht der Mann, den du oder ich kennen. Ich bin nicht einmal sicher, ob dieser Mann überhaupt noch existiert.“

Sie war wieder da, groß, schön, elegant.

Wie eine Fata Morgana in der Wüste erschien sie jeden Tag, um ihn zu quälen und ihn an all das zu erinnern, was er nicht mehr war.

Die dunkelste Zeit des Tages war für ihn die Dämmerung, die einen neuen Tag ankündigte, der ihn mit nichts als Selbstverachtung begrüßte.

Egal, wie betrunken er war, wurde ihm um diese Zeit bewusst, was aus ihm geworden war und was er getan hatte. Und dieses Wissen kämpfte Azeez nieder.

Er war einst der Kronprinz gewesen. Jetzt war er der Gefangene des Kronprinzen – die passende Strafe für einen Mann, der für den Tod seiner Schwester verantwortlich war, für das qualvolle Leid seines Bruders und für so viel mehr.

Allein bei dem Gedanken daran hatte er das Gefühl, von den Wänden des Palastes erdrückt zu werden.

In diesem Moment wehte eine kalte Brise durch die weit geöffneten Türen. Die kühle Luft strich über seine nackte Brust und drang langsam in seinen Körper ein. Doch das war ihm egal, da ihr Bild wieder vor ihm aufstieg.

An diesem Tag trug sie einen dunkelbraunen, langärmligen Kaftan aus einfacher Baumwolle, darunter Leggings in der gleichen Farbe. Im wahren Leben hatte sie sich immer schlicht gekleidet und ihm nicht erlaubt, Geld für sie auszugeben.

Ihr volles, seidig-braunes Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, ihr goldfarbener Teint betonte ihre Gesichtszüge.

Die hohe Stirn, über die sie sich stets mokiert hatte, die aber ein Zeichen ihrer Intelligenz war, die mandelförmig geschnittenen braunen Augen, das Schönste an ihr, die etwas zu lange Nase und ein breiter Mund mit rosigen Lippen. Objektiv betrachtet hatte nichts davon etwas Außergewöhnliches.

Doch zusammengenommen besaß sie das schönste Gesicht, das er je gesehen hatte. Voller Charakter, Lachen, Liebe.

Vielleicht war er damals auch ein naiver, arroganter junger Dummkopf gewesen. Bis seine Liebe zu ihr ihn zerstört hatte.

Azeez beugte sich über die Armlehne des Lehnstuhls, auf dem er saß, und streckte seine rechte Hand aus. Die Bewegung drückte seine Hüfte gegen den Stuhl, und ein scharfer Schmerz durchschoss ihn. Er griff nach der Flasche Scotch und nahm schnell einen Schluck.

Die Flüssigkeit brannte in seiner Kehle und ließ seinen Blick noch ein bisschen mehr verschwimmen.

Doch das Bild vor seinen Augen blieb, wurde sogar noch klarer.

Denn jetzt konnte er ihren langen Hals sehen, den Nacken, den er vor langer Zeit mit seinen Fingern liebkost hatte. Der einfache, abgetragene Baumwollstoff fiel locker über ihren vollen Brüsten.

Er wischte sich mit dem Handrücken über den Mund, griff mit der anderen Hand nach der Flasche und stand abrupt auf.

Schmerz explodierte in seiner rechten Hüfte und durchzuckte seinen Körper. Mit zusammengebissenen Zähnen atmete er gegen den pochenden Schmerz an, dann lehnte er sich gegen den Pfeiler und sah hoch.

Der Anblick, der sich ihm bot, raubte ihm den Atem. Denn jetzt quälte ihn dieses Trugbild.

In den wunderschönen Augen der Frau standen Tränen. Ihre Lippen flüsterten seinen Namen. Wieder und wieder, als könnte sie nicht anders, als würde ihr nächster Atemzug davon abhängen, seinen Namen zu sagen.

Das Trugbild, die Frau, die er einst mehr geliebt hatte als alles andere und die ihn schließlich zerstört hatte, stand in Reichweite. Für einen Mann, der fast froh gewesen wäre zu sterben, um dann festzustellen, dass er noch lebte und ein Krüppel war, war es die schlimmste Bestrafung, sie dort stehen zu sehen.

Ein Schrei blieb ihm in der Kehle stecken, während er seine Flasche dem Trugbild entgegenschleuderte, um es zu verscheuchen und seinen Selbstekel zu vertreiben.

Doch anders als sonst zuckte die Frau jetzt zusammen, obwohl die Flasche sie verfehlte und mit einem lauten Schlag am Boden zersplitterte.

Ihr leises Aufkeuchen durchschnitt den trunkenen Nebel in seinem Kopf.

Er zitterte, als er die Hand ausstreckte und ihre Wange berührte. Ihre Haut war genauso seidenweich, wie er sie in Erinnerung hatte. Verzweifelt kämpfte er gegen die bittere Galle an, die in ihm aufstieg. „Nikhat?“

Angst und Selbstverachtung ließen sein Herz viel zu heftig gegen seine Rippen hämmern.

Der Tränenschimmer in ihren wunderschönen braunen Augen war echt. Genauso wie das Zittern ihrer Lippen.

Azeez fluchte, während er zu Eis erstarrte. Im nächsten Moment berührte sie ihn, verschlang ihn mit ihrem Blick.

„Hallo Azeez.“

Er stieß sie von sich und zuckte zurück. Gegen den Pfeiler gelehnt, rang er um Atem, schloss fest die Augen. Er hörte, wie sie leise ausatmete und einen Schritt auf ihn zuging.

Plötzlich erfasste ihn unbändige Wut. „Wer hat es gewagt, dich hier hereinzulassen? Ich mag ein Krüppel sein, aber trotzdem bin ich immer noch Prinz Azeez bin Rashid Al-Sharif von Dahaar. Verschwinde, ehe ich dich eigenhändig hinauswerfe.“

Nikhat zuckte zusammen, und die Mauer, die sie um sich herum errichtet hatte, drohte zerstört zu werden. Aber sie durfte nicht zulassen, dass Verbitterung hereinsickerte und ein Teil von ihr wurde. „Ich habe jedes Recht, hier zu sein, obwohl ich nicht glaube, dass du klar genug denken kannst, um das zu verstehen.“

Sie hatte erwartet, dass er ihr eine scharfe Antwort geben würde. Stattdessen stand er nur da, starrte sie an. Sie erwiderte seinen Blick, und ihre Sehnsucht nach ihm, die sie acht lange Jahre unterdrückt hatte, riss ihre Abwehr in Stücke.

Dunkle Schatten lagen unter seinen kohlschwarzen Augen und verrieten, wie sehr ihm zugesetzt worden war. Seine aristokratische Nase sah aus, als sei sie gebrochen gewesen und nie richtig verheilt.

