Erhört

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Ihre Mutter ist die Auserwählte, ihr Vater ein Hoher Schamane. Und trotzdem ist die 19-jährige Elphame eine Außenseiterin. Als Prinzessin aufgewachsen, hat sie außer ihrem Bruder keine echten Freunde.

Ihre Suche nach einem Ort, an dem sie sie selbst sein kann, führt sie zu der verlassenen Burg des alten MacCallan. Im Sonnenlicht sieht Elphame die Mauern golden schimmern. Da spürt sie es: Das dornröschenschlossähnliche Gemäuer ruft sie! Über hundert Jahre scheint es darauf gewartet zu haben, dass sie nach Hause kommt. Hierher zu gelangen, das war ihr Schicksal.

Das denkt auch Lochlan, der düstere Herrscher des Waldes...


  • Erscheinungstag 10.06.2012
  • Bandnummer 5
  • ISBN / Artikelnummer 9783862784264
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

P. C. Cast

New Tales of Partholon 4:
Erhört

Roman

Aus dem Amerikanischen von
Ivonne Senn

image

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2012 by MIRA Taschenbuch

in der Harlequin Enterprises GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

Elphame’s Choice

Copyright © 2004 by P. C. Cast

erschienen bei: LUNA Books, Toronto

Published by arrangement with

HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Daniela Peter

Titelabbildung: Harlequin Enterprises S.A., Schweiz

Autorenfoto: © by Harlequin Enterprises S.A., Schweiz

Satz: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN (eBook, EPUB) 978-3-86278-426-4

www.mira-taschenbuch.de

Werden Sie Fan von MIRA Taschenbuch auf Facebook!

eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

1. KAPITEL

Macht! Nichts war so gut wie Macht. Nicht Partholons feinste Schokolade. Nicht die Schönheit eines perfekten Sonnenaufgangs. Nicht einmal … nein, das konnte sie nicht wissen. Sie schüttelte den Kopf und zwang damit ihre Gedanken, eine neue Richtung einzuschlagen. Der Wind pfiff scharf durch ihr Haar, und einige der langen Strähnen wehten ihr ins Gesicht. Sie wünschte, sie hätte es zurückgebunden, wie sie es normalerweise tat, aber an diesem Tag wollte sie das schwere Gewicht fühlen. Außerdem musste sie zugeben, dass sie es mochte, wie es hinter ihr herflatterte, wenn sie lief – wie der flammende Schweif einer Sternschnuppe.

Ihr Schritt wurde unsicher, als ihre Konzentration wankte, und schnell brachte Elphame ihre streunenden Gedanken wieder unter Kontrolle. Um die Geschwindigkeit aufrechtzuerhalten, war höchste Konzentration nötig. Das Feld, auf dem sie lief, war relativ eben und zum Großteil frei von Steinen und anderen Hindernissen, aber es war trotzdem nicht weise, ihre Gedanken schweifen zu lassen. Ein falscher Schritt könnte leicht zu einem Beinbruch führen; es wäre dumm, anderes zu glauben. Ihr ganzes Leben lang hatte Elphame sich bemüht, falsches Denken und falsches Verhalten zu vermeiden. Dummheit und Torheit waren etwas für Leute, die sich alltägliche Fehler erlauben konnten. Nicht aber für sie, für jemanden, deren Gestalt schon aussagte, dass sie von der Göttin berührt worden war, weshalb sie von allem Normalen und Alltäglichen ferngehalten wurde.

Elphame vertiefte ihre Atmung und zwang sich, ihren Oberkörper zu entspannen. Behalte die Spannung im Unterkörper, ermahnte sie sich. Lass alles andere locker und entspannt. Lass den kräftigsten Teil deines Körpers die Arbeit tun.

Ihre Zähne blitzen auf, als sie fast animalisch grinste. Sie spürte, wie ihr Körper sich neu sammelte und vorwärts schoss. Elphame liebte es, wie ihre Muskeln in den Beinen reagierten. Ihre Arme ruderten unangestrengt, während ihre Hufe sich in den weichen grünen Teppich des jungen Feldes bohrten.

Sie war schneller als jeder Mensch. Viel schneller.

Elphame verlangte noch mehr von sich, und ihr Körper reagierte mit unmenschlicher Stärke. Über lange Distanzen war sie vielleicht nicht so schnell wie ein Zentaur, aber nur wenige von ihnen konnten sie bei einem Sprint überholen – eine Tatsache, mit der ihre Brüder in letzter Zeit gerne angaben. Mit ein wenig mehr harter Arbeit würde vielleicht niemand sie je schlagen können. Der Gedanke war beinahe so befriedigend wie der Wind auf ihrem Gesicht.

Sie ignorierte das beginnende Brennen in den Muskeln, weil sie wusste, dass sie sich über den Punkt hinausquälen musste, an dem sie ermüdeten. Doch sie ging dazu über, ihre Schritte anders auszurichten, sodass sie in einem großen Bogen wieder dort ankommen würde, wo sie den Lauf begonnen hatte.

Es wird aber nicht immer so sein, versprach sie sich. Nicht für immer. Sie strengte sich noch mehr an.

„Oh Göttin“, flüsterte Etain ehrfürchtig, während sie ihre Tochter beobachtete. „Werde ich mich je an ihre Schönheit gewöhnen?“

Sie ist besonders, Geliebte. Eponas Stimme schimmerte vertraut durch den Geist ihrer Auserwählten.

In der Nähe einer Baumgruppe am Feldrand zügelte Etain ihr Pferd. Die silberweiße Stute drehte den Kopf zu ihr herum und sah ihre Reiterin mit gespitzten Ohren fragend an. Etain wusste, dass ihre Stute, die pferdische Inkarnation der Göttin Epona, ihr tatsächlich eine Frage stellte.

„Ich will einfach nur hier sitzen und sie beobachten.“

Die Göttin schnaubte gebieterisch.

„Ich spioniere ihr nicht nach!“, verteidigte Etain sich entrüstet. „Ich bin ihre Mutter. Es ist mein gutes Recht, ihr beim Laufen zuzusehen.“

Die Göttin warf den Kopf auf eine Weise zurück, die deutlich machte, dass sie sich dessen nicht so sicher war.

„Benimm dich angemessen.“ Etain zupfte ein wenig an den Zügeln. „Oder ich lasse dich beim nächsten Ausflug im Tempel zurück.“

Die Göttin würdigte diesen Kommentar noch nicht mal mit einem kleinen Schnauben. Etain ignorierte die Stute, die sie nun ihrerseits ignorierte, und murmelte etwas von missmutigen alten Wesen vor sich hin, aber nicht laut genug, dass die Stute es hören konnte. Dann schirmte sie die Augen mit der Hand vor den Strahlen der untergehenden Sonne ab und schaute wieder zu ihrer Tochter hinüber.

Elphame lief so schnell, dass ihr Unterkörper nur als verschwommener Umriss zu sehen war. Es wirkte, als flöge sie über die grellgrünen frischen Weizenschösslinge. Sie lief leicht vorgebeugt und strahlte eine Eleganz aus, die ihre Mutter immer wieder faszinierte.

„Sie ist die perfekte Mischung aus Zentaur und Mensch“, flüsterte Etain der Stute zu, die ihre Ohren in ihre Richtung drehte, um sie hören zu können. „Göttin, du bist so weise.“

Elphame hatte ihren weiten Kreis vollendet und wandte sich in Richtung des kleinen Hains, bei dem ihre Mutter wartete. Die untergehende Sonne schien ihren Körper zu umrahmen und das kastanienbraune Haar des Mädchens in Flammen zu setzen. Es schimmerte und flatterte in langen schweren Strähnen um sie herum.

„Das schöne glatte Haar hat sie allerdings auf keinen Fall von mir.“ Etain versuchte ihr eine der widerspenstigen lockigen Strähnen hinters Ohr zu stecken. Die Stute spitzte aufmerksam die Ohren. „Die roten Strähnen ja, aber für den Rest kann sie ihrem Vater danken.“ Genauso wie für die Farbe dieser erstaunlich dunklen Augen. Die Form war wie ihre, groß und rund lagen sie hoch über zarten Wangenknochen, die ebenfalls eine Kopie die ihrer Mutter waren. Doch anstatt des moosigen Grüns von Etains Augen hatten die ihrer Tochter das hinreißende Schwarz ihres Vaters. Selbst wenn Elphame nicht diese einzigartige Gestalt hätte, wäre ihre Schönheit ungewöhnlich. Zusammen mit einem Körper, den nur die Göttin hatte erschaffen können, war der Effekt atemberaubend.

Elphames Schritte wurden langsamer, und sie änderte die Richtung, sodass sie direkt auf die Bäume zukam, zwischen denen ihre Mutter und die Stute warteten.

„Wir sollten uns bemerkbar machen, damit sie nicht denkt, wir lungerten im Schatten herum und beobachteten sie.“

Die Stute trat aus dem Hain hervor, und Etain sah, wie der Kopf ihrer Tochter in einer instinktiv defensiven Geste in ihre Richtung zuckte. Beinahe zeitgleich erkannte Elphame sie und hob einen Arm zum Gruß, den die Stute hell wiehernd erwiderte.

„Mama!“, rief Elphame fröhlich. „Warum gesellt ihr zwei euch nicht für einen Auslauf zu mir?“

„Gerne, mein Schatz“, rief Etain. „Aber langsam. Du weißt, die Stute wird älter und …“

Bevor sie den Satz beenden konnte, sprang die fragliche „alte Stute“ vor und holte die junge Frau ein. Sie tänzelte ein wenig und passte ihre Schritte problemlos an Elphames leichten Trab an.

„Ihr zwei werdet nie alt, Mama.“ Elphame lachte.

„Sie zieht für dich nur eine Show ab“, erwiderte Etain, aber sie streckte eine Hand aus und zerzauste liebevoll die silbrige Mähne ihres Pferdes.

„Oh Mama, bitte. Sie zieht eine Show ab?“

Elphame ließ den Satz vielsagend ausklingen und schenkte ihrer Mutter unter gehobener Augenbraue einen wissenden Blick, der Etains glitzernde Juwelen und den verführerischen Schnitt der Reitkleidung aus butterweichem Leder einschloss, die sich an ihren immer noch wohlgeformten Körper schmiegte.

„El, du weißt, dass das Tragen von Juwelen für mich ein spirituelles Erlebnis ist“, sagte Etain mit ihrer „Ich bin die Geliebte der Göttin“-Stimme.

„Ich weiß, Mama.“ Elphame grinste.

