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Tales of Partholon: Der furiose dritte Teil!

Schon lange hat Morrigan Parker gespürt, dass sie anders ist. An ihrem achtzehnten Geburtstag erfährt sie die Wahrheit: Sie ist die Tochter einer Hohepriesterin und verfügt über magische Kräfte!

Willkommen, Lichtbringerin … In den Alabaster-Höhlen hört sie eine seltsam vertraute Stimme. Mit einem Mal fühlt Morrigan sich geborgen und ist von einer unerklärlichen Ruhe erfüllt. Instinktiv berührt sie die Felswand und sieht, dass die Kristalle unter ihrer Handfläche zu leuchten beginnen! Morrigan weiß einfach, dass ihr Weg hier beginnt - von dieser Höhle aus wird sie nach Partholon gelangen, ins Land ihrer Mutter und ihr wahres Zuhause. Doch kann sie ihre Großeltern verlassen? Außerdem muss sie sich von dem netten Typen verabschieden, bei dessen Anblick sie schon Herzklopfen bekommt. Und was wird sie erwarten, wenn es ihr gelingt, nach Partholon zu gelangen?


  • Erscheinungstag 10.12.2011
  • Bandnummer 4
  • ISBN / Artikelnummer 9783862781348
  • Seitenanzahl 368
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

Sie war nicht tot.

Sie war auch nicht lebendig.

Tatsächlich könnte sie ungezählte Jahre einfach in den Weiten des Bewusstseins verweilt haben. Nicht sterbend – nicht lebend. Einfach nur da. Wären nicht das Leben gewesen, das sich in ihrem Bauch rührte, und die Wut, die in ihrer Brust tobte. Bevor sie sich daran erinnerte, wer sie war, erinnerte sie sich daran, dass sie verraten worden war.

Ja, Wut ist gut …

Die Stimme in ihrem Kopf war nicht ihre, aber sie fühlte sich vertraut an. Sie griff danach in dem Versuch, sich selbst wiederzufinden. Wer war sie? Wo war sie? Wie hatte ihr das passieren können?

Sie öffnete die Augen. Schwärze umgab sie. Schwärze und Schwere, als wäre sie in einem warmen Wasserbecken untergetaucht. Einen Moment lang drohte Panik sie zu überwältigen. Wenn sie unter Wasser war, wie konnte sie dann atmen? Sie musste tot sein. Tot und eine Ewigkeit begraben für Verbrechen, die nicht begangen zu haben sie sich erinnerte.

Das Kind in ihr bewegte sich wieder.

Der Tod gebar kein Leben.

Sie befahl der Panik zu weichen – und die gehorchte. Panik war niemals hilfreich. Nüchternes, logisches Denken. Genaue Planung und präzise Ausführung. Das war der Weg zum Sieg. Auf diese Weise hatte sie immer gesiegt.

Bis jetzt.

Sie war hintergangen worden. Von wem? Ihre Wut wurde stärker, und sie gab ihr neue Nahrung, indem sie ihren ganzen Frust und ihre Angst bündelte.

Ja … erlaube der Wut, dich zu reinigen …

Ihre Selbstwahrnehmung wurde stärker. Ihr Gehirn war nicht mehr ganz so benebelt. Ihr Körper kribbelte. Ihre Wut nahm zu, bis sie die Wärme des Zorns überall um sich herum spürte. Das gab ihr neue Energie.

Ich bin verraten worden … ich bin verraten worden … ich bin verraten worden …

Die Worte kreisten in ihr und lockten Erinnerungen durch die dunklen Barrieren, hinter denen sie verborgen gewesen waren.

Ein Schloss am Meer.

Träume, die flüchtige Einblicke in die Wirklichkeit waren.

Ein marmorner Tempel, außergewöhnlich schön und widerstandsfähig.

Der Ruf einer Göttin.

Das war es! Sie war göttlich! Sie war die Auserwählte einer Großen Göttin!

Rhiannon …

Der Name stürzte in ihre Gedanken, und mit diesem Wissen brachen die Dämme, die ihre Erinnerungen blockiert hatten, und die Vergangenheit erschütterte sie.

Sie war von ihrer Göttin verraten worden!

Rhiannon erinnerte sich jetzt an alles. Die eigensinnigen Entscheidungen, die sie ihr Leben lang getroffen hatte und deretwegen die Große Göttin Epona ständig mit ihr gehadert hatte. Die Verge waltigung, zu der ihr Aufstiegsritual geworden war. Die Tatsache, dass sie Epona niemals hatte zufriedenstellen können. Die Erkenntnis, dass niemand in Partholon sie wirklich liebte – man verehrte sie nur als Vertreterin der Göttin. Die Visionen, die der Magische Schlaf ihr zeigte, in denen sie gesehen hatte, wie die Fomorianer die Wachtburg infiltrierten und die Zerstörung Partholons planten. Das Wispern der Dunkelheit, das ihr gesagt hatte, es gebe noch einen anderen Weg … eine andere Welt … eine andere Wahl. Die Bilder dieser anderen Welt, die ihr durch die Macht der dunklen Stimme gezeigt worden waren. Und die Entscheidung, ihren Platz mit Shannon Parker zu tauschen, einer einfachen Frau aus dieser Welt, einer Frau, deren äußeres Erscheinungsbild ihrem so ähnlich war, dass sie im selben Leib hätten herangewachsen sein können.

Rhiannons Körper zitterte, als sie sich an den Rest erinnerte. An Clint, den Schamanen, den sie in dieser Welt gefunden hatte, das Ebenbild von Partholons Hohem Schamanen ClanFintan. Und daran, dass Clint ihr seine Hilfe verweigert hatte, als sie die Kräfte dieser seltsamen Welt hatte nutzen wollen, in der die Technologie herrschte und Magie eine nahezu ungenutzte Quelle war. Deshalb war sie gezwungen gewesen, die Mächte der Dunkelheit einzusetzen und einen Diener herbeizurufen.

Dabei war irgendetwas fürchterlich schiefgegangen. Clint hatte Shannon aus Partholon zurückgeholt. Die beiden hatten sich zusammengetan und sie mit vereinten Kräften bezwungen.

Die Bäume hatten Shannon, nicht sie, als Eponas Auserwählte, die Geliebte der Göttin, bezeichnet.

Epona sprach ihren Namen nicht mehr aus. Die Göttin erkannte sie nicht mehr als ihre Auserwählte an. Als Rhiannon das begriffen hatte, war etwas in ihr zerbrochen. Ihr wurde schlecht bei der Erinnerung daran, wie verloren und verängstigt sie gewesen war. Aber diese Wunde schmerzte jetzt nicht mehr so sehr.

Epona hatte sie verraten und zugelassen, dass sie begraben worden war. Währenddessen war die Thronräuberin Shannon im Triumphzug nach Partholon zurückgekehrt und führte jetzt das Leben, das ihres hätte sein sollen. Und das ihres Kindes.

Du bist nicht von allen verlassen worden …

Jetzt erkannte sie die Stimme in ihrem Kopf. Sie gehörte dem Dreigesichtigen Gott. Pryderi.

Pryderi.

Der Name trieb in ihre Gedanken, aber nicht mit derselben Wucht, wie es der ihre getan hatte. Es war vielmehr ein verführerisches Flüstern.

Ich bin immer noch bei dir. Es waren doch immer Frauen, die dich verraten haben. Deine Mutter ist gestorben und hat dich zurückgelassen. Shannon hat gestohlen, was rechtmäßig dir gehört hat. Epona hat sich von dir abgewandt, weil du nicht ihre Marionette sein wolltest.

Der Dunkle Gott hatte recht. Sie war immer nur von Frauen verraten worden.

Wenn du dich und deine Tochter in meine Hände gibst, werde ich dich niemals verraten. Als Gegenleistung für deinen Gehorsam gebe ich dir Partholon zurück.

Rhiannon wollte ihren Geist vor der leisen Stimme verschließen, die sie davor warnte, sich mit der dunklen Seite zu verbünden. Sie wollte einfach nachgeben und auf Pryderis Angebot eingehen, aber sie konnte sich nicht der Trostlosigkeit erwehren, die sie beim Gedanken daran befiel, einen anderen Gott als Epona zu umarmen. Natürlich wusste sie, dass sie längst nicht mehr in Eponas Gunst stand. Die Göttin hatte sich für immer von ihr abgewandt. Aber auch wenn sie zu anderen Göttern geschaut hatte … anderen Mächten … war sie vor dem letzten Schritt immer zurückgeschreckt. Dem unwiderruflichen Schritt, Epona zurückzuweisen und sich mit Leib und Seele einem anderen Gott hinzugeben.

Wenn sie das täte, wäre sie nie wieder in der Lage, Epona unter die Augen zu treten. Was wäre, wenn die Göttin feststellte, dass sie einen Fehler begangen hatte? Bestand nicht die Chance, dass Epona sie wieder als die Auserwählte anerkannte, wenn es ihr gelänge, sich aus diesem grausamen Gefängnis zu befreien? Vor allem, wenn sie ihrer Tochter das Leben geschenkt hatte, deren Blut das reiche Erbe vieler Generationen von Priesterinnen Partholons war.

