Operation Heartbreaker 8: Mitch - Herz im Dunkeln

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Operation Heartbreaker: Besiege die Gefahr, vertraue deinen Freunden - und verschenke nie dein Herz.

Wer ist er? Als Navy SEAL Mitch eines Morgens erwacht, ist sein Gedächtnis wie ausgelöscht. Nur einen Zettel mit einer Adresse hat er bei sich - und eine Waffe. Ist er auf der Flucht? Hat er jemanden umgebracht? Es gibt nur eine Möglichkeit: Mitch fährt zu der angegebenen Adresse. Aber auch die schöne Becca Kayes kennt ihn nicht. Allerdings ist sie bereit, ihm eine Chance zu geben. Auf ihrer Ranch zu arbeiten - und mehr. In Beccas Augen entdeckt Mitch die Zuversicht, dass alles gut wird, und die Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft … Was für ihn undenkbar ist, solange seine Vergangenheit im Dunkeln liegt. Denn noch weiß er nicht, was es mit der Waffe auf sich hat. Und ob Becca sich gerade in einen Mörder verliebt.


  • Erscheinungstag 01.07.2011
  • Bandnummer 8
  • ISBN / Artikelnummer 9783862780686
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Hey, hey, hey, Mission Man! Augen auf! Ja, so ist’s gut! Und jetzt raus aus den Federn! Es ist Morgen, und morgens bewegen wir im First Church uns alle von der Horizontalen in die Vertikale.”

Schmerz. Seine Welt bestand nur noch aus Schmerz, grellem Licht und einer beharrlichen Stimme. Er wollte sich wegdrehen, sich in die harte Matratze auf der Pritsche eingraben. Aber Hände schüttelten ihn. Zuerst sanft, dann fester.

„Hey, Mitch! Ich weiß, es ist früh, Mann, aber wir müssen die Betten machen und wegräumen. In ein paar Minuten gibt’s ein leckeres warmes Frühstück und ein AA-Meeting. Warum versuchst du’s nicht mal damit? Hör einfach zu, auch wenn dein Magen noch nichts verträgt.“

AA. Anonyme Alkoholiker. War etwa ein Kater dafür verantwortlich, dass er sich fühlte, als hätte ihn ein Panzer überrollt? Er versuchte, den Geschmack im Mund zu identifizieren, aber es gelang ihm nicht. Es schmeckte nur bitter. Er machte die Augen erneut auf, und schon wieder fühlte sich sein Kopf an wie gespalten. Diesmal biss er die Zähne zusammen und zwang sich, das lächelnde Gesicht des fröhlichen Afroamerikaners anzusehen.

„Ich wusste, du schaffst es, Mitch!“ Die Stimme gehörte zu dem Gesicht vor ihm. „Wie geht’s dir, Mann? Erinnerst du dich noch an mich? An deinen Freund Jarell? Stimmt genau, ich hab dich letzte Nacht ins Bett gebracht. Komm, steh auf, wir gehen zum Waschraum. Den hast du dringend nötig.“

„Wo bin ich?“ Seine eigene Stimme war ihm fremd, so tief und rau.

„Im First-Church-Obdachlosenasyl in der First Avenue.“

Der Schmerz war erbarmungslos, und nun mischte sich auch noch Verwirrung hinein, während er sich quälend langsam aufsetzte. „First Avenue?“

„Allerdings.“ Der Mann namens Jarell verzog das Gesicht. „Anscheinend warst du besoffener, als ich dachte. Du bist in Wyatt City, mein Freund, in New Mexico. Klingelt’s da bei dir?“

Er wollte den Kopf schütteln, doch der ohnehin schon höllische Schmerz wurde noch schlimmer. Also rührte er sich lieber nicht, sondern stützte die Stirn mit den Händen. „Nein.“ Er sprach sehr leise, in der Hoffnung, dass Jarell das auch tun würde. „Wie bin ich hierhergekommen?“

„Zwei gute Samariter haben dich gestern Abend hergebracht.“ Jarell hatte den Hinweis nicht verstanden, denn er redete noch genauso laut wie vorher. „Die meinten, sie hätten dich schlafend und mit dem Gesicht in einer Pfütze gefunden. In der Gasse, ein paar Blocks von hier. Ich habe deine Taschen nach einer Brieftasche durchsucht, aber die war weg. Anscheinend wurdest du ausgeraubt. Mich wundert bloß, dass sie dir deine schicken Cowboystiefel nicht auch weggenommen haben. So wie die Sache aussieht, haben sie sich ja auch noch die Zeit genommen, dir ein paar Tritte zu verpassen.“

Er befühlte seinen Kopf. Auf der einen Seite war sein Haar verfilzt und krustig, wie von Blut und Dreck verklebt.

„Los, komm und wasch dich, Mission Man! Wir bringen dich schon wieder auf Vordermann. Heute ist ein neuer Tag, und hier im Asyl zählt die Vergangenheit nicht. Von hier aus kannst du dein Leben neu beginnen. Was auch immer gewesen sein mag, ist einfach weggewischt.“ Jarell gab ein tiefes, fröhliches Lachen von sich. „Hey, du bist schon länger als sechs Stunden hier, Mitch, und du weißt doch, wie man sagt: ein Tag nach dem anderen. Tja, nur hier in der First Avenue heißt es: eine Stunde nach der anderen.“

Er ließ sich von Jarell beim Aufstehen helfen. Alles drehte sich, sodass er für einen Moment die Augen schließen musste.

„Na, kannst du gehen, Mitch? Ja, so ist’s gut. Setz einen Fuß vor den anderen. Zum Waschraum immer geradeaus. Schaffst du’s alleine?“

„Ja.“ Er war sich nicht sicher, ob er es tatsächlich hinbekam. Aber er hätte fast zu allem Ja gesagt, um von Jarells viel zu lauter, viel zu fröhlicher und viel zu freundlicher Stimme wegzukommen. Das Einzige, was er jetzt wirklich brauchte, war die gesegnete, heilende Stille der Bewusstlosigkeit.

„Komm wieder, wenn du sauber bist“, rief der alte Mann ihm nach. „Dann bekommst du etwas für den Magen und die Seele.“

Er ließ Jarells Lachen hinter sich und stieß mit zitternder Hand die Tür zur Männertoilette auf. Sämtliche Waschbecken waren belegt, daher lehnte er sich an die kühlen Kacheln und wartete darauf, dass er sich waschen konnte.

Der große Raum war voller Männer, von denen niemand sprach. Sie bewegten sich still und sahen einander nicht an. Niemand schien auffallen zu wollen. Alle achteten sorgsam darauf, sich gegenseitig nicht in die Quere zu kommen, nicht einmal durch einen Blick.

