Romana Gold Band 34

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KOMM MIT MIR NACH MONTPELLIER von LAWRENCE, KIM
Nie darf Callum von ihrem Geheimnis erfahren! Nach der wundervollen gemeinsamen Liebesnacht ist Georgina schwanger! Überstürzt flieht sie nach London. Doch Callum gibt nicht auf - und bittet sie mit ihm auf sein traumhaftes Weingut in Südfrankreich zu kommen.

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  • Erscheinungstag 19.08.2016
  • Bandnummer 34
  • ISBN / Artikelnummer 9783733743611
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Kim Lawrence, Elizabeth Power, Lee Stafford

ROMANA GOLD BAND 34

1. KAPITEL

Georgina probierte den niedlichen Strohhut erneut auf, bevor sie ihn zugunsten einer extravaganten Kreation in Creme zurücklegte, die ihr herzförmiges Gesicht auf erstaunliche Weise zur Geltung brachte. Sie versuchte gerade, ihr langes rötliches Haar unter die Hutkrempe zu schieben, als es an der Tür klingelte. Eine Vorahnung verschattete die klare Tiefe ihrer dicht bewimperten haselnussbraunen Augen.

Das musste er sein! Sie holte noch einmal tief Luft, um ruhig und gesammelt zu wirken, und eilte den Flur entlang. Schwungvoll öffnete sie die Tür, doch sobald sie den Mann an der Schwelle erblickte, verschwand ihr ohnehin nur aufgesetztes Lächeln. Stattdessen legte sie die Stirn in Falten, bis ihre dunklen, schön geformten Brauen eine gerade Linie ergaben.

Es konnte sich nur um einen Irrtum handeln! Beim Anblick des tief gebräunten Gesichts des Mannes, das sie an einen Raubvogel erinnerte, verließ sie der Mut. Wie würde sich dieses Wesen auf einem Gesellschaftsereignis verhalten? Der Mann schien an ein Leben in freier Wildbahn gewohnt zu sein. Außerdem trug er nicht einmal einen Smoking, obwohl sie es ausdrücklich angeordnet hatte. Beas Empfehlungen würde sie in Zukunft jedenfalls nicht mehr trauen.

Ärgerlich richtete sie sich zu ihrer vollen, wenngleich nicht gerade imposanten Größe auf. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte sie das seltsame Gefühl, den Mann schon zu kennen. Das war natürlich absurd. Dennoch schaffte sie es nicht, diese unerklärliche Vertrautheit gänzlich zu ignorieren.

„Miss Campion?“ Empört nahm sie zur Kenntnis, dass der große Fremde anscheinend ebenso über sie erstaunt war wie sie über ihn. Er musterte ihr pinkfarbenes Kostüm mit einem amüsierten Ausdruck. Dabei kniff er ohne jede weitere Regung seines scharf geschnittenen Gesichts die blauen Augen zusammen. Das war wahrscheinlich alles, was seine Züge je an Kritik verrieten.

Plötzlich hätte sie lieber einen längeren Rock getragen. Auch die mutwillige Kombination des schrillen Pink ihres Kostüms mit ihrer rötlichen Haarfarbe schien ihr nun ein Missgriff zu sein. Aber egal, ihre Bedenken waren sicherlich unbegründet. Diese Art Mann konnte einfach keinen guten Geschmack besitzen.

„Ich habe um einen Smoking gebeten“, sagte sie streng. Er blinzelte, wirkte aber von ihrem Einwand unberührt. „Na schön, dieser Anzug tut es auch“, lenkte Georgina schmollend ein. Der Stoff und der Schnitt sahen nach einem Designerstück aus, obwohl bei seinem perfekten Körperbau wahrscheinlich jede Art von Kleidung überdurchschnittlich zur Geltung kommen würde. Doch bei seinem Beruf konnte er sich selbstverständlich keine Designerkleidung leisten. „Treten Sie doch ein.“

Sie sind Miss Georgina Campion?“ Er musste den Kopf einziehen, um der niedrigen Lampe in dem winzigen Flur auszuweichen. Seine Stimme hatte einen rauen, tiefen Klang, und ein leiser Dialekt schwang mit, den sie nicht gleich zuordnen konnte.

Nervös bejahte sie seine Frage. Er dagegen sah sich in aller Ruhe neugierig um. Für ihn muss das hier eine ganz alltägliche Situation sein, beruhigte sie sich. Es war gut, wenn wenigstens er professionell war.

„Kennen wir uns?“ Er sah sie wieder durchdringend an. Seine Frage klang vorwurfsvoll.

„Mein Gesicht erinnert jeden an eine entfernte Cousine“, erwiderte sie abweisend. Es erschreckte sie, dass ihr erster Eindruck von ihm geteilt wurde. „Unter den gegebenen Umständen nennen Sie mich am besten Georgina. Meine Familie sagt Georgie zu mir, was ich allerdings nicht mag.“

„Das ist verständlich“, lenkte er ein. Ein Zucken um seine Mundwinkel verriet sein Amüsement angesichts ihres Geständnisses. „Georgina ist ein charmanter Name.“

Sie musterte ihn misstrauisch. „Kommen Sie herein. Ich habe noch eine Blume für Ihr Knopfloch. Wenn wir uns nicht gleich auf den Weg machen, werden wir zu spät kommen.“

Als sie mit der weißen Nelke ins Wohnzimmer kam, lächelte er sie an.

Er sah wirklich atemberaubend aus. Sie würde mit ihm an der Seite Aufsehen erregen. Vielleicht war das gar nicht so wünschenswert.

„Unter den gegebenen Umständen sollte ich wohl Ihren Namen wissen“, sagte Georgina, während sie ihm die Ansteckblume reichte. Für sich selbst hatte sie ein Gebinde aus empfindlichen Singapur-Orchideen mitgebracht.

„Ich heiße Callum.“ Da sie mit ihren Blumen beschäftigt war, entging ihr sein angestrengt nachdenklicher Blick. „Callum … Smith“, fügte er eilig hinzu. Als sie sich mit der Anstecknadel in den Finger piekste, kam er ihr zu Hilfe. Langsam ahnte er, auf was er sich eingelassen hatte. Die kleine Manipulation der Wahrheit löste bei ihm kein schlechtes Gewissen aus.

Trotz des Jetlags und der notariellen Testamentseröffnung, an der er teilgenommen hatte, war er plötzlich sehr aufgedreht. Er hatte geahnt, dass Miss Georgina Campion eine ungewöhnlich schlaue junge Frau sein musste. Dies bewies der beträchtliche private Nachlass, den sein Onkel Oliver ihr hinterlassen hatte und den Callum ihr nach dessen Anweisungen höchstpersönlich übergeben sollte. Dennoch war diese Frau ganz anders als erwartet.

Vielleicht lohnt es sich herauszufinden, was Oliver an ihr so anziehend gefunden hat. Natürlich ganz abgesehen von ihrem Äußeren, dachte Callum mit einem zynischen Lächeln. Es war gar nicht so, dass er ihr das Geld missgönnte, aber es ärgerte ihn, wie sie es erlangt hatte.

Die Reise war bisher nicht so reibungslos verlaufen wie gedacht. Er hatte darauf gehofft, dass die Frage der Übernahme der Geschäftsführung bereits geklärt sein würde. Das war jedoch nicht der Fall. Und so musste er mehr Zeit in London verbringen, als er ursprünglich geplant hatte. Das missfiel ihm, denn er wollte vermeiden, in Angelegenheiten verwickelt zu werden, die ihn nicht interessierten.

Seit seiner Ankunft war ständig der Name Georgina Campion gefallen, und zwar zunächst bei den Anwälten, später auch bei der Werbeagentur Mallory. Höchstwahrscheinlich war diese Frau im Besitz wichtiger Firmeninformationen. Obwohl der erste persönliche Eindruck von der Vertrauten seines Onkels auf schockierende Weise von den Gerüchten über sie abwich, war er nicht gewillt, sich von ihren großen Augen und der Unschuldsmiene täuschen zu lassen.

„Lassen Sie mich mal“, schlug er gewandt vor, als er ihr das Gebinde abnahm. Ihre Jugend und ihr unschuldiges Aussehen mussten für einen älteren, aber noch vitalen Mann zweifellos anziehend gewesen sein. Callum lächelte sie wider Willen strahlend an, obwohl seine Interessen durch sie zumindest verletzt waren. Sie wusste ihre Vorzüge gut einzusetzen.

Seine Familie und Freunde wären fassungslos gewesen, wenn sie gesehen hätten, wie impulsiv er sich auf dieses bizarre Blind Date einließ. Callum Stewart war für sein kühles, logisches Denken bekannt. Er rechtfertigte sein ungewöhnliches Verhalten damit, dass er mehr über die junge Frau herausfinden konnte, solange sie ihn für harmlos hielt.

Georgina lutschte an ihrem blutenden Daumen, während er ihr die Orchideen an das Kostümoberteil heftete. Es war ein Oberteil, das gewöhnlich ohne Bluse getragen wurde. Während der hintere Ausschnitt dezent war, ließ der tiefe V-Ausschnitt ihr Dekolleté erahnen.

„Nun, das wäre erledigt.“ Er trat zurück, und Georgina spürte seinen warmen Atem auf ihrer Wange.

Einen Begleiter für diesen Tag zu mieten erschien ihr plötzlich als unsinnige Idee. Callum Smith war einfach nicht der gewünschte Typ Mann, er war nicht zahm genug. Unter dem gut geschnittenen Anzug verbarg sich ein beeindruckend kräftiger Körper, der in der kleinbürgerlichen Umgebung völlig fehl am Platz wirkte. Sein markantes Gesicht war keineswegs hübsch, aber sehr attraktiv.

Georgina riss sich von ihren schwärmerischen Betrachtungen los. Was für ein Unsinn! Seine Bräune verdankte er wahrscheinlich nur einem überlangen Besuch im Solarium und seine eindrucksvolle Figur den regelmäßigen Besuchen in einem Fitness-Studio.

Sie musste für diesen Tag mit ihm vorliebnehmen. Selbst wenn seine ungezügelte Männlichkeit auch für diese begrenzte Zeitspanne schwer zu ertragen war. Für gewöhnlich bevorzugte sie Männer, die anpassungsfähiger waren.