Was sagst du, Rhiannon? Wirst du dich mir versprechen?

Rhiannon spürte die Anspannung in der Stimme des Gottes. Sie hatte ihn zu lange warten lassen. Hastig sammelte sie sich und schickte ihre Gedanken zu ihm aus.

Du bist weise, Pryderi. Ich bin es wirklich leid, immer wieder verraten zu werden. Rhiannon wählte ihre Worte mit Bedacht. Aber wie kann ich mich einem Gott verpfänden, wenn ich immer noch gefangen bin? Du weißt, dass eine Priesterin frei sein muss, um das Aufstiegsritual durchzuführen, das sie als Auserwählte mit ihrem Gott verbindet.

Pryderi schwieg so lange, dass Rhiannon fürchtete, sie hätte es zu weit getrieben. Sie hätte sich ihm einfach versprechen sollen. Was, wenn er sie nun verließ? Dann war sie vielleicht für eine Ewigkeit hier gefangen.

Es ist wahr, dass eine Priesterin sich ihrem Gott frei hingeben muss. Also sollten wir dich befreien, damit du dich und deine Tochter in meine Dienste stellen kannst.

Der Baum, der ihr lebendiges Grab war, erzitterte, und Rhiannons Herz schlug schneller. Sie hatte gepokert und gewonnen! Pryderi würde sie befreien! Sie wehrte sich gegen das Gewicht, das von allen Seiten auf sie drückte … sie gefangen hielt … sie zu ersticken drohte.

Das ist nicht der Weg in die Freiheit. Du musst geduldig sein, meine Kostbare.

Rhiannon zwang sich, eine scharfe Erwiderung zu unterdrücken. Nein. Sie musste aus den Fehlern der Vergangenheit lernen. Einem Gott offen die Stirn zu bieten, war nicht klug …

Was soll ich tun? Sie schickte den Gedanken aus und zügelteihre Ungeduld, damit die Frage angemessen unterwürfig und eifrig klang.

Nutze deine Verbindung zur Erde. Nicht einmal Epona kann dir diese Gabe nehmen. Sie ist ein Teil deiner Seele – des Blutes, das durch deine Adern fließt. Nur wirst du dich dieses Mal nicht mit den Bäumen der Göttin abgeben. Suche die dunklen Orte. Erspüre die Schatten innerhalb der Schatten. Rufe ihre Kräfte zu dir, Kostbare. Die Zeit der Geburt deiner Tochter rückt näher. Mit diesem Ereignis wirst du auf der Erde wiedergeboren, in eine neue Ära in den Diensten eines Gottes.

Ich verstehe. Rhiannon konzentrierte sich. Sie war keine Novizin, sondern wusste, wie man als Priesterin große Macht handhabte und die Magie der Erde nutzte. Nach der Dunkelheit zu suchen war nicht anders, als sich mit den verborgenen Kräften der Bäume zu verbinden. Sie weigerte sich, an das zu denken, was Shannon gesagt hatte: dass die Bäume ihr nur zu gerne halfen und sie Eponas Auserwählte nannten. Stattdessen konzentrierte sie sich auf die Dunkelheit – auf Nacht und Schatten und die Schwärze, die einmal im Monat wie ein Mantel den Mond verhüllte.

Sie fühlte die Macht. Es war nicht der feurige Rausch, den sie aus Partholon kannte, wenn Eponas Segen sie berührt hatte. Aber die Macht war da und kam zu ihr.

Wie ein Gefäß, das sich langsam füllt, wartete Rhiannon, während das Kind in ihr heranwuchs.

1. KAPITEL

Oklahoma

„Ein Sturm zieht auf.“ John Peace Eagle schaute mit zusammengekniffenen Augen in den südwestlichen Himmel.

Sein Enkel hob kaum den Blick von seiner Playstation. „Grandpa, wenn du hier draußen Kabelanschluss hättest, müsstest du nicht immer den Himmel beobachten. Du könntest stattdessen den Wetter kanal gucken oder die Nachrichten, wie jeder andere auch.“

„Dieser Sturm kann mit normalen Methoden nicht vorhergesagt werden.“ Der alte Geheimnishüter der Choctaw sprach, ohne den Blick vom Himmel zu nehmen oder sich umzudrehen. „Geh jetzt. Nimm den Truck und kehre ins Haus deiner Mutter zurück.“

Nun sah der Teenager auf. „Echt? Ich kann deinen Truck nehmen?“

Peace Eagle nickte. „Ich lasse mich irgendwann die Woche von jemandem mit in die Stadt nehmen und hole ihn wieder ab.“

„Cool!“ Der Junge schnappte sich seinen Rucksack und umarmte seinen Großvater kurz. „Bis bald, Grandpa.“

Peace Eagle wartete ab, bis der Motor aufheulte und er hörte, wie sein Enkel mit dem Wagen langsam über die Schotterstraße davonfuhr. Erst dann fing er mit den Vorbereitungen an.

Rhythmisch schlug der Geheimnishüter die Trommel. Es dauerte nicht lange, da bewegten sich die ersten Schatten zwischen den Bäumen. Sie erschienen auf der Lichtung neben der Hütte, als wären sie von der ansteigenden Wucht des Windes dorthin geweht worden. Im schwindenden Tageslicht sahen sie aus wie uralte Geister, doch John Peace Eagle wusste es besser. Er kannte den Unterschied zwischen Geist und Fleisch. Als alle sechs bei ihm waren, sprach er.

„Es ist gut, dass ihr meinen Ruf erhört habt. Der Sturm, der uns heute Nacht trifft, ist nicht von dieser Welt.“

„Ist die Auserwählte der Göttin zurückgekehrt?“, fragte einer der Älteren.

„Nein. Das hier ist ein dunkler Sturm. Das Böse rührt sich.“

„Was sollen wir tun?“

„Wir müssen zur heiligen Lichtung und in Schach halten, was auch immer sich befreien will“, erwiderte Peace Eagle.

„Wir haben das Böse dort doch vor nicht allzu langer Zeit besiegt“, sagte der Jüngste der Stammesältesten.

Peace Eagle lächelte grimmig. „Das Böse kann niemals vollständig besiegt werden. Solange die Götter den Bewohnern der Erde die freie Wahl lassen, wird es immer jemanden geben, der sich für das Böse entscheidet.

„Das große Gleichgewicht“, sagte einer der Stammesältesten nachdenklich.

Peace Eagle nickte. „Das große Gleichgewicht. Ohne Licht gäbe es keine Dunkelheit. Ohne das Böse hätte das Gute kein Gegengewicht.“

Die Ältesten nickten zustimmend.

„Lasst uns auf der Seite des Guten arbeiten.“

Rhiannon hieß den Schmerz willkommen. Er bedeutete, dass es an der Zeit für sie war, wieder zu leben. Zeit, nach Partholon zurückzukehren und sich wiederzuholen, was ihr rechtmäßig gehörte. Sie nutzte den Schmerz, um sich zu fokussieren. Sie empfand ihn als Reinigung. In Eponas Dienste aufzusteigen war auch kein schmerzloses Ritual gewesen. Sie erwartete, dass Pryderi nichts anderes für sie vorbereitet hatte.

Die Geburt dauerte lange und war schwierig. Es war ein Schock für sie, sich mit einem Mal wieder der Muskeln und Nerven bewusst zu werden und der Krämpfe, die ihren Körper in immer kürzeren Abständen schüttelten, da sie so lange von ihm getrennt gewesen war.

Rhiannon versuchte, nicht daran zu denken, wie diese Geburt hätte sein sollen. Sie sollte von ihren Mägden und Dienerinnen umgeben sein. Sie sollte gebadet, verhätschelt und verwöhnt werden. Kräutertees sollten ihren Schmerz und die Angst stillen. Ihre Frauen hätten sie niemals alleine gelassen zum Zeitpunkt der Geburt, und der Eintritt ihrer Tochter in die Welt Partholons wäre von fröhlichen Feiern begleitet worden. Epona hätte ein Zeichen gesandt, um ihr zu sagen, dass die Göttin zufrieden war mit der Geburt der Tochter ihrer Auserwählten.

Nein, sie durfte nicht bei diesen Gedanken verweilen, auch wenn sie insgeheim hoffte, dass Epona zu ihr zurückkehren und ihr ein Zeichen geben würde, wenn dieses Kind endlich geboren war. Irgendein Zeichen, selbst wenn sie nicht in Partholon war und dieses Kind nicht ihr erstes. Irgendwo in der Schwärze der anscheinend unendlichen Schmerzen hatte Rhiannon Zeit, über das andere Kind nachzudenken. Das Kind, das sie abgetrieben hatte. Bereute sie die Tat? Welchen Sinn hätte Reue jemals gehabt? Es war eine Entscheidung, die sie in ihrer Jugend getroffen hatte. Eine Entscheidung, die sie nicht rückgängig machen konnte.

Sie musste sich auf die Tochter konzentrieren, die sie jetzt zur Welt brachte. Nicht auf die Fehler der Vergangenheit.