Er erhaschte sein Bild im Spiegel und sah einen Mann, dessen Äußeres dem aller anderen hier glich: ungepflegt und vernachlässigt, mit ungekämmten Haaren, die Kleidung zerrissen und dreckig. Nur dass bei ihm noch ein dunkler, getrockneter Blutfleck auf dem schmutzigen T-Shirt hinzukam.

Ein Waschbecken wurde frei, und er ging hin. Er nahm ein Stück schlichter weißer Seife, um sich die dreckigen Hände und Oberarme zu waschen, bevor er sein Gesicht in Angriff nahm. Eigentlich bräuchte er dringend eine Dusche. Oder einen Wasserschlauch, mit dem man ihn abspritzte. In seinem Kopf hämmerte es nach wie vor, weshalb er ihn nur vorsichtig bewegte. Er betrachtete sich genauer im Spiegel und versuchte die klaffende Wunde oberhalb des rechten Ohrs zu untersuchen.

Die Verletzung war weitgehend von seinem langen dunklen Haar bedeckt und …

Er hielt inne und starrte das Gesicht vor ihm an. Dann schaute er nach links und rechts. Das Gesicht im Spiegel bewegte sich, wenn er sich bewegte. Es gehörte eindeutig ihm.

Und doch war es das Gesicht eines Fremden.

Ein schmales Gesicht mit hohen Wangenknochen und markantem Kinn, das dringend eine Rasur gebrauchen konnte, bis auf eine kahle helle Stelle in Form einer ausgefransten Narbe. Die schmalen Lippen bildeten eine grimmige Linie, und zwei fiebrige Augen, deren Farbe irgendwo zwischen Braun und Grün lag, blickten ihn an. Um diese Augen hatten sich kleine Fältchen gebildet, als hätte er viel Zeit in der Sonne verbracht.

Er schöpfte Wasser mit den Händen und spritzte es sich ins Gesicht. Als er sich anschließend erneut im Spiegel betrachtete, sah ihn noch immer der gleiche Fremde an. Es war ihm nicht gelungen, dieses Gesicht wegzuwaschen und ein anderes zum Vorschein zu bringen. Welches? Eines, das ihm vertrauter war?

Er schloss die Augen und versuchte sich an Gesichtszüge zu erinnern, die ihm bekannter vorkamen. Aber es gelang ihm nicht.

Plötzlich überkam ihn heftige Übelkeit, sodass er sich am Waschbecken festhalten musste. Er senkte den Kopf und wartete, bis das Schlimmste vorbei war.

Wie war er hierhergekommen? Wyatt City, New Mexico. Eine kleine Stadt im südlichen Teil des Bundesstaates. Das war nicht seine Heimat … oder? Also musste er aus beruflichen Gründen hier gewesen sein. Nur, was für ein Beruf war das?

Er konnte sich nicht erinnern.

Vielleicht war er immer noch betrunken. Er hatte schon von Leuten gehört, die so betrunken gewesen waren, dass die Folge ein Blackout war. Vielleicht litt er genau daran. Vielleicht musste er sich nur richtig ausschlafen, und die fehlende Erinnerung würde ganz von selbst zurückkommen.

Allerdings konnte er sich nicht einmal daran erinnern, getrunken zu haben.

Sein Kopf schmerzte höllisch. Er wollte sich nur noch irgendwo zusammenrollen und schlafen, bis das Hämmern aufhörte.

Er beugte sich zum Waschbecken hinunter und versuchte, die Wunde an der einen Kopfseite zu waschen. Das lauwarme Wasser brannte, aber er riss sich zusammen und machte weiter, bis er sicher sein konnte, dass die Stelle einigermaßen gereinigt war. Das Wasser tropfte aus den langen Haaren. Er nahm ein Papierhandtuch und tupfte die Stelle ab. Als das raue Papier auf die verletzte Haut traf, musste er die Zähne zusammenbeißen.

Es war zu spät, um die Wunde noch zu nähen, denn es bildete sich bereits Schorf. Er würde also eine Narbe davon zurückbehalten. Er brauchte seine Erste-Hilfe-Ausrüstung und … Er stutzte. Erste-Hilfe-Ausrüstung. Er war kein Arzt. Wie könnte er auch einer sein. Und dennoch …

Die Tür des Waschraums flog auf, und er wirbelte herum. Dabei griff er in seine Jacke nach … nach …

Benommen lehnte er sich ans Waschbecken. Er trug keine Jacke, nur das zerlumpte T-Shirt. Und er musste unbedingt daran denken, keine allzu hastigen Bewegungen zu machen, sonst würde er noch auf die Nase fallen.

„Eine Hilfsorganisation hat Kleidung gespendet“, verkündete einer der Mitarbeiter des Obdachlosenasyls mit einer zu lauten Stimme, die etliche Männer im Raum zusammenzucken ließ. „Wir haben einen Karton mit sauberen T-Shirts bekommen und noch einen mit Jeans. Nehmt bitte nur, was ihr braucht, damit die anderen auch noch etwas abbekommen.“

Er betrachtete im Spiegel das fleckige und dreckige T-Shirt, das er anhatte. Irgendwann einmal war es weiß gewesen, wahrscheinlich sogar noch gestern Abend. Allerdings reichte seine Erinnerung nicht so weit zurück. Er zog es aus, wobei er darauf achtete, nicht an die Verletzung über dem rechten Ohr zu kommen.

„Schmutzwäsche bitte in den Korb dort drüben“, trompetete der Mitarbeiter. „Wenn sie mit einem Namensschild markiert ist, bekommt ihr sie wieder. Wenn die Sachen kaputt sind, werft sie weg und nehmt euch zwei neue Teile.“ Der Mitarbeiter musterte ihn. „Welche Größe benötigen Sie?“

„Medium.“ Es war eine ungeheure Erleichterung, endlich einmal die Antwort auf eine Frage zu wissen.

„Brauchen Sie auch eine Jeans?“

Er schaute an sich herunter. Die schwarze Hose, die er trug, war übel zerrissen. „Ja, ich könnte eine gebrauchen. Bundweite zweiunddreißig, Länge vierunddreißig, falls Sie so eine haben.“ Auch diese Dinge wusste er also.

„Sie sind der, den Jarell ‘Mission Man’ nennt“, stellte der Mitarbeiter fest, während er in dem Karton wühlte. „Er ist ein guter Kerl, unser Jarell. Für meinen Geschmack ein bisschen zu religiös, aber das dürfte Sie kaum kümmern, was? Er gibt allen ständig Spitznamen. Mission Man. Mitch. Was ist das überhaupt für ein Name, Mitch?“

Sein Name. Das war … sein Name? Das war er und auch wieder nicht. Er schüttelte den Kopf und versuchte, sich an seinen Namen zu erinnern.

Verdammt, nicht einmal den wusste er mehr!