Allerdings hatte sie im Moment nun mal keinen Mann. Sie ignorierte den Kloß in ihrer Kehle, der sich beim Gedanken an ihr Single-Dasein bildete.

„Ich nehme nicht an, dass Sie einen Wagen besitzen. Wir werden also mein Auto benutzen“, ordnete sie an. „Lassen Sie uns aufbrechen.“

„Wohin fahren wir denn?“

Sie sah ihn erschöpft an. „Zur Hochzeit meiner Cousine in Somerset. Hat die Agentur Ihnen denn gar keine Informationen mitgegeben?“ Erneut kamen ihr Zweifel an dem Vorhaben. Dabei hatte Beas Vorschlag, einen Mann für einen Tag zu mieten, so überzeugend geklungen.

„Erzählen Sie mir lieber noch einmal die Details“, schlug ihr Begleiter vor, während sie die Eingangstreppe hinabstiegen.

„Das ist wohl empfehlenswert“, pflichtete Georgina ihm bei. Ihr zerbeulter Käfer stand auf dem Gemeinschaftsparkplatz. Sie nahm vor dem Einsteigen ihren Hut ab und deponierte ihn vorsichtig auf dem Rücksitz. „Die Tür ist offen“, meinte sie zu Callum, der ihr unverblümt auf die langen, glänzenden Haare starrte.

Georgina sah ihm amüsiert dabei zu, wie er seine lange Gestalt auf dem Beifahrersitz unterbrachte.

„Geht diese blöde Tür denn nicht richtig zu?“, fragte er, als es ihm endlich gelungen war, Platz zu nehmen. „Kein Wunder, dass Sie das Auto nicht abschließen. Diese Schrottkarre würde kein normaler Mensch klauen.“

„Die Tür ist irgendwie verklemmt. Vielleicht schnallen Sie sich besser an. Ich möchte nicht Ihr Genick auf dem Gewissen haben.“

„Wenn ich weit mit diesem Fahrzeug fahren muss, werden Sie mehr auf dem Gewissen haben als nur mein Genick. Können wir denn kein Taxi nehmen?“

Sie lachte, während sie den Motor startete. „Bis nach Somerset? Ich besitze leider kein Vermögen. Aber keine Sorge“, fügte sie hinzu, um ihn zu beruhigen. „Ihr Honorar kann ich bezahlen.“

„Da bin ich aber erleichtert“, bemerkte er trocken. „Ich könnte das Steuern übernehmen“, fügte er nervös hinzu, als Georgina temperamentvoll anfuhr.

„Ich hätte nicht gedacht, dass Sie sich bei Ihrer Arbeit Chauvinismus leisten können“, entgegnete sie auf seine Kritik an ihrer Fahrweise. „Aber bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Das ist nicht abschätzig gegenüber Ihrer Arbeit gemeint.“

Sie wollte nicht herablassend klingen. Es war zurzeit schwer, eine Arbeit zu finden. Vielleicht hatte der Mann familiäre Verpflichtungen, oder er war arbeitslos. „Haben Sie die Agentur schon oft genutzt?“, fragte er beiläufig.

„Noch nie. Aber meine Freundin Bea ist Stammkundin. Viele Frauen sind zu beschäftigt, um eine Beziehung zu haben, aber gewisse gesellschaftliche Anlässe können ohne einen männlichen Begleiter anstrengend sein.“ Sie warf ihm einen strengen Blick zu, um jeden Widerspruch zu unterbinden.

Callum studierte sie von der Seite, woraufhin sie sich wieder auf die Straße konzentrierte. Seine intensive Musterung verwirrte sie.

„Das mag schon sein, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie die Dienste der Agentur noch lange in Anspruch nehmen müssen. Sie sind eine sehr attraktive Lady.“

Georgina knirschte mit den Zähnen. „Sie haben ein Talent für Komplimente, die nicht ehrlich gemeint sind“, zischte sie. „Ich brauche aber lediglich einen höflichen Begleiter, mit dem man sich sehen lassen kann. Damit das ganz klar ist.“

„Entschuldigung.“ Er hatte attraktivere Frauen gesehen und wirklich schöne Frauen gekannt, von denen er sofort angezogen gewesen war, doch noch niemals hatte er ein solch unmittelbares Verlangen verspürt, eine Frau zu berühren und kennenzulernen.

Ein sehr kurzer Augenkontakt hatte diese Reaktion bei ihm ausgelöst. Seine Bauchmuskeln zogen sich bei der Erinnerung an diesen flüchtigen Moment noch immer zusammen. Doch sein Gehirn fing wieder mit der üblichen Klarheit zu arbeiten an. Callum hatte allen Grund, seine Hormone in Schach zu halten.

Georgina seufzte ungläubig. Sie musste von Anfang an klarstellen, dass sie es nicht so nötig hatte, sich einen Mann wegen der Komplimente zu mieten.

„Wie heißt eigentlich Ihre Cousine? Ich sollte ein paar Hintergrundinformationen haben, um meine Rolle besser spielen zu können“, argumentierte er.

„Meine Cousine Harriet heiratet einen gewissen Alex Taylor, der mich vor achtzehn Monaten verlassen hat, was Ihnen zweifellos noch zu Ohren kommen wird.“ Sie schob an der Kreuzung krachend einen niedrigeren Gang ein. „Deshalb benötige ich einen höflichen Begleiter. Sie dienen dazu, mein Gesicht zu wahren, Mr. Smith“, erklärte sie ihm offen. Ihr war nun gleichgültig, was Callum Smith von ihr hielt. Und sie war erleichtert, sich einmal nicht verstellen zu müssen.

„Sie hätten Schwierigkeiten wegen der mitleidigen Blicke und des Getuschels?“ Er gratulierte sich zu seinem Instinkt. Sie schien ihm gegenüber ganz offen zu sein. Wenn sie gewusst hätte, wer er wirklich war, hätte er sicher ein anderes Bild von ihr zu Gesicht bekommen.

„Genau“, erwiderte sie erleichtert über seine schnelle Auffassungsgabe. „Sie haben wahrscheinlich schon ähnliche Situationen erlebt.“

„Keine, die genau so war“, bemerkte er wahrheitsgemäß. „Aber ich bin anpassungsfähig“, fügte er auf ihren alarmierten Blick hin mit fast gelangweiltem Selbstvertrauen hinzu.

„Ich hoffe es“, meinte sie inbrünstig.

„Hätte Ihnen heute denn kein Freund aushelfen können?“

„Wollen Sie damit sagen, dass ich keine Freunde habe?“

„Das haben Sie gesagt.“

Georgina sah ihn wütend an. „Ich stamme aus einem kleinen Dorf, in dem die Hochzeit meiner Cousine für ein paar Stunden Unterhaltung sorgen wird. Ich möchte keinen meiner Freunde dem Klatsch aussetzen. Ich brauche jemanden, der hinterher spurlos verschwindet. Jemanden, der vorzeigbar ist, der aber auch …“

„Vergessen wird?“

Sie nickte widerstrebend. „Sie werden leider auffallen“, beklagte sie sich.

„Wieso?“, fragte er interessiert.

„Wir hatten in diesem Sommer nur Regen. Sie sind zu braun“, kritisierte sie ihn, obwohl er auch ohne Bräune sehr auffallend gewesen wäre. Sie wollte sein Ego nicht noch mehr stärken. Er wusste ohnehin, was sie meinte. Unter normalen Umständen sah man einen solchen Mann nicht mit einer so gewöhnlichen Frau, wie sie es war. „Dabei ist das Solarium doch schlecht für die Haut!“, munkelte sie düster.

„Ihre Fürsorge in allen Ehren. Ich habe mich allerdings nicht in einem Solarium aufgehalten, sondern ich habe vielmehr im Freien gearbeitet.“

„Als Arbeiter?“ Das würde auch seinen ausgezeichneten körperlichen Zustand erklären.

„Keine Sorge, so schlicht bin ich nicht gestrickt.“

Sein abschätziger Ton machte sie wütend. „Es ist mir egal, ob Sie ein Wanderarbeiter oder ein Gehirnchirurg sind, solange Sie Ihren Job bei mir gut erledigen.“

„Danke, jetzt fühle ich mich schon besser.“

„Zum Glück tut das wenigstens einer von uns“, erwiderte sie grimmig. Sie hatte von dem widerspenstigen Callum Smith wirklich genug. Dabei hatte der Tag erst begonnen!

2. KAPITEL

In der Dorfkirche, in der ihre Cousine jetzt heiratete, hatte auch Georgina Alex ihr Jawort geben wollen. Aber das war Vergangenheit. Verzweifelt versuchte sie, die aufkommende Beklemmung zu ignorieren.

Noch ganz in Gedanken, erschrak sie, als Callum die Wagentür für sie öffnete.

„Danke, Mr. Smith.“ Sie übersah seine galant angebotene Hand geflissentlich.

„Vielleicht sollten wir uns von nun an lieber duzen“, meinte er trocken. „Sonst nimmt uns ja keiner die kleine Scharade ab.“ Er lächelte ihr zu. „Vergiss deinen Hut nicht, Darling.“

Mit einem Blick hatte er ihre Anspannung bemerkt. Georgina verbarg sie zwar gut, aber der harte Zug um ihren Mund und die Starrheit ihrer sonst so beweglichen Züge verrieten die innere Aufgewühltheit. Es fiel ihm schwer, die Augen von ihren halb geöffneten Lippen wieder abzuwenden.

Verwirrt griff Georgina nach dem Hut und steckte die Haare unter die Krempe. „Wie sehe ich aus?“

„Du hast etwas vergessen.“ Verschmitzt griff er nach einer Strähne, die sich über ihren Nacken ringelte, und schob auch sie unter den Hut. Dabei dachte er daran, dass man sie ihm gegenüber abschätzig als ‚Miss Effizienz‘ bezeichnet hatte. Im Augenblick wirkte sie dagegen sehr jung und entsetzlich verletzlich. War es das, was seinen Onkel so angezogen hatte?

Georgina erschauerte bei der zarten Berührung. Sie musste zugeben, dass sie ihr nicht unangenehm war, sondern vielmehr eine wundervolle Ablenkung von der bevorstehenden Tortur darstellte.

Callum lächelte ihr spöttisch zu. „Charmant. Der Bräutigam wird sicher von Reue gepackt.“

„Das ist mir wirklich völlig gleichgültig“, gab sie arrogant zurück.