Als die nächste Wehe einsetzte, öffnete Rhiannon den Mund zu einem Schrei, obwohl sie wusste, dass ihr Schmerz und ihre Einsam keit in diesem Grab keine Stimme erhalten würden.

Da liegst du falsch, meine Kostbare. Du bist nicht allein. Sieh nur die Kraft deines neuen Gottes!

Mit ohrenbetäubendem Krachen brach ihr Grab auf, und Rhiannon wurde aus dem Schoß des alten Baumes gespült. Nach Luft schnappend und zitternd lag sie auf dem Teppich aus Gras. Quälender Husten schüttelte ihren Körper. Sie blinzelte, versuchte verzweifelt, ihren verschwommenen Blick zu klären. Ihr erster Gedanke galt dem Mann, durch dessen Opfer sie lebendig begraben worden war. Ein Schauer überlief sie, als sie über ihre Schulter in das klaffende Loch im Baum schaute. Sie erwartete, Clints Leichnam zu sehen, und wappnete sich gegen den Anblick, doch alles, was sie sah, war ein sanfter, saphirblauer Schimmer, der langsam schwächer wurde, als würde der verwundete Baum ihn absorbieren.

Ja, ihre Erinnerung war noch intakt, genau wie ihr Verstand. Sie wusste, wo sie war – die heilige Lichtung im modernen Staat Oklahoma. Wie erwartet war sie von ihrem Gefängnis in einer der Zwillingseichen ausgestoßen worden. Die andere Eiche stand unverändert neben dem seichten Bach, der zwischen den Bäumen entlangfloss. Es war dämmrig. Der Wind heulte gereizt auf. Am wolkenverhangenen Himmel dröhnte unheilvoll Donner, der von Blitzen beantwortet wurde.

Blitze … die mussten es gewesen sein, die sie befreit hatten.

Ich habe dich befreit.

Die Stimme war nicht mehr in ihrem Kopf, hatte aber einen körperlosen, unwirklichen Klang. Sie schien unter der Zwillingseiche hervorzukommen, die ihrem Gefängnis gegenüberstand. Von dort, wo die Schatten am tiefsten waren.

„Pryderi?“ Rhiannons Stimme klang so rau und schwach, dass sie sie beinahe nicht erkannt hätte.

Natürlich, meine Kostbare, wen hattest du denn erwartet? Die Göttin, die dich verraten hat?

Sein Lachen strich über ihre Haut, und Rhiannon fragte sich, wie etwas, das sich so schön anhörte, sich so grausam anfühlen konnte.

„Ich … ich kann dich nicht sehen.“ Sie keuchte, als eine neue Wehe sie überfiel.

Der Gott wartete, bis der Schmerz verebbt war, dann rührten sich die Schatten unter den Bäumen. Ein Umriss bewegte sich leicht, damit er im schwindenden Tageslicht besser zu sehen war. Rhiannon stockte beim Anblick seiner Schönheit der Atem. Auch wenn sein Körper sich noch nicht vollständig in dieser Welt materialisierte, sondern durchsichtig war wie ein Geist, durch den sie die hinter ihm liegenden Schatten sehen konnte, vergaß sie, dass die Geburt kurz bevorstand und ihr Leib geschwollen war. Groß und muskulös war er sogar in seiner Geisterform beeindruckend. Sein volles dunkles Haar umrahmte ein Gesicht, das Poeten und Künstler inspirieren sollte und nicht die grausamen Geschichten, die in Partholon über ihn geflüstert wurden. Seine Augen lächelten, und sein Gesicht war erfüllt von Liebe und Wärme.

Ich grüße dich, meine Priesterin, meine Kostbare. Kannst du mich jetzt sehen?

„Ja“, flüsterte sie überwältigt. „Ja, ich sehe dich, aber nur als Geist.“ Rhiannon war schwindelig ob dieser offensichtlichen Zurschaustellung von göttlicher Gnade. Er war absolut überwältigend und alles, was ein Gott sein sollte. Plötzlich konnte sie kaum glauben, dass sie ihr Leben damit verbracht hatte, Epona anzubeten, wenn sie doch betend zu Füßen dieses einzigartigen Gottes hätte knien können.

Es ist schwierig für mich, meine körperliche Gestalt zu halten. Um wirklich in Fleisch und Blut zu existieren, muss ich angebetet werden. Es müssen Opfer in meinem Namen gebracht werden. Man muss mich lieben und mir gehorchen. Das werden du und deine Tochter für mich tun – ihr werdet die Menschen anführen, damit sie mich wiederfinden, und dann werde ich dich auf den dir zustehenden Platz in Partholon setzen.

„Ich verstehe“, sagte sie. Sie schämte sich, weil ihre Stimme zwischen den keuchenden Atemzügen so schwach klang. „Ich werde …“

Bevor sie den Satz beenden konnte, passierten zwei Dinge gleichzeitig, die sie sehr effektiv zum Schweigen brachten. Die Nacht war mit einem Mal erfüllt von dumpfen Trommelschlägen. Rhythmisch wie ein Herz, das Blut durch einen Körper pumpt, waberten die tiefen Vibrationen über die Lichtung. Im gleichen Moment überkam Rhiannon der unwiderstehliche Drang zu pressen.

Sie bog den Rücken durch und zog automatisch die Beine an. Dabei griff sie nach einer knorrigen Wurzel, auf der Suche nach etwas, das ihrem angespannten Körper Halt bieten konnte. Ihr wilder Blick streifte die Stelle, an der Pryderi sich materialisiert hatte. Nur schwach konnte sie seine Spektralform ausmachen.

„Hilf mir.“ Sie stöhnte.

Die Trommelschläge wurden lauter. In ihrem hallenden Klang hörte sie nun Gesang, doch sie konnte die Worte nicht verstehen. Pryderis Kontur flackerte, und mit Entsetzen, das auch den Schmerz spiegelte, der ihren Körper zu zerreißen drohte, sah sie sein schönes Gesicht sich kräuseln und sich neu formen. Sein eben noch sinnlicher Mund war nun zugenäht. Die Nase wurde zu einem grotesken Loch. Seine Augen blickten nicht länger lächelnd und freundlich. Sie glühten unmenschlich wie gelbes Licht. Bevor sie einen weiteren schluchzenden Atemzug tun konnte, veränderte sich seine Erscheinung erneut. Die Augen wurden dunkle, leere Höhlen, der Mund riss auf und zeigte blutige Reißzähne und einen geifernden Schlund.

Rhiannon schrie vor Angst und Wut und Schmerz.

Das Dröhnen der Trommeln und der Gesang wurden lauter.

Pryderis Aussehen veränderte sich erneut, und nun war er wieder der überirdisch schöne Gott, nur dass er jetzt kaum noch zu sehen war.

Ich kann nicht immer schön sein, nicht einmal für dich, meine Kostbare.

„Verlässt du mich?“, fragte sie und weinte, als der fürchterliche Drang zu pressen kurz abebbte. Auch wenn sein sich veränderndes Gesicht ihr Angst gemacht hatte, fürchtete sie sich noch mehr davor, die Geburt alleine überstehen zu müssen.

Die Herankommenden zwingen mich, zu gehen. Ich kann sie heute Nacht nicht schlagen. In dieser Welt habe ich nicht die Kraft dazu. Er schaute ihr direkt in die Augen, und sein Körper wurde für einen Moment beinahe vollständig sichtbar. Rhiannon MacCallan, ich habe dich jahrzehntelang gesucht. Ich habe gesehen, wie sich dein Elend potenzierte, als man dich an Epona gefesselt hat. Du musst jetzt deine Wahl treffen, Rhiannon! Du hast alle meine Gestalten gesehen. Wirst du der Göttin entsagen und dich mir als Priesterin hingeben, als meine Auserwählte und Inkarnation?

Rhiannon war schwindelig vor Schmerz und Angst. Ihr Blick huschte gehetzt über die Lichtung, suchte nach einem Zeichen von Epona, aber sie sah nirgendwo ihr göttliches Licht. Sie war in der Dunkelheit zurückgelassen worden, einer Dunkelheit, die sie seit Jahren verfolgte. Was hatte sie für eine Wahl? Sie konnte sich nicht vorstellen zu existieren, ohne die Auserwählte eines Gottes zu sein. Wie würde sie leben ohne die Macht, die ihr ein solcher Status verlieh? Obwohl sie ihre Entscheidung traf, brachte Rhiannon es nicht über sich, Epona öffentlich abzuschwören. Sie würde Pryderi akzeptieren. Das musste dem Gott genügen.

„Ja, ich werde mich dir geben“, sagte sie schwach.

Und deine Tochter? Gibst du mir auch deine Tochter?

Rhiannon ignorierte die Warnung, die durch ihre Seele flüsterte.

„Ich gebe …“

Ihre Worte erstarben unter dem schrillen Kampfschrei der sieben Stammesältesten, die auf die Lichtung traten und einen immer engeren Kreis um die zwei Eichen zogen. Unter Gebrüll, sodass Rhiannons Herz zitterte, löste sich Pryderis Geist in den Schatten auf.