„Hier ist eine Jeans, Bundweite dreiunddreißig“, erklärte der Mitarbeiter des Obdachlosenasyls. „Mehr kann ich nicht für Sie tun, Mitch.“

Mitch. Er nahm die Jeans und schloss für einen Moment die Augen, weil der Raum sich schon wieder drehte. Ruhig, dachte er. Was machte es schon, dass er sich nicht mehr an seinen Namen erinnerte? Der würde ihm schon irgendwann wieder einfallen. Wenn er eine Nacht durchgeschlafen hätte, würde ihm alles wieder einfallen.

Das sagte er sich immer wieder, wie ein Mantra. Seine Erinnerung würde zurückkommen und alles gut werden. Er brauchte nur die Chance, die Augen für eine Weile zuzumachen. Er ging in die Ecke des Waschraumes, wo er nicht von dem Durchgangsverkehr zwischen den Kabinen und Waschbecken gestört wurde. Dort zog er einen seiner Stiefel aus.

Und ebenso schnell wieder an.

Er trug eine Pistole bei sich. Kaliber .22.

Versteckt in seinem Stiefel.

Sie war kaum größer als seine Handfläche, schwarz und tödlich aussehend.

Da war noch etwas in seinem Stiefel. Er konnte es jetzt spüren, es drückte gegen seinen Knöchel.

Er nahm die Jeans mit in eine der Kabinen und verriegelte die Tür hinter sich. Dann zog er den Stiefel aus und schaute hinein. Die .22er war noch dort, zusammen mit einem dicken zusammengefalteten Geldbündel – lauter große Scheine. Keiner in dem dicken, mit einem Gummiband zusammengehaltenen Bündel war kleiner als ein Hunderter.

Rasch blätterte er die Scheine durch. Er trug über fünftausend Dollar in seinem Stiefel versteckt bei sich.

Das war noch nicht alles. Er fand außerdem noch einen Zettel, doch die Buchstaben darauf verschwammen.

Er zog den anderen Stiefel aus, aber in dem befand sich nichts. Er durchsuchte seine Hosentaschen, fand jedoch auch darin nichts mehr.

Er zog seine Hose aus und die saubere Jeans an. Dabei musste er sich die ganze Zeit an die Metallwand der Kabine lehnen, weil er ständig das Gleichgewicht zu verlieren drohte.

Er zog die Stiefel wieder an. Irgendwoher wusste er genau, wie er die Pistole im Stiefel verstecken musste, ohne dass sie ihn störte. Wie konnte er das wissen, außerdem seine Kleidergröße, während er sich gleichzeitig nicht mehr an seinen Namen erinnerte? Den Großteil des Geldes sowie den Zettel verstaute er ebenfalls wieder in seinem Stiefel. Ein paar Hundert Dollar schob er in die Hosentasche.

Als er die Tür der Toilettenkabine öffnete, sah er sich erneut seinem Spiegelbild gegenüber.

Selbst in sauberer Kleidung und gewaschen, die langen dunklen Haare mit nassem Wasser zurückgekämmt, sah er noch aus wie ein Mann, dem die meisten Leute lieber aus dem Weg gingen. Kinn und Wangen waren von Bartstoppeln bedeckt, was seine tiefe Sonnenbräune noch hervorhob. Das schwarze T-Shirt war ausgewaschen und ein bisschen eingelaufen. Es saß entsprechend eng und spannte über seiner breiten Brust und den muskulösen Armen. Alles in allem sah er aus wie ein Kämpfer, hart und gefährlich.

Womit auch immer er sein Geld verdienen mochte, er konnte sich einfach nicht daran erinnern. Doch in Anbetracht der Tatsache, dass in seinem Stiefel eine .22er versteckt war, konnte er vermutlich Kindergartenerzieher getrost von der Liste streichen.

Er rollte die zerrissene Hose zusammen und klemmte sie sich unter den Arm. Dann trat er aus dem Waschraum und mied den Raum, in dem Frühstück serviert und Enthaltsamkeit gepredigt wurde. Stattdessen steuerte er die Tür an, die hinaus auf die Straße führte.

Auf dem Weg nach draußen steckte er einen Hundertdollarschein in die Spendendose des Obdachlosenasyls.

„Mr Whitlow! Warten Sie!“

Rebecca Keyes rannte zu Silver, schwang sich in den Sattel und stieß dem großen Wallach die Fersen in die Flanken. Silver preschte los, der glänzenden weißen Limousine hinterher, die die unbefestigte Auffahrt der Ferienranch hinunterfuhr.

„Mr Whitlow!“ Sie schob sich zwei Finger in den Mund und pfiff durchdringend. Endlich hielt der Wagen an.

Silver schnaubte, als sie ihn neben der absurd langen Limousine zum Stehen brachte. Mit leisem Surren wurde das Fenster heruntergelassen, und Justin Whitlows gerötetes Gesicht erschien. Er sah nicht erbaut aus.

„Verzeihen Sie, Sir!“, bat Rebecca hoch zu Ross. „Hazel hat mir gesagt, dass Sie abreisen und einen ganzen Monat fort sind. Ich … ich wünschte, Sie hätten mich eher darüber informiert, Sir. Wir haben noch verschiedene Dinge zu besprechen, die keinen Monat warten können.“

„Wenn es schon wieder um diesen Blödsinn von wegen höherer Lohnforderungen geht …“

„Nein, Sir …“

„Na, dem Himmel sei Dank!“

„… denn es ist kein Blödsinn, Mr Whitlow, sondern ein sehr reales Problem auf Lazy Eight! Wir bezahlen den Helfern nicht genug, deshalb bleiben sie nicht. Wussten Sie, dass wir gerade Rafe McKinnon verloren haben?“

Whitlow steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen und sah mit zusammengekniffenen Augen zu Rebecca hoch, während er sich selbst Feuer gab. „Stellen Sie jemand Neues ein.“

„Das mache ich ständig.“ Sie konnte ihre Frustration kaum verbergen. „Dauernd heuere ich neue Leute an, weil immerzu Leute kündigen …“ Sie atmete tief durch und riss sich zusammen. „Wenn wir jemandem, der so zuverlässig und verantwortungsbewusst wie Rafe ist, zwei oder drei Dollar mehr pro Stunde zahlen würden …“

„Dann würde er nächstes Jahr wieder eine Lohnerhöhung erwarten.“

„Die er auch verdient hätte. Ehrlich, Mr Whitlow, ich habe keine Ahnung, wo ich einen Stallhelfer wie Rafe finden soll. Er war ein guter Arbeiter, verlässlich, intelligent und …“

„Anscheinend war er überqualifiziert. Ich wünsche ihm viel Glück bei seinen weiteren Bemühungen. Wir brauchen jedenfalls keine Raketenwissenschaftler. Und wie zuverlässig muss jemand schon sein, um Mist zu …“

„Das Ausmisten der Ställe ist nur ein kleiner Teil der Arbeit“, konterte Becca aufgebracht, beherrschte sich aber sofort wieder. Ein Duell mit gegenseitigem Anbrüllen hatte sie gegen ihren Boss noch nie gewonnen. Und mit Herumschreien würde sie höchstwahrscheinlich auch jetzt nicht weiterkommen. „Mr Whitlow, ich weiß nicht, wie Lazy Eight sich den Ruf einer erstklassigen Ferienranch erwerben soll, wenn Sie den Leuten Sklavenlöhne zahlen.“

„Sklavenlöhne für Sklavenarbeit“, bemerkte Whitlow trocken.