Das Schnauben der Stute klang eindeutig sarkastisch, und Etains Gelächter vermischte sich mit dem ihrer Tochter, als sie gemeinsam den Weg über das Feld fortsetzten.

„Wo habe ich meinen Umhang gelassen?“, murmelte Elphame halb zu ihrer Mutter, halb zu sich selbst und suchte mit ihrem Blick den Feldrand ab. „Ich dachte, ich hätte ihn auf diesen Stamm gelegt.“

Etain sah zu, wie ihre Tochter auf der Suche nach dem Rest ihrer Kleidung über einen gefallenen Baumstamm kletterte. Sie trug nur ein ärmelloses Ledertop, das eng um ihre vollen Brüste gewickelt war, und einen schmalen Leinenstreifen, der, an den Beinen hoch ausgeschnitten, ihr muskulöses Gesäß bedeckte und sich vorne zu einem Dreieck verjüngte. Etain hatte es selbst entworfen.

Obwohl der Körper des Mädchens von der Taille abwärts von dünnem Pferdefell bedeckt war und sie Hufe statt Füße hatte, war sie gebaut wie eine normale menschliche Frau, abgesehen von den enormen Muskeln in ihrem Unterkörper. Also brauchte sie Kleidung, die ihr erlaubte, die übermenschliche Schnelligkeit auszuleben, mit der sie gesegnet war, die sie aber gleichzeitig auch angemessen bedeckte. Etain und ihre Tochter hatten mit vielen verschiedenen Stilen herumexperimentiert, bis sie auf den gestoßen waren, der erfolgreich beide Zwecke in sich vereinte.

Das Ergebnis funktionierte gut, wenn man davon absah, dass sehr viel von Elphames Körper sichtbar blieb. Es war egal, dass die Frauen von Partholon immer die Freiheit besessen hatten, ihre Körper stolz herzuzeigen. Etain selbst entblößte ihre Brüste regelmäßig während der morgendlichen Segnungsrituale, um Eponas Liebe zur weiblichen Gestalt zu unterstreichen. Doch wenn Elphame ihre behuften Beine zeigte, starrten die Leute jedes Mal geschockt und erstaunt auf dieses so offensichtliche Zeichen der Berührung durch die Göttin.

Elphame hasste es, das Ziel dieser Blicke zu sein.

Aus diesem Grund hatte sie es sich zur Gewohnheit gemacht, sich in der Öffentlichkeit sehr konservativ zu kleiden. Sie legte ihre fließenden Roben nur ab, wenn sie lief – etwas, das sie meistens alleine tat und immer in ausreichender Entfernung vom Tempel.

„Oh, ich hab ihn gefunden!“ El trabte zu einem Stamm, der nicht weit von ihnen entfernt lag. Sie nahm das Stück feinstes Leinen auf, das im Ton von Smaragden eingefärbt worden war, und fing an, es um ihre schmale Taille zu schlingen. Ihr Atem ging schon wieder normal, und der feine Schweißfilm, der die flaumigen Haare auf ihren nackten Armen glitzern ließ, war inzwischen getrocknet.

Sie war in atemberaubender Form. Ihr Körper war schlank, athletisch und perfekt ausgebildet und doch hatte er nichts Hartes oder Männliches. Ihre braune Haut sah aus wie Seide und verführte dazu, sie zu berühren. Erst wenn man es tat, konnte man die Stärke der darunterliegenden Muskelstränge wirklich erahnen.

Nur wenige Menschen wagten es, die junge Göttin zu berühren.

Sie war groß und überragte ihre gut eins siebzig große Mutter um einige Zentimeter. Während ihrer frühen Pubertät war sie dünn und ein wenig ungelenk gewesen, doch war das Fohlenhafte an ihr weiblichen Rundungen gewichen. Ihr Unterkörper war eine perfekte Mischung aus Mensch und Zentaur. Sie hatte die Schönheit und den Reiz einer Frau und die Stärke und Eleganz eines Zentauren.

Etain lächelte ihre Tochter an. Vom Moment ihrer Geburt an hatte sie die Einzigartigkeit ihres Kindes mit erbitterter, beschützender Liebe umgeben. „Du musst diesen Umhang nicht tragen, El.“ Sie bemerkte erst, dass sie laut gesprochen hatte, als ihre Tochter sie anschaute.

„Ich weiß, dass du das denkst.“ Elphames Stimme, die normalerweise der ihrer Mutter so ähnlich war, klang auf einmal hart vor unterdrückten Gefühlen. „Ich sehe das aber anders. Ich muss ihn tragen. Sie schauen nicht so zu mir auf, wie sie es zu dir tun.“

„Hat jemand etwas gesagt, das dich verletzt hat? Sag mir, wer es war, und er wird den Zorn einer Göttin zu spüren bekommen!“ Etains Augen blitzen auf, als läge grünes Feuer darin.

Elphames Stimme war bar jeden Ausdrucks, als sie antwortete: „Sie müssen nichts sagen, Mama.“

„Mein Schatz …“ Der Ärger verschwand aus Etains Blick. „Du weißt, dass die Menschen dich lieben.“

„Nein, Mama.“ Elphame hob eine Hand, um ihre Mutter davon abzuhalten, weiterzusprechen. „Sie lieben dich. Mich beten sie an. Das ist ein Unterschied.“

„Natürlich beten sie dich an, El. Du bist die älteste Tochter von Eponas Geliebter und wurdest auf eine sehr spezielle Art von der Göttin gesegnet. Sie sollten dich anbeten.“

Die Stute trat ein paar Schritte vor, bis ihre samtigen Lippen die Schulter der jungen Frau berührten. Bevor sie antwortete, streckte El eine Hand aus und streichelte den glänzenden Hals des Pferdes.

Sie schaute zu ihrer Mutter auf und sagte: „Ich bin anders. Und egal, wie sehr du glauben willst, dass ich hierher passe, ich tue es nicht. Deshalb muss ich gehen.“ In ihrer Stimme lag eine Überzeugung, die sie älter klingen ließ, als sie war.

Etains Magen zog sich bei den Worten ihrer Tochter zusammen, aber sie zwang sich, still zu sein und Elphame weitersprechen zu lassen.

„Ich werde behandelt, als wäre ich etwas anderes. Nicht dass man mich schlecht behandelt“, fügte sie schnell hinzu. „Nur anders. Als wenn sie Angst hätten, mir zu nahezukommen, weil ich …“ Ihre Stimme brach, und sie legte die Wange an die breite Stirn der Stute. „Ich weiß nicht … zerbrechen könnte. Also behandeln sie mich wie eine Statue, die direkt vor ihren Augen auf magische Weise zum Leben erwacht ist.“

Meine wunderschöne, einsame Tochter, dachte Etain und spürte den vertrauten Schmerz darüber, keine Lösung für das Problem ihrer Erstgeborenen zu haben.

„Statuen werden aber nicht wirklich geliebt. Man kümmert sich um sie und gibt ihnen einen Ehrenplatz, aber sie werden nicht geliebt.“

„Ich liebe dich.“ Etains Stimme klang gepresst.

„Oh, ich weiß, Mama!“ Elphame hob den Kopf. Sie sah ihrer Mutter direkt in die Augen. „Du und Da und Cuchulainn und Finegas und Arianrhod, ihr alle liebt mich. Das müsst ihr auch, ihr seid meine Familie“, fügte sie lächelnd hinzu. „Aber sogar deine privaten Wachen, die dich fraglos verehren und für jeden von uns ihr Leben geben würden, glauben, dass ich etwas essenziell Unberührbares bin.“

Die Stute trat einen Schritt vor, und El lehnte sich an ihre Flanke. Etain sehnte sich danach, ihre Tochter in die Arme zu nehmen, aber sie wusste, dass El sich dann versteifen und ihr sagen würde, sie sei kein Kind mehr. So gab sie sich damit zufrieden, über ihr seidiges Haar zu streichen, und damit, den Trost Eponas in den Körper ihrer Tochter fließen zu lassen.

„Deshalb bist du heute hierhergekommen, stimmt’s?“, fragte El.

„Ja“, erwiderte ihre Mutter schlicht. „Ich wollte noch einmal versuchen, dir auszureden, fortzugehen.“ Etain machte eine gedankenvolle Pause, bevor sie weitersprach. „Warum bleibst du nicht hier und nimmst meinen Platz ein, El?“

Ihre Tochter richtete sich ruckartig auf und schüttelte heftig den Kopf, doch Etain fuhr unbeirrt fort: „Ich hatte eine lange, reiche Regentschaft. Ich bin bereit, abzutreten.“

„Nein!“ Elphames Stimme war unerbittlich. Allein der Gedanke daran, den Platz ihrer Mutter einzunehmen, verursachte ihr Panik. „Du bist noch nicht bereit, dich zurückzuziehen! Sieh dich an. Du siehst Jahrzehnte jünger aus, als du bist. Du liebst es, die Rituale für Epona zu zelebrieren. Das Volk braucht dich, denn eines darfst du nicht vergessen, Mama. Das spirituelle Reich ist mir verwehrt. Ich habe nie Eponas Stimme gehört oder die Berührung ihres Zaubers gespürt …“ Ihre Traurigkeit, weil diese Worte nur zu wahr waren, spiegelte sich in Elphames Zügen. „Ich habe nie überhaupt irgendwelche Magie gespürt.“

„Aber Epona spricht zu mir oft über dich“, sagte Etain sanft und berührte eine Wange ihrer Tochter. „Ihre Hand wacht seit vor deiner Geburt über dich.“

„Ich weiß. Ich weiß, dass die Göttin mich liebt, aber ich bin nicht ihre Auserwählte.“

„Noch nicht“, fügte Etain hinzu.

Elphames Reaktion bestand darin, sich an den warmen vertrauten Hals des Pferdes zu drücken, während die Stute mit ihren Lippen sanft an ihr knabberte.

„Ich verstehe trotzdem nicht, wieso du gehen musst.“

„Mama.“ Elphame bewegte ihren Kopf, sodass sie zu ihrer Mutter aufschauen konnte. „Bei dir klingt das so, als wollte ich auf die andere Seite der Erde reisen.“ Verbittert hob sie eine dunkle Augenbraue – ein Ausdruck, der sie ihrem Vater unglaublich ähnlich sehen ließ.

Etains Lächeln hatte etwas Teuflisches. Ab dem Moment ihrer Geburt war sie ihren Kindern ergeben. Sogar jetzt, wo sie alle erwachsen waren, zog sie es vor, dass sie in ihrer Nähe blieben. Sie genoss ihre Gesellschaft und schätzte die Individuen, zu denen sie sich entwickelt hatten.