„So, so …“ Dieses Mal trat sein Spott noch offensichtlicher zutage. Sie hatte jedoch keine Zeit, ihn zurechtzuweisen, da er sie plötzlich an sich zog.

„Was zum Teufel soll das?“

„Achtung! Hochzeitsgäste im Anmarsch“, zischte er ihr ins Ohr. Seine Nähe ließ sie aus unerfindlichen Gründen erzittern.

Verwirrt blickte sie ihn an. Die dunklen, dichten Wimpern waren auffällig lang. Seine bemerkenswerten Augen ließen ihn zugleich intelligent und humorvoll wirken. Im Grunde der azurblauen Tiefe bemerkte Georgina allerdings eine gewisse Verbitterung. Er war nicht nur physisch eine eindrucksvolle Person, sondern selbst bei einer so flüchtigen Begegnung erweckte er den Eindruck von großer intellektueller Stärke.

Georgina überlegte gerade, aus welchem Grund er wohl bei einem Begleitservice arbeitete, als eine bekannte Stimme sie aus ihren Gedanken aufschreckte.

„Hallo, Georgina, bist du es wirklich? Ich habe dich gar nicht wiedererkannt. Du etwa, Henri? Wir haben eben über dich gesprochen. Das ist wirklich tapfer von dir.“

Sie biss sich auf die Lippen, nickte dennoch zustimmend und scheinbar ungerührt zu dem banalen Gerede ihrer Tante. „Tante Helen, Onkel Henri“, stellte sie die beiden ruhig vor. Dass Callum ihr den Arm um die Taille gelegt hatte, war ihr plötzlich sehr willkommen. „Und das ist Callum“, sagte sie triumphierend. Sie kam sich vor wie ein Zauberer, der ein Kaninchen aus seinem Hut zieht. Obwohl ihr Begleiter eher einer großen, schlanken Raubkatze glich als einem Hasen.

„Es freut mich, endlich ein paar von Georginas Verwandten kennenzulernen“, erwiderte Callum. Er drückte ihrem Onkel so fest die Hand, dass dieser leise aufstöhnte. Ihre Tante dagegen errötete bei seinem Kuss wie ein Teenager. „Nette Kirche“, erklärte er mit Blick auf das kantige Gebäude aus Stein. „Normannisch, nicht wahr?“

Liebevoll zog er Georgina an sich und flüsterte ihr zu: „Waren das die Eltern der Braut?“

„Ja.“ Georgina versuchte, möglichst beiläufig zu klingen. Doch noch immer konnte sie ihrer Cousine nicht verzeihen. Harriet hatte nur auf eine Gelegenheit gewartet, um ihr Alex auszuspannen. Georgina hatte schon immer geahnt, dass ihre Cousine hinter ihm her war. Dass jedoch ihr unerschütterlicher Glaube an die Treue durch Harriet erschüttert worden war, kränkte Georgina zutiefst, gerade weil sie sonst nicht so naiv war.

Aber egal. Es war an der Zeit, die alte Geschichte zu vergessen, und sie versuchte, ihre aufsteigende Wut zu ignorieren.

Callum hielt für sie und das ältere Paar die Tür zum überdachten Kirchengang auf. „Lächeln“, zischte er Georgina ins Ohr, während sie den beiden Hand in Hand folgten. „Du siehst aus wie auf dem Weg zum Schafott.“

Georgina warf ihm einen wütenden Blick zu. „Mr. Smith, Sie sind dazu da, um mich zu unterstützen“, stieß sie hervor. Als Dienstleister hatte er kein Recht zu persönlichen Bemerkungen.

Er blieb stehen. „Ich heiße Callum. Und du hattest dir ausdrücklich falsche Komplimente verbeten.“

„Auf Beleidigungen bin ich aber genauso wenig erpicht.“

„Ich muss auf meinen professionellen Ruf achten“, entgegnete er ernst. „Ein wenig Entgegenkommen deinerseits wäre also nett. Es sei denn, du findest Gefallen an der Rolle einer frühchristlichen Märtyrerin.“

Sie biss sich auf die Lippen. Natürlich hatte er recht. Um ihr angeknackstes Selbstwertgefühl zu retten, musste sie ihre Rolle spielen. „Ich bin keine professionelle Schauspielerin“, wandte sie ein. „Es ist ungewohnt für mich, mit einem vollkommen Fremden so umzugehen.“

„Es ist doch ganz einfach. Wir sind ein verliebtes Paar.“ Zärtlich und zugleich ganz vertraut küsste er sie auf den Mund. „Ich dachte, dass alle Frauen diese Rolle spielen können.“

„Die Frauen, die du kennst, sicherlich“, erwiderte sie kühl. „Würdest du bitte diese Art der authentischen Darstellung auf ein Minimum beschränken?“ Sie lächelte dem Platzanweiser zu, den sie seit ihrer Schulzeit kannte.

„Georgie?“, fragte er ungläubig. „Braut oder Bräutigam? Dumme Frage, du wirst kaum vom Bräutigam eingeladen worden sein“, fügte er verwirrt hinzu. Er tat Georgina beinahe leid.

„Wir werden uns selbst einen Platz suchen. Danke, Jim“, erwiderte sie unbekümmert im Weitergehen. „Dort ist meine Mutter“, flüsterte sie ihrem Begleiter zu, als die gedämpfte, kirchliche Atmosphäre des alten Gebäudes sie umfing. Sie wies mit einem Nicken in Richtung der vorderen Kirchenbänke.

„Die Dame mit dem pinkfarbenen Hut?“, fragte Callum leise.

Georgina nickte. „Unsere Kleider werden fürchterlich nebeneinander aussehen. Sie wird wütend sein“, fügte sie schmunzelnd hinzu. „Ich hätte mir denken können, dass sie Pink trägt.“

„Georgie, wie konntest du mit deinen Haaren ausgerechnet dieses Kostüm auswählen?“ Lydia Campion war eine schöne Frau, deren harte Züge im Laufe der Jahre weicher geworden waren. Wie immer sah sie erstaunlich elegant aus. Georgina wusste, dass sie selbst weder diese Kopfhaltung noch den weich fallenden Seidenschal je so brillant hinbekommen würde. Für ihre Mutter jedoch war Eleganz so natürlich wie das Atmen. Georgina dagegen musste sich stundenlang darum bemühen, und selbst dann gelang ihr nur annähernd ein solches Ergebnis.

Sie warf Callum einen vielsagenden Blick zu, bevor sie auf der Bank Platz nahm.

„Mrs. Campion, ich übernehme die volle Verantwortung. Georgina hat sich mir zuliebe so angezogen.“

Lydias erschrockener Blick, als Callum ihr mit seinem umwerfenden Charme die Hand reichte, brachte Georgina beinahe zum Lachen. Weder ihre Mutter noch ihre Bekannten hätten die gute alte Georgie in der Gesellschaft eines solchen Mannes erwartet. Zum ersten Mal war sie froh darüber, diesen Begleiter engagiert zu haben.

„Er ist farbenblind“, merkte Georgina mit einem leisen Zittern in der Stimme an.

Ihre Mutter schien wegen dieser mutwilligen Bemerkung verstimmt. „Wer ist das, Georgina? Und was sind das für Manieren?“

„Das ist Callum Sm…“

„Ich bin erfreut, Sie kennenzulernen, Mrs. Campion.“

„Bitte nennen Sie mich Lydia. Sind Sie ein Freund meiner Tochter?“

„Nun, ich würde sagen, etwas mehr als ein Freund. Nicht wahr, Darling?“ Callum sah Georgina mit gespielter Zuneigung an. Sein zärtlicher Tonfall deutete auf eine enge Vertrautheit hin. Selbst Georgina errötete bei seiner überzeugenden Vorstellung.

In diesem Moment erhob sich eine Gestalt von einer der gegenüberliegenden Kirchenbänke. Wie magnetisch wurde Georginas Blick von ihr angezogen, und sie spürte, wie sich ihr Nacken verspannte.

Trotz dieser heftigen Reaktion auf das Auftauchen ihres Exverlobten spürte sie deutlich die sinnliche Ausstrahlung des Mannes an ihrer Seite. Hatte Alex jemals solche Reaktionen in ihr ausgelöst?

Ihr Exverlobter war ein extrem gut aussehender junger Mann. Groß und athletisch. Seine Züge waren gleichmäßig, und sein Gesicht wirkte ehrlich und offen. Das natürlich blonde Haar war ausgezeichnet frisiert.

Plötzlich erfasste Georgina die Bitterkeit des Verlusts mit ganzer Wucht. Als Alex einfach durch sie hindurchsah, schwankte sie zwischen Erleichterung und Niedergeschmettertheit. Das elegante Äußere, das sie sich zugelegt hatte, tat offensichtlich seine Wirkung. Aber leider verbarg sich unter der teuren Kleidung und dem Make-up immer noch das einfache Mädchen von damals.

Sie erschrak, als Callum sanft ihr Kinn umfasste und sie zwang, ihn anzusehen. „Ich kann es nicht leiden, wenn eine Frau in meiner Begleitung einen anderen Mann mit offenem Mund anstarrt.“ Georgina zuckte bei seinen leise geflüsterten Worten zusammen. Sein Gesicht war dem ihren so nahe, dass der Wortwechsel wie das Geplänkel eines Liebespaares aussehen musste.

„Was soll das?“, zischte sie. Der Mann war atemberaubend arrogant. „Solange ich bezahle, kann ich mich benehmen, wie ich will.“ Sie fühlte sich gekränkt, weil er sie bei ihrem unwillkürlichen Verhalten ertappt hatte.

„Dein Geld ist allerdings verschwendet, wenn du dir so offensichtlich deine Gefühle anmerken lässt. Wieso soll ich meine Zeit und Mühe auf die Darstellung eines Liebhabers verwenden, wenn du nicht mitspielst?“

„Dafür bezahle ich dich aber“, erwiderte sie ärgerlich. „Reg dich also ab. Was bist du überhaupt von Beruf? Ein Schauspieler ohne Engagement? Hier bietest du jedenfalls bislang nicht das Gewünschte. Ich brauche einen Begleiter und keinen Freund, spare dir also deine Tipps. Sonst machst du uns beide noch zu Narren.“

„Wenn der da“, meinte Callum mit einem Nicken in Richtung des Bräutigams, „nach deinem Geschmack ist, kann ich verstehen, dass ich nicht den gewünschten Vorstellungen entspreche. Vielleicht solltest du es lieber einmal mit einer Schaufensterpuppe probieren?“

„Wie kannst du es wagen?“

„Wieso? Du hast mir wiederholt gesagt, dass du mit mir nicht zufrieden bist. Wiederholungen sollen übrigens ein Zeichen für einen beschränkten Intellekt sein.“

„Sind bei der Agentur viele Intelligenzbestien beschäftigt?“, entgegnete sie sarkastisch.