Schmerz schüttelte erneut ihren Körper, und Rhiannon wusste, dass sie pressen musste. Starke Hände unterstützten sie. Sie schnappte nach Luft und öffnete die Augen. Der Mann vor ihr war uralt. Tiefe Falten durchzogen sein Gesicht, und sein langes Haar war schneeweiß. Eine Adlerfeder steckte in den Strähnen. Seine Augen … Rhiannon konzentrierte sich auf die Güte in seinen braunen Augen.

„Hilf mir“, flüsterte sie.

„Wir sind hier. Die Dunkelheit ist fort. Es ist jetzt sicher für dein Kind, diese Welt zu betreten.“

Rhiannon packte die Hand des Fremden. Sie presste mit aller Kraft, die ihr schmerzgequälter Körper aufbringen konnte. Zu den Schlägen auf den uralten Trommeln glitt schließlich ihre Tochter aus ihrem Leib.

Als sie geboren war, war es Epona und nicht Pryderi, zu der Rhiannon weinte.

2. KAPITEL

Der alte Mann benutzte sein Messer, um die Nabelschnur zu durchtrennen, die Mutter und Tochter miteinander verband. Dann wickelte er das Baby in eine handgewebte Decke und gab es Rhiannon. Als sie ihrer Tochter in die Augen sah, schien es ihr, als hätte die Welt sich unwiederbringlich verrückt. Tief in ihrer Seele spürte sie die Veränderung. Sie hatte noch nie so ein Wunder erblickt, hatte sich noch nie in ihrem Leben so gefühlt wie jetzt. Weder als sie das erste Mal Eponas Stimme gehört hatte noch als sie das erste Mal die Macht verspürt hatte, die ihr als Auserwählte einer Göttin zustand, und schon gar nicht beim Anblick von Pryderis ungeheuerlicher Schönheit.

Das hier, dachte Rhiannon verwundert und berührte die unglaublich weiche Wange ihrer Tochter, ist wahre Magie.

Eine weitere Runde Wehen schüttelte sie, und Rhiannon keuchte auf. Sie hielt ihr Kind an ihre Brust gedrückt und versuchte, sich auf nichts anderes zu konzentrieren, während sie die Nachgeburt ausstieß. Sie hörte den alten Mann einem anderen Befehle geben und nahm die Dringlichkeit in seiner Stimme wahr. Die Trommeln wurden weiter im alten Rhythmus geschlagen, und es fühlte sich richtig an, ihre Tochter in den Armen zu halten.

Rhiannon konnte nicht aufhören, sie anzuschauen. Das Kind erwiderte ihren Blick aus großen, dunklen Augen und berührte sie tief in ihrer Seele.

„Ich habe mich so sehr geirrt.“

„Ja“, murmelte der alte Mann. „Ja, Rhiannon, du hast dich geirrt.“

Rhiannon hob den Blick. Seltsam unbeteiligt beobachtete sie, wie er sich neben sie auf den Boden kniete und ihr ein Bündel Stoff zwischen die Beine drückte. Wie seltsam, dass sie das gar nicht gespürt hatte. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie überhaupt sehr wenig von ihrem Körper spürte. Sie war erleichtert, dass der Schmerz endlich aufgehört hatte. Dann konzentrierte sie sich auf das, was er gesagt hatte.

„Du kennst meinen Namen.“

Er nickte. „Ich war an dem Tag hier, an dem der weiße Schamane sich geopfert hat, um dich im heiligen Baum zu begraben.“

Ein Ruck durchfuhr Rhiannon, als sie in ihm den Anführer der Indianer erkannte, die den dämonischen Nuada besiegt hatten.

„Warum hilfst du mir jetzt?“

„Es ist für einen Erdenbewohner nie zu spät, seinen gewählten

Pfad zu verlassen.“ Er betrachtete sie einen Moment lang stumm, bevor er fortfuhr: „Du warst damals zerbrochen, aber ich glaube, dass dieses Kind deinen Geist geheilt hat.“ Er lächelte gütig. „Sie muss eine starke Macht des Guten sein, wenn ihre Geburt so viel heilen kann.“

Rhiannon drückte ihre Tochter noch fester an sich. „Morrigan. Sie heißt Morrigan und ist die Enkelin des MacCallan.“

„Morrigan, Enkelin des MacCallan. Ich werde ihren Namen in Erinnerung behalten und ihn mit Hochachtung aussprechen.“

Sein Blick hielt ihren fest, und noch bevor er die nächsten Worte sprach, überfiel Rhiannon ein Gefühl der Vorahnung.

„Irgendetwas in deinem Körper ist zerrissen. Es fließt zu viel Blut, und es hört einfach nicht auf. Ich habe jemanden nach meinem Truck geschickt, aber es wird Stunden dauern, bis wir einen Arzt erreichen.“

Sie schaute ihm in die Augen und sah die Wahrheit. „Ich sterbe.“

Er nickte. „Ich glaube ja. Dein Geist ist geheilt worden, aber dein Körper ist unrettbar zerbrochen.“

Rhiannon verspürte keine Angst oder Panik, und ganz sicher hatte sie keine Schmerzen. Sie fühlte nur unglaubliches Bedauern über ihren Verlust. Sie schaute ihre Tochter an, die ihren Blick so voller Vertrauen erwiderte, und strich mit einer Fingerspitze über ihr samtweiches Gesicht. Nun würde sie nicht miterleben, wie Morrigan aufwuchs. Würde nicht da sein, um über sie zu wachen und sicherzustellen, dass sie … „Oh, Göttin! Was habe ich getan?“

Der alte Mann versuchte nicht, sie zu beschwichtigen. Seine Augen blickten klar und weise. „Erzähl es mir, Rhiannon.“

„Ich habe mich Pryderi versprochen. Er wollte, dass ich auch meine Tochter in seine Dienste stelle, aber eure Gegenwart hat ihn vertrieben, bevor ich sie ihm geben konnte.“

„Pryderi ist einer der Bösen? Ein Gott der Finsternis?“, fragte er schnell.

„Ja!“

„Du musst ihm entsagen. Für dich und um Morrigans willen.“

Rhiannon schaute Morrigan an. Wenn sie sich für sie beide von Pryderi lossagte, wäre ihre Tochter vermutlich für immer in dieser Welt gefangen. Sie würde vielleicht nicht einmal in der Lage sein, die kleinen Kraftquellen anzuzapfen, die sie hier entdeckt hatte. Morrigan würde niemals nach Partholon zurückkehren.

Wenn sie sich aber nicht von Pryderi lossagte, würde es ihrer Tochter bestimmt sein, der gleichen Finsternis zu dienen, der sie ihr Leben lang gefolgt war, wie Rhiannon nun erkannte. Der Finsternis, die ihr Unzufriedenheit, Wut, Egoismus und Hass eingeflüstert hatte, und, das war das Zerstörerischste von allem, die die Liebe für sie zu etwas gemacht hatte, das sie nicht empfinden konnte.

Rhiannon konnte den Gedanken nicht ertragen, dass das Leben ihrer Tochter genauso verdorben sein würde, wie ihres es gewesen war. Wenn Morrigan in dieser Welt bleiben musste, dann war es eben so. Zumindest wäre sie dann nicht auch in den Lügen des Bösen gefangen.

„Ich kehre mich ab von Pryderi, dem Dreigesichtigen Gott, und weise seine Macht über mich und meine Tochter Morrigan MacCallan zurück“, sagte Rhiannon. Dann wartete sie. Seit frühester Kindheit war sie die Priesterin und Auserwählte einer mächtigen Göttin gewesen. Sie wusste, wie ernst es war, sich von einem Gott loszusagen. Es müsste ein Zeichen geben, innerlich oder äußerlich, weil das Schicksal verändert worden war. Götter ertrugen Zurückweisung nicht sonderlich gut, vor allem dunkle Götter nicht.

„Der Finstere weiß, dass dein Tod kurz bevorsteht und dass du in das Reich der Seelen eingehen wirst. Er hält dich weiter fest; er ist nicht gewillt, dich freizugeben.“

Der alte Mann sprach diese Worte sehr sanft, aber Rhiannon spürte sie wie ein Messer, das ihr ins Herz stieß. Obwohl sie schwächer wurde, zwang sie ihre Arme, sich fester um ihre Tochter zu schließen.

„Ich habe ihm Morrigan nicht versprochen. Pryderi hat keine Macht über sie.“

„Aber du bist noch mit ihm verbunden“, sagte der alte Mann ernst.