„Genau das meine ich ja“, sagte Rebecca, doch er blies nur Zigarettenrauch aus dem Fenster.

„Vergessen Sie nicht die Opern-Geschichte in Santa Fe nächste Woche“, sagte er noch, ehe sich das Fenster mit leisem Summen wieder zu schließen begann. „Ich zähle auf Sie! Und ziehen Sie sich um Himmels willen wie eine Frau an! Tauchen Sie bloß nicht wieder in so einem Hosenanzug auf wie beim letzten Mal.“

„Mr Whitlow …“

Aber das Fenster schloss sich. Er hatte sie abgewiesen. Silver wich tänzelnd nach rechts aus, als die Limousine wieder anfuhr. Becca fluchte vor sich hin.

Sklavenlöhne für Sklavenarbeit, allerdings. Aber Whitlow irrte sich. Er glaubte, dass er seinen Leuten niedrige Löhne für niedrige Arbeiten zahlte. In Wahrheit bremste es den ganzen Ranchbetrieb, wenn diese Arbeiten nicht getan wurden. Wenn der Besitzer auf Niedriglöhnen bestand, würde im Gegenzug die Qualität der Arbeit auch nicht besonders hoch sein. Oder die Arbeiter verschwanden, wie Rafe McKinnon und letzte Woche Tom Morgan. Und wie Anfang des Monats Bob Sharp.

Becca hatte das Gefühl, in letzter Zeit nur noch Büroarbeit zu erledigen. Viel zu oft saß sie drinnen am Schreibtisch und führte telefonisch Vorstellungsgespräche, um die ständig frei werdenden Stellen neu zu besetzen.

Sie hatte den Job auf der Lazy Eight Ranch angenommen, weil er eine Gelegenheit bot, ihre Fähigkeiten als Managerin unter Beweis zu stellen und gleichzeitig viel draußen zu sein.

Sie liebte das Reiten, die Sonne New Mexicos. Sie liebte es, wie dunkle Gewitterwolken am Himmel über der Prärie dahinjagten, und sie liebte das Rot und Braun und gedämpfte Grün der Berge. Sie liebte die Lazy Eight Ranch.

Aber für Justin Whitlow zu arbeiten war das Allerletzte. Wer sagte eigentlich, dass eine Frau in Hosen nicht feminin aussehen konnte? Was sollte sie denn seiner Meinung nach anziehen, um sich unter seine Freunde und Geschäftspartner zu mischen? Etwas extrem tief Ausgeschnittenes mit Pailletten? Als ob sie sich so etwas von dem mageren Lohn leisten könnte.

Ja, sie liebte es hier. Aber wenn sich nicht bald etwas änderte, war es nur eine Frage der Zeit, bis auch sie ging.

Die Nacht war mondlos. Er lag regungslos auf dem Bauch. Er ließ sich Zeit, damit seine Augen sich wieder ganz an die Dunkelheit gewöhnten. Besonders an die Dunkelheit hier, unmittelbar hinter dem Hochsicherheitszaun.

Er passte seine Atmung den nächtlichen Geräuschen an – dem Zirpen der Grillen, der Ochsenfrösche und den Bäumen, die über ihm leise im Wind rauschten.

Er konnte das Haus oben auf dem Hügel erkennen. Lautlos kroch er auf Knien und Ellbogen vorwärts. Er blieb unten am Boden und somit unsichtbar.

Er hielt inne und roch die Zigarette, bevor er das rote Glimmen sah. Der Mann war allein und weit genug weg vom Haus.

Leise hob er das Gewehr und überprüfte es, ehe er durch das Zielfernrohr sah. Er stellte das Nachtsichtgerät so ein, dass er das Ziel gut sah. Denn der Mann mit der Zigarette war das Ziel. Nicht der Gärtner, der einen nächtlichen Spaziergang unternahm. Nicht der Koch auf der Suche nach den perfekten wilden Pilzen. Nein, er erkannte diesen Mann von den Fotos wieder, die er gesehen hatte. Sachte betätigte er den Abzug und …

Bum.

Der gedämpfte Schuss des Gewehrs ging ihm durch Mark und Bein.

Mit weit aufgerissenen Augen setzte er sich auf und wusste sofort, dass er nur geträumt hatte. Das einzige Geräusch in dem dunklen Zimmer war sein schneller Atem.

Aber der Raum war ihm unbekannt. Diese Tatsache löste eine neue Welle der Panik aus. Wo befand er sich jetzt?

Das hier war nicht das kirchliche Obdachlosenasyl, in dem er gestern Morgen aufgewacht war.

Er betrachtete die neutralen Möbelstücke und das kitschige Ölgemälde an der Wand. Plötzlich fiel es ihm wieder ein. Es handelte sich um ein Motelzimmer. Ja, er hatte hier gestern Morgen eingecheckt, nachdem er das Obdachlosenasyl verlassen hatte. Er hatte heftige Kopfschmerzen gehabt und wollte sich nur noch ins Bett fallen lassen, um zu schlafen.

Er hatte bar bezahlt und die Anmeldung mit „M. Man“ unterschrieben.

Die schweren Vorhänge vor den Fenstern waren zugezogen und ließen nur einen schmalen Streifen des Morgenlichts herein. Seine Hände zitterten noch vom Traum. Er schlug die Decke zurück und bemerkte, dass sie nass von seinem Schweiß war. Sein Kopf war immer noch empfindlich, aber zumindest war ihm nicht mehr bei jeder kleinen Bewegung, als müsste er vor Schmerzen schreien.

Er erinnerte sich beinah Wort für Wort an die Unterhaltung mit dem Mann an der Rezeption des Motels. Er erinnerte sich an den Kaffeeduft in der Eingangshalle. Er erinnerte sich an den Namen des Angestellten – Ron –, der auf dem Schild auf dessen Brust stand. Er erinnerte sich, wie endlos lange Ron gebraucht hatte, um den Schlüssel für Zimmer Nummer 246 zu finden. Er erinnerte sich daran, wie er sich die Treppe nach oben geschleppt hatte, immer eine Stufe nach der anderen, getrieben von dem Wissen, dass beruhigende Dunkelheit und ein weiches Bett schon in Reichweite waren.