El sprach langsam, um sicherzustellen, dass ihre Mutter ihre Worte dieses Mal wirklich hörte: „Ich weiß nicht, warum es dich so traurig macht, dass ich gehe. Es ist ja nicht so, als wäre ich noch nie von zu Hause fort gewesen. Ich habe im Tempel der Musen studiert, das schien dich auch nicht zu stören.“

„Das war anders. Natürlich musstest du bei den Musen studieren. Dort werden alle außergewöhnlichen Frauen von Partholon unterrichtet. Arianrhod ist derzeit auch da.“ Etain lächelte selbstzufrieden. „Meine beiden Töchter sind außergewöhnlich, was mit ein Grund dafür ist, weshalb ich euch so gerne in meiner Nähe habe.“

„Wenn ich geheiratet hätte, wäre ich vermutlich auch in das Haus meines Mannes gezogen.“ Els Stimme hatte ihren frustrierten Unterton verloren. Sie klang jetzt nur noch erschöpft.

„Sprich nicht, als würdest du niemals heiraten. Du bist noch jung. Du hast noch Jahre und Jahre vor dir.“

„Mama, bitte. Lass uns diesen alten Streit nicht wieder aufwärmen. Du weißt, dass niemand mich heiraten wird. Es gibt keinen, der so ist wie ich, und niemand will einer Göttin so nahekommen.“

„Dein Vater hat mich geheiratet.“

El lächelte ihre Mutter traurig an. „Du bist komplett menschlich, Mama. Außerdem wird der Hohe Schamane der Zentauren immer mit der Geliebten Eponas vermählt. Er ist dazu erschaffen worden, dich zu lieben – das ist für ihn normal. Ganz offensichtlich hat die Göttin mich berührt, aber ich bin nicht ihre Auserwählte. Epona hat keinen zentaurischen Schamanen aufgefordert, sich als mein Partner zu zeigen. Ich glaube nicht, dass überhaupt irgendjemand, ob Mensch oder Zentaur, dazu erschaffen wurde, mich zu lieben. Nicht so wie du und Da.“

„Oh Rehlein!“ Etains Stimme brach, als sie den alten Kosenamen aus Elphames Kindheit aussprach. „Das glaube ich nicht. Epona ist nicht grausam. Es gibt jemanden für dich. Er hat dich nur noch nicht gefunden.“

„Vielleicht. Und vielleicht muss ich losziehen und ihn suchen.“

„Aber warum dort? Mir gefällt der Gedanke nicht, dich dort zu wissen.“

„Es ist nur ein Ort, Mama. Offen gesagt ist es nur eine alte Ruine. Ich denke, es ist längst an der Zeit, dass sie wiederaufgebaut wird. Erinnerst du dich an die Geschichten, die du mir früher oft vor dem Schlafengehen erzählt hast? Du hast gesagt, dass es einmal sehr schön dort war.“

„Ja, bis es ein Hort des Bösen und Schauplatz unsäglicher Verbrechen wurde.“

„Das ist über hundert Jahre her. Das Böse ist fort, und die Toten können mir nicht wehtun.“

„Sei dir dessen nicht so sicher.“

„Mama.“ El nahm die Hand ihrer Mutter. „MacCallan war mein Vorfahre. Warum sollte sein Geist mir schaden wollen?“

„Bei der Schlacht auf der MacCallan-Burg sind noch andere gestorben als nur unser Stammesführer und die edlen Krieger, die ihr Leben gaben in dem Versuch, ihn zu schützen. Du weißt, dass man sagt, die Burg sei verflucht. Seit über einem Jahrhundert hat niemand gewagt, ihren Grund zu betreten, geschweige denn, dort zu leben“, sagte Etain mit fester Stimme.

„Mein ganzes Leben lang hast du über den MacCallan-Schrein und seine immerwährende Flamme gewacht“, erwiderte El. „Wir haben die Erinnerung an MacCallan wachgehalten, obwohl der Clan vernichtet wurde. Warum überrascht dich mein Wunsch so, die Burg wieder aufzubauen? Immerhin fließt sein Blut auch in meinen Adern.“

Etain antwortete nicht gleich. Einen Moment lang spielte sie mit dem Gedanken, ihre Tochter zu belügen und zu behaupten, die Göttin habe sie wissen lassen, dass der Fluch echt sei, aber nur für einen Moment. Mutter und Tochter hatten tiefes Vertrauen zueinander und liebten sich aufrichtig. Etain war nicht gewillt, ihrer Beziehung Schaden zuzufügen oder sie zu ihrem Vorteil auszunutzen – außerdem würde sie niemals die Unwahrheit sagen über das Wissen, das Epona ihr zuteilwerden ließ.

„Ich glaube nicht wirklich, dass MacCallan dir schaden würde, auch wenn es durchaus möglich ist, dass ruhelose Geister die alte Burg bevölkern. Und ich gebe zu, der alte Fluch ist nur eine Sage, mit der man zu abenteuerlustige Kinder einschüchtert. Es ist gar nicht mal, dass ich so sehr um deine Sicherheit fürchte – es ist vielmehr, dass ich nicht verstehe, wieso du die Arbeiter begleiten musst, die den Schutt aus der Ruine räumen sollen. Warum wartest du nicht, bis das größte Chaos beiseitegeschafft und die Burg so weit aufgebaut wurde, dass sie bewohnbar ist? Dann kannst du immer noch die letzten Schritte der Instandsetzung persönlich überwachen.“

Elphame seufzte liebevoll auf. Als Auserwählte von Epona war Etain ein Leben in Luxus gewöhnt, umgeben von Dienern und Mägden. Der Wunsch ihrer Tochter, sich die Hände schmutzig zu machen und ein raues Leben zu führen, bis die Arbeit getan war, war für sie vollkommen unverständlich.

„Ich möchte in jeden Aspekt dieses Vorhabens eingebunden sein. Ich werde die MacCallan-Burg wieder aufbauen, und ich werde dort die Herrin sein. Als Lady der Burg und der umgebenden Ländereien werde ich etwas Eigenes haben, etwas, das ich erschaffen habe. Wenn ich schon keinen Partner und keine Kinder haben kann, dann habe ich zumindest mein eigenes Reich. Bitte versteh das und gib mir deinen Segen, Mama.“ Flehend schaute El ihre Mutter an.

„Ich möchte nur, dass du glücklich bist, mein geliebtes Rehlein.“

„Das wird mich glücklich machen. Du musst darauf vertrauen, dass ich weiß, was ich tue, Mama.“

Du musst sie gehen lassen, Geliebte. Die Göttin sprach die Worte sanft in Etains Geist, doch sie fühlten sich an, als würde eine Messerklinge durch ihr Herz gleiten. Vertraue darauf, dass sie ihr Schicksal findet, und vertraue darauf, dass ich auf sie achte.

Etain schloss die Augen und kämpfte gegen Zweifel und Trauer an. Tief seufzend öffnete sie die Lider und wischte sich die Tränen von den Wangen.

„Ich vertraue dir. Und du wirst immer meinen Segen haben.“

Elphames Gesicht schien sich vor ihren Augen zu verwandeln.

Die Sorgenfalten, die oft ihre Stirn durchzogen, verschwanden, und das ließ sie mit einem Mal herzerweichend jung aussehen.

„Danke, Mama. Ich glaube, dass ich dazu bestimmt bin, das zu tun. Warte nur, bis du Burg MacCallan zu neuem Leben erweckt siehst.“ Sie gab der silberweißen Stute überschwänglich einen Klaps auf den Hals. „Lasst uns schnell nach Hause laufen, damit ich zu Ende packen kann. Du weißt, dass ich morgen früh in der Dämmerung aufbreche.“

Elphame plapperte fröhlich vor sich hin und hielt problemlos mit dem Schritt der Stute ihrer Mutter mit. Etain gab bedeutungsvoll klingende, Aufmerksamkeit vortäuschende Laute von sich, aber sie konnte sich nicht auf die Worte aus dem Mund ihrer Tochter konzentrieren. Stattdessen spürte sie bereits Elphames Abwesenheit wie ein schwarzes Loch in ihrer Seele. Auch wenn der späte Frühlingsabend warm war, strich ein eisiger Finger über den Nacken der Inkarnation der Göttin und ließ sie erschauern.

2. KAPITEL

„Cu, erinnere mich daran, weshalb ich zugestimmt habe, dass du mich begleitest.“ Elphame sah ihren Bruder von der Seite an und versuchte unauffällig, ihren Schritt zu beschleunigen. Er sang gefühlt die fünfhundertste Strophe eines anzüglichen militärischen Marschliedes, und der nicht endende Refrain pochte im Gleichklang mit ihrem Kopfschmerz durch ihre rechte Schläfe. Beinahe wünschte sie, sie hätte nicht darauf bestanden, dass sie beide getrennt vom Rest der Gruppe reisten.

Der große rehbraune Wallach, den Cuchulainn ritt, beschleunigte automatisch, um mit Elphame Schritt zu halten.

Das ansteckende Lachen ihres Bruders hallte durch die Luft. „Ich bin mitgekommen, Schwester mein, um dich zu beschützen.“

Elphame gab ein höchst undamenhaftes Schnauben von sich. „Oh bitte, verschone mich. Mich beschützen? Du brauchtest wohl eher eine Pause davon, den Tempeljungfrauen nachzustellen.“

„Hast du wirklich nachstellen gesagt?“ Er schüttelte in gespielter Verzweiflung den Kopf. „Ich wusste doch, dass du zu viel Zeit damit zubringst, die dicken Folianten in Mutters Bücherei zu lesen. Und es sind nicht die Jungfrauen, hinter denen ich her bin.“ Er wackelte anzüglich mit den Augenbrauen.

Elphame versuchte vergeblich, ein Lächeln zu unterdrücken. Sie schenkte ihrem Bruder einen liebevollen Blick. „Als Nächstes wirst du mich daran erinnern, dass du es überhaupt nicht nötig hast, einer Frau nachzujagen.“

„Nun, meine liebste Schwester, das ist die reine Wahrheit.“ Er grinste sie an.

„Hm, ich dachte, du würdest zu Hause bleiben für den Empfang der …“ Elphame räusperte sich und warf ihr Haar zurück, dann fuhr sie in einer perfekten Imitation der Stimme und Körpersprache ihrer Mutter fort: „Für den Empfang der liebreizenden und unverheirateten Tochter des Stammesführers von Woulff-Burg, die auf dem Weg zum Tempel der Musen, wo sie ihre Ausbildung beginnen wird, einige Zeit in Eponas Tempel verweilt.“

Cuchulainns Lippen wurden schmal, und einen Moment bereute Elphame, ihn geneckt zu haben. Dann gewann seine übliche gute Laune jedoch wieder die Oberhand, und er zuckte lächelnd mit den Schultern.

