Der schicksalhafte Kuss des Viscounts

– oder –

Im Abonnement bestellen
 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Mit siebenundzwanzig Jahren ist Miss Leonora Garrison noch nie geküsst worden! Wie gut, dass es für junge Damen wie sie die Möglichkeit gibt, ein gewisses berüchtigtes Etablissement aufzusuchen, wo sie all ihre Neugier befriedigen kann. Dort genießt Leonora einen spektakulären Kuss mit einem faszinierenden Mann. Danach erst ist sie bereit, das zu tun, wofür sie eigentlich nach England gekommen ist: Die schöne Amerikanerin ist auf der Suche nach einem Investor für das Unternehmen ihrer Familie. Dafür wird ihr der einflussreiche Viscount Wyeth empfohlen. Doch erschrocken erkennt sie in ihm den Mann, der sie so sinnlich geküsst hat …


  • Erscheinungstag 26.04.2025
  • Bandnummer 173
  • ISBN / Artikelnummer 9783751532174
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Lorraine Heath

Der schicksalhafte Kuss des Viscounts

Lorraine Heath

wurde in England geboren, zog jedoch als Kind mit ihren Eltern in die USA. Geblieben ist ihr eine tiefe Zuneigung zu beiden Ländern. Die Charaktere in ihren erfolgreichen Romanen werden oft als besonders lebensnah bezeichnet, was die New-York-Times-Bestseller- Autorin auf ihre im Psychologiestudium erworbenen Kenntnisse zurückführt. Lorraine Heath lebt mit ihrem Mann in Texas. Noch mehr über die Autorin erfahren Sie auf ihrer Homepage: www.lorraineheath.com

1. KAPITEL

London

Juli 1875

John Castleton, Viscount Wyeth, von seinen engsten Freunden meist Rook genannt, zog sich die Krempe seines Kastorhuts tiefer ins Gesicht, um es zu verbergen, derweil der Wachposten vor dem Elysium, einem privaten Damenklub, die schwere Tür aufstieß und ihn bereitwillig ins Foyer eintreten ließ. Noch vor wenigen Jahren war der Klub ein Geheimnis gewesen, und über seine Existenz war tuschelnd spekuliert worden, so wie über Elfen und Feen – mit einer großen Portion Skepsis.

Aber Geheimnisse neigten dazu, schlussendlich ans Licht zu kommen. Die seines Vaters hatten es jedenfalls getan. Daher wusste Rook weit mehr über den Klub als die meisten Männer seines Bekanntenkreises. Er hatte eine private Führung durch das Etablissement erhalten. Schließlich war sein Bruder – einer der Bastarde seines Vaters – der Besitzer.

Als er sah, dass sich im Eingangsbereich keine Damen aufhielten, entspannte er sich ein wenig und nahm seinen Hut ab. Zwar war der Klub selbst nicht länger geheim, doch die Identität seiner Mitglieder wurde geschützt, und er wollte niemandem begegnen, den er kannte, oder eine ihm vertraute Dame in Verlegenheit bringen. Was sich innerhalb dieser Mauern abspielte, wurde als liederlich angesehen. Es mochte den Ruf einer ehrbaren Frau ruinieren, wenn nach außen dränge, dass sie diesen Sündenpfuhl der Ausschweifungen und des Verbotenen frequentierte.

Die junge Frau, die hinter einer Theke stand, kannte ihn offenbar von früheren Besuchen und deutete einen Knicks an. „Mylord.“

„Ich muss mit Mr. Trewlove sprechen. Wo kann ich ihn finden?“ Der Wachposten draußen hatte bestätigt, dass er heute Abend im Hause weile.

„Er dreht seine Runde. Ich werde jemanden schicken, ihn zu holen, in Ordnung? Möchten Sie schon einmal nach oben gehen?“

„Sehr gern. Vielen Dank.“

Nicht weit entfernt von der Theke hing zwischen zwei Wänden, die eine schmale Treppe flankierten, ein rotes geflochtenes Seil mit einem Schild daran, auf dem zu lesen war: Privat. Betreten auf eigene Gefahr. Nachdem Rook ein Ende der Absperrung vom Haken genommen hatte, ging er hindurch und schloss die dürftige Barriere wieder. Er wusste, dass niemand es wagen würde, sie zu missachten. Aiden Trewlove war berüchtigt dafür, alles zu beschützen, was er sein Eigen nannte. Seine gefährliche Reputation hielt die Leute wirkungsvoller als jedes Seil davon ab, zu weit zu gehen.

Die Treppe lag im Dunkeln, aber eine Lampe am oberen Ende diente ihm als Leuchtfeuer. Der Großteil seiner Kindheit war wie das Erklimmen dieser Treppe gewesen, finster und einsam, Licht und Wissen stets knapp außer Reichweite. Während er Eton besucht hatte, waren ihm nach und nach die Ruhmestaten seines Vaters zu Ohren gekommen. Die unersättliche Lust des Earl of Elverton, seine zahllosen Mätressen, seine vielen Bastarde, wobei die beiden letzten Gruppen in ganz London, ja bis in die letzten Winkel Englands zu finden waren. Doch das bösartigste, das schmerzlichste Gerücht von allen, das ihm zutiefst verhasst war und ihn so manche Nase hatte blutig schlagen lassen – wofür er selbst das eine oder andere Mal eine blutige Nase kassiert hatte –, war eines, das seine Mutter betraf. Die heutige Countess of Elverton, so hieß es, sei die verruchteste und lüsternste Favoritin unter den Geliebten seines Vaters gewesen, bevor er sie zur Frau genommen habe.

Schlussendlich war die Wahrheit herausgekommen, und so wusste Rook inzwischen, dass drei der illegitimen Söhne des Earls von ihr geboren worden waren. Sein Vater hatte alle drei bei einer Pflegemutter untergebracht in der Hoffnung, sie würden durch Vernachlässigung sterben. So erging es vielen Findelkindern. Aiden jedoch war Ettie Trewlove anvertraut worden, einer Witwe, die ihn großgezogen hatte wie einen leiblichen Sohn.

Rook hatte Aiden vor einigen Jahren kennengelernt, als dieser ihrer beider Mutter davor bewahrt hatte, ermordet zu werden … von ihrem eigenen Gatten. Rook hatte seinen Vater nie besonders gemocht, doch er hätte sich nicht träumen lassen, dass der Mann, dem er seine Existenz verdankte, zu einer solch niederträchtigen Tat fähig wäre. Der brutale Zusammenstoß zwischen dem Earl und Aiden hatte dazu geführt, dass ihr beider Vater nur knapp einen Schlaganfall überlebt hatte und seitdem geschwächt und ans Bett gefesselt war.

Rook erreichte die oberste Stufe und trat auf den Treppenabsatz. Ein Stück voraus wies der Korridor eine Brüstungswand auf, sodass man die Hauptebene des Casinos überblicken konnte. Hier jedoch bildeten Vorhänge eine verborgene Nische. Rechter Hand führte eine weitere mit Teppich ausgelegte Treppe hinauf zu den Räumlichkeiten, die Aiden vor seiner Heirat bewohnt hatte. Rook wusste, dass er sie noch immer nutzte, wenn er lange arbeiten musste, doch er hatte sich ein kleines Domizil gekauft, in dem er mit Frau und Sohn lebte. Allerdings hatte er sich vorgenommen, ein größeres Anwesen zu erwerben.

Anstatt nach oben zu gehen, lehnte Rook sich an die Wand und wartete auf Aidens Erscheinen. Vermutlich hätte er versucht sein sollen, zwischen den Vorhängen hindurchzuspähen, um zu schauen, wer heute Abend zugegen war, aber er fand, dass jeder ein Recht auf Geheimnisse habe. Er jedenfalls hatte welche.