„Eine für jeden versnobten Kunden.“

Georgina bemühte sich, nicht weiter über seine spitzen Bemerkungen nachzudenken. Schließlich würde sie nach diesem Tag nichts mehr mit ihm zu tun haben müssen. Allerdings hatte er recht. Sie musste sich zusammenreißen, wenn sie die Leute davon überzeugen wollte, dass sie ein zufriedenes Leben führte.

Und eigentlich tat sie das auch. Sie schluckte. Ihre Arbeit in der Werbeagentur hatte ihr bis jetzt immer viel Freude bereitet. Traurig dachte sie an den Mann, der bis vor Kurzem ihr Chef gewesen war. Oliver Mallory hatte die Firma zu einer der sechs besten Werbeagenturen des Landes gemacht. Sie war sein Schützling gewesen und er wie ein Freund für sie. Oliver hatte die Agentur aus dem Nichts aufgebaut, aber nun war er tot. Der Verlust schmerzte sie, und zwar nicht nur, weil ihre berufliche Zukunft nun ungewiss war.

Georgina hatte alles, was sie sich wünschen konnte. Einen Job, eine eigene Wohnung, gute Freunde, finanzielle Unabhängigkeit und Freiheit. Doch ihre Freunde und Verwandten hätten sie heute ohne einen Mann an ihrer Seite lediglich als eine verlassene Frau betrachtet. Sie war jedoch der Meinung, dass eine Frau nicht unbedingt einen Partner brauchte. Das hässliche Ende ihrer einzigen Liebesbeziehung war so schmerzhaft gewesen, dass sie sich nie mehr auf eine solche Erfahrung einlassen wollte.

„Würde es dir etwas ausmachen, mich loszulassen?“, flüsterte sie.

Er war ihr immer noch gefährlich nahe und strich ihr nun zärtlich über die Wange. Auch sein eng an sie gepresster Oberschenkel machte sie etwas nervös.

Plötzlich ertönten die bekannten Klänge des Hochzeitsmarsches. Mit klopfendem Herzen machte Georgina sich von Callum los und versuchte, sich davon zu überzeugen, dass er nichts mit dem Adrenalinschub zu tun hatte, der ihr Herz heftig pochen ließ.

Die Braut sah wunderhübsch aus. Ihre Antworten waren laut und deutlich zu vernehmen. Der Bräutigam dagegen klang seltsam unsicher. Georgina wartete auf ein Gefühl der Demütigung, doch seltsamerweise konnte sie der gesamten Zeremonie so unbeteiligt zusehen wie die Zuschauerin in einem Theaterstück.

Draußen tat die Sonne ihre Pflicht. Die Gäste drängten sich zu den Gruppenfotos zusammen. Georgina beobachtete zynisch das angeregte Gespräch ihrer Mutter mit einem ihr unbekannten gut aussehenden Mann. Zugleich erwiderte sie fröhlich die Grüße von Bekannten, die ihren hochgewachsenen Begleiter neugierig musterten. Manche schienen sogar neidisch zu sein, was Georgina amüsierte.

„Wieso hat der Dummkopf dich überhaupt verlassen?“

„Das ist eine unhöfliche Frage!“

Callum blickte sie spöttisch an. „Ich konnte Selbstmitleid noch nie leiden.“

„Kannst du eigentlich jemals deine Meinung für dich behalten?“

„Wieso? Ich lege doch nur freundschaftliches Interesse an den Tag.“

„Es geht hier eher um schlüpfrige Details.“

„Ich wollte nur ein wenig plaudern, aber nun hast du tatsächlich mein Interesse geweckt.“ Ein freches Lächeln begleitete die humorige Bemerkung.

„Ich bin wegen eines Betriebswirtschaftskurses nach London gegangen. Damals waren wir noch nicht verlobt oder so etwas Ähnliches“, fügte Georgina mit einem vagen Lächeln hinzu.

„Aber alle haben auf die Hochzeit gewartet“, erriet er.

Sie konnte mit seinem gleichgültigen Zynismus besser umgehen als mit dem verständnisvollen Mitgefühl, mit dem sie damals überschüttet worden war. „Es gab eine Abmachung“, pflichtete sie ihm bei. Sie sah sich um, ob jemand der Gäste in Hörweite war.

Da sie nicht so viel Geld hatten, hatte sie zugestimmt, als Alex einen Ring für einen verzichtbaren Luxus erklärte. Nur Harriet hatte in kürzester Zeit einen wertvollen Diamanten an ihrem Finger, dachte Georgina. Wahrscheinlich hatte Alex dafür sein schnittiges Sportcoupé in seine jetzige, bescheidenere Limousine eintauschen müssen. Aber seine neue Liebe war ihm dieses Opfer wohl wert gewesen.

„Gab es Streit? Oder hattest du dich bereits anderweitig orientiert?“, wollte Callum wissen, der dabei an ihre Beziehung zu seinem Onkel dachte. Georgina verzog den Mund.

Was für sinnliche Lippen sie hat, dachte Callum und fragte sich, ob Georgina ihre Karriere einer leidenschaftlichen Liebesbeziehung zu seinem Onkel verdankte.

„Kein Mann hat verdient, dass man um ihn kämpft“, erklärte sie mit Nachdruck.

Callum ergriff ihren Arm und dirigierte sie an den hübschen Brautjungfern vorbei. „Das klingt wie eine Ausrede.“

„Nein, es trifft den Nagel auf den Kopf.“ Sie tat so, als ob sie seinen um ihre Taille gelegten Arm gar nicht wahrnehmen würde.

„Obwohl du dir erst ein Mal den Finger verbrannt hast, bist du so misstrauisch?“, fragte er ungläubig. „Oder verschweigst du mir deine bewegte Vergangenheit?“

„Ich weiß, dass du dich langweilst“, entgegnete sie mit unterdrückter Wut. „Aber ich werde dir den Nachmittag nicht mit gepfefferten Skandalgeschichten verkürzen. Jeden Moment wird meine Mutter dich entdecken und dir den letzten Nerv rauben“, warnte sie ihn.

Es war seltsam, zu ihrem Begleiter hochsehen zu müssen. Alex war kaum größer als sie gewesen. Wie es wohl sein mochte, von diesem Mann geküsst zu werden? Georgina schluckte und senkte die Augen, um den frivolen Gedanken abzuschütteln.

„Im Augenblick scheint sie beschäftigt zu sein“, meinte Callum.

„Das war vorauszusehen.“ Georginas Mutter lachte im angeregten Gespräch leise auf. Es war ein raues Lachen, das Georgina auf die Nerven ging.

„Sehe ich etwa Zeichen der Kritik? Du solltest aus dem Alter heraus sein, wo man Eltern als geschlechtslose Wesen betrachtet. Dein Vater lebt wohl nicht mehr?“

Geschickt befreite sie sich aus seiner Umarmung. „Nur zu deiner Information, mein Vater war zumindest seit meiner Geburt nie für uns da. Er hat meine Mutter verlassen, weil er sich nicht binden konnte“, stieß sie höhnisch hervor. „Aber sie gibt nie auf. Ohne einen Mann ist ihr Leben unvollständig. Bei einer Veranstaltung wie dieser gibt es dann Kommentare der Art, dass Mutter und Tochter offensichtlich ihre Männer nicht an sich binden können …“ Atemlos beendete sie ihren kurzen Monolog.

Callum beunruhigte ihre unverhohlene Traurigkeit. Doch er würde sich nicht von seinen Nachforschungen abbringen lassen. „Geht es dir nicht gut?“, fragte er. Obwohl er nicht besorgt klingen wollte, befürchtete er angesichts ihrer plötzlichen Blässe das Schlimmste.

Ihr Lächeln verblüffte ihn. Es war voller Selbstironie und unbeabsichtigt charmant. „Mir ist gerade wirklich etwas flau im Magen“, gestand sie. „Aber keine Sorge, es geht schon vorüber. Ich wäre dir dankbar, wenn du vergessen würdest, was ich eben gesagt habe.“

Er sah ihr direkt in die grünen Augen. „Es liegt an Ihnen, das Gespräch zu beenden, Lady“, meinte er ruhig. Er deutete mit der Hand ein Salutieren an.

„Das hört sich schon wieder nach einem Urteil an. Vielleicht hast du den falschen Beruf ergriffen. Mir war ein charmanter, entspannender Begleiter versprochen worden. Stattdessen haben sie mir den Großinquisitor geschickt.“

„Du kannst dich jederzeit beschweren, wenn du nicht mit mir zufrieden bist. Ich werde dann wahrscheinlich meinen Job verlieren.“ Er seufzte stoisch. „Aber lass dich nicht davon abhalten. Der Kunde ist König. In unserer Konsumgesellschaft gibt es keinen Platz für Gefühle.“

Sie musste lächeln. „Versuche einfach, nett auszusehen, und rede nicht so viel“, riet sie ihm.

„Sexistin“, beschwerte er sich, als sie zu einem Gruppenfoto geholt wurden.

Georgina hatte nicht damit gerechnet, dem Tisch des Brautpaars zugeteilt zu sein. Aber diese Taktlosigkeit war typisch für Harriet. Selbst bei einem Sieg konnte sie nicht generös sein, sondern musste sogar dann noch Salz in offene Wunden streuen. Immerhin konnte Georgina, wenn sie sich ganz auf ihrem Stuhl zurücklehnte, hinter Callums eindrucksvollem Oberkörper verborgen, dem Anblick des glücklichen Hochzeitspaares entgehen. Die Stimmen waren allerdings nicht so leicht zu überhören.