Dann ging ihr Blick zu seinem Mund, der zugleich der sinnlichste und grausamste war, den sie je gesehen hatte. In diesem Moment jedoch war sein Mund nur eine schmale Linie.

Das weiße langärmlige Hemd, das er trug, stand halb offen und betonte seine schmale Gestalt. Seine Haare kräuselten sich über dem Kragen.

„Geh, Nikhat. Sofort“, herrschte er sie an. „Sonst kann ich keine Verantwortung mehr für das übernehmen, was ich als Nächstes tun werde.“

„Dich bei mir entschuldigen. Diese Flasche hätte ernsthaften Schaden anrichten können“, antwortete sie und gab den Kampf gegen sich selbst auf.

In dem Moment, als sie von ihrer Suite in den spärlich beleuchteten Flur getreten war, unfähig zu schlafen, und durch den Flügel des Palastes gewandert war, um sich dann einem Wachmann gegenüberzusehen, hatte sie jeden gesunden Menschenverstand aufgegeben.

Dabei hatte sie vorgehabt, nur einen kurzen Blick auf ihn zu werfen und dann in der Dunkelheit wieder zu verschwinden.

„Hat mein Bruder dich nicht gewarnt? Du hast das Risiko auf dich genommen, mitten in der Nacht ein wildes Tier aufzusuchen.“

„Ich habe keine Angst vor dir, Azeez. Ich werde nie Angst vor dir haben.“

Sie trat noch einen Schritt näher. Er hatte Gewicht verloren, das sah man an seinem Gesicht. Die scharf geschnittene Nase und die hohen Wangenknochen ließen seine Züge hart, ausgemergelt aussehen.

„Ayaan hat mir von dir erzählt“, erklärte sie aufrichtig, denn die eine schreckliche Lüge reichte ihr für das ganze Leben. „Ich konnte nicht warten … bis morgen.“

Er ballte die Hände zu Fäusten, Wut zeigte sich in seinem Blick „Und?“, knurrte er bedrohlich, sodass sie eine Gänsehaut bekam. Er umfasste ihre Wange, bewegte sich schnell für einen Mann, der offensichtlich Schmerzen hatte. Obwohl er sie sehr sanft berührte, spürte sie seine Wut, die er im Zaum hielt.

Als ihre Blicke sich trafen, drehte sich ihr der Magen um. Denn das, was sie in seinen Augen sah, machte ihr Angst. Sein Blick war leer, als ob jedes Leben in ihm abgestorben sei.

„Hast du genug gesehen, latifa? Ist deine Neugier jetzt befriedigt?“

Sie umfasste seine Handgelenke, damit er sie nicht wegstoßen konnte.

Sie tat es nicht für ihn, sondern für sich selbst.

Nikhat hatte nicht geweint, als sie von dem Anschlag der Terroristen hörte, und von seinem Tod. Denn ihr Herz hatte sich schon lange Zeit davor verhärtet. Und sie würde auch jetzt nicht weinen. Aber sie erlaubte sich, ihn zu berühren. Sie musste wissen, dass er wirklich vor ihr stand. Deshalb berührte sie sein Gesicht, die Schultern, seine Brust und achtete nicht darauf, dass er scharf einatmete. „Es tut mir leid. Wegen Amira, Ayaan, und wegen dir.“

Sanft schob er sie von sich. Kein Gefühl lag in seinem Blick, als er sie ansah. Weder Wut, Verachtung noch Zurückweisung. Sein anfänglicher Schock war längst verflogen. Jetzt sah er aus, als würde ihn nichts von all dem berühren, was sie sagte. „Ach, wirklich?“, flüsterte er gefährlich leise.

„Ja.“

„Warum, Nikhat?“

Sie war nicht verantwortlich für den Anschlag. Und trotzdem hatte sie nicht erwartet, dass sein Anblick sie so aufwühlen würde.

„Du bist nicht dafür verantwortlich, was aus mir geworden ist. Aber wenn du willst, könntest du mir einen Gefallen tun.“

Wenn sie ihm helfen könnte, würde sie es tun. Ayaan hatte recht gehabt. Sie schuldete es Azeez. „Was immer du willst.“

„Verlasse Dahaar noch vor Sonnenaufgang. Solltest du je wirklich etwas für mich empfunden haben, Nikhat, dann zeige mir nie wieder dein Gesicht.“

Erstarrt stand Nikhat da, als er sich abrupt von ihr abwandte. Ihr schien, als würde sie ihn immer wieder aufs Neue enttäuschen.

2. KAPITEL

Ayaan stellte seine Kaffeetasse zurück auf den Frühstückstisch, als er hörte, wie sein Bruder näher kam. Ein Geräusch, das ihn unbarmherzig an seine große Schuld erinnerte.

Als er den Blick seiner Frau auffing, sah er, dass sie genauso schockiert war wie er selbst.

Seit er seinen Bruder vor vier Monaten praktisch in den Palast geschleift hatte, war Azeez noch nicht ein einziges Mal im Frühstücksraum erschienen, obwohl Ayaan ihn immer wieder darum gebeten hatte. Doch heute …

Ayaan bedeutete den Bediensteten zu gehen, als er an dem heftigen Atmen hörte, dass Azeez auf den langgestreckten Tisch zutrat. Er stieß seinen Stuhl zurück und sah hoch. Plötzlich schien ihm der Morgen heller. „Möchtest du Kaf…“

Er hatte den Schlag nicht kommen sehen. Schmerz schoss in seinen Kiefer, und einen Moment war er so benommen, dass er nichts mehr sehen konnte.

Schreiend sprang seine Frau auf. Ayaan rieb sich über die Wange und sah, dass Zohra zu seinem Bruder trat und ihn gegen die Brust stieß.

Azeez’ Mund war zu einem grausamen Lächeln verzogen, und Ayaan wollte gerade eingreifen, als Azeez sich einen Schritt von Zohra entfernte. Mit spöttischem Grinsen meinte er: „Guten Morgen, Eure Hoheit. Du siehst … reizend aus.“

„Und du benimmst dich wie ein ungehobelter Schläger.“ Wut flammte in Zohras Blick.

„Ich bin ein ungehobelter Schläger, Prinzessin Zohra“, erwiderte sein Bruder mit hohlem Lachen. „Und es ist dein Ehemann, der mich hier festhält.“

Ayaan wandte sich zu seinem Bruder und erstarrte.