Er konnte sich auch an den Traum erinnern. Aber er wollte lieber nicht darüber nachdenken, was dieser Traum zu bedeuten hatte.

Mitch stand auf und stellte fest, dass ihn diese Bewegung nur leicht ins Wanken brachte. Er ging zur Klimaanlage und stellte sie höher. Der Ventilatormotor schaltete sich mit einem lauteren Summen ein, und ein Schwall kühler Luft traf ihn.

Langsam und vorsichtig setzte er sich wieder aufs Bett.

Er konnte sich an das Obdachlosenasyl erinnern. In der Erinnerung sah er Jarells grinsendes Gesicht, hörte seine fröhliche Stimme.

Hey, Mission Man! Hey, Mitch!

Mitch schloss die Augen und entspannte die Schultern. Er wartete darauf, sich daran zu erinnern, wie er ins Obdachlosenasyl gebracht worden war. Wartete auf Erinnerungen an das, was in dieser Nacht geschehen war.

Aber da war nichts.

Da war nur … Leere. Nichts. Als hätte er gar nicht existiert, bevor man ihn in das Heim in der First Avenue brachte.

Obwohl er die Klimaanlage kälter gestellt hatte, spürte er einen neuen Schweißfilm auf der Haut. Der Schlaf hatte einigermaßen kuriert, was immer ihn krank gemacht hatte – ob es nun Alkohol gewesen war oder eine verschreibungspflichtige Substanz oder der Schlag auf den Kopf. Tatsächlich hatte er über vierundzwanzig Stunden geschlafen.

Warum konnte er sich dann immer noch nicht an seinen Namen erinnern?

Hey, Mission Man! Hey, Mitch!

Er stand wieder auf und taumelte ein wenig, weil er es zu eilig hatte, zum Spiegel an der Wand über den beiden Waschbecken zu kommen. Er schaltete das Licht ein und …

Er erinnerte sich an das Gesicht, das ihn aus dem Spiegel ansah. Ja, er erinnerte sich – allerdings nur aus dem Waschraum im Obdachlosenasyl. Davor war …

Nichts.

„Mitch.“ Er sprach den Spitznamen, den Jarell ihm gegeben hatte, laut aus. Das Wort löste ein sehr vages Gefühl des Wiedererkennens aus, genau wie gestern Morgen. Doch was war „Mitch“ für ein Name? Erinnerte er sich möglicherweise schwach daran, dass Jarell ihn so genannt hatte, als man ihn ins Obdachlosenasyl brachte?

Mitch. Er blickte in diese fremden grünbraunen Augen, die ihm gehörten. Was für ein Name war Mitch? Nun, im Moment war es der einzige Name, den er hatte.

Mitch spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Dann hielt er die hohle Hand unter den Wasserhahn und trank ausgiebig.

Was sollte er jetzt tun? Zur Polizei gehen?

Nein, das kam nicht infrage. Das konnte er nicht. Er wäre nicht in der Lage, die .22er und das dicke Geldbündel in seinem Stiefel zu erklären. Er wusste – woher, konnte er jedoch nicht sagen –, dass er sich auf keinen Fall an die Polizei wenden durfte. Und er durfte auch sonst niemandem etwas sagen. Niemand durfte wissen, warum er hier war.

Nicht dass er es irgendwem hätte erklären können, selbst wenn er es gewollt hätte. Er hatte keine Ahnung, warum er hier war.

Was also sollte er tun?

Sollte er vielleicht ins Krankenhaus? Er drehte den Kopf und schob vorsichtig die Haare zur Seite, um sich die Platzwunde anzusehen. Ohne den gestrigen Schmerz, der ihm die Sicht vernebelt hatte, erkannte er mit beunruhigender Gewissheit, dass es sich um einen Streifschuss handelte. Man hatte auf ihn geschossen. Und man hatte ihn beinahe getötet.

Nein, ins Krankenhaus konnte er demnach auch nicht, denn dort würde man seine Verletzung der Polizei melden müssen.

Er trocknete sich das Gesicht und die Hände mit einem kleinen weißen Handtuch ab. Dann kehrte er aus dem Bad ins Schlafzimmer zurück. Seine Stiefel standen neben dem Bett, wo er sie gestern hingestellt hatte. Er hob den rechten auf und kippte den Inhalt auf das zerwühlte Bettlaken. Er schaltete das Licht an, setzte sich und nahm die .22er in die Hand.

Sie passte perfekt in seine Hand und fühlte sich vertraut an. Obwohl ihm die Erinnerung an seinen eigenen Namen fehlte, wusste er ganz genau, dass er diese Waffe mit tödlicher Präzision benutzen konnte, falls es jemals nötig sein sollte. Und nicht nur diese Waffe, sondern jede andere. Ihm fiel der Traum ein, und er legte die Waffe wieder aufs Bett.

Mitch zog das Gummiband von dem zusammengefalteten Geldbündel. Der daran befestigte Zettel löste sich. Es handelte sich um ein Stück Faxpapier, glatt und glänzend und daher schwierig zu lesen. Er nahm den Zettel und hielt ihn ins Licht.

Lazy Eight Ranch“, las er laut. Auch dieser Name sagte ihm nichts. Auf dem Zettel stand außerdem eine Adresse und eine Wegbeschreibung zu irgendeiner Ranch im nördlichen Teil des Bundesstaates. Der Wegbeschreibung entnahm er, dass die Ranch etwa vier Autostunden entfernt von Santa Fe liegen musste. Die Worte auf dem Zettel waren getippt, bis auf eine Nachricht in großer, deutlicher Handschrift: Freue mich darauf, Sie persönlich kennenzulernen. Unterschrieben war sie mit Rebecca Keyes.

Mitch öffnete die Schublade des Nachtschranks und suchte nach einem Telefonbuch, doch er fand nur eine Bibel. Er nahm den Hörer ab und wählte die Nummer der Rezeption.

„Gibt es einen Bahnhof oder einen Busbahnhof in der Stadt?“, erkundigte er sich, als der Angestellte sich meldete.

„Greyhound liegt nur ein Stück die Straße runter. Das ist der Busbahnhof.“

„Können Sie mir die Telefonnummer geben?“

Im Stillen wiederholte Mitch die Nummer, die der Angestellte ihm nannte. Dann legte er auf und wählte erneut.

Er würde nach Santa Fe fahren.

2. KAPITEL

Becca war gerade draußen, wo sie Belinda und Dwayne dabei half, eine Busladung Gäste zu begrüßen, als sie ihn entdeckte.