Es fiel ihr schwer, gegen die Erschöpfung anzukämpfen, die ihren Blick bereits zu trüben begann. Ihr war kalt. Sie wünschte sich, der alte Schamane würde sie alleine lassen, damit sie ihre Tochter ansehen konnte, bis …

„Rhiannon, du musst mir zuhören!“ Er schüttelte sie. „Wenn du an Pryderi gebunden stirbst, wird dein Geist nie wieder die Gegenwart deiner Göttin spüren. Du wirst nie wieder Licht oder Freude erfahren. Du wirst die Ewigkeit eingehüllt in die Dunkelheit des finsteren Gottes verbringen und in der Verzweiflung, die alles verdirbt, was er berührt.“

„Ich weiß“, flüsterte sie. „Aber ich kann nicht mehr kämpfen. Es scheint mir, dass ich mein Leben lang nichts anderes getan habe. Ich war zu egoistisch, habe zu viel Schmerz verursacht. Zu viel Schaden angerichtet. Vielleicht ist es an der Zeit, dass ich dafür bezahle.“

„Vielleicht ist es das, aber soll deine Tochter ebenfalls für deine Fehler büßen?“

Seine Worte rüttelten sie auf. Sie blinzelte die sich vor ihren Augen ausbreitende Dunkelheit zurück. „Natürlich nicht. Was sagst du da, alter Mann?“

„Du hast sie ihm nicht versprochen, aber Pryderi wünscht sich eine Priesterin mit dem Blut von Eponas Auserwählter in den Adern. Was glaubst du, wer wird sein nächstes Opfer sein, nachdem du gestorben bist?“

„Nein!“ Sie wusste, dass er recht hatte. Pryderi hatte zugegeben, sie seit Jahrzehnten verfolgt zu haben. Mit ihrer Tochter würde er es nicht anders machen. Rhiannon schauderte. Morrigan durfte nicht von der Finsternis verfolgt werden, der sie erlaubt hatte, sie zu locken und zu verführen – und ihre Liebe zu ihrer Göttin in etwas Hässliches zu verwandeln.

„Dann musst du deine Göttin anrufen, um Pryderi zu zwingen, seine Macht über dich zu lösen.“

Verzweiflung übermannte Rhiannon. „Epona hat sich von mir abgewandt.“

„Hast du deine Verbindung zu ihr erneuert?“

„Ich habe ganz abscheuliche Dinge getan.“ Zum ersten Mal in ihrem Leben gab Rhiannon zu, dass sie es gewesen war, die das Vertrauen ihrer Göttin verraten hatte, lange bevor Epona aufhörte, mit ihr zu sprechen. „Sie hört mich nicht länger an.“

„Vielleicht wartet sie nur darauf, die richtigen Worte von dir zu hören.“

Rhiannon schaute in die Augen des Schamanen. Wenn es nur die winzigste Möglichkeit gab, dass er recht hatte, würde sie es versuchen.

Sie würde Epona anrufen. Der Tod war so nah – vielleicht hatte ihre Göttin Mitleid mit ihr. Sie konnte bereits den nebligen Schleier fühlen, der ihren Körper umhüllte und sie dieser Welt gegenüber taub machte. Sicherlich wusste Epona selbst von Partholon aus, was ihr widerfahren war. Rhiannon schloss die Augen und sammelte sich.

„Epona, Große Göttin von Partholon – Göttin meiner Jugend – Göttin meines Herzens. Bitte höre mich ein letztes Mal an. Vergib mir meine selbstsüchtigen Fehler. Vergib mir, dass ich der Finsternis erlaubt habe, dein Licht zu beschmutzen. Vergib mir für den Schmerz, den ich dir und anderen verursacht habe.“ Rhiannon hielt inne, kämpfte darum, sich zu konzentrieren und die Taubheit abzuschütteln, die durch ihren Körper strich. „Ich weiß, ich verdiene keinen Gefallen von dir, aber ich bitte dich, gebiete Pryderi Einhalt, damit er nicht weiter meine Seele und die meiner Tochter für sich in Anspruch nimmt.“

Der Wind nahm ihre Worte auf und schüttelte sie durch, bis sie klangen wie Regen, der auf Herbstlaub fällt. Rhiannon öffnete die Augen. Die Schatten unter der riesigen, heiligen Eiche, dem Zwilling des zerstörten Baumes, unter dem sie lag, bewegten sich, und ihr Herzschlag flackerte angstvoll auf. War Pryderi trotz der Gegenwart des Schamanen und der Macht der uralten Trommeln zurückgekehrt, um sie sich zu holen? Dann brach eine Kugel aus Licht in diese Welt und verdrängte die Dunkelheit. Aus der Mitte des Lichts materialisierte sich eine Gestalt. Rhiannon hielt den Atem an, und Tränen stiegen ihr in die Augen. Der alte Schamane neigte respektvoll sein Haupt.

„Willkommen, Große Göttin“, sagte er.

Epona lächelte den alten Mann an. John Peace Eagle, wisse, dass dir für deine Taten an diesem Tag meine Dankbarkeit und mein Segen gewiss sind.

„Danke, Göttin“, sagte er feierlich.

Epona ließ ihren Blick zu ihr gleiten. Mit zitternder Hand wischte Rhiannon sich die Tränen aus den Augen, damit sie die Göttin klarer sehen konnte. In ihrer Kindheit war Epona ihr ein paarmal erschienen, aber nachdem ihre rebellische Teenagerzeit begonnen hatte und sie sich zu einer egoistischen, verwöhnten Erwachsenen entwickelte, hatte die Göttin aufgehört, sie zu besuchen, aufgehört, zu ihr zu sprechen, und irgendwann auch aufgehört, sie anzuhören. Nun spürte Rhiannon, wie ihre Seele sich beim Anblick der Göttin belebte.

„Vergib mir, Epona!“ Sie weinte.

Ich vergebe dir, Rhiannon. Ich habe dir schon vergeben, bevordu mich darum gebeten hast. Ich habe ebenfalls Fehler gemacht. Ich habe deine Schwäche gesehen und wusste, dass deine Seele von der Dunkelheit umworben wird. Meine Liebe für dich hat mich blind gemacht und dich in die Selbstzerstörung getrieben.

Rhiannon schluckte die Ausreden hinunter, die ihr sonst immer so schnell über die Lippen gekommen waren. „Ich habe mich geirrt“, war alles, was sie sagte. Dann atmete sie tief ein, kämpfte gegen die Taubheit an, die sie am Sprechen hindern wollte. „Epona, ich bitte dich, die Fesseln zu brechen, in die Pryderi mich gelegt hat. Ich habe ihm abgeschworen, aber wie du weißt, bin ich dem Tode nahe. Seine Macht über meine Seele ist stark.“

Epona musterte ihre gefallene Priesterin sorgfältig, bevor sie ihre nächste Frage stellte.

Warum bittest du mich darum, Rhiannon? Ist es, weil du Angst hast vor dem, was nach deinem Tod mit deiner Seele passiert?

„Göttin, so kurz vor dem Tod sehe ich einiges in meinem Leben klarer.“ Sie schaute ihre Tochter an, die sie immer noch in ihren schwächer werdenden Armen hielt. „Oder vielleicht ist es auch die Existenz meiner Tochter, die den Schleier vor meinen Augen gelüftet hat.“ Sie hob den Blick und sah ihre Göttin an. „Die Wahrheit ist, ja, ich habe Angst, die Ewigkeit in Dunkelheit und Verzweiflung zu verbringen, aber ich hätte dich nicht gerufen, um mich vor einem Schicksal zu bewahren, das ich verdient habe.“ Rhiannon verschluckte sich, hustete und nahm mehrere keuchende Atemzüge, bevor sie weitersprechen konnte. „Ich habe dich gerufen, weil ich den Gedanken nicht ertrage, dass meine Tochter von der gleichen Finsternis vereinnahmt wird, die mein Leben vergiftet hat. Wenn du den Bann brichst, den Pryderi über meine Seele gelegt hat, bitte ich dich nicht darum, Eintritt in deine Auen zu erhalten. Ich bitte nur um die Erlaubnis, in der Anderwelt zu existieren, wo ich über meine Tochter wachen und versuchen kann, ihr Gutes ins Herz zu flüstern, wenn das Dunkle ihr Böses einflüstern will.“

Die Ewigkeit in der Anderwelt zu verbringen ist kein leichtes Los. Dort gibt es kein Ausruhen, keine Wiesen, kein Licht und Lachen, um deiner weltwunden Seele beizustehen.

„Ich wünsche nicht zu ruhen, wenn meine Tochter in Gefahr ist.

Ich will nicht, dass sie meinem Weg folgt.“

Die Jahre deiner Tochter werden nur ein kleiner Tropfen im See der Ewigkeit sein. Bittest du wirklich um ein unendliches Los für etwas, das so flüchtig ist?

Rhiannon lehnte ihre bleiche Wange an den zarten Kopf ihrer Tochter. „Ja, das tue ich, Epona.“

Die Göttin lächelte, und obwohl sie dem Tod so nahe war, erfasste Rhiannon eine unglaubliche Welle der Freude.

Endlich, Geliebte, hast du die Selbstsucht in deiner Seele überwunden und folgst deinem Herzen. Die Göttin streckte die Arme über ihren Kopf aus. Pryderi, Gott der Finsternis und der Lügen, ich gebe meine rechtmäßige Macht über diese Priesterin nicht auf! Du wirst ihre Seele nicht für dich beanspruchen, ohne vorher mich besiegt zu haben!

Lichtstrahlen schossen aus den Handflächen der Göttin und zerstörten die Schatten, die sich an den Rand der Lichtung zurückgezogen hatten. Ein gellender Schrei zerriss die Stille, und die unnatürliche Dunkelheit löste sich vollständig auf und hinterließ etwas, das Rhiannon nun als die normale und tröstende Dunkelheit erkannte, die die Nacht ankündigte.