Wilder Zorn brannte in den schwarzen Augen, die er so gut kannte. In diesen Augen, in denen vier Monate lang nichts als Leere und Gleichgültigkeit gestanden hatten. Der harte Knoten in seinem Bauch löste sich ein wenig. „Wofür war das?“

„Du bist der zukünftige König von Dahaar, Ayaan, aber nicht mein Gebieter. Steck deine arrogante Nase nicht in meine Angelegenheiten.“

Ayaan setzte sich auf seinem Stuhl zurück. „Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.“

„Ich will, dass sie von hier verschwindet.“

„Warum bist du so wütend darüber, dass Nikhat hier ist?“

Azeez beugte sich vor. „Ich glaube, all diese Macht steigt dir zu Kopf. Manipuliere mich nicht, kleiner Bruder, sonst werde ich …“

„Was, Azeez?“ Ayaan war nicht gewillt nachzugeben. Heftig stellte er seine Tasse auf den Unterteller, sodass heißer Kaffee auf seine Finger spritzte.

„Du hast also selbst auf dich geschossen? Bis jetzt bin ich darauf hereingefallen, aber damit ist jetzt Schluss. Wenn du dich selbst hättest töten wollen, hättest du in den vergangenen Jahren oft genug Gelegenheit dazu gehabt. Diese Kugel hätte dich töten können. Und trotzdem bist du jetzt hier, stur wie immer und darauf aus, dich zu zerstören.“ Bedrückendes Schweigen hing zwischen ihnen. „Nikhat wird nirgendwohin gehen. Zumindest nicht für die nächsten sechs Monate.“

Etwas blitzte in den Augen seines Bruders auf, doch Ayaan konnte es nicht deuten.

„Wenn du vorhast, Erinnerungen zu wecken, die mich plötzlich wieder mit Lebensfreude erfüllen sollen, wie wäre es dann mit guten Erinnerungen? Warum lädst du nicht eine der zahllosen Frauen in den Palast ein, mit denen ich vor sechs Jahren geschlafen habe?“ Er warf Zohra einen bösen Blick zu, ehe er sich wieder an Ayaan wandte. „In diesem Nachtclub in Monaco war immer eine besonders sexy Stripperin, die Erstaunliches mit ihrer Zunge anstellen konnte. Wenn du willst, dass ich wieder ins Leben zurückkehre, schick die reservierte Ärztin weg, lass eine Stange in meinem Zimmer aufstellen und bring mir diese Stripperin …“

Seine Stimme verlor sich, und Azeez sah plötzlich so aus, als habe man ihn geschlagen.

Nikhat stand in der Tür. Vor dem edlen, kunstvoll gemusterten Teppich, der hinter ihr im Gang hing, wirkte ihr Gesicht totenbleich.

Die Luft war erfüllt von drückender Anspannung.

Azeez fing sich als Erster. „Ich heitere meinen Bruder und seine Frau gerade mit Geschichten aus Monaco auf. Ich glaube, das war in dem Jahr, nachdem du mich verlassen hast, oder?“

Hinter seinem amüsierten Tonfall lag noch etwas anderes, das in dem großen Raum widerhallte.

„Spielt es denn eine Rolle, wann das war, wenn du die gesamte Frauenwelt in Monaco verführt und mit deinen wilden Eskapaden Dahaar und deinem Vater Schande gebracht hast?“ Nikhat sprach mit der gleichen gefährlichen Ruhe.

Schließlich ging sie an Ayaan vorbei zu Zohra und flüsterte ihr etwas zu. Dann verließ sie den Raum, ohne Azeez noch einen Blick zuzuwerfen.

„Schluss mit den Spielchen, Ayaan. Warum ist sie hier?“, donnerte Azeez, kaum war sie gegangen.

„Zohra ist schwanger, und es gibt Komplikationen. Nikhat ist eine der besten Geburtshelferinnen. Ich brauche sie hier, damit sie sich um meine Frau kümmert.“

Mit abschätzendem Blick wandte Azeez sich an Zohra. „Herzlichen Glückwunsch, euch beiden. Aber wenn sie schon hier sein muss, halte sie mir vom Leib. Sag ihr, dass es ihr verboten ist, mich zu sehen.“

„Ich werde ihr nichts dergleichen sagen. Nikhat gehört praktisch zur Familie. Und sie tut mir einen Gefallen. Wenn du also nicht für den Rest deines Lebens mein Gefangener sein willst, dann solltest du dich besser benehmen.“

„Was für ein verdammter Mistkerl aus dir geworden ist, Bruder.“

Ayaan lachte, zum ersten Mal seit Langem. „Das musste ich, für Dahaar, Azeez. Ich bin nicht als Mistkerl geboren, so wie du. Deshalb warst du auch so gut als Kronprinz. Sobald du die Rolle zurück willst, gehört die Krone dir.“

„Das war einmal.“ Die Linien um seinen Mund vertieften sich, und Azeez wich zurück, als hätte Ayaan ihm angeboten, mitten ins Höllenfeuer zu springen. „All das gehört jetzt dir.“

Damit verschwand Azeez und ließ bedrücktes Schweigen zurück.

Früher einmal hätte sein Bruder sein Leben für Dahaar gegeben. Allein bei dem Gedanken an sein Heimatland hatten seine Augen aufgeleuchtet.

„Er hat sich anders als sonst verhalten“, bemerkte Zohra. „Und Nikhat … sie sah aus, als würde sie zusammenbrechen, hätte er noch ein Wort zu ihr gesagt.“

Ayaan griff nach ihrer Hand, die sie über den Tisch ausstreckte, und nickte. Vier Monate lang war er gegen die undurchdringliche Mauer gerannt, die sein Bruder um sich aufgebaut hatte. Jetzt hatte diese Mauer zum ersten Mal einen kleinen Riss bekommen.

Nachdem sie sich ein paar Mal verlaufen hatte, kam Nikhat endlich in den Innenhof hinter dem Palastflügel, den man ihr vor drei Tagen gezeigt hatte. Hohe Mauern schirmten den Hof vor neugierigen Blicken ab.

Obwohl es erst zehn Uhr morgens war, stand die Sonne bereits hoch am Himmel. Nikhat wischte sich den Schweiß von der Stirn und setzte sich auf eine Bank, die bei dem imposanten Brunnen stand. Sie genoss das rhythmische Plätschern des Wassers, den Duft der Rosen. Und trotzdem konnte sie sich nicht entspannen.

Drei Tage lang war sie mit Prinzessin Zohra beschäftigt gewesen, doch es drängte sie, Azeez wiederzusehen.

Als sie geglaubt hatte, dass er tot sei, hatte sie oft von ihm geträumt und sich vorgestellt, was sie ihm sagen würde, hätte sie noch einmal die Möglichkeit, ihn zu sehen. Wie sie ihn berühren, ihn halten würde …

Die Wirklichkeit erlaubte ihr diesen Leichtsinn jedoch nicht.