Es war vergeblich gewesen, Callum zum Schweigen aufzufordern. Seit zehn Minuten war er in eine angeregte Unterhaltung mit ihrem Onkel Henri vertieft. Sie konnte nur einzelne Wörter aus dem Finanzbereich vernehmen. Ihr Onkel konnte von seiner Arbeit als Finanzberater gut leben. Er würde bald merken, dass Callum keine Ahnung von diesem Thema hatte, selbst wenn er gut schauspielerte.

Beunruhigt stocherte Georgina an ihrem Fisch herum und trank den Wein schneller, als es ihrem leeren Magen bekam.

Callum bemerkte ihren besorgten Seitenblick, zwinkerte ihr zu, hielt aber in seinen Ausführungen nicht inne.

Wütend ließ sie sich von einem Kellner erneut das Glas füllen und leerte es, ohne dem teuren Jahrgang Beachtung zu schenken. Für ihren Begleiter war diese Hochzeit nichts als ein großer Spaß.

Als Harriet laut auflachte, überfiel Georgina plötzlich Selbstmitleid. „Callum, Darling“, schnurrte sie. Sie krallte sich an seiner Hand fest, die auf der Tischdecke aus Damast lag. „Du hast mir doch versprochen, nicht über das Geschäft zu sprechen“, fügte sie mit einem drohenden Blick hinzu.

Lächelnd führte er ihre Hand an seine Lippen. Es war eine Geste, die eher erotisch als höflich wirkte.

Sein spöttischer Blick fesselte sie. Auch er musste die Hitze spüren, die von ihr Besitz ergriffen hatte. Sie war allzu empfänglich für die unverhohlene Sinnlichkeit dieses Mannes, und der Wein trug sicher seinen Teil zu ihrer ungehemmten Reaktion bei.

„Fühlst du dich vernachlässigt, mein Engel?“ Er war sich ihrer Hilflosigkeit nur zu gut bewusst. „Das geht natürlich nicht“, flüsterte er und hauchte ihr erneut einen Kuss auf die Hand.

Am liebsten wäre sie im Boden versunken. Verlegen rutschte sie auf ihrem Stuhl zurück.

Onkel Henri musterte Callum verständnisvoll. „Entschuldigung, meine liebe Georgie. Du hast einen vernünftigen Mann mitgebracht“, meinte er.

Dieses unerwartete Lob verschlug Georgina die Sprache. Ihr Onkel teilte nicht leichtherzig Komplimente aus. „Du warst schon immer ein guter Menschenkenner, Onkel Henri“, entgegnete sie trocken. Der Mann, den sie hatte heiraten wollen, war nur wenige Zentimeter von ihr entfernt, und sie reagierte auf eine ganz primitive Weise auf einen Fremden. Moralisch war dies eine Katastrophe, und, was schlimmer war, sie konnte ihre Gefühle nicht einmal verbergen.

„Wirst du dich wohl benehmen?“, zischte sie Callum zu und entzog ihm unauffällig ihre Hand.

„Hast du an etwas Bestimmtes gedacht?“, fragte er interessiert. Er seufzte, als erneut Harriets übertriebenes Lachen erklang. „Du solltest Alex lieber bemitleiden. Er muss für den Rest seines Lebens mit diesem Lachen leben. Wenn die Sache überhaupt so lange hält.“

„Ich wünsche den beiden das Beste“, konterte sie steif.

„Du kleine Scheinheilige“, erwiderte er zynisch. „Und das soll ich dir glauben?“

Wie recht er doch hatte. Sie hatte sich die Szene zu oft vorgestellt, wie Alex zurückkehren und sie um Verzeihung bitten würde, um Callum nun direkt in die Augen sehen zu können. „Ein für alle Mal: Ich will Alex nicht eifersüchtig machen. Verstanden? Mit dir würde es mir sowieso nicht gelingen.“

„Du lässt mich im Vergleich mit diesem Kerl schlecht abschneiden?“, erwiderte er mit bissiger Ironie und einem scharfen Blick in Richtung des Bräutigams.

„Du hast ein gesundes Selbstvertrauen.“

„Als ich mich zum letzten Mal darum gekümmert habe, war es in Ordnung“, pflichtete er ihr bei.

„Ich würde gern mit einer großen Nadel ein wenig Luft aus deinem Ego ablassen“, murmelte sie.

„So, so. Und deine Nase ist von Natur aus dazu geschaffen, hoch in der Luft getragen zu werden, Sweetheart.“

„Ich bin mir meiner körperlichen Unzulänglichkeiten bestens bewusst. Schönen Dank!“, erwiderte sie schroff. Das musste sie bei ihrer Mutter auch sein, die eine anerkannte Schönheit war. Georgina fand ihre Nase in Ordnung, doch ihr Mund war zu groß. Sie seufzte leise. Menschen, die ausschließlich mit ihrem Äußeren beschäftigt waren, mangelte es oft an Persönlichkeit.

„Meiner Meinung nach ist deine Nase keine Unzulänglichkeit. Sie sieht süß aus.“ Er schien es ehrlich zu meinen. „Schau mal, warum vergessen wir nicht einfach den gemeinen Kerl, der dich beleidigt hat, und genießen das gute Essen? Der Wein könnte besser sein, aber es ist reichlich da, und ich werde dir Rückendeckung geben. Also sei fröhlich, iss, trinke und tanze ein wenig. Genieße die charmante Gesellschaft, für die du bezahlt hast.“

„Charmant?“ Sie konnte ein Lächeln nicht unterdrücken.

„Ich muss auf meinen Ruf achten“, erwiderte er ernst. „Ist das ein fairer Handel?“

Sein Lächeln war unwiderstehlich, daher hob sie tapfer ihr Glas und prostete ihm zu.

3. KAPITEL

„Georgie, er ist wirklich eine Wucht. Wo hast du ihn nur gefunden?“

„In den Gelben Seiten, Alice“, erklärte sie ihrer staunenden Schulfreundin mit einem Lachen. Callum tanzte mit der Braut und schien sich dabei blendend zu amüsieren.

„Früher warst du nicht so geheimniskrämerisch“, beschwerte sich Alice, ohne die Tanzfläche aus den Augen zu lassen. „Du siehst auch anders aus.“ Kritisch musterte sie die schlanke Figur ihrer Freundin.

Georgina hörte ihr kaum zu. Callum war zwar ziemlich von sich eingenommen, aber er hatte auch allen Grund dazu. Sein Charme und die Fähigkeit, die Leute zum Zuhören zu bringen, schienen ihn für einen besseren Job zu prädestinieren. Aber sie konnte ihn dennoch keinem Beruf oder gesellschaftlichen Schicht zuordnen.

Er blieb ihr ein Rätsel. Er hatte Wort gehalten und sie bis zum Ende des Menüs blendend amüsiert. Dabei hatte er eine Menge über ihr Leben, ihre Arbeit und ihre Freunde erfahren, ohne etwas über sich selbst zu erzählen. Sie fragte sich, wieso er so geheimnisvoll tat.

Georgina zwang sich, nicht wegzusehen, als er überraschend zu ihr herübersah. Sein direkter Blick enthielt eine Frage oder Aufforderung, die sich in ein heftiges Verlangen verwandelte, als sich ihre Blicke trafen.

Noch nie war sie von einem Mann so ungehemmt gemustert worden. Sie hatte auch noch nie so starke und widersprüchliche Gefühle bei sich erlebt.

Callum löste sich mit einer leisen Bemerkung von seiner Tanzpartnerin und kam dann auf sie zu.

„Das ist Alice“, stellte Georgina ihm ihre Freundin vor.

„Hallo, Alice. Ich habe bis jetzt noch nicht mit Georgina getanzt. Sie haben doch nichts dagegen, dass ich sie Ihnen entführe?“ Bevor Georgina realisierte, dass sie damit ihre Rolle als unauffälliges Mauerblümchen aufgab, hatte er sie auf die Tanzfläche gezogen. „Dieser Tag erweist sich als ganz anders als erwartet, Miss Campion.“

„Ja?“, stieß sie heiser hervor. Die Betäubung, die sie vor ein paar Sekunden überwältigt hatte, wich der erschütternden Klarheit ihrer körperlichen Reaktion auf ihn. Ein Fremder hielt sie in den Armen, und sie spürte seinen Körper. Es musste am Alkohol liegen, dass sie so sinnliche Gefühle entwickelte.

„Man sagte mir, dass du sehr effizient bist. Daher hatte ich nicht mit Haaren wie glänzendes Herbstlaub gerechnet und nicht mit deiner weichen, zarten Haut oder deinen schwellenden Lippen, die reifen Erdbeeren gleichen.“

Georgina schluckte, um sich aus dem Bann der tiefen, sonoren Stimme zu befreien. Nervosität und ein seltsames Hochgefühl ließen sie taumeln. Der gesunde Menschenverstand sagte ihr, dass ihr verletztes Selbstwertgefühl in der momentanen, traumatischen Situation seine Komplimente besonders gierig aufsog. Ihr Zittern, das auch ihm nicht entgangen sein konnte, ließ sich damit allerdings nicht erklären.

„Sehr poetisch“, erwiderte sie mit unterdrückter Wut. „Aber es gehört nicht zum Job.“ Sie hatte sich getäuscht. Dieser Mann war durchaus als Begleiter geeignet. Er spielte seine Rolle so gut, dass sie selbst beinahe vergaß, wer er war. Brauche ich so dringend die Aufmerksamkeit eines Mannes?, fragte sie sich bitter. Das müsste sie von ihrer Mutter geerbt haben!

„Ich weiß, das hast du gleich zu Beginn deutlich gemacht.“ Seine Bemerkung klang so belustigt, dass sie wieder aufsah.

„Vielleicht hat mich die Agentur deshalb als effizient bezeichnet.“

„Die Agentur?“, fragte er nach. „Ja, natürlich. Ich halte Arbeit und Vergnügen nämlich stets streng getrennt.“ Der Anlass erforderte vielleicht etwas Flexibilität bezüglich dieser Regel.

„Schön, das zu hören“, entgegnete Georgina verunsichert. Sie ärgerte sich, auf ein paar schöne Worte hereingefallen zu sein, und verwünschte ihren unkontrollierten Weinkonsum.

„Ich wäre überglücklich, ohne Bezahlung dein Begleiter sein zu dürfen.“

Nur weil sie auch diese Bemerkung für einen Scherz hielt, konnte sie einigermaßen ruhig antworten. „Ich fühle mich geschmeichelt. Aber du bist nicht der Typ, mit dem ich normalerweise ausgehe.“

Callum lenkte sie umsichtig um ein Paar herum, das beim Champagner zu viel des Guten gehabt hatte. „Ich dachte auch eher ans Zusammenleben“, gab er mit einem verschmitzten Lächeln zu.