Man hätte ihn leicht übersehen können – die Gestalt eines Mannes, der langsam die Straße entlangging. Doch selbst aus der Ferne erkannte sie, dass er anders war. Sein Gang war nicht lässig wie der eines Cowboys von einer benachbarten Ranch. Er trug auch keine Taschen und Beutel mit Kunsthandwerk und Schmuck, die viele Indianer aus der Gegend in Santa Fe verkauften. Dieser Mann trug nur eine einzelne kleine Tasche bei sich, die er sich unter den Arm geklemmt hatte.

Er bog in die lange Auffahrt zur Lazy Eight Ranch ein. Irgendwie hatte Becca gewusst, dass er genau das tun würde.

Während er näher kam, sah sie, dass er auch nicht die typischen Westernsachen trug, die hier im Südwesten üblich waren. Zwar kam er in Jeans daher, aber statt des typischen langärmeligen Westernhemds trug er ein neu aussehendes T-Shirt. Seine Arme waren tief gebräunt, als würde er viel Zeit draußen verbringen.

Seine schwarzen Stiefel waren nicht von der Sorte, wie echte Cowboys sie trugen. Außerdem hatte er eine Baseballkappe auf dem Kopf statt eines Stetsons.

Aus der Entfernung hatte er groß und beeindruckend gewirkt. Aus der Nähe wirkte er nur noch beeindruckend. Es war wirklich eigenartig. Er war höchstens eins achtzig groß und schlank, beinah schmal. Und doch strahlte er eine stille Kraft aus.

Vielleicht lag es an seiner Haltung oder dem markanten Kinn. Möglicherweise sah Becca etwas in seinen dunklen Augen, das in ihr den Impuls auslöste, lieber Abstand zu ihm zu halten. Er ließ den Blick über die Auffahrt wandern, über den Van und das Gepäck und die Gäste, von dort zum Ranchhaus und zum Paddock, auf dem Silver ungeduldig auf den nächsten Ausritt wartete. Dann sah er zu Belinda und Dwayne, ehe er den Blick schließlich auf sie richtete. Er musterte sie kurz, fällte sein Urteil und hakte sie ab.

Becca versuchte, woandershin zu sehen, aber sie schaffte es nicht.

Er war sehr attraktiv – vorausgesetzt natürlich, eine Frau stand auf den dunklen, gefährlichen Typ. Sein Gesicht war ein wenig wettergegerbt, mit hohen Wangenknochen, auf die selbst Johnny Depp neidisch gewesen wäre. Seine Lippen waren schön geschwungen, wenn auch einen Tick zu schmal. Sein dunkles Haar war länger, als sie zuerst gedacht hatte, und im Nacken zusammengebunden, sein Gesicht glatt rasiert. Eine Narbe am Kinn unterstrich seine bedrohliche Ausstrahlung. Und diese Augen …

Becca beobachtete, wie er sich Belinda näherte. Er sprach leise – zu leise, als dass Becca seine Worte hätte hören können. Während er redete, zog er einen Zettel aus der Hosentasche.

Belinda drehte sich um und zeigte direkt auf Becca. Der Mann schaute ebenfalls in ihre Richtung. Erneut taxierten sie diese kühlen Augen.

Dann kam er auf sie zu.

Becca ging die Stufen vor dem Büro der Ranch hinunter und ihm entgegen. Dabei schob sie ihren zerbeulten Stetson, der ihre kurzen braunen Locken bedeckte, noch weiter in den Nacken. „Kann ich Ihnen helfen?“

„Sie sind Rebecca Keyes.“ Seine Stimme war sanft und ohne Akzent. Obwohl er seine Worte nicht als Frage formuliert hatte, antwortete sie.

„Das ist richtig.“ Seine Augen waren gar nicht dunkelbraun, wie sie zuerst vermutet hatte, sondern hellbraun – nein, das stimmte auch nicht ganz. Es war eine äußerst ungewöhnliche Mischung aus Grün, Braun und Blau. Sie starrte ihn an. Sie wusste, dass sie ihn anstarrte, aber sie konnte offenbar nicht damit aufhören.

„Haben Sie mir dieses Fax geschickt?“

Diesmal war es eine Frage. Becca riss sich vom Anblick seines Gesichts los und betrachtete den Zettel in seinen Händen. Es handelte sich tatsächlich um Faxpapier. Becca erkannte die übliche Wegbeschreibung zur Ranch und darunter ihre krakelige Handschrift. „Sie müssen Casey Parker sein.“

Er wiederholte den Namen langsam. „Casey Parker.“

Sein Aussehen passte irgendwie nicht zu der Stimme, mit der sie das telefonische Bewerbungsgespräch geführt hatte. Becca hatte ihn sich größer vorgestellt, älter, kräftiger gebaut. Aber egal. Sie brauchte dringend einen Helfer, und seine Referenzen waren alle überprüft.

„Können Sie sich irgendwie ausweisen?“, fragte Becca und fügte mit freundlichem Lächeln hinzu: „Es geht eher um die Steuerformulare für unsere Angestellten und weniger um die Bestätigung, dass Sie der sind, der zu sein Sie behaupten.“

Er schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, aber das kann ich nicht. Mir wurde letzte Nacht die Brieftasche gestohlen. Ich geriet in eine Schlägerei und …“

Wie zum Beweis nahm er seinen Hut ab, sodass sie eine lange Schramme an seiner rechten Schläfe sehen konnte. Die Wunde verschwand unter seinem gewellten dunklen Haar. Auf dem Wangenknochen war zudem eine Prellung zu erkennen, die ihr anfangs nicht aufgefallen war, weil sie wegen der Sonnenbräune kaum sichtbar war.

„Ich hoffe, es gehört nicht zu Ihren Gewohnheiten, sich zu prügeln.“

Er lächelte. Obwohl er nur die Mundwinkel leicht hob, wurden seine harten Züge dadurch gleich weicher. „Das hoffe ich auch.“

„Sie kommen eine Woche zu früh“, informierte Becca ihn, in der Hoffnung, dass ihre Forschheit die Wirkung seines Lächelns und seiner eigenartigen Worte aufhob. „Aber das ist ganz gut, denn gestern hat schon wieder ein Helfer gekündigt.“

Er schwieg und stand einfach nur da, während er sie mit diesen Augen betrachtete, denen nichts zu entgehen schien. Einen Moment lang war sie beinahe überzeugt, dass er in die Vergangenheit schauen konnte. Dass er zum Beispiel Beccas katastrophale Unterhaltung mit Justin Whitlow sehen konnte. Oder, noch weiter zurück, Rafe McKinnons schlichte Kündigung. Einen Moment lang war sie sogar davon überzeugt, dass er sowohl ihren Kummer als auch ihre Frustration und ihre Niederlage sehen konnte.

„Sie wollen den Job doch noch?“, fragte sie. Plötzlich befürchtete sie, ihm könne nicht gefallen, was er sah. Schließlich waren aller schlechten Dinge drei.