Mit geschlossenen Augen lehnte sie sich zurück und spürte die Sonne auf ihrem Gesicht. Sie durfte nicht zulassen, dass sie sich in albernen Träumereien erging, weil er dem Tod entronnen war.

Und Ayaan würde sie auch nicht helfen können.

Sie zog ihre Crocs aus und tauchte ihre Zehen ins Wasser. Es kitzelte an ihren Füßen, und Tropfen spritzten auf ihre Leggings. Eine ungewohnte Ruhe umgab sie, nach der Hektik im Krankenhaus von New York. Auch wenn sie gewusst hatte, dass es für sie hier nicht einfach werden würde, war sie nicht glücklich damit, wie die Dinge sich entwickelten.

Obwohl Ayaan angeordnet hatte, dass sie allein für Zohras Wohlergehen verantwortlich war, stieß sie bei dem medizinischen Personal und den Angestellten auf Widerstand. Was ihr einmal mehr bewusst machte, dass sie den Rückhalt der königlichen Familie brauchte, um in Dahaar Erfolg haben und etwas ändern zu können.

Es konnten kaum mehr als zwei Minuten vergangen sein, als ihre Haut anfing zu prickeln. Sie spürte einen Schatten, und ihr setzte das Herz aus, als ihr bewusst wurde, wer sich ihr plötzlich näherte.

Nikhat hielt die Augen geschlossen, um sich erst einmal zu sammeln. Dann hob sie langsam die Lider und richtete sich auf.

Mit unsicherem Gang steuerte Azeez auf die Bank links von ihr zu. Seine Miene wirkte angespannt, und die rechte Hand war zur Faust geballt, als er sich hinsetzte.

Er war unrasiert, und die dunklen Bartstoppeln ließen ihn noch gefährlicher wirken. In seinen Augen lag immer noch dieser verhärmte, erschöpfte Ausdruck. Das blütenweiße Hemd und die Baumwollhose hingen locker auf seiner schmalen Gestalt.

Sie hielt sich mit ihrem scharfen Kommentar nicht zurück. „Wenn du so weitermachst, kannst du deine Hüfte nie mehr gebrauchen. Selbst in deinem Zustand glaube ich …“

Fragend sah er sie mit seinen verhangenen Augen an, die umrahmt waren von langen dichten Wimpern.

Um nichts in der Welt hätte sie in diesem Moment den Blick von ihm abwenden können. „Ich denke, du bist noch vernünftig genug, um das zu wissen.“

„Hör auf, mich so anzusehen.“ Sein leises Knurren dröhnte durch den stillen Innenhof.

„Wie sehe ich dich denn an?“ Sie zog die Füße unter sich.

Er legte den Kopf zurück und bot ihr damit einen ungehinderten Blick auf seinen muskulösen Hals. Auch wenn er sehr lässig gekleidet war, war er der Inbegriff männlicher Arroganz und überheblichen Selbstbewusstseins. „Als ob du nicht anders könntest und mich bei lebendigem Leib auffressen willst.“

Die Hitze, die ihr in die Wangen stieg, rührte nicht von der Sonne. „Das stimmt nicht.“

Azeez beugte sich vor. „Doch. In deinem Blick liegt jetzt etwas Freches. Du wusstest schon immer, was du wolltest, und jetzt scheint dein Körper es auch zu wissen.“

Sie zuckte die Schultern. „Ich bin nicht mehr die schüchterne Zweiundzwanzigjährige.“

„Das merke ich.“ Etwas leuchtete in seinen Augen auf. „Ich sehe es förmlich vor mir, wie du deine Patienten mit deinem scharfen Blick gesund machst.“

Sie lachte, auch um das leichte Zittern zu überspielen, das sie durchlief. „Ja, ich habe einen Ruf als gefürchtete Ärztin. Aber wenn es nur so einfach wäre, die Dinge wieder ins Lot zu bringen. Du hast recht. Ich kann nicht aufhören, dich anzusehen und mich zu fragen, was du dir selbst antust.“

Seine Kiefermuskeln verspannten sich, und seine Nasenflügel bebten.

Aus der Ferne betrachtet wirkten sie sicher wie zwei alte Freunde, die sich unterhielten. Doch weit gefehlt. Ihr ganzer Körper signalisierte ihr: Gefahr!

Er fuhr sich mit der Hand über den Kiefer und sah sie unverwandt an.

„Ist es wahr?“

„Was meinst du?“

„Im ganzen Palast wird darüber geredet. Und anscheinend hast du heute das erste Mal in drei Tagen eine Minute für dich.“

„Also nimmst du doch etwas um dich herum wahr? Das ist immer ein gutes Zeichen.“

„Vor mir brauchst du mit deiner Qualifikation nicht anzugeben, Nikhat. Stimmt es, dass es Komplikationen bei Prinzessin Zohras Schwangerschaft gibt?“

In seiner Stimme klang kein Gefühl mit, sodass sie nicht wusste, ob er sich Sorgen um die Prinzessin machte. „Ja.“

„Wie ernst ist es?“

„Ich habe noch einige Tests angeordnet. Ihr Blutdruck ist gefährlich hoch. Sie braucht Ruhe und Gelassenheit. Stress verstärkt die Komplikationen nur noch. Von dem, was ich in den letzten beiden Tagen mitbekommen habe, bist du die Ursache dafür.“

„Nur weil ich ihren Ehemann geschlagen habe?“

„Du hast Ayaan geschlagen? Warum?“

Weil Ayaan dich hierherbestellt hat, ertönte die Antwort in ihr.

Hasst du mich so sehr?

Die Frage lag ihr auf der Zunge, aber es war sinnlos, sie auszusprechen oder auch nur einen Gedanken an die Vergangenheit zu verschwenden.

„Du hast dich wirklich verändert“, sagte sie stattdessen, in der Hoffnung, eine Schwachstelle in seiner Gleichgültigkeit zu finden, die er wie eine Rüstung trug. „Der Azeez, den ich einmal gekannt habe, hätte nie die Hand gegen seinen Bruder erhoben. Und er hätte auch nie einer unschuldigen, harmlosen Frau eine Flasche entgegengeschleudert.“

Er lachte auf. „Du bist weder unschuldig noch harmlos. Ich war betrunken. Und du warst selbst schuld, weil du mitten in der Nacht in den Flügel des Palastes gekommen bist, der für dich verboten ist.“

„Und du wirfst Flaschen auf Personen, wenn du betrunken bist?“

„Nur auf dich.“

Seine spitze Bemerkung nahm ihr die Luft, und sie wandte den Blick von ihm ab. Genau dieser Zukunft hatte sie vor acht Jahren entkommen wollen – seinem Groll und seiner Verbitterung. Denn Azeez hatte seine Gefühle nie versteckt. Und trotzdem war jetzt genau das geschehen, was sie hatte verhindern wollen – sie war der Grund für seinen Zorn.