Ihre Atemlosigkeit ließ sich nicht nur dem gekonnten Ausweichmanöver zuschreiben. „Wir passen nicht zusammen.“ Da ihr noch niemand einen solchen Vorschlag gemacht hatte, war ihr die Antwort nicht leichtgefallen. Sie war sich fast sicher, dass er scherzte.

„Seltsam, ich erhalte da ganz andere Nachrichten“, murmelte er. Mit einer Hand strich er ihr über das Haar. „Oder leidest du an der in England weitverbreiteten Krankheit, nur Umgang mit deiner Gesellschaftsschicht zu pflegen? Bin ich für eine aufstrebende Karrierefrau gesellschaftlich unmöglich?“ Eine leise Verachtung war unüberhörbar.

„Willst du etwa behaupten, ich sei ein Snob?“, entgegnete Georgina. „Das ist ja lächerlich!“

Seine zärtlichen Berührungen ließen sie erschauern. Nun zog er sie noch enger an sich, und Georgina spürte deutlich, wie fest und muskulös sein Körperbau war. Vor Anstrengung, den Kopf nicht auf seine breite Brust sinken zu lassen, traten ihr Schweißtröpfchen auf die Oberlippe.

„Heißt das, du würdest selbst gegen die Anziehung ankämpfen, wenn ich einen ebenso respektablen Beruf haben sollte wie dein Ex?“ Callums Augen blitzten sie herausfordernd an.

Unter normalen Umständen hätte sie darüber gelacht, wie sehr sich ihr gegenwärtiger verrückter Zustand von ihren Gefühlen für Alex unterschied. Sie hatte aus jetziger Sicht Alex unkritisch und ziemlich schwärmerisch bewundert. Primitive Instinkte hatte sie in seinen Armen jedoch nie verspürt. Manchmal dachte sie, dass er wegen ihrer starken Selbstbeherrschung Trost in den Armen einer anderen gesucht hatte.

„Ich habe emotionale Komplikationen aus meinem Leben gestrichen.“ Sie hoffte, dass es überzeugend klang.

„Aber hier handelt es sich doch eher um etwas Instinktives als um etwas Emotionales, nicht wahr?“ Er besaß also auch schwarzen Humor.

Als Georgina aufsah, blickte er sie hungrig an. Ein heißes Gefühl wanderte von ihrem Bauch in ihre zitternden Glieder.

„So spricht der männliche Vertreter der Spezies“, erwiderte sie schlagfertig. „Eine physische Begegnung ohne Emotionen bringt einer Frau keine Erfüllung.“

„Ich dachte, du hättest die Emotionen aufgegeben?“, entgegnete er neckend. „Hast du etwa Keuschheit gelobt?“

„Was ist daran so entsetzlich?“

„Für manche Menschen mag das Zölibat eine akzeptable Lösung sein. Aber für jemanden, der so sinnlich ist wie du, ist es keine.“

„Woher willst du mich so genau kennen?“, fragte sie zornig.

„Du gehörst meiner Meinung nach zu der Art Frauen, die Angst vor ihren eigenen Idealen hat. Du bildest dir etwas auf deine Unabhängigkeit ein, aber wenn sich die Gelegenheit dazu bietet, mietest du dir eiligst einen Begleiter. Nur um nicht als Single dazustehen und bemitleidet zu werden. Es braucht Mumm, um sich abzugrenzen, Georgina“, sagte er langsam. „Du scheinst mir dagegen auf Nummer sicher zu gehen.“

Wie recht er doch hatte. Sie sah verwirrt in sein unbewegtes Gesicht. „Ich soll also meine Unabhängigkeit unter Beweis stellen, indem ich mit dir schlafe und nicht auf Nummer sicher gehe?“

„Dann hast du daran also auch schon gedacht“, bemerkte Callum mit einem beunruhigenden Lächeln.

Empört begann sie alles abzustreiten. Doch als sie in seine blauen Augen blickte, verstummte sie. In dem Moment setzte die Musik aus. Sie war so auf ihren Tanzpartner fixiert, dass sie zunächst gar nicht bemerkte, dass Alex plötzlich neben ihr stand.

„Darf ich um den nächsten Tanz bitten, Georgie?“

Sie wandte sich mit geweiteten Augen und glühenden Wangen ihm zu.

„Nur zu, Sweetheart“, forderte Callum sie auf und klopfte ihr aufmunternd auf den Po. Dann musterte er den etwas jüngeren Mann fast nachsichtig, was Alex sichtlich ärgerte. „Das ist das Mindeste, um mich dafür zu revanchieren, dass ich im Grunde Ihretwegen Georgina kennengelernt habe. Übrigens hasst sie es, Georgie genannt zu werden. Hat sie Ihnen das nie gesagt?“ Als die Musik wieder begann, verschwand Callum mit großen Schritten in der Menge.

„Sollen wir?“

Georgina, die Callum entgeistert nachgestarrt hatte, riss sich mit einem angespannten Lächeln zusammen.

„Du siehst gut aus, Georgie … Georgina“, stotterte Alex unbeholfen. „Ich habe dich fast nicht wiedererkannt.“

„Soll ich mich jetzt geschmeichelt fühlen? Ich bin immer noch die Alte, Alex.“ Oder hatte sie sich tatsächlich verändert? Die bitteren Nächte, die sie durchwacht und in denen sie mit aller Kraft gegen das Gefühl der Minderwertigkeit gekämpft hatte, schienen seltsam weit weg zu sein.

„Du wirkst anders.“

Georgina sah ihn erstaunt an. Er schien pikiert über ihre Veränderung, die aus einem schicken Äußeren und einer neuen, selbstbewussten Art bestand, die nur teilweise aufgesetzt war.

Alex hatte vielleicht nie unter die Oberfläche geschaut. Sie war noch sehr jung und formbar gewesen, als sie ihn kennengelernt hatte. Das hatte ihm gefallen. Die einzige Auseinandersetzung hatte es zwischen ihnen gegeben, als sie sich gegen die Arbeit als Rezeptionistin und für eine eigene Karriere in London entschieden hatte.

„Jeder wird einmal erwachsen, Alex“, bemerkte sie mit einem leisen Bedauern, das ihrer verlorenen Naivität galt. Alle hatten schon wochenlang vor ihr von Alex und Harriet gewusst. Bei dem Gedanken daran schnürte ihre Kehle sich zusammen.

„Ich habe dir wehgetan.“

„Ja“, stimmte sie zu. Er sah zuerst weg. Wie hatte sie sich gewünscht, dass er seine Entscheidung bedauern möge. Wenn sie die Zeichen richtig deutete, tat er jetzt genau das. Das verschaffte ihr erstaunlich wenig Genugtuung. „Schöne Hochzeit.“

„Ich hätte sie mir schlichter gewünscht.“

„Deine Frau wohl nicht“, bemerkte Georgina mit einem schwachen Lächeln. Harriet bekam immer, was sie wollte, ihren Mann eingeschlossen.

Unbeholfen zuckte Alex mit den Achseln, und Georgina musste sehr darauf achten, nicht über seine Füße zu stolpern. Mit Callum war ihr Tanzen viel leichter gefallen.

„Wirst du jetzt etwa sentimental?“, fragte sie beiläufig.

Er schluckte. „Ich vermisse dich, Georgie. Ich wusste nicht, wie sehr …“

Die lang ersehnten Worte erfüllten sie nun mit Panik. „Ich denke, das solltest du nicht sagen, Alex.“ Er tanzte mit ihr in eine ruhige Nische.

„Ich denke dasselbe.“

Erschrocken drehte sie sich um. Callum stand lässig gegen eine Säule gelehnt und schien sie zu beobachten.

„Ich wollte eben …“, stieß Alex hervor und trat einen Schritt von Georgina zurück.

„Junge, ich weiß genau, was du wolltest.“ Callum lächelte wohlwollend, doch sein Blick ließ den jüngeren Mann erbleichen. „Du solltest dich lieber in dein selbst gemachtes Bett legen und Georgina sich selbst überlassen. Da wir gerade davon sprechen, Darling. Ich habe uns das letzte verfügbare Gästezimmer reserviert. Du hast zu viel getrunken, und ich werde nicht mit deiner Schrottkarre fahren.“

„Aber …“, wandte sie alarmiert ein.

„Du musst doch erst am Dienstag wieder arbeiten, also was soll’s?“

„Bis dann, Georgie“, murmelte Alex, bevor er sich verdrückte.

„Wie bitte? Ja, sicher.“ Für ihren Exverlobten musste das Wortgeplänkel ziemlich intim geklungen haben.

„Bist du mir jetzt dafür dankbar, dass ich dich gerettet habe? Oder wolltest du den Bräutigam in der Hochzeitsnacht verführen?“

Vor Wut wäre sie fast geplatzt. „Das geht dich nichts an. Wie kannst du es wagen, dich da einzumischen?“ Sie kochte innerlich. „Und die Sache mit dem Hotelzimmer kannst du vergessen.“

„Aber wie sollen wir zurückkommen? Du hast den ganzen Nachmittag über Wein in dich hineingeschüttet.“

„Ich kann mir das Hotel nicht leisten“, erklärte sie mit heiserer Stimme.

„Keine Sorge, ich bezahle.“

„Aha. Plötzlich scheinst du Geld zu haben“, bemerkte sie misstrauisch.

„Immerhin hast du nichts dagegen, die Nacht mit mir zu verbringen“, erwiderte Callum mit einem verschmitzten Grinsen.