Er vernahm das Echo von Schritten, als jemand die Treppe heraufsprang. Gleich darauf tauchte Aiden aus der Dunkelheit auf. Selbst nach all der Zeit erstaunte es Rook stets aufs Neue, wie ähnlich sie einander sahen: dunkles Haar, dunkle Augen, markanter Kiefer. Der Kiefer ihres Vaters. Aiden war etwas größer und kräftiger, bedingt durch die körperliche Arbeit, die er in jüngeren Jahren hatte leisten müssen. Aiden grinste. „Wie geht es dir, Bruder?“

Auch diese Anrede brachte Rook immer ein wenig aus dem Konzept. Er hatte keine legitimen Geschwister. Bevor dieser Mann in sein Leben getreten war, hatte Rook von den Hinterlassenschaften seines Vaters nichts geahnt. Nun kannte er auch Finn, einen weiteren Bastard seines Vaters, der Ettie Trewlove sechs Wochen nach Aiden überantwortet worden war. Offenbar hatte der Earl einen unstillbaren Appetit auf Frauen gehabt und sich nicht mit jeweils einer begnügt. Somit hatte er nicht bloß seine Gattin betrogen, sondern auch seine Geliebten. „Es geht mir gut, aber ich bringe betrübliche Neuigkeiten.“

Aiden trat vor, die Stirn tief gefurcht. „Geht es um Mutter?“

„Nein, um Vater.“

„Diese Missgeburt kümmert mich einen Dreck. Meinetwegen kann er zur Hölle fahren.“

„Wie es aussieht, wird er diese Reise bald schon antreten. Sein Zustand hat sich verschlechtert.“

„Schön zu hören. Wenigstens wird Mutter dann nicht länger um ihn herumscharwenzeln und ihn umsorgen.“

Rook wusste, es war seinem Bruder ein Dorn im Auge, dass ihre Mutter seit drei Jahren scheinbar in der Pflege ihres Gatten aufging, wenngleich Rook argwöhnte, dass sie subtile Wege fand, ihn zu quälen. Er hatte zufällig mitbekommen, dass sie dem Earl Anekdoten über ihren Liebhaber erzählte – obwohl sie gar keinen Geliebten hatte. Zweifellos wollte sie ihn so sehr leiden lassen, wie sie während all der gemeinsamen Jahre gelitten hatte, in denen er weder treu noch diskret hinsichtlich seiner zahlreichen Affären gewesen war. Dass sie auf Rache sann, machte Rook ihr keineswegs zum Vorwurf. Immerhin hatte der Earl sie vergiften wollen, als eine jüngere Dame seine Aufmerksamkeit gebannt hatte. „Apropos Mutter, sie hat erwähnt, dass sie gelegentlich deinen Klub aufsucht.“

Aiden zuckte mit den Schultern. „Einer meiner Herren verwöhnt sie. Eine Fußmassage im Göttinnen-Salon. Ein Walzer im Ballsaal.“

„So genau will ich es gar nicht wissen.“

Aiden bedachte die Bemerkung mit einem verhaltenen Feixen. Vermutlich hielt er ihn für prüde, denn wann immer das Gespräch auf die Sinnesfreuden kam, denen Frauen innerhalb dieser Mauern frönen konnten, lenkte Rook es in eine andere Richtung. Aiden legte den Kopf schräg und schaute Rook abwägend an. „Da du schon einmal hier bist, könntest du mir vielleicht einen Gefallen tun.“

„Hängt von der Art des Gefallens ab.“

„Mir fehlen heute Abend zwei Herren. Einer hat sich krankgemeldet. Wo der andere steckt, weiß der Teufel. Jedenfalls ist da eine Dame, die eines Kusses bedarf. Sie wartet bereits seit einer halben Stunde, aber all meine anderen Herren sind unabkömmlich. Eventuell wärst du ja so freundlich, dich ihrer anzunehmen.“

Rook hatte früh gelernt, seine Gedanken und Gefühle zu verhehlen. Dennoch kostete es ihn all seine Selbstbeherrschung, Aiden ob dieses lachhaften Ansinnens nicht offenen Mundes anzustarren. „Du meinst, ich soll sie küssen?“

„Du klingst entsetzt, so als hätte ich dich soeben gebeten, sie zu meucheln. Ja, du sollst sie küssen.“

„Küss du sie doch.“

„Ich bin verheiratet und bin Selena gänzlich verfallen. Ich gestehe den Damen höchstens noch ein Lächeln oder ein Zwinkern zu.“ Er reckte das Kinn, das dem Rooks so sehr glich. „Es wäre bestimmt nicht dein erster Kuss.“

„Selbstredend nicht, aber ich verteile Küsse nicht aufs Geratewohl. Außerdem gehört der Gutteil deiner Mitglieder dem Adel an. Wahrscheinlich kenne ich sie, was sich als peinlich erweisen könnte.“ Es war nicht seine Art, Damen des ton in geheime Winkel zu locken, um ihnen Küsse zu rauben.

„Nein, sie ist Amerikanerin und erst kürzlich eingetroffen. Wie hoch sind die Chancen, dass du ihr begegnet bist?“

„Verschwindend gering.“ Die wenigen amerikanischen Frauen, die er kannte, waren entweder mit seinen Standesgenossen vermählt oder wurden von Herren hofiert, die rangmäßig über ihm standen. Es war höchst unwahrscheinlich, dass diese Frauen Tadel riskierten, indem sie dieses Etablissement aufsuchten, wo die Mütter oder Schwestern ihrer Verehrer sie bei fragwürdigen Handlungen ertappen mochten. „Es ist mir dennoch nicht geheuer, alter Knabe.“

„Hör zu, Johnny …“ Seine Mutter nannte ihn bei diesem Spitznamen. Er wirkte persönlicher, schuf ein stärkeres Band. Vermutlich war Aiden bewusst, dass ihm mehr Überzeugungskraft innewohnte. „Es handelt sich um eine alte Jungfer, die noch nie geküsst worden ist. Sie wartet in einem Separee, und gewiss wird sie mit jeder Minute, die verstreicht, nervöser. Du musst nichts weiter tun, als hineinzugehen, sie in die Arme zu nehmen und ein wenig nach hinten zu neigen, deine Lippen auf ihre zu drücken und zu seufzen, als wärst du so betört wie nie zuvor. Wäre das wirklich so schwierig?“

Es war schon eine ganze Weile her, dass er einer Frau beigewohnt hatte. Auch wenn es ihm daher nicht schwerfallen dürfte, mochte es ihm vor Augen führen, was ihm fehlte, und ihn auf den Geschmack bringen – dabei stürzte er sich nie unbedarft in derlei Vergnügungen, denn er hatte gewisse Standards, auf denen er beharrte. Andererseits erschien ihm ein simpler Kuss relativ harmlos. „Wie heißt sie?“

„Keine Ahnung. Ich entsinne mich nicht, sie je zuvor hier gesehen zu haben. Gut möglich, dass es ihr erster Besuch ist. Du bist so elegant gekleidet, dass sie dich für einen Angestellten halten wird. Denk dir einen Namen aus. Sei, wer immer du sein willst. Lass dich auf die Fantasie ein.“

„Welche Fantasie?“

„Der Traum einer Frau zu sein.“

„Wieso glaubst du, dass ich das nicht längst bin?“

„Falls dem so sein sollte, ist sie ein Geheimnis. Jedenfalls ist von deinen Eroberungen nichts in den Klatschblättern zu lesen.“

„Du liest Klatsch?“

„Es ist der beste Weg, um zu erfahren, womit man die Elite zufriedenstellen kann. Also, wirst du es tun?“

Im Gegensatz zu seinem Vater gab Rook einer Frau nichts von sich – nicht einmal Küsse – leichtfertig. Er erfreute sich des tadellosen Rufs, Damen mit dem allergrößten Respekt zu behandeln. Nie verhielt er sich in irgendeiner Weise unbotmäßig. Da er auf keinen Fall mit seinem alten Herrn verglichen werden wollte, ließ er sich nichts zuschulden kommen. Er beteiligte sich nie an Gaunereien. Diese Bitte nahm sich sehr wie etwas aus, von dem er die Finger lassen sollte.

Doch aus den entferntesten, dunkelsten Sphären seines Verstandes heraus flüsterte ihm eine unwiderstehliche Stimme verführerisch zu: Was schadet es schon, sich ein paar Minuten lang ein wenig lasterhaft zu gebärden? Es ist nur ein Kuss.

„Niemand wird davon erfahren?“

„Auf keinen Fall. Was innerhalb dieser Mauern geschieht, bleibt innerhalb dieser Mauern.“

„Also gut. Dieses eine Mal. Aber lass es dir nicht zur Gewohnheit werden, mich um derlei Gefallen zu bitten.“

„Wer weiß? Mit ein wenig Glück tue ich damit dir einen Gefallen.“

Was zur Hölle habe ich mir bloß dabei gedacht?