Als sie wieder hochsah, merkte sie, dass er sie neugierig musterte. „Ich meine es ernst, Azeez. Prinzessin Zohra muss sich ausruhen und entspannen. Und wenn du nichts unternimmst, um ihre Sorge um Ayaan zu zerstreuen, wird ihr Zustand sich verschlimmern. Sie liebt Ayaan über alles. Und es setzt ihr sehr zu, dass Ayaan sich Sorgen um dich macht.“

„Sie ist die Zukunft von Dahaar“, erklärte Azeez kühl. „Ich will nicht, dass ihr etwas passiert.“

War ihm eigentlich bewusst, dass er sich selbst verriet? Wie Ayaan ihr erzählt hatte, behauptete Azeez, dass ihm alles egal sei. „Ist es wirklicch nur Dahaars Zukunft, um die du dir Sorgen machst? Nicht das, was du Ayaan antust und deinen Eltern? Oder dir selbst?“

Er stand so abrupt auf, dass Nikhat zusammenzuckte. Sie konnte gerade noch sehen, wie Schmerz sein Gesicht verschattete.

„Damit wäre diese Sprechstunde beendet“, herrschte Azeez sie an. „Du bist nicht meine Freundin. Du bist ganz sicher nicht meine Ärztin.“

Seine Triade war noch nicht vorbei. „Vielmehr bist du eine Bedienstete der königlichen Familie. Also mach deine Arbeit und kümmere dich um Prinzessin Zohra. Glaub mir, du kannst mir nicht helfen. Außer vielleicht, indem du verschwindest.“

„Das werde ich nicht, Azeez. Nicht, ehe ich meine Aufgabe hier erfüllt habe. Ich habe das Vertrauen, das die königliche Familie in mich setzt, bis jetzt noch nie enttäuscht, wie Ayaan genau weiß, und ich werde es auch in Zukunft nicht tun.“

„Niemals, Nikhat?“

Ihr stockte der Atem, und sie schlang schützend die Arme um sich. „Niemals.“

Er blieb in dem großen Rundbogen stehen, der in den Innenhof führte. Die Sonne hinter ihm verschattete seine harten Züge. Nikhat wusste nicht, was er sah, wenn er sich selbst im Spiegel betrachtete, welche Ereignisse aus der Vergangenheit ihn quälten. Aber dass er hier war und sich um die Prinzessin sorgte, gab ihr Hoffnung.

„Ich habe dich nie für naiv gehalten.“

Sie brauchte einen Moment, um sich zu fassen, denn über sich selbst wollte sie mit ihm am allerwenigsten reden. „Damals war ich es, jetzt nicht mehr. Ich bin nicht mehr das Mädchen, das du von früher kennst, Azeez.“

„Warum ausgerechnet Geburtshilfe? Weshalb nicht Kardiologie?“

Sie erstarrte, weil er es nach all den Jahren immer noch schaffte, bei ihr genau ins Schwarze zu treffen. Wie gut er sie doch kannte.

„Deine Mutter ist seit achtzehn Jahren tot, Nikhat. Du kannst sie oder das Kind nicht mehr retten, bei dessen Geburt sie gestorben ist.“ Er hielt kurz inne. „Bist du in der Lage, objektiv zu sein, wenn die Zeit gekommen ist? Oder führst du immer noch einen nie enden wollenden Kampf mit dir selbst und versuchst wieder und wieder, deine Mutter zu retten?“

Nikhat spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich. „Du kannst mich hassen, so viel du willst, Azeez, aber wage es nicht, meine Fähigkeiten als Ärztin oder meine Motivation zu beleidigen. Ich habe mich für die Geburtshilfe entschieden, weil es um die Gesundheit der Frauen in Dahaar trotz aller Fortschritte immer noch nicht zum Besten bestellt ist. Es gibt noch so viel Rückständiges, das das Leben der Frauen hier bestimmt. Mein Beruf hat nichts mit meiner Vergangenheit zu tun. Es ist mein Leben, meine Zukunft.“

„Dann solltest du genau das auch nie vergessen. Denn du hast einen hohen Preis dafür bezahlt, oder nicht?“

Nikhat sank zurück auf die Bank. Er glaubte immer noch, sie habe ihn verlassen, weil ihr Traum ihr wichtiger gewesen war als ihre Liebe zu ihm. Und sie hatte ihn in dem Glauben gelassen, weil sie unter der Last der Wahrheit zusammengebrochen war.

Ja, sie hatte einen hohen Preis bezahlt. Mit ihrem Herzen, ihrer Liebe. Sie hatte für etwas bezahlt, das sie nicht ändern konnte. Und sie hatte sich mühsam ein neues Leben aufgebaut, das sie sich selbst von dem Prinzen von Dahaar nicht zerstören lassen würde.

3. KAPITEL

Azeez lehnte sich draußen vor Ayaans Büro gegen die Wand und atmete scharf ein. Schweiß lief ihm über den Rücken, nach dem langen Weg von seinem Flügel zu diesem Teil des Palastes. Er schloss die Augen und rieb mit der Hand über die Hüfte, um den Schmerz von der Schussverletzung zu vertreiben.

Aber natürlich verging der Schmerz nicht. Die letzten vier Monate hatte er damit verbracht, sich bis zur Bewusstlosigkeit zu betrinken, ohne sich darum zu kümmern, ob er aß oder sich bewegte. Seine Nachlässigkeit rächte sich jetzt mit schrecklichen Schmerzen in der Hüfte. Er atmete gegen die Punkte an, die vor seinen Augen tanzten, und sank langsam zu Boden.

Sein Bruder hatte recht gehabt. Er hatte sich mehr als nur ein Mal gewünscht, tot zu sein. Aber er hatte sich nicht wirklich umbringen wollen.

Denn die Liste seiner Verfehlungen war schon lang genug, ohne dass er sich auch noch gegen Allah versündigte. Also hatte er weitergemacht, und alles war ihm egal gewesen, auch dass sein Leben nur noch öd und leer war. Solange nur er selbst mit den Konsequenzen seines mangelnden Interesses am Leben fertig werden musste, war das für ihn in Ordnung gewesen. Aber jetzt …

Jetzt begann sein Lebensstil sich auch schädlich auf seinen Bruder und dessen Frau auszuwirken.

Nach all dem, was er durchgemacht hatte – die Schussverletzung beim Angriff der Terroristen, der Blutverlust, von dem er sich erholt hatte, um dann mitten unter Fremden aufzuwachen und festzustellen, dass er sein Bein nicht mehr bewegen konnte, der unsagbare Schmerz, weil er sich seiner Familie verweigerte –, konnte er das nicht zulassen.