„Ich beabsichtige nicht, die Nacht mit dir zu verbringen. Ich werde bei meiner Mutter übernachten.“

„Sie ist schon vor einiger Zeit gegangen, und zwar nicht allein. Vielleicht wärst du ihr heute nicht willkommen.“

Georgina schluckte. Er mochte recht haben. „Woher weißt du eigentlich, dass ich erst am Dienstag wieder zur Arbeit muss?“

„Du musst es mir vorhin gesagt haben“, erwiderte er leichthin. „Als du mir von deinem erstaunlich verantwortungsvollen Job erzählt hast.“

„Ich wusste gar nicht, dass ich es erwähnt habe. Du traust mir wohl keine interessante Arbeit zu?“

„Es kommt darauf an, wie weit dir dein hübsches Gesicht geholfen hat.“

Er musste es ironisch meinen, da sie sich im herkömmlichen Sinn überhaupt nicht als hübsch bezeichnen würde. „Ich bin durch meine eigenen Fähigkeiten und mit etwas Glück zu meinem Posten gekommen. So wie jeder andere Mensch, ganz gleich welchen Geschlechts auch. Nur weil du dich ausschließlich auf dein Aussehen und deinen zweifelhaften Charme verlässt, brauchst du noch lange nicht auf andere zu schließen.“

„Dein Chef hat nach deiner Schilderung aber ein wenig nachgeholfen. Haben dich deine hohen Moralvorstellungen daran gehindert, die Situation auszunutzen?“, erwiderte Alex trocken.

„Oliver hat mir nur die Chance gegeben, mich zu bewähren“, entgegnete sie steif. Er hätte sich durch nichts und niemanden schlecht beeinflussen lassen. „Falls sein Nachfolger ebensolche Vorurteile wie du haben sollte, fliege ich sofort raus. Wahrscheinlich wird man ihm ohnehin genau das anraten.“

Ihre Zeugnisse waren nichts Besonderes, und sie bezweifelte, ob sie nun weiterhin ihr Können unter Beweis stellen durfte. Mehrere Abteilungsleiter missgönnten ihr die Verantwortung, die ihr Oliver übertragen hatte. Wahrscheinlich hatten sie seinem Neffen, der die Firmenübernahme klären sollte, bereits so viel Negatives über sie erzählt, dass sie auf keinen Fall ihren Job behalten würde.

Die Kunst des In-den-Rücken-Fallens war in der Werbebranche weitverbreitet. Wegen ihrer Beförderung zu Olivers persönlicher Assistentin hatte sie schon genug unter missgünstigen Verleumdungen zu leiden gehabt.

„Meinst du nicht, dass du eine faire Chance bekommen wirst?“, fragte Callum mit undurchdringlicher Miene.

„Olivers Neffe ist ein Farmer aus dem australischen Busch“, tat sie seine Frage ab. „Wahrscheinlich wird er keine eigene Meinung in der Sache haben.“ Nach Olivers dynamischem, arbeitsintensivem Management konnte kaum etwas Vergleichbares mehr kommen.

„Aber du könntest dem Neffen auch die Hand halten und dich für ihn ebenso unverzichtbar machen, wie du es für seinen Onkel warst.“

Callums beiläufige Bemerkung hatte einen bitteren Beiklang. Georgina erinnerte sein gütiger Gesichtsausdruck mit dem seltsamen Lächeln um die Mundwinkel an etwas allzu Bekanntes, ohne dass sie sagen konnte, an was.

„Ich will niemandem die Hand halten, das gilt auch für dich“, erklärte sie mit Nachdruck. „Ich werde die Nacht nicht mit dir verbringen.“

„Warum machen wir nicht einen Kompromiss. Du erholst dich etwas von deinem nachmittäglichen Exzess, schläfst ein wenig, und dann kannst du uns heute Abend zurückfahren.“

Natürlich, er wollte sicher so früh wie möglich in die Stadt zurück. Für ihn war sie nur ein Job, sonst nichts. Sie versuchte, gleichgültig zu klingen. „Das klingt vernünftig. Aber was machst du so lange?“

„Ich schlafe auch, wenn es dir nichts ausmacht“, meinte er gelassen. „Mein Körper hat sich noch nicht an die Zeitverschiebung gewohnt. Ich war auf Reisen.“

Georgina schloss die Augen, um nicht auf seine eleganten, langen Finger zu starren. In wenigen Sekunden hatte sie wieder einen klaren Kopf.

„Wir finden sicherlich eine Lösung. Es tut mir leid, dass ich dich aufhalte“, erwiderte sie förmlich. „Vielleicht kannst du mir etwas Kaffee besorgen?“

„Meine prüde Miss Effizienz“, meinte er ironisch beim Weggehen. „Da ich meinen Vertrag erfüllt habe, könntest du ruhig Bitte und Danke sagen.“

Sie errötete bei seiner Zurechtweisung und sah ihm wortlos nach. Er war wirklich der grässlichste Mann, den sie je getroffen hatte.

Harriet erschien in diesem Moment an ihrer Seite und funkelte sie mit bösen Augen an. „Ich hätte wissen müssen, dass du aus Neid versuchen wirst, meine Hochzeit zu ruinieren.“

Georgina verschlug es bei dieser falschen Beschuldigung die Sprache. „Wie kommst du denn darauf?“, erkundigte sie sich schließlich in sanftem Tonfall. Im Moment konnte sie wirklich keine Szene gebrauchen.

„Als ob du nicht bemerkt hättest, dass Alex dich unentwegt anstarrt.“ Eisig musterte sie Georginas Kleidung. „Du hast wirklich nicht die Figur für dieses Kostüm.“

„Dann hat sich Alex wohl über meinen schlechten Geschmack gewundert“, erwiderte Georgina mit zum Reißen gespannten Nerven. „Du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen, Harriet. Ich habe nicht die Absicht, dir deinen Ehemann auszuspannen. Falls du es nicht bemerkt haben solltest, ich bin nicht allein.“

„Ach … ist ihm noch nicht aufgefallen, dass du frigide bist?“ Ihre blauen Augen funkelten bösartig. „Alex hat gesagt, du seist im Bett wie eine Statue gewesen. Du machst mir keine Angst“, schnaubte sie. „Ich möchte nur nicht, dass du dich zum Narren machst.“ Triumphierend rauschte sie davon.

Georgina wunderte sich, wie ruhig sie blieb, obwohl jeder Giftpfeil sein Ziel gefunden hatte. Sie würde es Harriet gegenüber nie eingestehen, dass Alex mit seiner jetzigen Frau geschlafen hatte, bevor er zum ersten Mal mit Georgina im Bett gewesen war.

Außerdem machte die Chronologie der Ereignisse die Angelegenheit noch demütigender für sie. Als sie endlich Alex’ Drängen nach mehr Intimität nachgegeben hatte, war er ihr bereits mit Harriet untreu geworden. Ich habe ihm alles gegeben, aber dennoch habe ich im Vergleich mit Harriet schlecht abgeschnitten, dachte sie bitter.

„Du siehst blass aus. Ist alles in Ordnung?“, fragte Callum, der mit einer Tasse Kaffee zurückgekehrt war.

„Wie bitte?“ Sie konnte die bitteren Erinnerungen nur schwer abschütteln.

„Das Gespräch mit der Braut hat dich wohl etwas mitgenommen“, bemerkte er ungerührt.

„Ich werde nicht die unappetitlichen Details vor dir ausbreiten.“ Georgina straffte sich. „Wenn du mich jetzt bitte kurz entschuldigen würdest … Ich muss etwas Rouge auflegen.“

Callum bewunderte das erhobene Kinn und den kerzengeraden, schlanken Rücken, als sie sich den Weg durch die Menge bahnte. Georgina Campion hatte zumindest Mut.

Nach der zweiten Tasse Kaffee bekam Georgina heftige Kopfschmerzen. Die Braut rüstete inzwischen zum Aufbruch. Alles drängte sich im Foyer, um das Brautpaar zu verabschieden. Harriet suchte triumphierend den Blick ihrer Cousine. Sie tat Georgina beinahe leid in Anbetracht dessen, was Alex ihr vorhin anvertraut hatte. Und so konnte sie den Blick gelassen erwidern, was Harriets hübsche Züge erstarren ließ.

Georgina überlegte gerade, warum ihre Cousine wohl so einen Hass für sie empfand, als Harriet den Brautstrauß in hohem Bogen in die Menge warf. Die Blumen trafen sie mit einer solchen Wucht, dass sie fast stürzte und ihr Hut zu Boden fiel. Die Aktion löste Gekicher und geistreiche Kommentare aus. Georgina standen die Tränen in den Augen, dennoch zwang sie sich zu einem Lächeln.

Als Callum ihren Hut aufhob, war bereits jemand daraufgetreten. Galant staubte er die schmutzige Kopfbedeckung ab und reichte sie ihr. Überrascht bemerkte er, wie Georgina eine Träne wegwischte.

„Da ist ein ganzer Wochenlohn hin“, meinte sie, als sie den Hut in den nächsten Papierkorb warf. Sie brauchte kein Andenken an diesen Tag.

„Georgie, können wir euch irgendwohin mitnehmen? Zu deiner Mutter?“ Onkel Henri schloss Callum in sein freundliches Angebot mit ein.

„Wir haben schon ein Zimmer, trotzdem schönen Dank.“ Callum sprach für sie beide. Beschützend legte er den Arm um Georginas Schulter.

„Jetzt brauchst du die Rolle nicht mehr zu spielen“, fuhr sie ihn an, als ihr Onkel sich entfernt hatte. „Du hast deine Pflichten erfüllt. Zumindest wenn du mir noch hilfst, den Brautstrauß zu entsorgen.“ Angeekelt reichte sie ihm die Blumen.

„Verheißen sie nicht deine baldige Hochzeit?“ Er stieß mit dem Finger an eine der weißen Rosen.

„Solange ich meine Sinne beisammenhabe, sicher nicht“, erwiderte sie mit Nachdruck.

„Du führst das Schicksal in Versuchung, Georgie.“ Er ließ den verhassten Namen auf der Zunge zergehen. „Oder sollte ich lieber wieder Miss Campion sagen, nachdem meine Rolle beendet ist?“

„Du solltest wieder still sein“, schlug sie vor.

„Haben wir einen Kater?“

„Du hast doch überhaupt nichts getrunken“, meinte sie ironisch.

„Nichts Alkoholisches“, pflichtete er bei. „Nach einem Langstreckenflug wäre das nicht so gut. Du bist eine der ersten Verpflichtungen, seit ich angekommen bin.“

„Ich hätte dich für einen Macho-Typen gehalten, der seine eiserne Konstitution für unbezwingbar hält. Oder bist du ein Fitness-Fan?“

„Du solltest deinen Frust nicht an mir abreagieren. Ich eigne mich nicht als Opferlamm.“

„Ich kann mir vorstellen, für was du dich eignest“, fuhr sie heftig auf.