„Meine Seele fühlt sich leicht an“, flüsterte sie ihrer Tochter zu.

Das kommt, weil dein Geist das erste Mal seit deiner Kindheit frei von Dunkelheit ist.

„Ich hätte diesen Weg vor langer Zeit einschlagen sollen“, sagte Rhiannon schwach.

Eponas Lächeln war erneut endlos gütig.

Es ist noch nicht zu spät, Geliebte.

Rhiannon schloss die Augen, als Gefühle über sie hereinbrachen, die ihr das letzte bisschen verbliebene Kraft raubten. „Epona, ich weiß, das hier ist nicht Partholon, und ich bin nicht länger deine Auserwählte, aber würdest du bitte meine Tochter begrüßen?“ Ihre Stimme war beinahe nicht zu hören.

Ja, Geliebte. Aufgrund meiner Liebe zu dir begrüße ich Morrigan, Enkelin des MacCallan, und schenke ihr meinen Segen.

Rhiannon öffnete die Augen, als sie das Surren von Flügeln hörte. Epona war verschwunden, aber die heilige Lichtung war erfüllt von Tausenden und Abertausenden Glühwürmchen, die um sie und ihr Baby herumtanzten, das in ihren Armen ruhte. In der anbrechenden Nacht verbreiteten sie ein Licht, als wären sie Sterne, die sich eine Auszeit genommen hatten, um aus Freude über die Geburt ihrer Tochter auf der Lichtung ein Ballett aufzuführen.

„Die Göttin hat deine Bitte erhört“, sagte der alte Mann ehrfürchtig. „Sie hat dich nicht vergessen. Und sie wird auch dein Kind nicht vergessen.“

Rhiannon schaute ihn an und musste blinzeln, um sein Gesicht klar erkennen zu können. „Schamane, du musst mich nach Hause bringen.“

Sein Blick traf ihren. „Ich habe nicht die Macht, dich in die Anderwelt zu bringen, Rhiannon.“

„Das weiß ich“, sagte sie schwach. „Bring mich zu dem einzigen Zuhause, das ich in dieser Welt kenne – zu Richard Parker, der in dieser Welt das Spiegelbild meines Vaters ist, des MacCallan.“ Rhiannon verzog schmerzerfüllt das Gesicht und schob den Gedanken an Shannon Parkers Worte beiseite, die ihr erzählt hatte, dass ihr Vater in Partholon tot war. „Bring meinen Körper dorthin, und überreiche ihm Morrigan als seine Enkelin. Sag ihm …“ Sie zögerte und versuchte, durch die Taubheit zu sprechen, die sie immer schneller einschloss. „Sag ihm, dass ich auf seine Liebe vertraue und weiß, dass er das Richtige tun wird.“

Der Schamane nickte ernst. „Wie finde ich Richard Parker?“

Rhiannon schaffte es, ihm keuchend und mit letzter Kraft den Weg zu Richard Parkers kleiner Ranch außerhalb von Broken Arrow zu beschreiben. Zum Glück stellte der alte Mann wenige Fragen und schien ihre geflüsterten Worte zu verstehen.

„Ich werde das für dich tun, Rhiannon. Ich werde außerdem für deine Seele in der Anderwelt beten, auf dass du über dein Kind wachen und es beschützen mögest.“

„Mein Kind … Morrigan MacCallan … gesegnet von Epona“, flüsterte Rhiannon. Sie merkte, dass sie nicht länger gegen die Taubheit ankämpfen konnte. Ihre Tochter noch immer an ihr Herz gedrückt, ließ sie den Kopf zurückfallen, sodass er auf einer knorrigen Wurzel ruhte. Während Glühwürmchen zum Klang der uralten Trommeln um sie herumschwirrten, tat Rhiannon, Priesterin der Epona, ihren letzten Atemzug und starb.

3. KAPITEL

Partholon

„Okay, hier ist die absolute Wahrheit. Würde es nicht schmerzen, hieße es nicht Wehen.“ Ich zog eine Grimasse und versuchte eine bequemere Position auf der riesigen, mit Daunen gefüllten Matratze zu finden, die ich gerne als Marshmallow bezeichnete. Ich war aber so verdammt müde und mein Körper war an so vielen intimen Stellen wund, dass ich aufgab und mir stattdessen noch einen Schluck vom warmen Wein gönnte, den eine der hilfreichen Nymphen mir reichte. „Und von wegen, in der Minute, wo es vorbei ist, hat man schon alles vergessen“, fuhr ich fort. „Wie viele Frauen habe ich schon gehört, die gesagt haben: ‚Hey, das ist eine echte Party, und hinterher hab ich mein Baby. Yippi!‘ Das ist grober Unfug, lasst es euch gesagt sein.“

Alanna und ihr Mann Carolan (der mich gerade von meiner Tochter entbunden hatte) warfen mir über ihre Schultern einen Blick zu. Beide lachten, ebenso die nymphengleichen Hausmädchen, die überall im Zimmer herumwuselten und den Unsinn taten, der ihnen so gefiel (wenn ich ehrlich bin, muss ich zugeben, dass ich ihre demütige Anbetung liebe).

„Ich weiß nicht, warum ihr lacht. In ein paar Monaten wirst du am eigenen Leib erfahren, wovon ich hier rede“, rief ich Alanna in Erinnerung.

„Und ich zähle darauf, dass du die ganze Zeit über meine Hand hältst“, erwiderte Alanna fröhlich und gab ihrem Mann einen Kuss auf die Wange.

„Ja, das lässt sich machen. Ich freue mich schon darauf, bei einer Geburt mal nur die Rolle der Händchenhalterin einzunehmen.“

„Ich dachte, Frauen vergessen die Schmerzen der Geburt schnell wieder.“

Ich schaute zu meinem Ehemann auf, dem zentaurischen Hohen Schamanen ClanFintan, dessen Stärke und Ausdauer erheblich größer waren als die eines Menschen, der aber in diesem Moment ungewöhnlich erschöpft und mitgenommen aussah. Eher so, als hätte er sich einen Weg durch die Hölle und zurück erkämpft, und nicht seiner Frau beigestanden, die in den Wehen lag (einen ganzen verdammten Tag lang) und schließlich eine Tochter zur Welt gebracht hatte.

„Wirst du ihn bald vergessen?“, fragte ich ihn mit einem wissenden Lächeln.

„Eher nicht“, antwortete er ernst.

Er strich mir zum ungefähr tausendsten Mal an diesem langen Tag das schweißnasse Haar aus dem Gesicht und gab mir einen zarten Kuss auf die Stirn.

„Ich auch nicht. Ich denke, diese ganze Geschichte, dass Frauen die Schmerzen sofort wieder vergessen, ist von panischen Ehemännern in die Welt gesetzt worden.“

Carolans tiefes Lachen rollte durch den Raum. „Dieser Theorie kann ich nur zustimmen, Rhea“, sagte er.

Ich bombardierte seinen Rücken mit finsteren Blicken. „Großartig. Mein Arzt hielt es nicht für nötig, mich darüber aufzuklären, bevor die Wehen einsetzten.“

„Nein, Mylady.“

Ich konnte die kaum verhohlene Amüsiertheit in seiner Stimme hören.

„Das hätte dir auch nicht geholfen. Der einzig richtige Zeitpunkt, es zu erwähnen, wäre gewesen, bevor du mit dem Zentauren geschlafen hast.“

„Hmpf“, sagte ich und versuchte absichtlich, wie mein Ehemann zu klingen. Das brachte Carolan nur noch mehr zum Lachen.

„Ah, aber Rhea, war es das nicht wert?“

Alanna war endlich fertig damit, meine neugeborene Tochter zu säubern und zu wickeln. Sie lächelte, als wäre sie der Weihnachtsmann persönlich und legte sie mir in die Arme. Ich nahm meiner besten Freundin, meinem persönlichen weiblichen Gegenstück zu Robinsons Freitag, meiner Assistentin der Geschäftsleitung und Expertin für alles, was ich über Partholon noch nicht wusste, meine Kleine ab.

„Ja.“ Ich konnte nur flüstern, so überwältigt war ich vom Rausch der Liebe und Zärtlichkeit, der mir noch nicht vertraut war, ausgelöst von der Tatsache, dass ich meine Tochter im Arm hielt. „Ja, sie ist jede Sekunde wert.“

ClanFintan ließ sich mit der ihm eigenen Grazie der Zentauren neben mir auf der Matratze nieder.

„Es gibt nichts, was sie nicht wert wäre“, sagte er ehrfürchtig und berührte den Flaum kastanienbrauner Haare, der ihren perfekten kleinen Kopf bedeckte. „Wie wollen wir sie nennen, meine Liebe?“

Ich zögerte nicht. Ich hatte Monate Zeit gehabt, darüber nachzudenken, und wieder und wieder war mir ein Name durch den Kopf gegangen. Ich hatte Alanna danach gefragt, als er mir das erste Mal in den Sinn kam, und als sie mir seine Bedeutung erklärte, wusste ich, dass ich den Namen für meine Tochter hatte.