Leonora Garrison kam zu dem Schluss, dass sie komplett den Verstand verloren hatte. Oder betrunken war. Ja, vermutlich betrunken. Sie war sich ziemlich sicher, dass der Absinth schuld war. Sie hatte nie zuvor von der grünen Fee gekostet – wie einige das Getränk liebevoll nannten – oder vor dem heutigen Abend auch nur davon gehört. Der Name hatte recht unschuldig geklungen, doch der grüne Alkohol hatte sie verhext, und sie hatte einen weiteren getrunken. Und einen dritten, und dieses letzte Glas hatte ihr den Mut eingeflößt, nach einem Kuss zu verlangen.

Deshalb lag sie nun wie hingegossen auf der Chaiselongue in diesem Separee und wartete darauf, dass ein Gentleman zu ihr käme, um ihr den Wunsch zu erfüllen. Ein Zimmermädchen des Hotels, in dem sie logierte, hatte ihr vom Elysium-Klub und dessen Reputation erzählt, Frauenfantasien wahr werden zu lassen.

Jetzt gerade zog Leonora in Betracht, wieder zu gehen und in ebenjenes Hotel zurückzukehren, doch offenbar hatten ihre Beine vergessen, wie sie funktionierten. Ihre Courage begann zu schwinden. Zumal sie schon geraume Zeit hier wartete. Nach zwanzig Minuten hatte sie aufgehört, auf die Taschenuhr zu schauen, die sie stets griffbereit hatte. Heute Abend befand sich die Uhr in ihrem Retikül. Leonora wollte gar nicht genau wissen, wie lange es dauerte, einen Gentleman aufzutreiben, der bereit war, seinen Mund auf ihren zu drücken.

Mit ihren siebenundzwanzig Jahren war sie noch nie geküsst worden. Sie war keineswegs unansehnlich, aber auch nicht die zarte Blüte, der die meisten Herren den Vorzug gaben. Da sie von Pionieren abstammte, war sie fast so groß wie die meisten Männer ihres Bekanntenkreises, und ihre freimütige Art, das Leben anzugehen, wirkte einschüchternd auf diese. Sie nahm kein Blatt vor den Mund und hielt sich nicht mit belanglosem Geschwätz auf. Nie trug sie den Kopf in den Wolken oder handelte anders als pragmatisch. Ebendeshalb war es so befremdlich, dass sie heute Abend von der grünen Fee getrunken hatte. Sie bevorzugte Whisky. Ihr Vater behandelte sie seit jeher eher wie einen Sohn denn wie eine Tochter. Vielleicht weil sein Sohn, der vier Jahre jünger als sie war, Amüsements der Arbeit vorzog, wohingegen ihr Arbeit lieber war als Amüsements. Was dazu beitragen mochte, dass es ihr an Verehrern mangelte.

Ein leises Klopfen schreckte sie auf. Sie stemmte sich auf die Ellbogen hoch, um dem, was ihr bevorstand, geradewegs ins Gesicht zu blicken. Langsam, lautlos schwang die Tür auf.

Ein Mann kam herein. Das hätte sie nicht überraschen sollen. Schließlich hatte sie ihn erwartet. Doch er war anders, als sie ihn sich vorgestellt hatte. Eleganter, kultivierter. Obwohl er gewöhnliche Tageskleidung statt Abendgarderobe trug, wie es die übrigen Gentlemen hier taten, erweckte er den Eindruck, als würde er sich durchaus an einer königlichen Tafel wohlfühlen. Nein, mehr noch. Der königliche Adel würde ihn mit offenen Armen an dieser willkommen heißen.

„Hallo“, sagte er zögerlich, die Hand nach wie vor auf der Klinke, die Tür einen Spaltbreit geöffnet, als könnte er sich nicht recht entscheiden, ob er Fersengeld geben sollte, nun da er ihrer ansichtig geworden war. „Mein Name …“

„Keine Namen“, fiel sie ihm brüsk ins Wort. „Keine falschen Schmeicheleien. So wenig Gerede wie möglich, wenn ich bitten darf.“

Seine Augen weiteten sich kaum merklich. Sie waren von einem dunklen, satten Braun, so wie die Schokolade, die sie so gern mochte. Er nickte knapp. „Wie Sie wünschen.“

Damit schloss er die Tür. Anscheinend hatte er sich entschieden zu bleiben, und ihr Herz begann zu rasen.

„Mir wurde gesagt, es verlange Sie nach einem Kuss.“

Seine Stimme gefiel ihr. Tief, ein wenig rau, perfekt geeignet, um ihr unartige Dinge ins Ohr zu raunen. Vielleicht hätte sie ihre erotische Forschungsreise mit diesem Ersuch antreten sollen, statt gleich zur Intimität eines Kusses vorzupreschen. Sie bemühte sich, nicht zu erröten angesichts der Erinnerung daran, dass sie darum hatte bitten müssen, dass es ihr nicht freiwillig offeriert worden war. Sie nickte.

„Haben Sie bestimmte Vorstellungen davon, wo?“

Sie hatte die Wahl? Auf die Hand vermutlich. Aber sie war schon auf die Hand geküsst worden. Da sie Handschuhe getragen hatte, zählte das wohl kaum. Einmal war sie um die Ecke in einen Korridor gebogen und unerwartet auf einen Lakaien gestoßen, der seine Lippen auf den Hals eines Dienstmädchens gepresst hatte. Beide hatten leise gestöhnt, ohne sie zu bemerken. Doch das war nicht das, was sie wollte. „Auf den Mund.“

Er grinste. Es war ein ungemein verführerisches Grinsen, das Wonnen verhieß. Sie nahm an, dass ihm die Frauen hier – überall – reihenweise zu Füßen lagen. Gewiss war er heiß begehrt, was vermutlich der Grund dafür war, dass sie so lange auf ihn hatte warten müssen. „Ich meinte … sollen wir uns anderswohin verfügen? Oder möchten Sie eine andere Position einnehmen? Wollen Sie sich vielleicht aufsetzen oder stehen?“

Herrje. Wahrscheinlich hielt er sie nicht nur für unbegehrt, sondern obendrein für einfältig. Natürlich hatte er die Frage so gemeint. Wie konnte sie bloß derart begriffsstutzig sein? Das lag an dem Nebel, der zusammen mit dem Alkohol in ihrem Kopf Einzug gehalten hatte.

„Hier.“ Sie wollte nicht preisgeben, dass ihr die Fähigkeit zu stehen abhandengekommen war. Zudem merkte sie, dass sie sich nicht so weit wie gedacht aufgesetzt hatte. Immer noch lag sie mehr, als dass sie saß.

„In Ordnung.“ Er streifte sich die Handschuhe ab. Sie bestanden aus dunkelbraunem Leder, wie Männer sie in der Stadt und nicht in einem Ballsaal trugen. Seine großen Hände vermittelten Stärke und Kompetenz. Sie fragte sich, zu welcher Art Erfahrung er Frauen verhalf, ob er die Fantasien derer verwirklichte, die es nach jemandem gelüstete, der etwas bodenständiger, nahbarer war … oder ungeschliffener. Unverfälschter. Die meisten Frauen hier waren von Stand. Womöglich begegneten sie im Rahmen ihres gesellschaftlichen Umgangs zur Genüge Männern in Abendgarderobe und suchten daher nach Abwechslung. Er legte seine Handschuhe auf einem Tisch neben der Tür ab.

„Dort ist eine Anrichte mit Karaffen. Möchten Sie etwas trinken?“

„Fangen Sie einfach an.“ Bevor ich die Nerven verliere.

Er musterte sie einen Moment lang, ehe er kaum merklich nickte. „Wie Sie wünschen.“

Seine Schritte waren ausladend, selbstsicher. Offenkundig hegte er keinerlei Skrupel hinsichtlich dieser Angelegenheit. Das war gut, auch wenn nicht Verlangen ihn zu ihr geführt hatte. Sondern seine Arbeit, seine Profession. Wie sehr sie wünschte, es wäre anders.

Welch kurioser Zeitpunkt, um zu erkennen, dass sie sich nicht bloß nach einem Kuss verzehrte, sondern nach einem Mann, der sie begehrlich ansah, einem Mann, der sie berührte, weil er nicht anders konnte.