Er hielt sie fest. „Und das wäre?“

Sie sah mit bezeichnendem Blick auf seine Hand, die auf ihrem Arm lag. „Du bist ein Gigolo“, beschuldigte sie ihn dann.

Er erstarrte einen Moment, dann lachte er laut und herzlich. „Ich fühle mich geschmeichelt.“

Sie bereute ihre überstürzte Bemerkung, wollte aber wegen seiner unerwarteten Reaktion nichts weiter dazu sagen.

„Ich habe einen furchtbaren Tag hinter mir“, fuhr sie fort. „Meinst du, es fällt auf, wenn ich verschwinde?“

„Ich bin mir ziemlich sicher, dass es allen auffällt, wenn wir verschwinden“, erwiderte er. „Aber das würde doch zu deinem Wunschbild einer zufriedenen, modernen Frau passen, nicht wahr?“

Sie hasste seine Ironie noch mehr als die Hitze, die in ihr aufstieg. „Die Vorurteile der Menschen habe ich nicht zu verantworten.“

„Solange du dich bemühst, sie aufrechtzuerhalten, schon“, meinte er ruhig. „Sollen wir uns bei unseren Gastgebern bedanken?“, schlug er mit einem Lächeln vor.

Das Zimmer war von einer schlichten Eleganz. Georgina wusch sich Hände und Gesicht, bevor sie die Schuhe abstreifte und sich auf das Bett legte. Unter halb geschlossenen Lidern beobachtete sie, wie Callum sich auf dem Sofa ausstreckte, das viel zu kurz für ihn war. Sie hätte ihm logischerweise das Bett anbieten sollen, aber sie dachte bissig, dass ihm etwas Unbequemlichkeit nicht schaden konnte.

„Ich muss mich kurz hinlegen“, meinte sie mit einem unterdrückten Gähnen. Der traumatische Tag war anstrengender gewesen als erwartet. Der Wein hatte zwar ihren Schmerz betäubt, zeigte nun aber leider Nebenwirkungen. Erschöpft schloss sie die Augen.

Sie überlegte noch kurz, wie unglaublich vertrauensselig sie war, sich mit einem Fremden einzuschließen, dem sie instinktiv misstraute. Aber seltsamerweise glaubte sie nicht, dass er die Situation ausnutzen könnte. Ganz friedlich fiel sie in einen Schlummer, ohne zu spüren, wie sanft die Decke über sie gezogen wurde.

4. KAPITEL

Georgina erwachte im Finstern. Als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten und sie langsam zu sich kam, fuhr sie mit einem Schrei auf. Welche Uhrzeit mochte es sein? Und warum hatte Callum sie nicht geweckt?

Georgina schaltete die kleine Leselampe ein. Im milden Lichtschein blickte sie auf ihre Uhr und sah, dass es halb drei war. Sie seufzte. Ohne ihre Kontaktlinsen verschwamm der Raum vor ihren Augen.

Sie stand mit steifen Gliedern auf. Tiefe, ruhige Atemzüge verrieten, dass ihr Begleiter immer noch schlief. Barfuß ging sie durch das Zimmer, um ihn zu wecken.

„Callum“, sagte sie leise. Sie konnte es ihm nicht übel nehmen, dass er sie nicht geweckt hatte. Offensichtlich war auch er völlig erschöpft gewesen.

Sein Gesicht wirkte im Schlaf weniger streng, und er sah ziemlich jung aus, was vielleicht auch an ihrer Kurzsichtigkeit lag. Seine Jacke hatte er unachtsam zu Boden geworfen.

Beim Nähertreten stolperte sie über seine Schuhe. Georgina konnte eben noch verhindern, dass sie über ihn fiel. Als sie auf den Knien lag, hielt sie den Atem an, weil seine Nähe sie erstarren ließ.

Sie zwang sich dazu, ihn nicht länger wie entgeistert anzusehen, sondern ihn zu wecken. Unter den gegebenen Umständen war Mitleid mit ihm nicht angebracht. Außerdem empfand sie noch ganz andere Gefühle für ihn, die sie aber entschlossen verdrängte.

„Callum!“ Erneut rief sie seinen Namen. Doch es flackerten lediglich seine Augenlider. „Callum, es ist schon spät.“ Dieses Mal erhob sie die Stimme. Ungläubig sah sie zu, wie er sich wegdrehte. Dieser Mann schläft nicht, sondern ist tot, dachte sie frustriert.

„Callum, wach jetzt auf!“ Sie rüttelte an seiner Schulter. Wenn er nicht bald zu sich kam, würde sie ihn hier zurücklassen. „Wach auf, wir müssen fahren.“ Als er sich endlich zu ihr drehte, war sie erleichtert. Doch sein Blick war verwirrt und unfokussiert.

Ihre Erleichterung wich, als sie den erhitzten Ausdruck seiner halb geschlossenen Augen bemerkte. Dabei wusste sie nicht einmal, ob er sie sah oder nicht. Vielleicht war er immer noch in einen Traum versunken. Das Blut pochte in ihren Schläfen, und ihr Herzschlag beschleunigte sich.

Als er sie anblickte, hatte sie wie beim ersten Treffen den Eindruck, ihn zu kennen.

Zu spät entdeckte sie, dass im Schlaf die beiden oberen Knöpfe ihrer Kostümjacke aufgegangen waren. Ihr pfirsichfarbenes Seidenmieder mit Spitze wurde zwischen dem aufklaffenden Kragen sichtbar. Es endete kurz oberhalb ihres Nabels, was zutage trat, als er mit geschickter Hand auch die beiden unteren Knöpfe ihrer Jacke öffnete. Als er anerkennend seufzte, sah Georgina ihn überrascht an.

„Callum, es ist spät. Wir haben verschlafen.“ Sie holte tief Luft, verstummte aber, als er sie ganz langsam an sich zog und sanft eine Brustspitze küsste. Der seidige Stoff ihres Mieders glitt zur Seite, als Callum die hochsensitive Stelle mit seinen Lippen umschloss. Er liebkoste mit den Lippen ihr empfindsames Fleisch. Sein Kinn strich rau über ihre weiche Haut.

Ein heißes Verlangen breitete sich in ihrem Innersten aus. Die explodierende Hitze jagte heiße Schauer über ihren ganzen Körper. Georgina war sich zwar bewusst, dass sich dieser Mann unglaubliche Freiheiten herausnahm, wollte aber nicht, dass er damit aufhörte.

Sie würde ihre verantwortungslose Schwäche sicher bald bitter bereuen. Dennoch ließ sich ihre Lust nicht verleugnen.

„Hör auf!“ Ihre erstickte Bitte war das Resultat des inneren Kampfs. Mit einem Ruck versuchte sie, sich von ihm zu lösen.

Als Callum in seinen Liebkosungen innehielt, erfasste sie eine ungeheure Furcht, ihn zu verlieren. Dieses Gefühl war so intensiv, dass sie es nicht verbergen konnte.

Während er langsam seine Kontrolle wiedererlangte, hielt er ihrem Blick stand. Langsam wich der erhitzte Ausdruck seines Gesichts, nur noch seine Augen verrieten eine kaum gedämpfte Leidenschaft. Sein verspannter Nacken bewies, dass ihm die Zurückhaltung nicht leichtfiel.

„Warum?“, fragte er nach einer langen Stille.

Seine Frage verwirrte sie noch mehr. Georgina erzitterte beim rauen Klang seiner Stimme. Sie kniete immer noch vor ihm und hatte die Arme um seinen Nacken gelegt. Ihr Instinkt sagte ihr, dass er ihren Widerstand nicht brechen würde, auch wenn es ihm ein Leichtes wäre.

Ich muss ihn loslassen, sagte sie sich. Aber er fühlte sich so gut an. Unter dem dünnen Stoff konnte sie seine harte, sehnige Muskulatur spüren. „Warum was?“, fragte sie verwirrt.

„Warum soll ich aufhören?“

Der dunkle Bartansatz am Kinn unterstrich seine hohen Wangenknochen. Er schwang die Beine vom Sofa.

Obwohl es Hunderte von guten Gründen gab, konnte sie keinen einzigen hervorbringen. Das sinnliche Begehren, das sie spürte, verzehrte den letzten Rest ihres gesunden Menschenverstands. „Wir können nicht die ganze Nacht hier verbringen.“ Ihm schien diese offensichtliche Tatsache bislang entgangen zu sein.

„Im Moment gibt es für mich keine schönere Alternative.“

„Als was? Sex?“, meinte sie betont pragmatisch. „Du bist ja gar nicht richtig wach“, sagte sie mit einem abschließenden, leisen Lachen. „Ich mache dich für deine Verführungsversuche im Halbschlaf nicht verantwortlich.“ Mit enormer Mühe löste sie die Hände von seinen Schultern, indem sie sie langsam an seinen Armen hinabgleiten ließ.

Georgina fühlte den gewölbten Bizeps und die sehnigen Unterarme. Als sie am Ende über seine Handrücken streichelte, hob Callum plötzlich beide Arme hoch, sodass sich die Handflächen seiner und ihrer Hände berührten und er sie festhalten konnte.

„Beim Aufwachen habe ich deine weichen, einladenden Kurven gesehen, und ich folgte einem körperlichen Impuls, den die meisten gesunden Männer haben würden. Und ich bin wacher, als du denkst.“ Bewundernd sah er auf ihre wohlgeformten Brüste. Sein leichter Händedruck hielt Georgina davon ab, sich von ihm zu lösen.

„Dass wir unseren körperlichen Impulsen nicht nachgeben, unterscheidet uns vom Tier.“

„Du solltest Instinkt nicht mit etwas Vulgärem verwechseln, Darling“, widersprach er. „Manchmal muss man einfach seinem Instinkt vertrauen. Und dein Instinkt hat von dem Moment an, als du mich das erste Mal gesehen hast, eine deutliche Sprache gesprochen.“

„Es ist spät. Wir sollten gehen.“ Sie brach unsicher ab.

Es störte sie, dass sie so atemlos klang. Sie hätte über Callums unverblümte Aufforderung wütend sein müssen. Stattdessen musste sie die schmerzliche Tatsache akzeptieren, dass es sich um bedeutend mehr als eine starke physische Reaktion handelte. Von Anfang an hatte sie sich zu ihm hingezogen gefühlt.

Autor

Lee Stafford
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