Er durfte dieser Fäulnis in ihm nicht erlauben, sich auszubreiten und das Gute anzustecken, das seiner Familie endlich widerfuhr. Er durfte ihnen und Dahaar nicht noch mehr nehmen.

Und sollte der Preis darin bestehen, das letzte bisschen an Selbstachtung aufzugeben, sich nicht mehr zu verstecken und sich seinen Dämonen zu stellen und all dem, was er durch sein rücksichtloses Handeln zerstört hatte, dann sollte es eben so sein.

„Azeez?“ Ayaans Stimme drang an sein Ohr, von unendlichem Schmerz gefärbt.

Azeez fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen und räusperte sich. Die Worte blieben ihm in der Kehle stecken, doch er zwang sich zu sprechen. „Hilf mir auf, Ayaan.“

Einen Augenblick bewegte sein Bruder sich nicht, und Azeez war so schockiert, dass er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervorstieß: „Willst du dich für den Schlag revanchieren, den ich dir vor drei Tagen verpasst habe?“ Er klang spöttisch. „Wirst du mir denn helfen, wenn ich dich darum bitte, Eure Hoheit?“

Fluchend erwachte Ayaan aus seiner Starre, schob seine Hände unter Azeez’ Schultern. „Auf drei.“

Azeez nickte und atmete tief durch. Dann umfasste er Ayaans Handgelenke und zog sich hoch.

Ayaan lehnte sich gegen die gegenüberliegende Wand und verschränkte die Arme. „Ist das immer so?“ Wut klang in seiner Stimme mit, aber auch ein Anflug von Schmerz.

Azeez schluckte die scharfe Antwort herunter, die ihm auf der Zunge lag, und schüttelte den Kopf. „Ich bin selbst schuld. Je weniger ich mich bewege, desto schlimmer wird es mit meiner Hüfte.“

Stirnrunzelnd öffnete Ayaan die Tür hinter sich und hielt sie Azeez auf. Sein Bruder trat ein. Und erstarrte.

Ihn fröstelte, als sein Blick auf den großen Tisch am anderen Ende des Raums fiel. Eine handgefertigte Kiste aus Holz stand darauf, die sich seit mehr als zweihundert Jahren im Besitz der Al-Sharifs befand. Daneben lag ein goldgeprägter Federhalter, der über mehrere Generationen weitergegeben worden war. Und rechts davon in einem Glaskasten war das Schwert ausgestellt.

Das Schwert, das ihm während der Zeremonie überreicht worden war, als sein Vater ihn zum Kronprinzen und zukünftigen König ernannt hatte. Es hatte all das repräsentiert, was ihm wichtig gewesen war. Jetzt gehörte es seinem Bruder, und Azeez zweifelte nicht eine Sekunde daran, dass es richtig so war.

Hinter dem Ledersessel hing ein Porträt seiner Familie.

Das lächelnde Gesicht seiner Schwester Amira versetze ihm einen Schlag in den Magen. Er war für ihren Tod verantwortlich, als hätte er sie mit seinen beiden Händen umgebracht.

Genug.

Er war nicht hergekommen, um seine Schuld wieder aufleben zu lassen. Sondern um zu verhindern, dass noch mehr passierte.

Er wandte den Blick von dem Porträt ab, ging zu der Sitzgruppe rechts und ließ sich auf einem Diwan nieder. Ayaan nahm ihm gegenüber Platz.

„Nikhat sagt, dass ich der Grund bin“, begann er ohne Umschweife. Er würde sagen, was er zu sagen hatte, dann wollte er wieder gehen. Zurück in seine Höhle voller Selbstverachtung, zu der seine Suite geworden war.

Ayaan runzelte die Stirn. „Was meinst du damit?“

„Zohras Komplikationen mit der Schwangerschaft.“

Das Gesicht seines Bruders wurde zu einer starren Maske. Azeez verfluchte sich, weil er die ganze Zeit nur an sich gedacht hatte. Zum ersten Mal bemerkte er, wie angespannt Ayaans Miene wirkte.

Dunkle Schatten lagen unter den Augen seines Bruders, und seine Züge hoben sich scharf hervor.

„Ich würde es nicht so sagen“, meinte Ayaan schließlich. „Die Ärzte haben erklärt, dass die Schwangerschaft von Anfang an sehr riskant gewesen sei, auch wenn sie die wahre Ursache nicht benennen können.“

„Was meint Nikhat dann damit, dass ich daran schuld sei? Ich weiß, dass sie es nicht gesagt hat, um mich zu manipulieren?“

„Ich dachte, du wolltest sie nicht sehen oder auch nur ein Wort von ihr hören. Und jetzt vertraust du ihrer Meinung?“

„Nikhat wollte schon seit ihrem zehnten Lebensjahr Ärztin werden. Wenn es eins gibt, dem sie nie untreu werden würde, dann ist es ihr Berufsethos. Wenn sie also sagt, dass ich der Grund für Zohras Stress bin, dann ist es auch so. Ich verstehe nur nicht warum. Ich mag ein Krüppel sein, aber mein Hirn funktioniert noch.“

„Ach wirklich? Bis jetzt hast du noch keinen Beweis dafür erbracht.“

Azeez sprach weiter, als hätte sein Bruder ihn nicht beleidigt. „Ich habe selbst erlebt, wie deine Frau mich wie eine Löwin angeknurrt hat, als müsste sie dich vor mir beschützen. Ich glaube nicht, dass sie zusammenbrechen würde, nur weil ihr Ehemann es mit seinem schwierigen Bruder zu tun hat. Also, was ist es dann, Ayaan?“

Tiefe Verzweiflung leuchtete im Blick seines Bruders auf, und schockiert starrte Azeez ihn an. Seit er erfahren hatte, dass Ayaan nach sechs langen Jahren zurückgekehrt war, hatte Azeez gewusst, dass sein Bruder seine Pflicht tun würde, ganz egal, was passiert war. Und Ayaan hatte bisher jede Herausforderung gemeistert.

„Sie macht sich Sorgen, was das hier …“, er deutete auf seinen Bruder und dann sich selbst, „mit mir macht.“

Kälte rieselte über Azeez’ Rücken. „Was meinst du damit?“

„Ich habe Albträume, schlimme Albträume. Jede Nacht, seit ich wieder … bei Verstand bin. Manchmal ist es eher harmlos, dann wieder werde ich gewalttätig. Und …“

Azeez stöhnte auf. „Sie sind schlimmer geworden, seit du mich gefunden hast. Stimmt’s?“

Ayaan zuckte die Schultern.