Als er bei ihr war, ließ er sich auf ein Knie nieder. Er hatte volle Lippen, wobei seine Unterlippe ein wenig üppiger war als seine Oberlippe. Wirklich schön. Vielleicht war das auch nur die Ansicht der grünen Fee. Der Absinth ließ ihn in der Tat attraktiv erscheinen. Und er duftete gut. Nach Zitronenorange, falls es so etwas denn gab. In seinem Blick lag Wärme. „Haben Sie keine Angst.“

„Habe ich nicht.“ Hatte sie doch. „Wie viele Frauen haben Sie heute Abend schon geküsst?“

„Sie werden die Erste sein.“

„Küssen Sie nicht gern?“

„Sehr gern sogar, vermutlich eine Spur zu gern, aber ob ich eine Frau küsse oder nicht, hängt ganz von ihren Wünschen ab.“

Weshalb sollte eine Frau nicht von ihm geküsst werden wollen? Weshalb sollte sie nicht jene Lippen erkunden wollen, die offenbar eigens für die Sünde geschaffen worden waren? Weshalb sollte sie nicht seinen Kopf in den Händen bergen und sich einfach an ihm gütlich tun wollen? „Sind Sie nicht gut darin?“

Wieder grinste er. Es war ein Lächeln, das Leidenschaft und noch einiges mehr versprach. „Sagen Sie es mir.“

Er legte ihr eine Hand an die Wange, neigte ihr Gesicht leicht nach oben und senkte jenen faszinierenden Mund, bis er ihren berührte. Er war weicher als erwartet, einem einladenden Kissen gleich, das sich zärtlich an ihre Lippen schmiegte, als hätte das Schicksal diese als perfektes Gegenstück zu den seinen entworfen. Mit der Zungenspitze zeichnete er versonnen die Konturen nach, ehe er dazwischen entlangfuhr und Leonora lockte, ihn einzulassen. Ohne Zögern tat sie wie geheißen und öffnete sich ihm. Sein leises Knurren, das beinahe animalisch anmutete, hätte sie schrecken sollen. Stattdessen weckte es in ihr nur das Verlangen nach mehr.

Er schmeckte verrucht und gefährlich. Eine Facette seines Aromas war ihr vertraut. Whisky. Hatte er ein Glas getrunken, bevor er zu ihr gekommen war, oder hatte er einer anderen Frau Gesellschaft geleistet, kurz bevor er zu ihr geschickt worden war? Ihr missfiel der eifersüchtige Funke, den diese Mutmaßung entfachte. Selbst wenn er das Mädchen nicht geküsst hatte, so war es doch in den Genuss seiner Aufmerksamkeit gekommen. Egoistischerweise wollte sie ihn ganz für sich allein haben und wünschte, er würde seine Gunst nicht auch noch anderen schenken.

Doch sie verscheuchte alle auf sie einstürmenden Gedanken, die das Erlebnis trübten, um sich besser auf die Gegenwart konzentrieren zu können. Er gehörte ihr nur für wenige Minuten, nur für die Dauer dieses Kusses. Schon jetzt wollte sie nicht, dass dies allzu bald endete. Wie viel Zeit war diesem Mann zugestanden worden? Wie viele Minuten würde er ihr widmen können, ehe er gehen musste, um sich der Wünsche und Bedürfnisse einer anderen anzunehmen?

Ohne dass ihr klar war, wie es dazu hatte kommen können, waren ihre Finger plötzlich in seinem dichten, seidigen Haar vergraben. Merkwürdige Laute stiegen aus ihrer Kehle auf. Seufzer. Leise spitze Schreie. Stöhnen. Sie wollte ihm erklären, dass nicht sie deren Urheberin sei. Sondern die grüne Fee. Aber sie war nicht gewillt, von seinem Mund abzulassen, um etwas zu sagen. Alles, was sie wollte, war mehr von seinen Lippen, die er versiert über ihre spielen ließ.

Wie begnadet er darin war, damit zu necken und peinigen, indem er vordrang und sich zurückzog. Seine Zunge erwies sich als Meisterin ihres Fachs. Er ließ sie mit der ihren ringen und erstürmte ihren Mund, als wäre er dort auf unerwartete Schätze gestoßen und wollte jeden einzelnen davon gründlich untersuchen.

Er schlang Leonora einen Arm um den Leib und zog sie an sich, sodass ihr Busen gegen seine straffe, breite Brust gepresst wurde. Derweil begannen ihre Finger, diese Schufte, den Umfang seiner Schultern zu erforschen. Zu gern würde sie all seine Knöpfe öffnen, um ihm über die freigelegte Haut zu fahren. Wie weit würde er sie gehen lassen, bevor er ihr Einhalt geböte? Wie weit würde sie sich vorwagen?

Wie lauteten die Regeln? Was war erlaubt?

Sie war stets davon ausgegangen, dass ein Kuss ein relativ passiver Vorgang sei und sich auf den Mund beschränke. Doch der seine vereinnahmte sie ganz und gar, mitsamt ihren sich zusammenziehenden Zehen. Ihr gesamter Körper schien zu prickeln und Funken zu sprühen. Als er sie fester umfasste, fühlte sie sich butterweich werden, wie Kerzenwachs, von einer einzelnen Flamme erhitzt. Wie ungemein warm und tröstlich er war. Von seinen Liebkosungen verleitet, drängte sie sich an ihn, bis sie sich fragte, ob sie sich je wieder voneinander trennen würden. Hoffentlich nicht. Sie hoffte es inständig.

Ihre ganze Welt schrumpfte auf ihn zusammen. Er beherrschte ihre Wahrnehmung, bis außer ihm nichts mehr existierte. Er war alles, was zählte, alles, was von Bedeutung war. Und dennoch …

Allmählich nahm sich alles aus wie ein Traum. Sie vermochte nicht länger zu sagen, wo sie aufhörte und er begann. Sie schienen miteinander zu verschmelzen, und alles wirkte wie in Dunst gehüllt.

Grün. Diffus. Entrückt.

Die grüne Fee wütete nunmehr ungehemmt und wollte ihn ganz für sich allein, die kleine Hexe. Leonora klammerte sich an ihn, bemüht, ihn festzuhalten.

Doch letztlich trieb er davon.

Rook spürte die Frau in seinen Armen erschlaffen, kurz bevor ihr Mund sich von seinem löste. Er richtete sich auf und blickte auf sie hinab. Sie sah vollauf zufrieden aus.

Und außerdem war sie tief und fest eingeschlafen!

Verflixt und zugenäht! So hatte noch keine Frau auf seine Küsse reagiert. Im Gegenteil, gemeinhin wurden sie umso lebhafter. Hatte er sie gelangweilt? Desinteressiert hatte sie jedenfalls nicht gewirkt. Sie hatte sich an ihn geklammert, hatte ihn gepackt und festgehalten, als würde sie auf hoher See von einem Sturm gebeutelt und er wäre das Floß, das sie sicher an Land bringen würde.

Und Herr im Himmel, die Laute, die sie ausgestoßen hatte. Das Wimmern, das Seufzen, das Stöhnen. Alles an ihm hatte sich vor Verlangen und Lust verspannt. Alles an ihm hatte ihn gedrängt, sich in ihr zu versenken und sie nach allen Regeln der Kunst zu nehmen, und es hatte ihn jedes Gran der ihm innewohnenden Selbstbeherrschung gekostet, diesen Weg nicht einzuschlagen.

Dann war alles zu einem unbefriedigenden Ende gekommen, als ob es überhaupt nichts bedeutet hätte.

Sein männlicher Stolz wollte sie einfach liegen lassen und gehen. Doch seine vermaledeite Mutter hatte ihn zu einem mustergültigen Gentleman erzogen, und daher bettete er die Dame so behutsam wie hauchzartes Porzellan auf der Chaiselongue, auch Ohnmachtsliege genannt.

Ohnmachtsliege? Vielleicht schlief sie gar nicht, sondern war ohnmächtig geworden. Womöglich war seine Zuwendung zu viel für sie gewesen und hatte sie überwältigt. Vielleicht war er zu forsch vorgegangen, sodass die Empfindungen sie als Neuling in diesen Dingen überfordert hatten. Sacht stieß er sie an der Schulter an. „Miss? Madam?“

Ein leises Wimmern entschlüpfte ihren leicht geöffneten Lippen, derer er sich zu gern erneut bemächtigt hätte. Sie drehte sich auf die Seite, schob sich eine Hand unter die rosige Wange, murmelte irgendetwas von einer Fee und gab ein betörendes schnaubendes Schnarchen von sich. Also schlief sie. Verflucht. Was sollte er jetzt mit ihr tun?