„Myrna. Ihr Name ist Myrna.“

ClanFintan lächelte und schloss uns in seine starken Arme.

„Myrna, das Wort der alten Sprache für Geliebte. Es ist, wie es sein soll, denn sie ist wahrhaftig die von uns über alles Geliebte.“ Er beugte sich herunter und flüsterte so leise, dass nur ich es hören konnte: „Ich liebe dich, Shannon Parker. Danke, dass du uns eine Tochter geschenkt hast.“

Ich kuschelte mich an ihn und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Unsere Tochter schlief friedlich zwischen uns. ClanFintan nannte mich selten bei dem Namen, unter dem ich geboren worden war – und niemals, wenn jemand aus dem Volk uns hören konnte. Es gab nur drei Menschen, die wussten, dass ich nicht Rhiannon, Tochter des MacCallan, war: ClanFintan, Alanna und Carolan. Alle anderen in Partholon hatten keine Ahnung, dass ich vor beinahe einem Jahr „aus Versehen“ mit der echten Rhiannon den Platz getauscht hatte, die beinahe haargenau so aussah wie ich. Bei unserem Aussehen endete die Ähnlichkeit dann aber auch schon. Rhiannon war eine selbstsüchtige, gehässige Zicke, die ihr Volk im Stich gelassen hatte. Ich denke von mir gerne, dass ich nur ein kleines bisschen selbstsüchtig bin und nur zickig, wenn es unbedingt nötig ist. Ich weiß, dass ich weder Partholon noch seine Bewohner oder die Göttin, die ich hier lieben gelernt hatte, jemals verlassen werde. Ich habe gekämpft, um bleiben zu können – und ich würde bleiben.

Ich hegte keinerlei Zweifel daran, dass ich nach Partholon gehörte. Epona hatte mir klar zu verstehen gegeben, dass nun ich ihre Auserwählte war und dass mein Austausch gegen Rhiannon kein Fehler oder gar ein Zufall gewesen war. Epona hatte mich auserwählt, und deshalb gehörte ich in diese Welt.

Zutiefst beglückt drückte ich meine Nase vorsichtig an den zarten Kopf meiner Tochter. „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Mamas Liebling.“

ClanFintan hielt mich in seinen warmen, starken Armen. Er drückte mich an sich, und ich konnte das Lächeln in seiner Stimme hören, als er sagte: „Herzlichen Glückwunsch an meine beiden Mädchen.“

Ich blinzelte überrascht und lachte. „Stimmt ja! Heute ist der dreißigste April, mein Geburtstag. Das hatte ich total vergessen.“

„Du warst ja auch schwer beschäftigt“, sagte ClanFintan.

„Wie wahr.“ Ich lächelte den unglaublichen Zentauren an, in den ich bis über beide Ohren verliebt war. „Ich denke, dass wir Epona für unsere zauberhafte Tochter danken sollten, die am Geburtstag ihrer Mutter auf die Welt gekommen ist.“

Er gab mir einen sanften Kuss. „Epona gilt mein immerwährender Dank für Myrna und für dich.“ Er atmete tief ein, dann ertönte seine sonore Stimme, mit der er normalerweise das alte Schamanenritual anrief, das ihn dazu befähigte, sich in einen Menschen zu verwandeln, um mit mir Liebe zu machen. Nun rief er: „Heil dir, Epona!“

„Heil dir, Epona!“ Alanna und die Dienerinnen nahmen seinen Ruf freudig auf.

Plötzlich blähten sich die Vorhänge vor den vom Boden bis zur Decke reichenden Fenstern wie Wattewolken, und auf der duftenden Brise segelten Hunderte Rosenblätter in mein Zimmer. Die Dienerinnen stießen beglückt kleine Schreie aus und wirbelten zwischen den Blättern herum. Die Stimme, auf die ich gewartet hatte, erfüllte den Raum, und meine Göttin Epona sprach.

Meine Geliebte hat ihre Geliebte zur Welt gebracht. Mit großer Freude heiße ich Myrna, Tochter meiner Auserwählten, in Partholon willkommen. Lasst sie uns mit Freude, Magie, Lachen und dem Segen ihrer Göttin in Empfang nehmen!

Ploppend und zischend, sodass ich an ein Silvesterfeuerwerk denken musste, wurden aus den Rosenblättern kleine glitzernde Bälle, aus denen Hunderte Schmetterlinge aufflatterten. Dann ploppte es erneut, und die Schmetterlinge wurden zu juwelenbesetzten Kolibris, die durch den Raum schwebten und meine lachenden, tanzenden Nymphen umkreisten.

Meine Augen füllten sich mit Tränen der Freude und Erleichterung. Meine Tochter war wohlbehalten zur Welt gekommen, und meine Göttin war bei ihrer Geburt dabei gewesen. Vollends zufrieden entspannte ich mich in der wärmenden Umarmung meines Mannes und schaute auf das Wunder hinab, das unsere Tochter war. Myrna …

„Das ist wahre Magie“, flüsterte ich.

Die Liebe einer Mutter ist die heiligste Magie von allen. Eponasvertraute Stimme schwebte durch meinen Geist. Denke immer daran, Geliebte. Die Liebe einer Mutter hat die Kraft zu heilen und zu retten.

Mich überlief ein Schauer. Was wollte Epona mir damit sagen? Würde irgendjemand oder irgendetwas Myrna schaden wollen?

Bleib ruhig, Geliebte. Dein Kind ist in Sicherheit.

Die Erleichterung, die mich durchflutete, war so stark, dass ich zitterte. Dann spürte ich noch etwas anderes und schauderte.

„Rhea, geht es dir gut?“ ClanFintan merkte sofort, dass etwas mit mir nicht stimmte.

„Ich bin müde“, gab ich vor und war überrascht, wie schwach meine Stimme klang.

„Du solltest dich ausruhen.“

Er gab unserer Tochter einen Kuss auf die Stirn und dann mir und suchte Alannas Blick. Sie hörte auf, herumzutanzen wie die Kolibris und Dienstmädchen und eilte an unsere Seite.

„Rhea muss schlafen“, sagte er.

„Aber natürlich!“, erwiderte Alanna ein wenig atemlos und rieb sich über ihren schon deutlich sichtbar geschwollenen Bauch. Dann klatschte sie in die Hände, und die frohlockenden Nymphen schenkten uns ihre Aufmerksamkeit. Bevor Alanna ankündigen konnte, dass es an der Zeit war, das Zimmer zu verlassen, sammelten sich die Kolibris und kreisten in der Luft über meinem Kopf. In einem Wirbel aus Flügeln und glitzernden Farben wurden sie wieder zu Rosenblättern, die auf den Boden des Zimmers niederregneten, sodass er von Eponas Magie bedeckt zu sein schien.

„Die Göttin weiß, dass ihre Geliebte nun ruhen muss“, sagte Alanna und schaute sich lächelnd Eponas Liebesbeweis an.

„Danke, dass ihr hier wart. Danke, dass ihr mein Kind in die Welt gesungen habt.“ Irgendwie gelang es mir, meine Stimme normal klingen zu lassen, auch wenn ich mich alles andere als normal fühlte.

„Es war uns eine Ehre, Geliebte der Göttin!“, sagten die Dienerinnen im Chor. Fröhlich in die Hände klatschend und uns Glückwünsche zurufend huschten sie aus dem Raum.

Ich spürte ClanFintans Blick und wusste, dass ich ihm nichts vormachen konnte. Ich schaute tief in seine dunklen, mandelförmigen Augen.

„Rhiannon ist tot“, sagte ich.

Alanna schnappte nach Luft. ClanFintan spannte die Kiefermuskeln an, und sein hübsches Gesicht schien zu Stein zu erstarren.

„Woher weißt du das, Rhea?“, fragte er.

Auf einen Außenstehenden wirkte seine Stimme vermutlich ruhig, beinahe sanft, aber ich wusste, was diese Ruhe bedeutete. Es war seine Art, seinen Geist zu leeren und sich auf eine Schlacht vorzubereiten.

Ich drückte Myrnas kleinen Körper noch fester an mich. „Ich habe gespürt, wie sie gestorben ist.“

„Ich dachte, sie wäre schon vor Monaten getötet worden, als der Schamane aus deiner alten Welt sie mit in den heiligen Baum genommen hat“, sagte Carolan.

Ich schluckte. Meine Lippen waren kalt und taub. „Das dachte ich auch. Sie hätte damals sterben sollen, tat es aber offensichtlich nicht. Sie ist all die Monate lebendig im Baum gefangen gewesen …“ Ich schüttelte mich. Rhiannon war eine hassenswerte Zicke. Sie hatte mir unzählige Probleme bereitet. Sie hatte sogar versucht, mich umzubringen. Inzwischen hatte ich aber verstanden, dass sie nur ein gebrochener Mensch war, eine negative Spiegelung meiner Person, und so konnte ich nicht anders, als Mitgefühl für sie zu empfinden. Der Gedanke, dass sie lebendig begraben gewesen war, bereitete mir Übelkeit und machte mich traurig.

Es klopfte energisch an der Tür.

„Herein!“, rief ClanFintan.

Eine meiner Palastwachen betrat das Zimmer und salutierte zackig.