Und in diesem Moment erkannte Azeez an dem resignierten Blick seines Bruders, was er vor lauter Blindheit bis jetzt nicht hatte sehen wollen.

Sein Bruder hatte seine eigene Hölle erlitten. Doch er lebte, und Dahaar konnte sich glücklich schätzen, ihn zu haben.

Außer, er, Azeez, würde wieder alles zerstören.

„Ich erlebe diese Nacht immer wieder, und jedes Mal, wenn ich all das Blut in dem Stall sehe, dein Blut, wache ich schreiend auf. Zohra ist immer bei mir und leidet mit mir.“

„Warum hast du mir das nicht gesagt?“

„Wann hätte ich das denn tun sollen? Zwischen den Schlägen, die du Khaleef und mir verpasst hast? Als du dich strikt geweigert hast, Mutter zu sehen, obwohl du ihr herzzerreißendes Schluchzen hinter der Tür gehört hast? Oder in den wenigen Stunden, die du nüchtern warst in den letzten vier Monaten?“

Unruhig rutschte Azeez hin und her. Er wollte nur noch fort von hier.

„Dann wirf mich hinaus.“ Seine Hilflosigkeit drohte ihn zu zerfressen. „Damit löst du alle Probleme.“

Mit finsterem Blick beugte Ayaan sich vor. „Du meinst, ich sollte mir einfach wünschen, dass du nicht existierst, so wie du es mit dir selbst machst?“

„Dann schick deine Frau fort. Beschütze sie.“

„Das kann ich nicht“, gab Ayaan mit einem sarkastischen Lächeln zurück. „Ich werde zwar in zwei Monaten zum König gekrönt, aber ich kann meiner Frau nicht vorschreiben, wie sie sich zu verhalten hat. Ich hatte angeordnet, dass sie in einem anderen Flügel schläft oder für ein paar Tage nach Siyaad geht. Aber wie du schon richtig erkannt hast, hat meine Frau ihren eigenen Kopf. Sie würde nicht von meiner Seite weichen.“

Seit Azeez Zohras entschlossenen Blick bemerkt hatte, wusste er, wie sehr die Prinzessin seinen Bruder liebte. Auch er hatte sich eine solche Liebe einmal gewünscht und geglaubt, er hätte sie gefunden.

Er schluckte gegen die Eifersucht an, die ihn erfasste. Er wollte Ayaan nicht um dessen Glück beneiden. Vielmehr musste er dem Elend ein Ende machen, sofort. „Na schön. Was willst du dann von mir?“

„Wie bitte?“

„Sag mir, was ich tun soll. Was ich tun kann, damit … damit du dich besser fühlst und Zohra diese Aufregung erspart bleibt.“

„Warum gerade jetzt, nachdem du all meine Bitten in den Wind geschlagen hast?“

„Weil bereits zu viel Blut an meinen Händen klebt und ich nicht noch mehr zerstören will.“

„Nun gut.“ Sein Bruder stand auf. „Ich will, dass du auf dich achtgibst. Du brauchst Physiotherapie, solltest einen Psychiater aufsuchen. Ich will, dass du zu Mutter gehst und dass du bei meiner Krönung dabei bist …“

„Dräng mich nicht“, wehrte Azeez ab und spürte, dass die Anordnungen seines Bruders ihn an Dahaar ketten würden, sollte er sie befolgen. Allein bei dem Wort Krönung hatte er das Gefühl, als würde man ihm einen Dolch ins Herz stoßen.

Er stützte sich auf der Lehne ab und kam mühsam auf die Füße. Ihm blieb nur eine Möglichkeit, um die Zerstörung aufzuhalten. Doch alles in ihm begehrte dagegen auf. „Ich werde es tun, aber auf meine Weise.“

„Und das heißt?“

„Ich will kein Team von Ärzten. Nikhat kann sich um mich kümmern, wenn sie nicht mit Zohra beschäftigt ist.“

„Azeez.“ Die Stimme seines Bruders klang warnend. „Was immer du vorhast, lass es sein. Nikhat ist auf meine Bitte hier.“

„Ganz genau. Du hast sie ins Spiel gebracht, Ayaan. Also solltest du dich nicht darüber beschweren, da ich deine Befehle jetzt befolge.“

Er verließ das Büro seines Bruders und ging langsam zurück zu seiner Suite. Er hatte immer noch vor, Dahaar zu verlassen. Um seiner selbst willen musste er es tun.

Aber er würde damit warten, bis mit Zohra alles in Ordnung war. Außerdem konnte er nicht so weitermachen, für den Rest seines Lebens.

Er würde den Bitten seines Bruders nachkommen, denn Ayaan verdiente es. Aber es hatte keinen Sinn, dass ein Team von Ärzten in seinem Kopf herumstocherte, denn es gab nichts, das ihm helfen würde.

Was Dr. Zakhari anging, war es ein Fehler von ihm gewesen, sie so schnell abzuweisen. Sie war ihm etwas schuldig. Sie würde ihm den Weg in die Freiheit ebnen, weg von einem Leben, das langsam aber sicher das zustande bringen würde, was eine Kugel nicht geschafft hatte – ihn töten.

Nikhat beendete ihr Dinner und entließ das Dienstmädchen. Kaum hatte die Angestellte ihre Suite verlassen, wusste Nikhat schon nicht mehr, was sie gegessen hatte.

Wenig später stand sie vor dem großen Spiegel in ihrem Schlafzimmer und betrachtete sich mit kritischem Blick. Ihr langärmliger, hochgeschlossener schwarzer Kaftan war aus steifer Seide, der nichts von ihren Rundungen preisgab, sondern eher wie ein Zelt von ihren Schultern herabhing. Kleine Diamantohrstecker, die sie sich selbst zum dreißigsten Geburtstag geschenkt hatte, waren ihr einziger Schmuck.

Laut seufzend nahm sie eine weitere Haarnadel und steckte eine der Strähnen fest, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hatte. Endlich zufrieden, rieb sie sich über die Schläfen.

Im Operationssaal band sie ihre Haare immer zurück, doch diesmal hatte sie sie so fest hochgesteckt, dass ihr die Kopfhaut wehtat.

Sie warf einen Blick auf all die Geschenke. Stunden hatte sie damit zugebracht, alles einzupacken, zu nervös, um ruhig dasitzen zu können.

Wieder sah sie auf die Uhr. Ihr Vater müsste jeden Augenblick kommen.

Unruhig ging sie auf und ab, als es endlich klopfte. Sie lief zur Tür, öffnete und erstarrte.

Azeez stand vor ihr. Er war rasiert, sein Blick klar, in dem ein Funke des früheren Azeez leuchtete. Sie hatte schon ganz vergessen, wie bezwingend er sein konnte.