Sie schlafen lassen, vermutlich. Doch er konnte sich nicht dazu durchringen aufzustehen. Stattdessen setzte er sich auf den Fußboden und betrachtete sie. Ihr Gesicht war mit blassen Sommersprossen übersät. Trug sie keine Haube, wenn sie aus dem Haus ging? Dass sie sich einen Hut durchaus hätte leisten können, ließ ihr erlesenes dunkelrosa Kleid erkennen. Ebenso wie die Perlenkämme, die ihr rötliches Haar zierten, und die Diamanten an Ohren und Hals. Jeder, der diesen Klub frequentierte, hatte Geld im Übermaß. Sie stellte keine Ausnahme dar.

Zudem trat sie recht herrisch auf. Das hatte ihm gefallen. Keine Namen, fürwahr. Er bereute, nicht zumindest darauf bestanden zu haben, wenngleich er nicht seinen richtigen Namen genannt hätte. Er grinste schief. Wahrscheinlich hätte sie es genauso gehalten.

Sie war darauf bedacht gewesen, die Angelegenheit zwischen ihnen möglichst unpersönlich abzuwickeln. Er fragte sich, ob sie begriffen hatte, wie müßig dieses Ansinnen war. Haut an Haut schuf stets eine Verbindung. Ob es angenehm war, jemandem im Gedächtnis zu bleiben, stand auf einem anderen Blatt. Er war sich nicht sicher, ob er die Zeit mit ihr je vergessen würde. Die Dame der Seufzer. So würde er sie in Erinnerung behalten.

Er erwog zu versuchen, sie zu wecken, entschied jedoch, dass es das Beste sei zu gehen. Sie war hier in Sicherheit. Dies traf auf alle Frauen in Aidens Reich zu. Das Bestreben seines Bruders, Frauen zu beschützen – so wie er ihrer beider Mutter beschützt hatte –, war einer der Gründe dafür, dass Rook ihn bewunderte und sich so gut mit ihm verstand.

Nachdem er sich hochgestemmt hatte, beugte er sich über sie, drückte ihr einen Kuss auf die Stirn und fuhr ihr obendrein federleicht mit den Lippen über den Mund. „Leben Sie wohl, holde Dame. Ich hoffe, ich habe Ihre Erwartungen erfüllt.“

Er nahm eine gefaltete Velveton-Decke von einem nahen Stuhl und deckte sie damit zu. Danach schritt er zur Tür, drehte sich um, sah sie ein letztes Mal an und ging hinaus.

Leonora regte sich, als jemand ihr leise ins Ohr flüsterte: „Miss? Miss?“

Langsam, ganz allmählich tauchte sie aus dem rasch in der Ferne verschwindenden Hafen des Schlafs auf. Ihr Kopf fühlte sich an, als errichteten Bauarbeiter darin eine Fabrik. Sie verzog das Gesicht, als die dröhnenden Hämmer zunehmend heftiger auf ihre Schädeldecke eindroschen, und schlug die Augen auf.

Ein junges Dienstmädchen lächelte sie strahlend an, bevor es sich aufrichtete. „Es ist Morgen, Miss.“

„Morgen?“ Blinzelnd sah sie sich um, sorgsam darauf bedacht, ihren Kopf nicht allzu hastig zu bewegen. „Dies ist nicht mein Hotelzimmer.“

Und dieses junge Ding war nicht das Dienstmädchen, das ihr beim Ankleiden half und das sie zur Verschwiegenheit verpflichtet hatte, als sie sich gestern Abend aus dem Hotel gestohlen hatte, nachdem ihre Mutter zu Bett gegangen war. Leonora war langweilig gewesen, und so hatte sie beschlossen, sich auf Abenteuersuche zu begeben.

„Nein, Miss. Sie befinden sich im Kuss-Gemach des Elysium-Klubs.“

Ah, richtig, der Klub, der sich angeblich weiblichen Fantasien verschrieben hatte. Sie hatte ein wenig gespielt, ein paar Gläser getrunken … und war anschließend offenbar hierhergekommen, um ein Nickerchen zu machen. Trotz der Kopfschmerzen und ihres revoltierenden Magens streckte sie sich ächzend. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie das letzte Mal so tief geschlafen hatte. „Ich hatte einen herrlichen Traum. Das lag vermutlich am Absinth.“

„Er ist bekannt dafür, Hemmungen zu lösen. Einige behaupten gar, er verursache Halluzinationen.“

Das war definitiv der Fall gewesen. „Ein höchst attraktiver Mann ist erschienen. Er hat kaum geredet, war aber dennoch recht charmant. Und er … Moment. Wie bitte?“ Sie setzte sich kerzengerade auf, presste sich die Handballen gegen den protestierenden Kopf und stöhnte leise. „Das Kuss-Gemach?“

„Ja, Miss. Hierher werden die Damen geschickt, die nur einen Kuss wünschen.“

„Der Mann war echt.“

Das Mädchen lachte glockenhell auf. „Das will ich doch meinen, Miss.“

Großer Gott, was hatte sie getan? Sie fasste sich an die Lippen und stellte erstaunt fest, dass sie nicht geschwollen waren, obwohl er sich ihnen überaus gründlich gewidmet hatte. Als sie jedoch mit der Zunge darüberfuhr, konnte sie ihn immer noch schmecken. Verrucht und gefährlich. Und oh, so ungemein verführerisch. „Wo ist er?“

„Vermutlich nach Hause gegangen. Wir räumen gerade auf. Ich hatte nicht damit gerechnet, hier noch jemanden anzutreffen.“

„Wer war er?“

„Keine Ahnung, Miss. Ich weiß nicht, wen man Ihnen geschickt hat. Vielleicht Michael? Er ist sehr gut darin, den Damen zu geben, was sie wollen. Das jedenfalls habe ich gehört.“

„Welche Farbe hat sein Haar?“

„Blond.“

„Nein, er war es nicht. Dieser Mann hatte dunkelbraunes, fast schwarzes Haar.“ Sie erinnerte sich vage daran, ihm mit den Fingern durch die seidenweichen Strähnen gefahren zu sein. War sie tatsächlich so verwegen gewesen?

„Julian eventuell? Oder ein anderer? Im Grunde könnte es jeder gewesen sein. Sie alle können küssen.“

Die Fingerspitzen an die Stirn gedrückt, rieb und massierte sie, um das schmerzhafte Pochen zu lindern, das ihr ansonsten unbarmherzig zusetzte. „Was tun sie noch?“

„Alles, was eine Dame wünscht.“

Leonora spähte zwischen ihren gespreizten Fingern hindurch. „Aber nur, wenn sie darum bittet.“

„Oh, ja, Miss. Alles noch fein bis oben hin zugeknöpft. Vermutlich hat er Sie bloß geküsst.“

„Ja, ja, natürlich.“ Leicht enttäuscht schlug sie die Decke zurück, wobei sie sich flüchtig fragte, woher diese gekommen war. Sie erinnerte sich nicht. Auch nicht daran, dass der Mann gegangen war. Oder dass der Kuss geendet hatte. Ihr war, als hätte er ewig fortgedauert, bis in ihre Träume hinein.

Sie musste Mr. Trewlove ein Lob für die Männer in seinen Diensten aussprechen. Der, der ihr geschickt worden war, hatte ihr das Gefühl gegeben, begehrt und geliebt zu werden. Leider mit dem Resultat, dass sie nun mehr wollte. Es mochte alles nur ein Schauspiel gewesen sein, doch er war ein verflixt guter Darsteller.

Plötzlich verlor der Kuss an Glanz, weil er nicht etwa Verlangen entsprungen, sondern mit ihrem Eintrittsgeld erkauft worden war. Sie hatte dafür bezahlt. So als hätte sie ein Rassepferd erstanden. Einerseits waren ihre Münzen keineswegs verschwendet gewesen. Er hatte jeden Farthing verdient. Andererseits war sie für ihn ein Auftrag gewesen, den er ausgeführt hatte, damit jene Münzen in seiner Handfläche landeten. Er war lediglich einer Routine gefolgt, aber ach, welch herrliche Routine das gewesen war.