„Sie heißt Beatrice, Schwester mein. Kannst du dir vorstellen, dass jemand mit dem Namen Beatrice keine hohe Stirn und keine königliche Haltung hat?“ Er legte ein Lächeln in seine tiefe Stimme, sodass Elphame lachen musste.

„Sie ist bestimmt eine sehr schöne Frau“, sagte sie kichernd.

„Und ohne Zweifel sehr fruchtbar, mit breiten Hüften, die problemlos mehrere Kinder gebären können.“

Bruder und Schwester tauschten einen verständnisinnigen Blick.

„Ich bin froh, wenn Arianrhod und Finegas alt genug sind, dass Mama anfangen kann, sie zu verkuppeln.“ El klang ernster, als sie beabsichtigt hatte.

Cuchulainn seufzte schwer. „Die Zwillinge werden diesen Sommer achtzehn. In drei Jahren wird Mutter den Höhepunkt ihrer Kuppelei erreicht haben.“

El warf Cu einen Blick zu. „Arme Kinder. Beinahe wünschte ich, wir hätten sie nicht so sehr getriezt, als sie noch kleiner waren.“

„Beinahe!“ Cuchulainn lachte. „Zumindest hat Mutter sich nicht einen von uns herausgepickt, sondern es betrifft uns alle gleich.“

Elphame lächelte nur und beschleunigte ihren Schritt noch etwas. Für eine Weile ging sie auf dem schmalen Weg vor ihrem Bruder. Für mich ist es nicht das Gleiche, dachte sie. Unablässig wirbelten die Gedanken durch ihren unruhigen Geist. Ihre Geschwister waren Menschen – attraktive, talentierte, beliebte Menschen. Sie musste sich nicht erst umdrehen, um sich dessen zu vergewissern. Cuchulainns Gesicht war ihr so vertraut wie ihr eigenes – er sah ihr sehr ähnlich. Sie lächelte schwach. Cu war nur anderthalb Jahre jünger als sie, und von der Hüfte aufwärts betrachtet hätten sie Zwillinge sein können. Er hatte die gleichen hohen, fein ausgebildeten Wangenknochen, aber wo ihre zart und feminin waren, waren seine entschieden maskulin. Ihr Kinn wirkte (zumindest ihrer Mutter zufolge) aufsässig und seines trotzig und stolz (jedenfalls fand sie das) und hatte ein entzückendes Grübchen. Anstelle der zobelschwarzen Augen und kastanienbraunen Haare hatte er Augen, deren einzigartige Farbe irgendwo zwischen Blau und Grün changierte, und dichtes sandbraunes Haar mit widerspenstigen kleinen Wirbeln. Er trug es glatt zurückgekämmt und kurz geschnitten, was seine Mutter immer wieder zu Klagen animierte, weil er es nicht wie ein ordentlicher Krieger wachsen ließ.

Cuchulainn, Sohn von Midhir, dem Hohen Schamanen und zentaurischen Kriegerfürsten, musste kein „ordentlicher Krieger“ sein. Er war nach einem uralten Helden Partholons benannt worden und sah nicht nur wie ein Held aus, sondern verhielt sich auch so – ob sein Benehmen nun immer tadellos war oder nicht. Groß und von guter Figur, gewann er Turniere, war der beste Schwertkämpfer in Partholon und im Bogenschießen noch nie besiegt worden. Elphame hatte mehr als eine Jungfrau sehnsüchtig seufzen und sagen hören, dass er wahrlich der wiedergeborene Cuchulainn sein musste.

Nein, ihrem Bruder hatte es noch nie an weiblicher Begleitung gemangelt. Er hatte bisher nur einfach noch nicht seine Lebenspartnerin gefunden. Elphame lächelte. „Aber nicht, weil er es nicht versucht hätte“, murmelte sie vor sich hin. Das war ein Gebiet, auf dem sie sich von ihrem Bruder unterschied. Er war charmant und hatte Erfahrung mit dem anderen Geschlecht, und sie war noch nicht einmal geküsst worden.

Sogar ihre jüngsten Geschwister, die sie und Cu seit frühester Kindheit die kleinen Gelehrten nannten, hatten keine Probleme, Partner für die Mondrituale zu finden. Arianrhod und Finegas waren nicht so athletisch wie sie beide, aber sie waren zu intelligenten, selbstsicheren jungen Erwachsenen herangewachsen. Sie sahen aus, als wären sie jeweils das Spiegelbild des anderen, und ihr eleganter Körperbau war durch und durch menschlich – und vollkommen normal. Und, gestand Elphame sich ein, Arianrhod war hübsch und Fin gut aussehend.

Der Weg durch den uralten Wald führte ein wenig nach rechts und wurde breiter. Cuchulainn dirigierte seinen Wallach an Elphames Seite.

„Sie erinnert mich an Mama“, sagte El plötzlich.

Cu sah sie überrascht an. „Wer?“

El verdrehte die Augen. Sie erwartete immer, dass ihr Bruder ihre Gedanken erriet, und war genervt, wenn er es mal nicht tat. „Arianrhod, wer sonst? Deshalb sind die jungen Männer schon jetzt hinter ihr her. Natürlich interessiert es sie nicht, sie bemerkt es ja nicht einmal – außer sie hat sich während ihres ersten Semesters im Tempel der Musen komplett verändert.“

Um die Augen ihres Bruders zeigten sich kleine Lachfältchen. „Arianrhods Kopf wird immer in den Wolken schweben.“

„Astronomie und Astrologie sind untrennbar mit den Schicksalsgöttinnen verbunden, und somit ist es weise, beides sorgfältig zu studieren“, äffte El den Ton ihrer jüngeren Schwester nach.

Cu lachte. „So ist unsere kleine Gelehrte. Die Ironie ist, dass die in sie vernarrten Männer ihr aufgrund ihrer Gleichgültigkeit ihnen gegenüber nur noch stärker nachstellen werden. Du hast ja gesehen, wie die Jungfern Fin bereits hinterherlaufen, und sein Bart ähnelt immer noch mehr Kükenflaum als Männerhaar.“

„Ja, aus welchem Grund auch immer sind sie sehr beliebt.“

Cuchulainn sah seine Schwester eindringlich an. „Geht es dir gut?“

„Natürlich“, erwiderte sie automatisch, wobei sie seinem Blick auswich.

„Hier wird es anders sein, Rehlein“, sagte er ruhig.

„Ich weiß.“ Sie warf ihm einen kurzen Blick zu und schaute schnell wieder weg, aus Furcht, er könnte die Tränen sehen, die ihre Augen vermutlich verdächtig glänzen ließen.

„Nein, ich meine das ernst.“

Sein ernster Ton veranlasste sie, langsamer zu werden, sodass sie aufmerksamer zuhören konnte.

„Auf Burg MacCallan wirst du alles finden, was du dir je gewünscht hast. Ich hatte ein Gefühl.“

Die Worte ihres Bruders schienen in der duftigen Frühlingsluft zu schweben. El wusste genau, was er meinte. Es war ein Teil des geheimen Codes zwischen ihnen. So wie sie die Tochter ihrer Mutter, der Inkarnation der Göttin, und somit von Epona berührt worden war, so war Cuchulainn wahrlich der erstgeborene Sohn ihres schamanischen Vaters. Schon in jungen Jahren hatte er Dinge einfach gewusst. Er hatte ihr erklärt, dass es war, als hörte er Worte, die im Wind verborgen waren. Manchmal erzählte ihm dieser „Wind“, wo er verlorene Gegenstände finden konnte. Manchmal verriet er ihm, dass Besuch zum Tempel unterwegs war. Und manchmal sagte er unheilvolle Neuigkeiten voraus wie den vorzeitigen Tod eines geliebten Kindes oder den Bruch eines Blutschwurs.

Dieses übernatürliche Wissen hatte den jungen Cuchulainn geängstigt. Es war ein Feind, den er nicht mit seinen Muskeln bezwingen oder mit seinem wachen Geist überlisten konnte. Es ließ ihn sich wie eine Anomalie fühlen, einen Außenseiter; es gab ihm eine Macht, um die er nicht gebeten hatte und die er nicht beherrschen wollte.

Das war etwas, was Elphame nur zu gut verstand, und so war er immer zu ihr gekommen, wenn er ein Gefühl für oder über irgendetwas hatte. Sie konnte seine Furcht nachempfinden und hatte sich nicht von ihm abgewandt, sondern war seine engste Vertraute geworden, auch wenn ihre Einstellung zum Spirituellen sich definitiv von seiner unterschied. Sie war immerhin die physische Manifestation des Zaubers der Göttin und verstand nicht, wieso ihr Bruder ein Geschenk aus dem spirituellen Reich zurückwies. Vor allem, da sie sich so sehr danach sehnte, wenigstens einen Hauch der Macht zu spüren, die ihre Mutter problemlos beherrschte. Trotzdem stand sie ihm ruhig und sachlich zur Seite. Als er älter wurde, lernte Cuchulainn, seine aufkeimenden hellseherischen Fähigkeiten zu unterdrücken und sich nicht von ihnen überwältigen zu lassen.

Jetzt musterte Elphame ihren Bruder eindringlich. Er hatte sie noch nie belogen, und sein Gefühl hatte ihn noch nie getäuscht.

„Versprichst du es mir?“, fragte sie ein wenig atemlos. Die leichte Röte, die ihre Wangen überzog, war das einzige äußere Anzeichen für die Aufregung, die in ihrem Inneren tobte.

„Ja.“ Er nickte.