Er ließ den Blick über das Tal schweifen und kniff dabei wegen des blendenden strahlend blauen Himmels die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Becca war überzeugt davon, dass er im Gegensatz zu den meisten Leuten die karge Landschaft New Mexicos wirklich sah. Sie war sich sicher, dass er mit seinen intensiven Augen die beinah schmerzliche Schönheit des Landes erkannte.

„Gehört Ihnen diese Ranch?“, erkundigte er sich mit seiner ruhigen Stimme.

„Schön wär’s.“ Die Worte kamen automatisch heraus – und waren nur allzu aufrichtig. Als er seine Augen wieder auf sie richtete, kam sie sich ausgeliefert vor – als hätte sie mit diesen zwei kleinen Worten viel zu viel von sich preisgegeben.

Doch er nickte bloß, und die Andeutung eines Lächelns huschte über sein Gesicht.

„Wem gehört sie dann?“, fragte er. „Ich wüsste gern den Namen des Mannes, für den ich arbeite.“

„Der Name des Besitzers ist Justin Whitlow“, erklärte Becca. „Er zahlt Ihren Lohn. Aber der Boss bin ich. Sie werden für mich arbeiten.“

Er nickte erneut und richtete den Blick wieder auf die Landschaft. Doch ihr entging der Anflug von Amüsiertheit in seinen Augen nicht. „Damit habe ich kein Problem“, sagte er.

„Manche Männer schon.“

„Ich bin nicht wie die.“ Er richtete den Blick wieder auf sie, und Becca wusste ohne den geringsten Zweifel, dass es stimmte. Dieser stille, schlanke Mann mit den wachsamen Augen war nicht irgendein Mann.

Aber was genau für ein Mann er war, vermochte sie auch nicht zu sagen.

„Hey, Ronnie! Lange nicht gesehen.“ Lieutenant Luke „Lucky“ O’Donlon schloss Veronica Catalanotto in der Küche seines Captains in die Arme und küsste sie zur Begrüßung.

„Luke! Hat Frank dich reingelassen?“ Ronnie schenkte ihm ein warmes Lächeln und schien sich wirklich zu freuen, ihn zu sehen. Und da sie zu den zehn schönsten, nettesten und klügsten Frauen gehörte, denen er je begegnet war, bildete er sich auf dieses Lächeln etwas ein. Nur schenkte sie im nächsten Augenblick Bobby und Wes, die hinter ihm hereinkamen, das gleiche Lächeln. „Wie war euer Ausflug, Jungs?“, erkundigte sie sich mit ihrem vornehmen britischen Akzent.

Captain Joe Catalanottos Frau nannte die extrem gefährlichen und streng geheimen Operationen der Eliteeinheit Alpha Squad stets „Ausflüge“. Als wären die Navy-SEALs unterwegs, um sich Sehenswürdigkeiten und Museen anzuschauen.

Wes verdrehte die Augen. „Diesmal waren wir wirklich nah dran …“

Bobbys Ellbogen der Größe XXL fuhr seinem Schwimmkumpel in die Rippen.

„Bestens“, verbesserte Wes sich rasch. „Es war toll! Wie immer. Danke der Nachfrage, Ronnie.“

Veronica ließ sich nicht zum Narren halten. Ihr Lächeln erstarb, was ihre Augen riesig aussehen ließ. „Ist alles in Ordnung? Ich habe zwar Joe schon gefragt, aber ich bin mir nicht sicher, ob er mir erzählen würde, wenn jemand verletzt worden ist.“

Seit anderthalb Jahren, als der Captain beinah während eines Trainingseinsatzes von Terroristen getötet worden wäre, wirkte Veronica noch ängstlicher, wenn das Team zu einem Einsatz geschickt wurde. Sie war nie damit zurechtgekommen, dass ihr Mann wieder zu gefährlichen Missionen verschwand, manchmal völlig ohne Vorwarnung. Jetzt, nachdem sie gesehen hatte, wie Joe in einem Krankenhausbett um sein Leben kämpfte, war es für sie noch schwieriger.

„Alle sind wohlauf“, versicherte Lucky ihr und nahm ihre Hand. „Wirklich.“ Cowboy hatte sich bei einem Fallschirmsprung den Knöchel verstaucht, aber abgesehen davon waren alle heil nach Kalifornien zurückgekehrt.

Auf Veronicas Gesicht erschien wieder ein Lächeln, aber es war einen Tick zu strahlend und brüchig. „Na dann“, sagte sie. „Joe erwartet euch. Er ist unten am Strand.“

„Danke.“ Lucky drückte ihre Hand kurz, bevor er sie losließ.

„Bleibt ihr zum Abendessen?“, erkundigte Veronica sich beiläufig.

Lucky tauschte einen Blick mit Bobby. Worum auch immer es ging: Es war wichtig. Sonst hätte der Captain sie nicht so dringlich zu sich bestellt. Obwohl sie erst seit anderthalb Tagen zu Hause waren, bestand die Möglichkeit, dass sie innerhalb der nächsten Stunden schon wieder aufbrechen mussten. Und wie er Joe Catalanotto kannte, würde der es sich nicht nehmen lassen, mitzukommen. Allerdings schien er seiner Frau noch kein Wort gesagt zu haben.

„Ich glaube nicht, Ronnie“, antwortete Bobby mit sanfter Stimme. „Diesmal wahrscheinlich nicht. Obwohl es köstlich duftet. Der Kochunterricht macht sich bezahlt, was?“

„Ich habe den ganzen Tag gearbeitet“, gestand sie zerknirscht. „Joe hat den Eintopf gekocht.“ Die Frau des Captains mochte schön, klug und sexy sein, aber in der Küche war sie eine echte Gefahr. „Könnt ihr wirklich nicht bleiben?“, fragte sie. „Es ist genug da, und es ist wirklich gut geworden. Joe, Frankie und ich schaffen das niemals allein.“

„Irgendetwas braut sich da zusammen. Ich fürchte, der Captain will mit uns schon wieder einen Ausflug machen“, erklärte Wes, bevor Bobby oder Lucky ihn daran hindern konnten. Es fehlte ihm einfach am nötigen Einfühlungsvermögen in solchen Situationen. „Deswegen können wir bestimmt nicht bleiben.“

„Nun“, sagte Veronica und klang sofort angespannt. „Dann seid ihr wieder für einen Monat verschwunden? Danke, dass ihr mir Bescheid gebt. Es wäre allerdings netter gewesen, es von Joe zu erfahren.“

Noch mal verdammt! Lucky zuckte innerlich zusammen. „Ehrlich, Ronnie, ich habe keine Ahnung, was los ist. Wenn er dir gegenüber nichts erwähnt hat, dann müssen wir vielleicht gar nicht weg.“