2. KAPITEL

Rook saß gemeinsam mit seinen drei engsten Freunden in der Bibliothek des Twin Dragons und wünschte sich sehnlichst, er befände sich in einem anderen Klub: dem Elysium. Drei Nächte waren vergangen, seit er die Dame der Seufzer geküsst hatte, und er konnte nicht aufhören, an sie zu denken. Gestern Abend war er gar zurückgekehrt und die Treppe hinaufgegangen, um von der verborgenen Nische aus durch die Vorhänge zu spähen in der Hoffnung, einen Blick auf sie zu erhaschen. Doch schon nach wenigen Sekunden hatte er sich abgewandt, weil er sich ob seines Spionierens wie eine verkommene Seele gefühlt hatte – schäbig und ihrer unwürdig.

Während er noch mit seinem Gewissen gerungen hatte, war Aiden zu ihm gestoßen. Rook hatte seinen Bruder mit den Worten begrüßt: „Ist sie wieder hier?“

„Wer?“

Rook konnte nicht fassen, dass dies eine ernst gemeinte Frage sein sollte. Wie hatte Aiden sie vergessen können? „Die Frau, die du mich gedrängt hast zu küssen.“

„Habe ich dich gedrängt?“ Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich dachte, ich hätte dich lediglich gebeten.“

Wie gut, dass sie nicht im selben Haushalt aufgewachsen waren, befand Rook, denn er argwöhnte, dass sie sich ständig geprügelt hätten. „Ist. Sie. Wieder. Hier?“

Aiden hatte gegrinst. Der Mistkerl hatte genau gewusst, wen Rook meinte, und es amüsant gefunden, Unwissenheit zu heucheln. Vielleicht amüsierte es ihn auch einfach bloß, seinen Bruder zu piesacken. „Nicht dass ich wüsste.“

„Also kann ich davon ausgehen, dass sie heute Abend nicht hier ist?“

„Ich habe sie nicht gesehen.“

Hatte sein Kuss sie enttäuscht? Wäre sie nicht zurückgekehrt, um sich einen zweiten zu holen, wenn sie den ersten genossen hätte? Allerdings kannte sie seinen Namen nicht. Würde sie versuchen, ihn zu beschreiben, könnte niemand ihn identifizieren, weil er nicht dort arbeitete. Diejenigen, die ihn schon einmal gesehen hatten, würden nicht ahnen, dass er sich dermaßen unangemessen verhalten hatte. Ein anderer Bursche würde zu ihr geschickt werden, würde sie küssen – und angesichts dieses Szenarios wurde ihm befremdlich eng um die Brust. Er wollte nicht, dass irgendein anderer ihre Fantasien verwirklichte. Er wollte derjenige sein, der ihre Sehnsüchte befeuerte.

Derlei lästige Gedanken schwirrten ihm unablässig durch den Kopf, selbst jetzt, da seine Freunde über eine Investitionsmöglichkeit plauderten, die sie jüngst ins Auge gefasst hatten. Er konnte sich nicht auf ihre Worte konzentrieren, weil er darüber nachgrübelte, was er beim Küssen anders hätte machen sollen. War er zu zügig vorgeprescht oder nicht zügig genug? War er zu forsch gewesen? Nicht forsch genug? Hatte sie den Scotch geschmeckt, den er hinuntergestürzt hatte, bevor er zu ihr gegangen war, und ihn darob als Trinker gebrandmarkt? Oder vielleicht hatte ihr das Aroma nicht zugesagt. Sie hingegen hatte köstlich geschmeckt. Geradezu süchtig machend. Lieblich und zugleich unverfälscht. Er wollte sie abermals kosten, verdammt.

Er fragte sich, ob er Aiden dazu bringen mochte preiszugeben, was immer er bei ihrer Ankunft im Klub erfahren hatte. Weilte sie im Rahmen einer Reise in der Stadt oder lebte sie dauerhaft hier? Wusste Aiden vielleicht, wo genau sie wohnte? Und was dann? Ihr Blumen schicken? Ob sie ihn als Gefahr betrachtete, wenn er sie, die im Grunde eine Fremde für ihn war, ausfindig machte?

„Hörst du überhaupt zu?“

Keine Fremde. Nicht nach allem, was sie geteilt hatten. Nicht nachdem sie sich derart an ihn geklammert hatte. Er malte sich aus, wie sie auf Zärtlichkeiten reagieren mochte, die über einen Kuss hinausgingen, auf innige Berührungen, die sich von ihrem Hals bis zu ihren Zehen vortasteten.

„Rook?“ Kings scharfer Tonfall holte ihn unsanft zurück in die Gegenwart.

„Tut mir leid. Ich war in Gedanken … woanders.“ Bei jemand anderem. In einer anderen Zeit. An einem anderen Ort. Wo er jetzt sehr viel lieber gewesen wäre.

„Es passt nicht zu dir, so zerstreut zu sein. Gemeinhin bist du hoch konzentriert.“

Jedenfalls war er das gewesen, als er sie geküsst hatte. In jenen wenigen Minuten war alles andere in den Hintergrund gerückt: Probleme, Sorgen, die Vergangenheit und ein Vermächtnis, dessen er sich entledigen wollte. Wichtig waren allein sie und ihre Zweisamkeit gewesen.

„Ist es wegen deines Vaters?“, erkundigte sich Knight.

So hätte es sein sollen. Er hätte allein an seinen Vater denken sollen … und an seine Mutter. Daran, wie er ihr den Übergang ins Witwentum erleichtern könnte. Wenngleich er vermutete, dass sie sich mühelos anpassen würde. Schließlich hatte sich das Leben des Earl of Elverton ebenso wenig um sie gedreht wie das ihre um ihn. „Mich beschäftigt vielerlei. Was sagtest du gerade?“

„Sam Garrison hat mich wissen lassen, dass er in London eingetroffen sei und sich gern persönlich mit uns treffen würde, um über unsere etwaige Beteiligung an seiner Waffen- und Munitionsfabrik zu sprechen. Offenbar hat er seine Schwester mitgebracht, die auf der Jagd nach einem Gatten ist.“

Kaum hatte King die Worte geäußert, spürte Rook die Blicke dreier Augenpaare mit der Wucht eines Fausthiebs auf sich landen. Eine Braue gehoben, sah er von einer Schachfigur zur anderen. Den Spitznamen „Schachfiguren“ hatten sie sich in Oxford erworben, aufgrund ihrer Skrupellosigkeit in Sachen Kapitalanlagen. „Wieso starrt ihr mich so an?“

„Du bist unter uns der Einzige, der noch nicht verheiratet ist“, bemerkte Knight, der „Springer“.

„Inwiefern ist das von Belang?“

„Man munkelt, es gebe mehrere Parteien, die in sein Unternehmen investieren wollen. Würdest du mit seiner Schwester tändeln, könnte uns das einen Vorteil in puncto Partnerschaft mit diesem Garrison verschaffen, falls wir uns für sein Unternehmen entscheiden sollten.“

„Tändeln. Das erscheint mir recht hinterhältig.“

„Wäre nicht das erste Mal, dass wir alles aufbieten, um zu erreichen, was wir wollen“, hielt Bishop, der „Läufer“, ihm vor Augen.

„Aber dafür haben wir uns nie einer unschuldigen Person bedient.“ Oder ein argloses Herz ausgenutzt. Rook, der „Turm“, wusste, wie verletzlich ein solches Herz sein konnte. Das seine jedenfalls war in seiner Jugend ordentlich gebeutelt worden. Nun indes war es wie ein steinernes Bollwerk. Uneinnehmbar. „Außerdem bezweifle ich, dass wir auf derlei Mittel zurückgreifen müssen.“

Er schaute sich in der Bibliothek des Twin Dragons um, eines Klubs, der Männern wie Frauen offenstand und in dem mitunter allerlei Arten von Geschäften getätigt wurden. „Das Geld, das wir aufbringen können, dürfte genügen. Sofern wir zu dem Schluss gelangen, dass die Investition sich lohnt. Garrison hat sich in Bezug auf sein Angebot erstaunlich bedeckt gehalten, sodass ich nur schwer einschätzen kann, ob es unser Geld wert ist. Oder unser Vertrauen, um die Wahrheit zu sagen.“

„Dem stimme ich zu“, erwiderte King, der „König“. „Gleichwohl möchte ich ihm die Möglichkeit einräumen, uns seinen Vorschlag persönlich zu unterbreiten. Dinner morgen Abend bei mir. Mit Gattinnen natürlich, damit sich Miss Garrison nicht unwohl fühlt.“

Wodurch stattdessen Rook sich unbehaglich fühlen würde, denn offenkundig wurde von ihm erwartet, der Frau seine Aufmerksamkeit zu schenken. Vielleicht sollte er sich entschuldigen und das Elysium aufsuchen. Allerdings hatte er keinen Grund anzunehmen, dass die Dame der Seufzer morgen zurückkehren würde. Höchstwahrscheinlich würde er sie nie wiedersehen.