Freude wogte in ihr auf. „Ich wusste, die MacCallan-Burg wieder aufzubauen ist das Richtige.“ Sie schenkte ihm einen schwesterlichen Blick und dachte an all die Mühe, die es bereitet hatte, ihre Mutter zu überreden, sie gehen zu lassen. „Hättest du dieses Wissen nicht mit Mama teilen können?“

„Meinst du, irgendeine Macht in Partholon hätte sie dann davon abhalten können, uns dorthin zu begleiten, wenn ich Mutter erzählt hätte, ich wüsste, dass sich dein Schicksal auf der MacCallan-Burg erfüllen wird?“

„Ausgezeichneter Einwand“, stimmte Elphame zu. Ihre Gedanken suchten sich einen Weg durch das in ihr tobende Gefühlschaos. „Aber warum hast du so lange gewartet, bis du es mir erzählt hast?“

Cuchulainn runzelte angestrengt die Stirn und antwortete bedächtig: „Dieses Gefühl ist unbestimmt.“ Als er den enttäuschten Ausdruck sah, der sich auf ihrem Gesicht ausbreitete, beeilte er sich, zu erklären: „Nein, keine Angst, das bedeutet nicht, dass es weniger sicher ist. Ich weiß, dass du auf der MacCallan-Burg deinem Schicksal begegnen wirst. Ich weiß, dass dieses Schicksal in Form eines Lebenspartners kommt, aber wenn ich versuche, mich auf Einzelheiten des Mannes zu konzentrieren, erhalte ich nur verschwommene und verwirrende Eindrücke.“ Er schüttelte den Kopf und lächelte sie verlegen an. „Vielleicht liegt es daran, dass du meine Schwester bist und ich es ziemlich verstörend fände, Details aus deinem Liebesleben zu wissen.“

„Ich weiß genau, was du meinst. Wenn die Mägde anfangen, Gedichte über deine verschiedenen Körperteile zu verfassen, halte ich mir die Ohren zu und laufe schreiend davon.“ Sie schüttelte sich und zog eine Grimasse.

„Hmpf.“ Er schnaubte einmal lapidar, doch dann musste er lachen. Er war froh, dass seine Schwester nicht nach weiteren Einzelheiten bezüglich seines Gefühls gefragt hatte.

Er hatte lange mit sich gerungen, was er El über seine Vision sagen sollte. Er wusste, dass es seine geliebte Schwester schmerzte, dass sie ihrer Überzeugung nach niemals einen Mann finden würde. Und er wusste, dass er ihr von seinem Gefühl erzählen musste. Für ihn war es vollkommen klar, dass sie auf der MacCallan-Burg ihrem Partner und ihrem Schicksal begegnen würde. Doch er wusste auch, dass mehr dahintersteckte. Es ging nicht nur darum, sich einfach nur zu verlieben. Ein Teil seiner Vorahnung war vage und ominös gewesen. Nicht wie die typischen „Liebesvisionen“, die er in der Vergangenheit erhalten hatte und die normalerweise einen Freund in den Armen einer jungen Frau zeigten, gefolgt von dem Gefühl, dass diese beiden Menschen zusammengehörten.

Er hatte auch seine Schwester in den Armen eines Mannes gesehen, doch es war ihm nicht gelungen, den Mann deutlich zu erkennen. Er hatte klar den Ausdruck zärtlichen Glücks, der auf dem sonst so ernsten Gesicht seiner Schwester gelegen hatte, sehen können. Dieser für ihn so überraschende Anblick hatte seine Konzentration erheblich gestört. Vielleicht war das der Grund, wieso er den Mann nicht hatte erkennen können. Vielleicht auch nicht. Er hatte aber definitiv gefühlt, dass diese beiden zusammengehörten. Als er versucht hatte, sich auf die Szene zu konzentrieren und den Mann eingehender zu betrachten, war die Vision in blendendes scharlachrotes Licht getaucht worden, so als hätte jemand sie in Blut getränkt. Dann war genauso schnell undurchdringliche Finsternis heraufgezogen und hatte die Liebenden wie ein samtener Vorhang verhüllt. Der Mann war verblasst, und seine Schwester blieb allein zurück.

Wie typisch für das Reich der Spiritualität, ihn mit unbeantworteten Fragen und einem unguten Gefühl zurückzulassen. Die flüchtige Natur seiner Macht hatte er schon immer gehasst. Ihr fehlte das echte Gewicht eines Schwertes oder das klare Ziel eines Pfeils.

Cuchulainn schluckte ein paarmal gegen seine trockene Kehle an. Er war froh, dass Elphame wieder einmal vor ihm ging. Sie konnte seine Gefühle zu gut lesen. Er wollte ihr jedoch nicht zeigen, wie tief sich diese letzte Vision in seine Seele gebrannt und ihn mit ihrem seltsamen grellroten Flüstern verängstigt hatte. Er ballte seine rechte Hand und spürte förmlich das Gewicht seines Kurzschwerts, als er es in Gedanken packte und zum Angriff bereit zückte.

Ja. Lebenspartner oder nicht – Cuchulainn war bereit, seine Schwester vor allem zu beschützen, was ihr Schaden zufügen wollte.

3. KAPITEL

„Ich verstehe nicht, warum wir nicht mit dem Rest der Arbeiter in Loth Tor bleiben konnten“, beschwerte Cuchulainn sich, während er ein weiteres trockenes Holzscheit aufs Feuer legte.

„Ich dachte, Krieger müssen so dickhäutig sein, dass sie ohne zu klagen auf einem Distelbett schlafen können.“ Elphame warf ihm den Weinschlauch zu. „Hier, trink einen Schluck. Den hat Mama uns mitgegeben“, fügte sie bedeutungsvoll hinzu.

„Krieger mögen genauso gerne ein weiches Bett wie jeder andere.“ Cuchulainn grummelte noch ein wenig vor sich hin, doch er nahm den Weinschlauch und trank einen großen Schluck. „Mutters Weinliebe war auf dieser Reise ein Segen, aber das entschädigt nicht für ein Daunenbett.“ Oder eine wollüstige junge Witwe in diesem Bett, dachte er.

„Cu, du bist nur erbost über dein Bett hier, weil diese plumpe Blondine dir mehr als nur einen Nachschlag ihres Eintopfs angeboten hat.“

„Eine junge Witwe zu sein ist eine schwere Bürde.“

„Nicht wenn du in der Nähe bist.“ Elphame lachte. „Ach komm schon, hör auf zu schmollen. Ich will zusehen, wie die Sonne über meiner Burg aufgeht, und das will ich nicht inmitten einer Gruppe von Zentauren und Männern tun, die mich anstarren und sich vorstellen, dass in den Schatten der Ruine Dämonen lauern.“

Cuchulainn gab nur einen undefinierbaren Laut von sich. Er nahm noch einen Schluck Wein und warf den Schlauch wieder seiner Schwester zu. Dann stocherte er ein wenig im Feuer herum. Er hatte nicht vor, weiterzumaulen, denn er war es gewohnt, dass Elphame die Einsamkeit suchte, und er verstand ihre Gründe dafür. Ihr ganzes Leben lang war sie angebetet worden, weil die Göttin sie berührt hatte. Sie war ein Wesen, das noch nie zuvor erschaffen worden war. Man behandelte sie nicht gemein – im Gegenteil. Sie flößte den Menschen Ehrfurcht ein, vor allem denen, die ihren Anblick nicht gewohnt waren. Die meisten Arbeiter, die sie begleiteten, waren aus der Gegend um Eponas Tempel und behandelten Elphame mit vorsichtigem Respekt, wahrten ansonsten aber Distanz. Während der fünftägigen Reise von Eponas Tempel zur MacCallan-Burg war ihm aufgefallen, wie die Leute unterwegs ihre Arbeit unterbrachen und an die Straße eilten, wenn „die junge Göttin Elphame“ vorbeikam. Dort verbeugten sie sich so tief, dass sie mit dem Kopf praktisch den Grasstreifen berührten, der den Weg säumte. Unterwegs hatten sich weitere Menschen und Zentauren ihrem Zug angeschlossen, die alle von der Chance profitieren wollten, die ein Neuaufbau der Burg bieten würde. Ihre Reaktion auf seine Schwester war immer gleich: ehrfürchtiges Starren. Cuchulainn wusste, dass Elphame aus diesem Grund darauf bestanden hatte, die Straße zu verlassen und dem unbefestigten Weg zu folgen, der quer durch den Wald führte. Für El bedeuteten weniger Menschen weniger Verehrung, und das war in ihren Augen etwas Gutes.

Bruder und Schwester hatten unter den Sternen genächtigt und in keinem der verschlafenen kleinen Dörfer gehalten, die zwischen den Weinbergen und Weiden verstreut lagen. Erst in Loth Tor, dem Dorf, das sich an den Fuß des Plateaus drückte, auf dem die MacCallan-Burg thronte, waren sie wieder zu ihrer Reisetruppe gestoßen. Gemeinsam hatten sie im Mare’s Inn zu Abend gegessen, der einzigen Taverne des Ortes. Alle hatten sich ehrfürchtig vor Elphame verbeugt. Einige hatten gefragt, ob sie die junge Göttin berühren dürften, andere hatten sie einfach nur mit offenem Mund angestarrt. Cuchulainn hatte zugesehen, wie seine Schwester jedem höflich zunickte und das Verlangen der Menschen, ihr zu huldigen, stillschweigend über sich ergehen ließ. Niemandem schien die unnatürliche Anspannung in ihren Schultern aufzufallen oder ihre überkorrekte Haltung. Auf ihn wirkte sie, als würde sie in tausend Stücke zerspringen, wenn sie sich zu schnell bewegte.

Als das Mahl beendet war, behauptete sie, dass sie den Wunsch verspürte, unter den Sternen zu schlafen und mit ihrem Bruder und Epona allein zu sein. Er wusste, dass sie den Namen der Göttin hinzufügte, damit die Bewohner des Dorfes ihnen nicht folgten. Wortlos hatte er seinen müden Wallach gesattelt und ihn zu einem scharfen Galopp angetrieben in dem Versuch, mit Elphame Schritt zu halten, die es gar nicht erwarten konnte, das Dorf hinter sich zu lassen.

„Es wird besser, wenn du erst einmal eine Weile hier bist“, sagte er leise.

„Man sollte doch meinen, ich hätte mich inzwischen daran gewöhnt.“ Sie seufzte schwer und nahm einen Schluck von dem hervorragenden Wein, dann warf sie ihm den Schlauch wieder zu. „Habe ich aber nicht.“ Sie hob die Augenbrauen. „Schwer zu glauben, dass mein Schicksal irgendwo hier in der Nähe auf mich warten soll.“

„Es sind schon seltsamere Dinge passiert“, sagte er leichthin, denn er wollte nicht über seine Vision oder Elphames möglichen Lebenspartner sprechen.

„Zum Beispiel?“

„Zum Beispiel die Tatsache, dass wir dieselben Eltern haben, ich aber ein Mensch und du zum Teil ein Pferd bist“, erwiderte er prompt.

Sie verdrehte die Augen. „Ich bin teilweise Zentaur, nicht Pferd.“ Ansonsten widersprach sie nicht.

„Leg dich schlafen“, sagte er. „Du wirst morgen deine ganze Energie brauchen. Ich bleibe auf und wache über das Feuer.“ Und über dich, fügte er in Gedanken hinzu. Die Anspannung seiner Schwester mochte sich nach dem Verlassen des Dorfes etwas gelöst haben, aber seine Instinkte als Krieger ließen ihn wachsam bleiben, denn er war unruhig.