Und das machte sie noch nervöser.

Dass er in demselben Flügel wohnte wie sie, reichte schon, um sie in ständige Unruhe zu versetzen. Aber dass er jetzt vor ihrer Tür stand, schockierte sie noch mehr.

„Ich muss mit dir reden.“

Er wartete nicht auf ihre Antwort, sondern trat ein, ganz der arrogante Prinz. Nervös wandte sie sich um.

„Mach deinen Mund zu, Nikhat. Und die Tür.“

Sie schloss den Mund, die Tür jedoch nicht. Obwohl sie innerlich zitterte, hoffte sie, herausfordernd zu wirken. „Warum?“

Sein Mund verzog sich zu einem Grinsen, und in seinen Augen stand ein gefährliches Leuchten. Beides hatte sie damals völlig durcheinandergebracht, und offenbar hatte sich nichts daran geändert. Denn ihre Knie waren so weich, dass sie kaum aufrecht stehen konnte.

„Hast du Angst, mit mir allein zu sein?“

Sie schloss die Tür so fest, dass der Knall das Ja in ihrem Kopf übertönte.

Ihre weitläufige, luxuriöse Suite erschien ihr plötzlich viel zu klein, nachdem er eingetreten war. Er strahlte wie die Sonne, die alles um sich herum auf eine farblose Bedeutungslosigkeit reduzierte.

Sein Blick, mit dem er sie bedachte, wirkte wie eine Liebkosung. „Warum trägst du so ein schreckliches Ungetüm? Und was ist mit deinen Haaren passiert?“

Nikhat starrte ihn nur an. Sie hatte sich gegen seine Verachtung, selbst gegen seinen Hass gewappnet, der ihr in den kommenden Monaten entgegenschlagen würde. Aber dass er ihr Aufmerksamkeit schenkte, war zu viel für sie.

„Wenn du dich sonst auch so kleidest, wundert es mich nicht, dass sie in New York froh waren, dich loszuwerden.“

„Ich bin freiwillig gegangen. Und ich habe eine gute Position in einem erstklassigen Krankenhaus aufgegeben, um zurückzukommen.“ Zu spät wurde ihr klar, dass er mit ihr spielte. Er verhielt sich ganz anders heute. Als hätte er sich all seine Gefühle für diesen Moment aufgespart. Aber selbst seine scharfen Worte waren besser als sein Zustand vorher. „Um etwas aufzubauen, das in Dahaar dringend gebraucht wird.“

„Ach ja … ich habe von deinen Plänen für die Klinik gehört. Prinzessin Zohras Schwangerschaft, Ayaans verzweifelter Wunsch, mich wieder gesund zu machen, unsere Vergangenheit, all das kommt dir sehr gelegen, nicht wahr? Wie immer.“

Wut kochte in ihr hoch. „Glaubst du, es ist einfach für mich, wieder hier zu sein? Meine Freiheit, meine Position in New York aufzugeben, und den Respekt, den man mir entgegengebracht hat? Ständig gegen Vorurteile ankämpfen zu müssen, nur weil ich eine Frau bin? Offenbar reicht nicht einmal als Empfehlung, dass ich die Leibärztin der Prinzessin bin.“

„Wenn du etwas anderes erwartest hast, bist du dumm, Nikhat.“

„Weil ich etwas ändern will, zum Wohl von Dahaar? Du hattest auch einmal den gleichen Traum, Azeez. Oder hast du alles, was der Vergangenheit angehört, ausgelöscht?“

Er ließ sich nicht aus der Ruhe bringen „Warum bleibst du, wenn es so schwierig ist?“

„Weil ich weiß, dass ich etwas verändern kann. Und ich werde mich nicht von Vorurteilen aufhalten lassen.“

Wieder in Dahaar zu sein, brachte nicht nur berufliche Schwierigkeiten mit sich, sondern auch persönliche. In New York hatte sie Freiheit kennengelernt. Sie konnte hingehen, wo sie wollte, konnte sprechen, mit wem sie wollte, ohne schriftliche Erlaubnis oder fragende Blicke, die ihr hier überall begegneten.

„Du bist immer deinen Weg gegangen, wenn du dich einmal entschieden hattest, nicht wahr?“ Unfreiwilliger Respekt lag in seiner Stimme. „Aber du solltest nicht erwarten, dass die Dinge sich über Nacht ändern, Nikhat.“

Sie nickte, unendlich froh um diese Diskussion. Selbst wenn er spöttisch klang, gab ihr Azeez das Gefühl sie zu verstehen.

„Und deine Kleidung, die aussieht, als würdest du zu deiner Hinrichtung schreiten, ist also der erste Schritt, um alle davon zu überzeugen, dass sie dich ernst nehmen sollen?“

Sie hob eine Braue und lächelte, während sie mit der Hand über die steife Seide strich. „Die Maske deiner Gleichgültigkeit verrutscht, Azeez. Du klingst nämlich ziemlich interessiert daran, wie ich mich anziehe.“

Etwas Übermütiges erschien in seinem Blick. „Du siehst aus wie ein Schwarzes Loch, Nikhat. Falls du mir keinen anderen Grund nennen kannst, muss ich annehmen, dass du dieses Ungetüm deshalb angezogen hast, um mein Interesse nicht zu wecken. Aber lass dir gesagt sein, dass ich lieber noch eine Kugel in die Hüfte in Kauf nehme, als dich anzufassen.“

Wütend funkelte Nikhat ihn an. „Mein Vater will mich besuchen, und meine Schwestern. Sie müssten jede Minute hier sein. Solltest du mich also als deinen Punchingball brauchen, würde ich die Trainingsstunde lieber auf einen Zeitpunkt verschieben, der mir besser passt.“

Wieder schaute sie besorgt auf die Uhr.

„Musst du ...

Autor

Christina Hollis
<p>Christina Hollis wurde ein paar Meilen entfernt von Bath* in der englischen Grafschaft Somerset geboren. Sie schreibt, seitdem sie und einen Stift halten konnte. Ihr erstes Buch bestand aus ein paar Sätzen über Puppen, die in einem Korb lebten. Damals war sie drei Jahre alt! Die Schule verließ sie mit...
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Kimberly Lang
Schon in der Highschool versteckte Kimberly Lang Liebesromane hinter ihren Schulbüchern. Statt sich mit Theorien und Zahlen herumzuschlagen, schmökerte sie lieber in den neuesten Romances. Auch das Studium ernster englischer Literatur konnte ihre Leidenschaft für aufregende Helden und Happy Ends nicht ändern. Kimberly war nach der Ausbildung zunächst Balletttänzerin und...
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