Während Rooks Kutsche am folgenden Abend durch die Straßen zu King rumpelte, wurde ihm klar, dass es ein Fehler gewesen war, zunächst bei seinen Eltern haltzumachen. Sein Vater wurde stetig schwächer und konnte sich nur noch durch Blinzeln verständigen. Rook vermutete, dass er nach wie vor bei klarem Verstand war, sein Geist jedoch ebenso wie sein gebrechlicher Körper gefangen war. Doch er kam nicht umhin, sich zu fragen, ob es nicht eine gerechte Strafe für einen Mann war, der seine erste Frau ermordet hatte und auch die zweite hatte meucheln wollen. Und inzwischen wurde hier und da tuschelnd darüber gemutmaßt, ob er auch für den Tod seines älteren Bruders verantwortlich sein mochte – um die Titel zu erben, die rechtmäßig dem Älteren zugefallen wären.

Rook war froh darüber, dass er und sein Vater sich nie nahegestanden hatten. Dennoch war es schwer, seinen Verfall mitanzusehen.

Seine Mutter indes saß an seinem Bett und las ihm aus Meine geheimen Gelüste vor. Dass das Buch von Knights Gattin geschrieben worden war und haarklein die Liebesaffäre schilderte, der die beiden vor Jahren gefrönt hatten, störte die Countess anscheinend nicht. Rook hingegen hatte es nie über sich gebracht, sich die Umtriebe seines Freundes zu Gemüte zu führen. Jedenfalls würde keiner je seine Affären zu Papier bringen. Die wenigen Geliebten, die er gehabt hatte, rühmten sich ihrer Diskretion. Er überhäufte sie mit Geld und Tand, um zu gewährleisten, dass sie diskret blieben.

Aber nachdem er gerade eine Weile lang daran gemahnt worden war, was für ein Mann ihn gezeugt hatte, war er nicht in der Stimmung, einem Dinner beizuwohnen, unter Freunden zu sein oder Geschäftliches zu besprechen. Er wollte – brauchte – eine Ablenkung, die ihm die Sinne vernebelte. Einen Kuss zum Dahinschmelzen. Zierliche Hände mit langen, schlanken Fingern, die ihm durchs Haar fuhren, ehe sie sich an seine Schultern klammerten in dem Bemühen, ihn für immer festzuhalten.

Er wollte für immer festgehalten werden.

Er fluchte ob dieses befremdlichen Verlangens und blickte aus dem Fenster. Weil er fürchtete, sich als ebenso unersättlich zu erweisen wie sein Vater, hatte er gelernt, seine Begierden zu unterdrücken und ihnen niemals freien Lauf zu lassen.

Doch seit jenem Abend im Elysium, seit jener Begegnung mit der Dame der Seufzer, konnte er kaum an etwas anderes denken als an das berauschende Gefühl, ihren Mund über seinen streichen zu spüren. Daran, wie empfänglich sie für seine Zuwendungen gewesen war.

Auf jeden Fall hatte sie, die angeblich nie zuvor geküsst worden war, schnell gelernt. Sie war ein Naturtalent. Eine Sirene. Eine Verführerin. Er wollte sie abermals kosten. Aber das würde aller Wahrscheinlichkeit nach nicht geschehen. Womöglich befand sie sich bereits auf einem Schiff zurück nach Amerika. Würde er je einer Frau begegnen, die ihr gleichkam? Einer Frau, welche die von ihm selbst errichteten Mauern einzureißen und eine derart überwältigende Leidenschaft in ihm zu entfachen vermochte?

Seine Kutsche bog in die kreisförmige Auffahrt vor Kings Domizil. Nach der Zahl der Wagen zu urteilen, die sich dort reihten, war er der Letzte, der eintraf. Sein Kutscher brachte das Gespann zum Stehen. Ein Lakai öffnete den Schlag, und Rook stieg aus. Es war ein herrlicher Sommerabend, und die Aussicht darauf, ihn mit Freunden zu verbringen, hob seine Laune beträchtlich, ungeachtet seiner früheren Bedenken. Selbst wenn es auch ein wenig ums Geschäft gehen würde. Es war ihm nur recht, aus seinen düsteren Betrachtungen gerissen zu werden.

Schwungvoll erklomm er die Treppe, nicht überrascht, als die Tür sogleich geöffnet wurde und Kings Butler ihn mit einem knappen Nicken einließ. „M’lord.“

„Keating.“

„Man erwartet Sie im großen Salon. Wenn Sie mir bitte folgen wollen.“

Rook kannte den Dienstboten schon ewig, doch der Mann beharrte auf Förmlichkeiten – und wusste genau, dass Rook den großen Salon auch allein gefunden hätte. Dennoch entgegnete Rook: „Führen Sie mich hin.“

Nach einigen Schritten fügte er hinzu: „Ich nehme an, alle sind schon hier.“

„Ja, M’lord.“

„Auch die Amerikaner?“

„Ja, Sir.“

„Welchen Eindruck haben Sie von ihnen?“

„Keinen, Sir.“

„Kommen Sie, Keating, Sie müssen sich doch eine Meinung gebildet haben. Aufdringlich? Arrogant? Großspurig?“

Keating blieb stehen und wandte sich ihm zu. „Der Herr erinnert mich an einen Welpen, Sir, voller unbändiger Energie und darauf aus zu gefallen.“

Darauf aus, an ihr Geld zu kommen. „Und die junge Frau?“

„Wachsam. Ich glaube, sie traut uns nicht recht.“

„Den Briten im Allgemeinen oder den Schachfiguren im Besonderen?“

„Ich bin mir nicht sicher.“

Man hätte meinen sollen, dass sie ebenfalls darauf bedacht sei zu gefallen, um bei ihrer Suche nach einem Gatten Erfolg zu haben. „Nun, gewiss wird es den Ehefrauen gelingen, ihr die Befangenheit zu nehmen und sie davon zu überzeugen, dass sie nichts zu befürchten hat.“

„Ich nehme an, Sie haben recht, Sir.“

„Das habe ich meist.“

Das kaum merkliche Zucken um Keatings Lippen ließ sich fast schon als Lächeln deuten. Er setzte seinen Marsch den breiten Korridor entlang fort, und Rook folgte ihm brav. Da King der Duke of Kingsley war, legte er bei derlei Anlässen für gewöhnlich großen Wert auf Etikette und ein souveränes Auftreten, so wie es sein Titel verlangte. Rook respektierte Rituale und hatte nichts dagegen, sie zu befolgen.

Der Butler ging ihm voran in den Salon, und Rook blieb nur eine Sekunde, um zu erfassen, dass alle dort Versammelten in ein Gespräch vertieft waren. King ohne seine Frau Penelope, die zweifellos unterwegs war, um sicherzustellen, dass irgendetwas korrekt ausgeführt wurde. Knight und Regina. Bishop und Marguerite. Ein hochgewachsener, stämmiger Bursche mit rotblondem Haar. Bestimmt der Amerikaner. Eine zerbrechlich anmutende Frau mit kastanienbraunem Haar, das von silbernen Strähnen durchzogen war. Seine Schwester.

Keating räusperte sich. „Euer Gnaden, Lord Wyeth ist eingetroffen.“ Er zog sich unauffällig zurück, als alle ihre Aufmerksamkeit auf Rook richteten.

Die Gattenjägerin war älter als erwartet. Sie musterte ihn abschätzend mit einem Blick, aus dem Erfahrung sprach. Nach den Falten auf ihrer Stirn zu urteilen, hätte sie längst verheiratet sein und mehrere Kinder haben sollen. Offenbar war ihr nicht das Glück vergönnt gewesen, einen Mann zu erbeuten. Ihr gerader Mund mit dem resoluten Zug drückte Missbilligung aus, was dazu beigetragen haben mochte, dass sie eine alte Jungfer geworden war. Unter ihrem taxierenden Blick verspürte er den Drang, sich zu winden. „Ich bitte um Verzeihung für meine Verspätung.“

„Keine Sorge“, erwiderte King und trat vor. „Wir haben nur über das Wetter gesprochen. Erlaube mir dir Ehre, dich bekannt zu machen mit …“

Er verstummte mitten im Satz, als vom Korridor her leichte, aber hastige Schritte ertönten, die lauter wurden, bis sie den Salon erfüllten und abrupt erstarben.