Warum konnte er Elphames Zukunft nicht deutlicher sehen? Warum war die Vision so dunkel und verschwommen? Und warum schien sie in Blut getränkt zu sein?

Elphame rollte sich zusammen und machte es sich in ihrem Schlafsack gemütlich. „Du kannst mir nichts vormachen, Cuchulainn“, sagte sie.

Ihre Augen waren geschlossen und ihre Stimme nur ein Flüstern, aber der sanfte Nachtwind trug ihre Worte klar und deutlich zu ihm herüber.

„Das ist nur noch mehr von diesem ‚Ich bin ein Krieger und muss meine Schwester beschützen‘-Unsinn.“

„Das klingt wie etwas, das Mutter sagen würde“, erwiderte er und fügte leise hinzu: „Wurde aber auch Zeit, dass du es bemerkst.“

Die Lippen seiner Schwester verzogen sich zu einem leichten Lächeln. Kurz darauf war sie tief eingeschlafen.

Elphame träumte, dass ihr Liebhaber in einem dunklen Nebel zu ihr kam, der sie umfing, als wären der Nacht Flügel gewachsen. Auch wenn sie unter seiner Berührung zitterte, hatte sie keine Angst. Bereitwillig bot sie sich der nebligen Erscheinung an, und er beugte sich zu ihr und trank von ihrer Liebe, während sie in die samtige Schwärze des mitternächtlichen Himmels flogen und ihr Bett inmitten der Sterne aufschlugen.

„Ich wusste, dass es umwerfend sein würde.“ Elphame seufzte glücklich. „Oh Cu, sieh dir meine Burg an.“

Sie standen am Saum des Kiefernwaldes, der die Landseite des Plateaus umgab, auf dem die MacCallan-Burg erbaut worden war. Der harzige, klare Geruch der Kiefern vermischte sich mit dem Salzduft des Ozeans und schien alles rein zu waschen – das Grün des Waldes wirkte satt und kräftig, das Weiß und Blau des Meeres glasklar und elegant, wenn es sich an den weit unten liegenden Felsen brach. Die Burg ragte vor ihnen auf. Eindrucksvoll thronte sie auf ihrem steinernen Sitz am Rande der prächtigen Klippe.

Elphame betrachtete ihr neues Zuhause und schwelgte im Wunder dieses ersten Anblicks. Reihe um Reihe Rotblütenbäume und Hartriegelsträucher standen in voller Blüte, Unkraut und Brombeerranken wucherten überall. Die Burg sah aus, als hätte sie seit Jahrhunderten geschlafen und darauf gewartet, von ihrer wahren Liebe mit einem Kuss erlöst zu werden.

Ein bisschen wie ich. Elphame war überrascht über diesen romantischen Gedanken, aber der Ausblick vor ihr und die Prophezeiung ihres Bruders weckten bei ihr ungeahnt romantische Gefühle. Etwas, wie sie erstaunt feststellte, das sie durchaus genoss.

War es das, was mir die ganzen Jahre über gefehlt hat, überlegte sie. Diese atemlose, abwartende Aufregung? Als ob jemand kurz davor wäre, einen Schlüssel in meinem Inneren umzudrehen und etwas Magisches freizusetzen?

Die Sonne kletterte langsam über die Baumwipfel. Vor Elphames Augen verwandelte sich das verträumte Rosa und Weiß des frühen Morgenhimmels in das Gold und Blau eines klaren Frühlingstages. Mit einem Mal wurde sie von einem unglaublichen Gefühl der Hoffnung erfüllt, als enthielte der Anbruch des neuen Tages auch für sie das Versprechen eines Neuanfangs. Ein Segen, den sie ihre Mutter oft zu Epona hatte sprechen hören, ging ihr durch den Kopf, und plötzlich hörte sie sich ihn laut aussprechen – auch wenn ihre Worte kaum mehr als ein zögerliches Flüstern waren.

„Große Göttin Epona, meine Göttin,

Ich stehe hier an einem neugeborenen Tag,

Ein Tag, angefüllt mit deiner Magie.

Ich stehe auf der Schwelle,

Vor deinem geheimnisvollen Schleier,

Und bitte um deinen Segen.

Lass mich zu deinem Ruhme arbeiten

Und zum Ruhme meines Geistes.“

Cuchulainn schwieg während des Gebets seiner Schwester. Teils aus Respekt vor Epona, teils aus Überraschung. Er hatte sie noch nie um Eponas Segen bitten hören. Im Gegenteil, Elphame schien es immer vorzuziehen, jede Erwähnung der Göttin zu vermeiden, die sie so offensichtlich berührt hatte. Bis zu diesem Morgen. Auch wenn er die Worte ihres Gebets kaum hören konnte, spürte er doch das einzigartige Summen von Magie in der Luft – wie viele Male zuvor, wenn seine Mutter ein Ritual für Epona durchgeführt hatte.

Wenn sie ihren Bruder angesehen hätte, hätte Elphame den Schock in seinen geweiteten Augen erblickt, aber sie schaute nicht zu ihm. Zu sehr war sie gebannt von der Schönheit des Morgens und des anschwellenden Gefühls in sich, das sie langsam als Sehnsucht nach Zugehörigkeit erkannte. Mit einem Mal brach die Sonne hinter den Wipfeln der Kiefern durch, und ihre Strahlen tauchten die Mauern der Burg in goldenes Licht, sodass es aussah, als hätten die Steine Feuer gefangen.

„Siehst du es, Cu? Die Mauern scheinen zu glühen.“

„Das, was von ihnen übrig geblieben ist, meinst du.“ Seine Stimme klang ruppiger als beabsichtigt, da er immer noch überrascht war von der neuen Macht, die seine Schwester ausstrahlte. Er räusperte sich und kniff die Augen zusammen, um das verfallene Gebäude besser sehen zu können. Für ihn sah die Burg aus wie eine zerzauste alte Bestie, die gefährlich nah an der Klippe kauerte. „El, mach dir nicht zu große Hoffnungen. Sogar von hier aus kann ich erkennen, dass das nur noch eine Ruine ist. Wir haben eine Menge Arbeit vor uns.“

Sie boxte ihm freundschaftlich gegen den Oberarm. „Hör auf, Mama zu spielen. Komm, beeilen wir uns.“

Sie sprang voraus, und Cuchulainn spornte seinen Wallach an, um zu seiner geschmeidig daherlaufenden Schwester aufzuschließen.

Entschlossen kämpften sie sich durch das Unterholz, bis sie die Straße fanden, die zum Vordereingang der Burg führte. Auf ihr ließ es sich einfacher laufen, doch Cuchulainn fluchte unterdrückt über das viele Unkraut und die umgestürzten Bäume, die den einst breiten Weg verstopften.

„Oh, hör schon auf zu grummeln, und sieh dir diese wunderschöne Umgebung an!“, schalt Elphame ihren Bruder. Sie wurde langsamer und drehte sich einmal im Kreis in dem Versuch, alles in sich aufzunehmen. „Ich hatte keine Ahnung, dass es so schön sein würde.“

Selbst ein Jahrhundert der Vernachlässigung konnte den atemberaubenden Anblick von so vielen blühenden Rotblütenbäumen und wilden Kirschen nicht schmälern.

„Es ist, als ginge man durch einen Wald voll rosafarbener Wolken.“

„In Wolken wächst normalerweise kein Gestrüpp.“ Cuchulainn deutete auf die dornigen Pflanzen, die zwischen den Bäumen inmitten des wild wuchernden Unkrauts wuchsen.

„Das ist kein Gestrüpp, das sind Brombeersträucher, Cu. Man muss sie nur ein wenig beschneiden, dann sind sie wie neu. Denk nur an die feinen Kuchen und Torten, die wir diesen Sommer daraus machen können.“

„Nachdem du eine Küche gebaut hast, meinst du“, grummelte er.

Sie schenkte ihm ein Lächeln. „Ich werde eine Küche bauen.“

Cuchulainn dachte, dass die Entschlossenheit in ihrer Stimme vermutlich stärker war als die Wände der Burg, an die sie ihr Herz schon verloren hatte.

„Und du weißt, dass ich den Wald schon immer gemocht habe.“ Elphame wirbelte herum, den Kopf zurückgeworfen, die kastanienbraunen Haare wie einen Mantel um sie herumfliegend. „Die Kiefern sind wunderschön, aber ich glaube, diese blühenden Bäume sind noch unglaublicher.“

Cuchulainn schüttelte den Kopf und sprach mit dem Wissen des Kriegers: „Sicher hast du nicht vor, sie stehen zu lassen, oder? Nach all deinen Studien der Geschichte scheint mir deine Erinnerung nicht mehr ganz intakt zu sein. Einer der Hauptfehler MacCallans war es, dass die Leute hier ihre Verteidigung schleifen ließen.“ Seine Armbewegung schloss die üppig blühenden Bäume ein. „MacCallan ließ zu, dass der Wald sich bis an die Burgmauern ausbreitete. Die fomorianische Armee hatte daher kein Problem, unentdeckt zu bleiben, bis sie die Mauern der Burg überwand und anfing, die Bewohner abzuschlachten.“

Elphame öffnete den Mund, um zu erwidern, dass sie sich nicht im Krieg befänden und seit einhundertfünfundzwanzig Jahren kein Fomorianer mehr in Partholon gesehen worden war, besann sich dann aber anders. Niemand würde versuchen, die Mauern zu überwinden. Partholon hatte sich aber auch damals nicht im Krieg befunden. Nicht bis die MacCallan-Burg überraschend angegriffen worden war. Ja, die Fomorianer waren geschlagen worden, und was von ihrer dämonischen Rasse übrig geblieben war, war aus Partholon durch die Berge Trier in das dahinterliegende Ödland vertrieben worden. Sie wusste, würde sie in nordöstlicher Richtung reisen, käme sie zur Wachtburg, die grimmig und unerschütterlich Wache stand, auf Ewigkeit den Weg nach Partholon schützend.

Einhundertfünfundzwanzig Jahre waren eine lange Zeit. Abgesehen von kleinen Scharmützeln unter den Clans und dem einen oder anderen Überfall der barbarischen seefahrenden Milesianer hatte Partholon eine lange Periode des Friedens und Wohlstands erlebt. Es gab keinen logischen Grund, weshalb das nicht anhalten sollte.

Elphame musterte ihren Bruder, bereit, ihn an die Fakten zu erinnern, die sie gerade im Kopf durchgegangen war. Cu schien angespannt. Seine normalerweise glatte Stirn war von Linien durchzogen, und sie sah, dass er die Zähne zusammenbiss.