Veronica nahm sich sichtlich zusammen. Und seufzte beim Anblick ihrer fast panischen Mienen. „Seht mich doch nicht so an!“, meinte sie tadelnd. „Ich bin stärker, als ihr denkt. Schließlich wusste ich, worauf ich mich einlasse, als ich ihn geheiratet habe. Trotzdem muss es mir ja nicht gefallen, wenn Joe unterwegs ist. Sagt ihr Navy-Jungs das nicht auch immer? Es muss mir nicht gefallen, ich muss es nur tun? Passt einfach für mich auf ihn auf, ja?“

Sie gab sich tapfer, aber ein leichtes Zittern ihrer Unterlippe verriet sie. „Geht schon!“, forderte sie die drei auf. „Er wartet. Sagt ihm, dass er mir die schreckliche Neuigkeit nicht mehr selber beibringen muss.“

Lucky folgte Bobby und Wes aus der Küche nach draußen. Auf der Veranda blieb er einen Moment stehen. Durch das Fenster sah er, wie Ronnie nur zwei Teller auf den Tisch stellte – einen für sich selbst und einen für Frankie, ihren kleinen Sohn. Noch immer kämpfte sie gegen die Tränen an.

Lucky wusste, dass sie sich wieder vollkommen im Griff haben und wahrscheinlich sogar lächeln würde, wenn Joe zum Haus zurückkam.

Dass Veronica den Beruf ihres Mannes akzeptierte, war etwas äußerst Seltenes. Die wenigsten Frauen ertrugen es, immer und immer wieder alleingelassen zu werden und ohne jedes Lebenszeichen auf ihre Männer warten und sich um sie Sorgen machen zu müssen.

„Ich werde nie heiraten!“, raunte Lucky Wes zu, während sie die Stufen zum Strand hinuntergingen.

„Ich auch nicht“, pflichtete Wes ihm bei. „Es sei denn, Ronnie entschließt sich, den Captain zu verlassen. Oder komme ich schon zu spät? Hast du dein Territorium schon abgesteckt? Nichts für ungut, aber dieser Kuss war doch ein bisschen zu freundschaftlich.“

Lucky fühlte sich getroffen. „Ich habe sie nur begrüßt! Ich würde nie …“

„Du würdest nie was?“ Joe Catalanotto tauchte in seiner vollen Größe von gut einem Meter neunzig aus dem Nebel auf, der vom Pazifik landeinwärts trieb. In der einen Sekunde waren sie noch allein, in der nächsten spürten sie schon seinen Atem im Nacken. Wie um alles in der Welt konnte ein Mann, der wie ein Footballprofi gebaut war, sich nur so lautlos bewegen? Zudem trug er einen dicken dunklen Zopf, der ihm bis auf den Rücken hinunterreichte. Mit offenem Haar sah er aus wie ein Pirat oder ein echt wilder Rockstar. Dann hatte er nicht mehr die geringste Ähnlichkeit mit einem hochdekorierten, äußerst respektierten Captain der US Navy.

„Ich würde mich nie an deine Frau ranmachen“, erklärte Lucky seinem Captain rundheraus. Es hatte keinen Sinn, vor Joe Cat etwas verbergen zu wollen. Irgendwie würde er die Wahrheit herausfinden – falls er sie nicht schon längst kannte. Genau aus diesem Grund war er der Captain. „Ich würde mich niemals an Ronnie heranmachen.“ Lucky warf Wes einen fassungslosen Blick zu. „Ich kann nicht glauben, dass du mir so was zutraust, Skelly! Das verletzt wirklich meine Gefühle …“

„Was ist los, Captain?“, unterbrach Bobby ihn.

Joe Cat deutete auf den Ozean. „Lasst uns ein Stück laufen. Eigentlich müssten wir uns in einem abhörsicheren Raum unterhalten, aber das würde nur unbequeme Fragen aufwerfen, und die will ich unbedingt vermeiden.“

Um was es auch gehen mochte – es war eine Nummer größer, als Lucky sich vorgestellt hatte. Er hörte auf, Wes weiterhin böse Blicke zuzuwerfen, und konzentrierte sich stattdessen auf das, was der Captain ihnen zu sagen hatte.

Doch Joe schwieg zunächst, bis sie sich der Brandung genähert hatten. Der Strand war verlassen und neblig, die untergehende Sonne hinter Wolken verborgen.

„Ich bin gerade für Admiral Robinson im Einsatz“, begann Joe schließlich mit leiser Stimme, „als Verbindungsmann.“

Die Gray Group war eine legendäre Spezialeinheit des Admirals. Sie führte Operationen durch, die so geheim waren, dass sogar die amerikanische Regierung leugnete, Kenntnis davon zu haben. Die SEALs der Gray Group löschten Drogenbosse aus, eliminierten Despoten und waren nicht selten gezwungen, Gott zu spielen – oder zumindest Richter und Henker in einem zu sein.

„Der Admiral ist unterwegs in diplomatischer Mission. Er befindet sich an einem Ort, zu dem ich keine abhörsichere Leitung bekomme“, erklärte Joe knapp. „Ich kann ihm also nicht mitteilen, dass die wöchentliche Meldung seines SEALs seit vierundzwanzig Stunden überfällig ist. Ich mache mir ehrlich gesagt Sorgen; offenbar ist dieser Kerl stets überpünktlich und zuverlässig gewesen.“ Er sah seine Männer reihum an. „Also muss ich nach New Mexico aufbrechen und versuchen, ihn dort aufzuspüren. Dafür brauche ich ein Team.“

New Mexico? Was zur Hölle …

Der Captain sah Bobby an, dann Lucky. „Ich brauche Freiwillige. Dies wird ebenfalls eine geheime Operation sein. Nichts darüber wird in den Akten erscheinen, es wird keine Berichte geben, und niemand von den hohen Tieren wird davon Kenntnis haben. Ihr werdet euch sogar Urlaub nehmen müssen, damit man euren Aufenthaltsort nicht ausfindig machen kann.“

Das klang wirklich ernst. „Auf mich kannst du zählen, Cat“, sagte Lucky fast zeitgleich mit Bobby und Wes.

Joe nickte. „Danke“, sagte er nur.

„Wer ist der SEAL, den wir aufspüren sollen?“, wollte Wes wissen. „Jemand, den wir kennen?“

Autor

Suzanne Brockmann
Die international erfolgreiche Bestsellerautorin Suzanne Brockmann hat über 45 packende Romane veröffentlicht, die vielfach preisgekrönt sind. Ehe sie mit dem Schreiben begann, war sie Regisseurin und Leadsängerin in einer A-Capella-Band. Mit ihrer Familie, zu der seit Neuestem zwei Schnauzer-Welpen gehören, lebt sie in der Nähe von Boston.
Mehr erfahren