„Verzeiht, dass es so lange gedauert hat“, verkündete Penelope.

Rook drehte sich um und wollte Kings so bezaubernde wie tüchtige Gattin begrüßen, doch die Worte, die ihm wirr durch den Kopf schwirrten, behielt er lieber für sich.

Denn neben Kings Duchess stand die Dame der Seufzer.

3. KAPITEL

Grundgütiger. Das war er. Der Mann aus dem Elysium. Aber das konnte nicht sein, denn die Duchess of Kingsland stellte ihn gerade als John Castleton vor, Viscount Wyeth. Sicherlich würde ein Lord nicht in einem Etablissement arbeiten, das sich der Umsetzung weiblicher Fantasien verschrieben hatte. Nach allem, was sie erfahren hatte, würde er überhaupt nicht arbeiten. Seine Klasse hielt sich für privilegiert und vermied jede Art von Betätigung.

Ob er einen Zwilling hatte? Einen Zwilling, der exakt so aussah wie er, jedoch nicht erben würde, keine finanzielle Unterstützung erhielt und sich daher seinen Lebensunterhalt selbst verdienen und seinen eigenen Weg gehen musste?

Oder vielleicht vergaß die Natur dann und wann schlicht, wen sie schon erschaffen hatte, und kreierte einen Menschen erneut, zu einer anderen Zeit und an einem anderen Ort. Ein Duplikat. Sie hatte in der deutschen Folklore darüber gelesen. Über Doppelgänger.

Aber wenn er ein Zwilling oder eine Nachbildung war und sie einander nie begegnet waren, weshalb hatten sich seine Augen dann flüchtig geweitet, als würde er sie wiedererkennen? Er hatte die Nasenlöcher gebläht, als erinnerte er sich an ihren Duft und versuchte, mehr von ihrem Aroma zu erhaschen. Doch er konnte unmöglich der Mann sein, der neben ihr gekniet und sie überaus versiert ins Reich der Sinnesfreuden entführt hatte.

Sie musste sich täuschen. Zwar war sie überzeugt gewesen, niemals vergessen zu können, wie jener Herr ausgesehen hatte, doch sie musste einräumen, dass ihre Erinnerungen dank zu viel Absinth nebulös waren. Vielleicht gemahnte er sie nur aufgrund seines dunklen Haars und seiner dunklen Augen an den Mann. Und weil er sie derart eingehend musterte.

Er verneigte sich knapp. „Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Miss Garrison.“

Diese Stimme. Tief, samtweich, volltönend. Leise und eindringlich. Haben Sie keine Angst. Sagen Sie es mir.

Sie schluckte krampfhaft und bemühte sich, Luft in ihre Lungen zu ziehen. Sie konnte seine wohlmeinende Äußerung nicht erwidern, konnte nicht versichern, sich ebenfalls zu freuen, weil sie fürchtete, nichts als ein ersticktes Krächzen zustande zu bringen. Seit jener Nacht im Elysium hatte sie mindestens hundertmal an jenen Mann, vermutlich diesen Mann, gedacht und es bereut, ihm nicht gestattet zu haben, seinen Namen zu nennen. Denn wie sollte sie, falls sie den Klub erneut aufsuchte, dafür sorgen, dass man ihr genau diesen Mann schickte?

Sie knickste flüchtig. „Mylord.“

Ihre Stimme klang trotzdem wie ein ersticktes Krächzen, und sie verfluchte ihren verräterischen Körper dafür, dass er preisgab, wie sehr diese unerwartete Wende sie aus der Bahn warf.

„Ich habe Miss Garrison die Bibliothek gezeigt. Sie liebt Bücher“, erklärte die Duchess.

„Lesen ist ein erquicklicher Zeitvertreib“, steuerte er bei. „Gefällt Ihnen England?“

„Es hat seine guten Seiten.“

Als er kaum sichtbar einen Mundwinkel hochzog und Wärme in seine braunen Augen trat, wusste sie, dass er weder Zwilling noch Doppelgänger war. Er war derjenige, der zu ihr geschickt worden war. Wie es dazu gekommen war, blieb dahingestellt. Ob er ein Doppelleben führte? Bot das Elysium ihm die Möglichkeit, seine eigenen Fantasien auszuleben, indem er Unschuldigen Wonne bereitete? Nutzte er die Rendezvous für Erpressungen? Zahllose Fragen gingen ihr durch den Kopf, und keine davon schmeichelte ihm. Und keine davon konnte sie unumwunden stellen, ohne ihr eigenes unsittliches Verhalten zu offenbaren.

„Wenn Sie mich bitte entschuldigen würden …“ Sie verspürte den Drang, auf Abstand zu ihm zu gehen, und schob sich an ihm vorbei, um näher bei ihrer Familie zu sein. Nicht dass diese geneigt gewesen wäre, ihr auch nur ein Quäntchen Geborgenheit zu gewähren. „Du hättest uns begleiten sollen, Mutter. All die Folianten hätten dich beeindruckt.“

„Im Gegensatz zu dir, mein Mädchen, lebe ich lieber in der Welt als zwischen den Seiten eines Buches.“

Von ihrem Vater war Leonora vergöttert worden. Sein Tod vor knapp einem Jahr war ein schwerer Schlag gewesen, auch wenn er nicht unerwartet eingetreten war. Die Ärzte wussten kaum etwas über die Krankheit, die seine Muskeln hatte schwinden und seinen Körper hatte verfallen lassen, und hatten daher nichts tun können. Leonora vermisste ihn schmerzlich und wünschte, er wäre jetzt hier, um ihre Bestrebungen mitzuerleben und daran teilzuhaben.

Vonseiten ihrer Mutter hatte sie nie Anerkennung erfahren. Nicht zuletzt deshalb war Leonora nicht auf dem Schiff geblieben, um zurück nach New York zu reisen, als deutlich geworden war, dass ihre Mutter sie mit einem bestimmten Ziel vor Augen begleitet hatte: ihre Tochter mit einem Lord zu verheiraten in dem Glauben, dadurch auch ihr eigenes Ansehen zu mehren.

Leonora verspürte nicht den Wunsch zu heiraten. Sie hegte eigene Träume und trachtete danach, sie zu verwirklichen. Deshalb war sie nicht auf dem Schiff geblieben. Und hier war sie nun, bestrebt, ihren Wert unter Beweis zu stellen und die Gunst ihrer Familie zu gewinnen. Zugleich hoffte sie zu erreichen, wonach sie sich vor allem sehnte: ihrer Talente wegen gewürdigt und als gleichwertige Partnerin im Unternehmen anerkannt zu werden.

Sie nahm den Sherry entgegen, den ihr Bruder ihr reichte, und zwang sich, nur einen kleinen Schluck zu nehmen, obwohl sie das Glas gern in einem Zug geleert hätte. Angesichts der Pläne ihrer Mutter, der Neigung ihres Bruders, nichts – nicht einmal die eigene finanzielle Notlage – ernst zu nehmen, und dem Auftauchen eines Mannes, der die Macht besaß, sie abzulenken, wenn nicht gar zu vernichten, war ihr, als bewegte sie sich am Rande eines Abgrunds. Ein einziger Fehltritt mochte sie alles kosten, worauf sie jahrelang hart und voller Hoffnung hingearbeitet hatte. Alles im Geheimen. Alles mit nur einer Handvoll Eingeweihter.

Verstohlen schaute sie zu Wyeth hinüber, der sich zu seinen Freunden gesellt hatte. Sie konnte nur hoffen, dass auch ihre Begegnung mit ihm ein Geheimnis bleiben würde.

Leonora wusste, dass in Adelskreisen Regeln bezüglich der Sitzordnung an einer Dinnertafel herrschten. Das nannte sich Rangordnung, glaubte sie. Bestimmt mussten aristokratische Damen irgendeinen dicken Wälzer auswendig lernen, um zu wissen, wi...

Autor