„Machen dir die Milesianer Sorgen?“, fragte sie.

Er zuckte mit den Schultern. „Ich kann es nicht sagen, aber deine Burg schaut über das Meer hinaus. Du würdest dich als weise und besonnene Führerin erweisen, wenn du sicherstellst, dass dein Heim zu verteidigen ist.“

Er schaute sie nicht an, während er sprach, sondern ließ den Blick über den Wald schweifen, als könnte zwischen den blühenden Bäumen jederzeit eine barbarische Horde aufspringen und ihnen die Kehle durchschneiden.

Elphame verspürte leichtes Unbehagen. Offensichtlich hatte irgendetwas ihren normalerweise ruhigen Bruder erschüttert. Er hatte vielleicht keine echte Vision mit einer deutlichen Warnung verspürt, aber irgendetwas störte ihn. Auch wenn er die Spiritualität mied und es hasste, seine hellseherischen Fähigkeiten anzuzapfen, respektierte er doch beides – genau wie sie.

Sie nickte. „Du hast recht. Danke, dass du mich daran erinnert hast. Das meiste hiervon muss gerodet und zurückgeschnitten werden.“ Ihre Stimme klang sachlich und bedacht. „Natürlich werde ich deinen Rat brauchen, wie die Verteidigungslinien der Burg neu aufgebaut werden können.“ Sie schenkte den Bäumen einen sehnsüchtigen Blick. „Meinst du, wir können gar keinen behalten?“

„Ein Hain oder zwei weit genug von den Mauern der Burg entfernt wäre kein Problem.“ Cuchulainn entspannte sich ein wenig und lächelte sie an. Er war überrascht, dass sie so leicht nachgegeben hatte. „Und auch deine Brombeeren können bleiben. Sie haben zu viele Dornen, um Angreifern Schutz zu bieten.“

„Wie schön, dann wird es doch noch Brombeerkuchen geben!“ Elphame erwiderte sein Lächeln, froh, dass er wieder so klang, wie sie ihn kannte. Cu war vermutlich nur übervorsichtig und wollte sie beschützen, wie üblich.

Sie folgten der leichten Linkskurve des Weges und standen kurz darauf keine zwanzig Meter vom Vordereingang der Burg entfernt. Die massiven Eisentüren, von denen die Legende besagte, sie seien Gästen nie verschlossen gewesen, waren fort, aufgefressen vom Rost. Elphame konnte Reste davon inmitten des Unkrauts liegen sehen. Nur der zerklüftete Rahmen des großen Tores war noch da und verlieh dem Loch in der dicken Mauer das Aussehen eines Mundes, dem die Vorderzähne fehlten.

Die Mauern selbst waren erstaunlich gut erhalten, zumindest sah das, was man von ihrer Position aus sehen konnte, stabil und solide aus. Einige Balustraden waren zerbröckelt, und es gab keine Schießscharten mehr. Die Teile des Daches, die aus Holz gewesen waren, waren verrottet, doch das Skelett der Burg stand stark und stolz da.

„Es sieht besser aus, als ich gedacht habe.“ Cuchulainns Stimme durchbrach die Stille.

„Es ist perfekt.“ Elphame konnte ihre Aufregung kaum unterdrücken.

„El, es ist in besserer Verfassung, als ich erwartet habe, aber es ist immer noch eine Ruine!“ Cu konnte ihren blinden Optimismus nicht fassen. Nicht nur, dass es angesichts dieses heruntergekommenen Gebäudes eine lächerliche Einstellung war, sondern es passte auch gar nicht zu seiner Schwester, wie er sie kannte. Bevor er noch mehr sagen konnte, streckte sie eine Hand aus und legte sie auf seinen Arm.

„Spürst du es denn nicht?“ Ihre Stimme klang gedämpft.

Cuchulainn war überrascht. Auch wenn seine Schwester von der Göttin berührt worden war, hatte sie nie irgendeine besondere Beziehung zu Epona oder dem magischen Reich der Seelen gezeigt. Abgesehen von ihrem einzigartigen Körper hatte Elphame überhaupt keine Fähigkeiten, die sie mit dem spirituellen Reich verbanden. Er musterte sie eindringlich.

„Was meinst du, El?“

Ihr Blick blieb auf die Burg gerichtet, aber ihre Hand, die auf seinem Arm lag, fing leicht an zu zittern. Sein Pferd stand mit einem Mal völlig still. Die sanfte Brise hatte sich gelegt; sogar die Vögel waren ungewöhnlich still.

„Sie ruft mich.“ Die Stimme seiner Schwester klang sehr jung. „Nicht mit Worten, aber ich kann es fühlen.“ Sie riss den Blick von der Burg los und sah ihn an. „Es ist wie damals, als Mama das erste Mal ein Mondritual in einem fremden Tempel zelebrieren musste. Erinnerst du dich?“ Sie fuhr fort, bevor er antworten konnte: „Sie war davor nie wirklich von uns getrennt gewesen, nicht für eine so lange Zeit, und sie war fünf Nächte fort. Als sie endlich heimkam, sind wir zu ihrer Begrüßung gerannt, noch ehe sie die Treppen des Tempels erreicht hatte. Sie hat uns umarmt und geküsst und unter Tränen geweint. Erinnerst du dich?“, fragte sie erneut.

Cu nickte lächelnd. „Ich erinnere mich.“

Elphames Blick suchte wieder die Burg. „Das ist das Gefühl, das sie mir gibt“, flüsterte sie.

Der Zauber, der ihre Worte erfüllte, schien seine Wirbelsäule hinaufzukrabbeln und ließ die Haare in seinem Nacken zu Berge stehen.

„Sie hat die ganze Zeit darauf gewartet, dass ich nach Hause komme.“

4. KAPITEL

„Ich kann es kaum erwarten, den Rest zu sehen.“ Elphame schüttelte ihre Trance ab und ging entschlossen voran.

„Nicht ohne mich.“ Cuchulainn stieg schnell von seinem Pferd und schlang die Zügel über einen Ast eines Baumes. Dann gesellte er sich zu seiner Schwester. Als sie sich der Ruine näherten, zog er sein Schwert. Das Geräusch klang wie eine tödliche Melodie durch die morgendliche Stille.

Elphame blieb stehen und fragte auf die Waffe blickend: „Meinst du wirklich, dass das nötig ist?“

„Ich gehe lieber auf Nummer sicher, als nachher dumm dazustehen.“

Sie stemmte die Hände in die Hüften und schaute ihn empört an. „Willst du damit sagen, dass ich dumm bin?“

„Nein.“ Er lächelte. Endlich war sie wieder die El, die er kannte. „Ich sage lediglich, dass ich es nicht sein will.“

Sie rümpfte die Nase und marschierte mit großen Schritten weiter auf den Eingang zu.

„Du bist stur und dickköpfig“, rief Cuchulainn ihr hinterher. Er grinste, als sie ihm über die Schulter einen bösen Blick zuwarf. „Aber das ist mit ein Grund, warum ich dich so liebe.“

„Komm jetzt und beeil dich. Ich bin sicher, irgendwo hier steckt ein verrücktes Eichhörnchen, vor dem ich beschützt werden muss, weil ich ja gar so hilflos bin.“ Sie täuschte eine jungfräuliche Ohnmacht vor, bewegte dann ihre muskulösen Beine und lief ihrem Bruder absichtlich davon, der sie schwer atmend und fluchend einzuholen versuchte.

Sie wartete schweigend vor dem Eingang der Burg auf ihn. Unkraut und wilder Wein hatten die Stelle überwuchert, an der sich einst die großen Torflügel befanden. Gemeinsam mit Cuchulainn musste sie einen Durchgang freihacken, durch den sie sich zwängen konnten. Elphame betrat als Erste das Innere der Burganlage. Ihr Bruder folgte dicht darauf.

Sie standen auf einem luftigen Platz zwischen den äußeren Mauern und der eigentlichen Burg. Innerhalb der Burgmauern gab es kaum Unkraut.

Cuchulainn sah sich neugierig um. Zu jeder Seite fanden sich Überreste des Wehrgangs, der sich einst um die gesamte Anlage gezogen haben musste. Er runzelte die Stirn. Zu dumm, dass die MacCallan-Burg dort oben keine Ausgucke hatte.

„Sieh nur, Cu. Ich wette, das hier waren einmal wunderschöne hölzerne Türen.“

Elphame sprach mit gedämpfter Stimme, als hätten sie eine heilige Stätte betreten.

Cuchulainn folgte ihr durch einen Mauerspalt, und sie betraten, was offensichtlich einmal der große Burghof gewesen war. Der Boden war bedeckt von Schutt und Staub und Dreck, aber hier und da konnte man den Steinboden sehen, der von den Füßen der Mitglieder des MacCallan-Clans über die Jahrzehnte blank poliert worden war. Riesige Säulen aus behauenen Steinen rings um den Platz erhoben sich, um das zu halten, was einst eine gewölbte Decke gewesen war, nun aber als großes Loch den Blick freigab auf den morgendlichen Himmel. An den Säulen waren noch die schwarzen Narben vom Feuer zu sehen, das den Tod für die Burg bedeutet hatte.

Elphame schluckte, um den Kloß in ihrer Kehle loszuwerden. „Glaubst du, wir stoßen hier auf …“ Sie hielt inne und suchte den Blick ihres Bruders. „Auf Überreste von Kriegern?“

„Ich denke, nicht. Es ist sehr lange her. Was das Feuer nicht zerstört hat, wurde von der Zeit und den Elementen vernichtet.“ Trotzdem betrachtete er die dunklen Haufen aus Laub und Dreck jetzt etwas argwöhnischer als noch zuvor.

„Aber wenn wir auf solche Überreste stoßen, müssen wir sie angemessen begraben. Das würden die Krieger zu schätzen wissen.“ Elphame sprach mit ruhiger Sicherheit.

„Kannst du sie fühlen, El?“, fragte ihr Bruder.

„Die Krieger?“

Er nickte.

„Warte, ich bin mir nicht sicher.“ Sie stand still und neigte den Kopf, als würde sie versuchen, einer Stimme im Wind zu lauschen.

Im Zentrum stand eine geschwärzte Säule, die so dick war, dass Bruder und Schwester sie nicht mit beiden Armen umfassen konnten. Langsam trat Elphame an sie heran. Aus der Nähe sah sie, dass in die Säule ein feines Muster aus miteinander verschlungenen Knoten gemeißelt war, die wiederum Formen bildeten, in denen sie Vögel, Blumen und steigenden Pferde entdeckte. Selbst durch Schichten aus Ruß und Schmutz war die Schönheit der Handwerkskunst noch zu erkennen.

„Du musst ein umwerfender Anblick gewesen sein“, flüsterte Elphame der Säule zu.

Sofort pulsierte ein seltsames Vibrieren durch ihren Körper.

„Oh!“ Sie keuchte.

„Was ist los, El?“ Cuchulainn war mit zwei schnellen Schritten bei ihr, das Schwert fest in der starken Hand.

Sie schenkte ihm ein beruhigendes Lächeln. „Mach dir keine Sorgen, es ist nichts Schlimmes.“ Dann konzentrierte sie sich wieder auf die Säule. „Ich kann hier irgendetwas fühlen – hier, in diesem Stein.“

Während Elphame die Säule betrachtete, vermeinte sie, eine Empfindung zu verspüren. Die Anwesenheit einer lauschenden Präsenz. Daher kommt das Summen, dachte sie. Sie ignorierte die Unruhe und Wachsamkeit ihres Bruders und drückte die Hände an die von der Zeit gezeichnete Säule. In dem Moment, in dem sie den Stein berührte, durchlief die Säule ein Zittern. In stummer Ehrfurcht streichelte Elphame sie. Einen Moment lang schien der massive Stein unter ihren Handflächen flüssig zu werden, beinahe so, als wäre er unter ihrer Berührung formbar. Dann begannen ihre Hände und der Teil der Säule, den sie berührten, zu leuchten. Dieses Leuchten lief ihre Arme hinauf und umhüllte warm ihren gesamten Körper. Ein erstaunliches Gefühl erfüllte sie, als würde sie in ein Becken voller Emotionen getaucht oder sicher von den Armen ihrer Mutter umschlossen. Elphames Hände zitterten – nicht aus Angst, sondern weil es so schön war.

„Oh!“ Sie stieß den angehaltenen Atem aus. „Oh ja! Ich kann sie fühlen.“ Sie strahlte übers ganze Gesicht.

„Das sind nicht die Krieger, die du spürst, Göttin.“ Die tiefe Stimme erklang hinter ihnen und durchschnitt die Stille wie eine heiße Messerschneide den Schnee.

Cuchulainn wirbelte in atemberaubender Geschwindigkeit herum und stellte sich mit gezücktem Schwert zwischen seine Schwester und den Eindringling.

„Danann! Das ist eine gute Methode, um sicherzustellen, dass du nicht an Altersschwäche im Schlaf stirbst, Steinmeister.“ Cuchulainns Hand zitterte leicht, als er das Schwert wieder zurücksteckte, doch der alte Zentaur beachtete ihn kaum. Sein Blick war auf Elphame gerichtet und ihrer auf ihn.

„Wenn ich nicht die Seelen der Krieger spüre, was spüre ich dann?“, fragte sie.

Beim Klang von Dananns Stimme hatte Elphame den Kontakt mit der Säule abgebrochen, doch ihre Hände kribbelten immer noch von der Wärme des Steins. Sie wartete gespannt auf die Antwort des Steinmeisters. Ganz Partholon wusste, dass Epona ihn mit einer besonderen Verbundenheit zur Erde gesegnet hatte. Die Geister der Natur sprachen durch den Stein zu ihm. Deshalb hatte sie darum gebeten, der Steinmeister möge ihre Gruppe beim Wiederaufbau der Burg unterstützen, auch wenn er in seinem fortgeschrittenen Alter eher geneigt war, ein Nickerchen in der Sonne zu halten, als Tempelwände hochzuziehen. Doch trotz seines Alters war und blieb er der verehrteste Steinmeister in ganz Partholon. Er hörte die Geister in ihnen und war so in der Lage, den perfekten Stein für jedes Gebäude auszuwählen. Elphame konnte sicher sein, dass die unter der Führung des bekannten Steinmetzes erbaute neue Burg jahrhundertelang stehen würde.

Der energische Schritt, mit dem der Zentaur sich jetzt ihr und der Säule näherte, strafte sein Alter Lügen. Er musterte den Stein, ohne ihn zu berühren. Als er sprach, hatte seine Stimme einen verträumten Klang und schien von weither zu kommen.

„Das ist die große Zentralsäule der MacCallan-Burg. Einst war sie die Stütze des Gewölbes.“ Er lächelte. „Ihr spürt den Geist des Steines – das Herz der Burg, nicht die Geister verstorbener Soldaten.“ Vorsichtig hob er eine Hand und legte sie an die Säule. „Berührt sie noch einmal, Göttin. Ihr habt nichts zu befürchten.“

„Ich fürchte mich nicht“, sagte Elphame schnell. Sie drückte ihre zarten, jungen Hände ohne zu zögern neben die alten, faltigen des Zentauren an den Stein. Danann schloss die Augen und konzentrierte sich.

Das Glühen begann unter ihren Handflächen und breitete sich schnell aus. Bald hatte es sowohl Elphame als auch Danann erfasst. Erneut war sie von unterschiedlichen Gefühlen erfüllt. Sie war bereit dafür und konzentrierte sich darauf, die Empfindungsfragmente zu bestimmen. Freude – sie fing das Wort auf, während Glückseligkeit sie durchströmte … Frieden – Elphame wollte laut auflachen … Ende des Wartens – der Satz flatterte spielerisch durch ihren Geist. Dann erlosch das Glühen und ließ sie atemlos und schwindelig zurück.

„Ich wusste es! Ich habe es gespürt, sobald ich diese Mauern betreten hatte“, rief der alte Steinmeister. Er drehte sich um, sodass sich Elphames Gesicht in seinen klaren blauen Augen spiegelte, als er sie wieder öffnete. „Ihr seid auf das Herz dieser Burg eingestimmt, Göttin. Die Steine heißen Euch willkommen. Sie jubilieren, weil ihre Herrin endlich angekommen ist.“ Sein Lächeln war voller Wärme. „Wie Eure Ahnin Rhiannon habt Ihr die Fähigkeit, die Geister der Erde zu vernehmen.“

„Aber erst, seitdem ich hier bin! Vorher konnte ich das nicht!“, rief Elphame freudig aus. Magie! Sie war endlich mit etwas anderem gesegnet worden als ihrer körperlichen Anomalie.

Aus einem Impuls heraus legte Elphame ihre Hände über die des Zentauren, die immer noch an der Säule ruhten, und drückte sie dankbar. Beinahe sofort tat es ihr leid, ihrem Impuls gefolgt zu sein. Abgesehen von Familienmitgliedern hatte sie sich angewöhnt, andere Menschen nicht zu berühren. Ihre früheste Erinnerung reichte zu einem Vorfall zurück, in den die Tochter eines Stammesführers involviert gewesen war, die als Besucher im Tempel weilten. Die Erwachsenen waren damit beschäftigt gewesen, das zu besprechen, was auch immer Erwachsene zu besprechen hatten. Der jungen Elphame war langweilig geworden, und sie hatte die Gelegenheit genutzt, an den Arm der Tochter des Stammesführers zu tippen – sie wollte still ihre Aufmerksamkeit wecken, damit sie sich gemeinsam rausschleichen und spielen konnten. Das Kind hatte bei der Berührung geschrien, die Göttin habe sie berührt und nun müsse sie ganz bestimmt sterben. Sie ließ sich durch nichts und niemanden beruhigen. Bei seiner hastigen Abreise hatte der Stammesführer ihr ängstliche Blicke zugeworfen – selbst noch, nachdem Etain ihm versichert hatte, dass Elphame kein Interesse am Leben seiner Tochter hatte.

Die Geister der Erde mochten zu ihr sprechen, und die Steine mochten sie willkommen heißen, aber Sterbliche mochten es nicht, von einer lebendigen Göttin berührt zu werden.

Aufkeuchend versuchte Elphame, ihre Hände von Dananns zu nehmen, bevor er vor ihrer Berührung zurückweichen konnte, doch anstatt ihr zu erlauben, sie zurückzuziehen, drehte Danann seine Handflächen nach oben und umfasste ihre Hände.

„Die Geister der Steine sagen mir, dass Ihr hierher gehört.“ Elphame spürte, wie sie rot wurde. „Solange ich denken kann, wollte ich die MacCallan-Burg zu neuem Leben erwecken“, platzte sie heraus. „Danke, dass du hier bei uns bist, Danann. Deine Anwesenheit bedeutet mir viel.“

„Ich bin erfreut, Euch zu Diensten sein zu können, Göttin“, erwiderte er schlicht. Dann drückte er ihre Hände noch einmal und ließ sie los.

Er zog sich nicht verängstigt von ihr zurück und verbeugte sich auch nicht in staunender Ehrerbietung.

Es ist, als wäre ich ein ganz normaler Stammesführer, der ihn um Hilfe bittet. Der Gedanke kam so unerwartet, dass Elphame überrascht blinzelte und sich schnell zu ihrem Bruder umdrehte, um ihre Verwirrung zu verbergen.

„Cu, ist es zu glauben, dass ich den Geist der Steine spüren kann?“

„Natürlich glaube ich das.“ Er lächelte seine Schwester an, froh, sie so glücklich und lebhaft zu sehen. Beinahe froh genug, um zu vergessen, wie verstörend es gewesen war, zu sehen, wie sie vom magischen Glühen der Steine eingehüllt wurde. Er musste sich in Erinnerung rufen, dass es für sie anders war. Er war ein Krieger, er wollte sich nicht mit Dingen abgeben, die er nicht mit einem Schwertstreich besiegen konnte. Doch Elphame hatte nie das gleiche Unbehagen in Bezug auf Magie und Spiritualität empfunden. Auch wenn sie wenig darüber sprachen, wusste Cu, dass seine Schwester sich immer nach einer spirituellen Verbindung mit der Göttin gesehnt hatte. Elphame war die erstgeborene Tochter von Eponas Auserwählter. Es war zwar kein Gesetz, aber oft berief die Göttin die älteste Tochter einer in die Jahre kommenden Auserwählten zur nächsten spirituellen Führerin des Volkes von Partholon. Epona bereitete Elphame vielleicht so auf den Tag vor, an dem sie den Platz ihrer Mutter einnehmen würde. Das war der Lauf der Welt, sagte sich Cu. Er schüttelte die Beklemmung ab und ging auf Danann zu, um den alten Mann mit einem festen Händedruck zu begrüßen.

„Ich glaube, ich bin besser darin, die Geister zu hören, als einen Krieger zu überraschen, der seine Schwester beschützt“, sagte Danann ironisch.

„Oh, ich finde, du warst sehr gut darin, mich zu überraschen“, erwiderte Cuchulainn.

Autor