„Was gibt es …“ Ich überlegte kurz, wer er war. Ich meine, sie sehen sich alle so ähnlich. Muskulös. Groß. Knapp bekleidet. Irgendetwas an den sehr blauen Augen dieses Mannes zupfte an meiner Erinnerung. „… Gillean?“ Ich erwartete, dass er gekommen war, um Myrna seine Aufwartung zu machen, aber sein grimmiger Gesichtsausdruck ließ mein Herz schneller schlagen.

„Es ist der Baum auf der heiligen Lichtung, Mylady. Der, um den Sie bei Vollmond Ihre Trankopfer verteilen. Er ist zerstört worden.“

Der Schmerz, den ich spürte, als mein Magen sich zusammenzog, hatte nichts mit den Folgen der Geburt zu tun. „Was meinst du mit zerstört? Wie?“

„Es sieht aus, als wäre er von einem Blitz getroffen worden, aber es hat gar kein Gewitter gegeben, und am Himmel ist keine Spur von einem Sturm zu sehen.“

„Ist irgendetwas aus dem Baum herausgekommen?“ Der bittere Geschmack der Furcht legte sich auf meine Zunge und ließ meine Stimme rau klingen. Der Mann zuckte bei meiner seltsamen Frage nicht einmal mit der Wimper. Das hier war Partholon, hier war die Magie so real wie die Göttin, die hier regierte. Bizarres war in dieser Welt normal.

„Nein, aus dem Baum ist nichts herausgekommen, Mylady.“

„Man fand keine Körper?“ Es kostete mich große Überwindung, diese Frage zu stellen, denn vor meinem inneren Auge stieg ein Bild von Clints verwesendem Leichnam auf.

„Nein, Mylady. Keine Körper.“

„Bist du sicher? Hast du es mit eigenen Augen gesehen?“, hakte ClanFintan nach.

„Ich bin sicher, Mylord. Und ja, ich habe den Baum persönlich untersucht. Ich bin gerade von meiner Schicht an der nördlichen Grenze des Tempels abgelöst worden, als ich auf dem Rückweg ein Krachen hörte, das von der Lichtung zu kommen schien. Ich war in der Nähe, und ich weiß, dass die Heilige Lichtung Lady Rhiannon sehr wichtig ist. Also bin ich sofort hingegangen. Der Baum qualmte noch, als ich dort ankam.“

„Du musst nachsehen gehen“, sagte ich zu ClanFintan.

Er nickte kurz. „Hol Dougal“, befahl er der Wache. „Bitte ihn, zum Nordtor zu kommen.“

„Ja, Mylord. Mylady.“ Er verbeugte sich vor mir und eilte davon.

„Ich werde dich begleiten“, sagte Carolan grimmig. Er und Alanna zogen sich auf die andere Seite des Zimmers zurück, um mir und ClanFintan ein paar Minuten für uns zu geben.

„Wenn sie hier ist, ist sie tot“, sagte ich wesentlich ruhiger, als ich mich fühlte.

„Ja, aber ich möchte sichergehen, dass alles, was sie möglicherweise bei ihrem Wiedereintritt nach Partholon mitgebracht hat, ebenfalls tot ist.“

Ich nickte und betrachtete Myrnas schlafendes Gesichtchen. Verletzlich. Es fühlte sich so verdammt ungewohnt verletzlich an, zu wissen, dass ich es nicht ertragen würde, wenn meiner Tochter etwas zustieße.

„Ich werde nicht zulassen, dass einem von euch etwas passiert.“ ClanFintans Stimme klang tief und gefährlich.

Ich suchte und fand seinen ruhigen Blick. „Ich weiß.“ Wie er vermutlich in meinen, sah ich in seinen Augen klar und deutlich, dass auch er sich an die Ereignisse vor ein paar Monaten erinnerte. Ich war in diesen besonderen Baum nach Oklahoma gesogen worden, gemeinsam mit einem wiederauferstandenen Übel, von dem wir gedacht hatten, es sei für immer besiegt worden. Das alles war unter den Augen von ClanFintan passiert, der nichts hatte tun können, um mich zu retten. Nur weil sein menschliches Spiegelbild Clint Freeman sein Leben geopfert hatte und nur mit der Macht, die er von den alten Bäumen erhielt, war es mir möglich gewesen, nach Partholon zurückzukehren. „Sei vorsichtig.“ Ich gab ClanFintan einen Kuss.

„Immer.“ Er küsste mich und Myrna. „Ruh dich aus. Ich werde nicht lange fort sein.“

Begleitet von Carolan eilte er hinaus. Ich konnte hören, wie er befahl, die Wachen vor meinem Zimmer und um den Palast herum zu verdoppeln. Das hätte mir eigentlich ein Gefühl der Sicherheit vermitteln sollen, stattdessen schwappte eine Welle kalter Angst durch meinen Körper. Myrna gab unruhig Geräusche von sich, und ich flüsterte ihr beruhigende Worte ins Ohr.

„Sie hat vermutlich Hunger, Rhea.“

Zum Glück war Alanna an meiner Seite und half mir, mein weiches Nachthemd so herzurichten, dass Myrna meine Brust finden konnte. Ich versuchte, mich zu entspannen und mich ganz auf den intimen Vorgang, meine Tochter zu stillen, zu konzentrieren, aber meine Gedanken konnten keine Ruhe finden. Ich hatte den Augenblick von Rhiannons Tod gespürt. Der heilige Baum, der sie gefangen gehalten hatte, war zerstört. Außerdem waren da noch die kryptischen Worte der Göttin über die Macht der mütterlichen Liebe, die in der Lage war, zu heilen und zu erlösen.

Rhiannon war schwanger gewesen, als sie in der Eiche eingeschlossen worden war.

„Alles wird gut, Rhea.“ Alanna hob die nun satte und schlafende Myrna aus meinen Armen und legte sie in die kleine Wiege, die in Griffweite vor meiner Matratze stand.

„Ich habe Angst, Alanna.“

Alanna holte die breite, weiche Bürste von meiner Frisierkommode und kniete sich hinter mich. Vorsichtig bürstete sie mein Haar mit langen, ruhigen Strichen.

„Epona wird nicht zulassen, dass dir oder Myrna etwas zustößt. Du bist ihre Auserwählte, ihre Geliebte. Die Göttin beschützt die ihrigen. Hier im Herzen von Partholon bist du sicher und wirst von allen geschützt, die dich lieben. Es gibt nichts, wovor du Angst haben musst, meine Freundin … nichts zu fürchten …“

Alanna murmelte weiter beruhigend vor sich hin. Der süße Klang ihrer Stimme und die sanften Striche der Bürste wirkten auf meinen von vierundzwanzigstündigen Wehen und der Geburt erschöpften Körper wie eine Schlaftablette. Ich sehnte mich nach Schlaf. Bevor ich in die willkommene Dunkelheit glitt, war mein letzter Gedanke: Wenn auf der Heiligen Lichtung in Partholon keine Leichen gefunden werden, dann müssen sie in der Spiegelbildversion der Lichtung in Oklahoma sein. Was zum Teufel geht da drüben vor sich?

4. KAPITEL

Oklahoma

Lange bevor John Peace Eagle mit seiner düsteren Fracht langsam die Auffahrt heraufgefahren kam, wusste Richard Parker, dass etwas nicht stimmte. Er war den ganzen Abend unruhig gewesen. Schlimmer noch, seine sechs Hunde, Mischlinge der Rassen Windhund und Irischer Wolfshund, hatten kurz nach Einbruch der Dämmerung angefangen zu heulen und trotz seiner Ermahnungen minutenlang nicht aufgehört.

Er musste nicht auf den Kalender sehen, um zu wissen, welcher Tag es war. Er hatte die Monate, Wochen und Tage heruntergezählt, seitdem er seine Tochter im November das letzte Mal gesehen hatte. Das genaue Datum war nicht wichtig. Er wusste nicht einmal, wann genau Stichtag war, hatte aber eine grobe Schätzung. Ende April. Dies war der dreißigste April. Shannons Geburtstag. In einer anderen Welt, in der sie als Inkarnation einer Göttin verehrt wurde, wurde sie an diesem Tag sechsunddreißig. Die Erinnerung an die Geburt seiner Tochter war es nicht, die ihn in diese seltsame, grabesähnliche Stimmung versetzt hatte.

Hatte Shannon ihr Kind an diesem Tag zur Welt gebracht? In einer uralten Welt irgendwo hinter einer unvorstellbaren Barriere aus Zeit und Raum? Egal, wie unmöglich ihm das auch erschien, er wäre nicht überrascht, wenn sie versuchte, ihn darüber in Kenntnis zu setzen. Und was hieß schon unmöglich; die ganze Situation war eigentlich unmöglich.

Als Shannon inmitten dieses fürchterlichen Schneesturms im November vor seiner Tür erschienen war, verängstigt und schmutzig, einen Mann an ihrer Seite, der ihm als Clint Freeman bekannt war, ein ehemaliger Kampfpilot, hatte er ihre wilde Geschichte nicht glauben wollen. Sie hatte erzählt, sie habe mit einer Frau namens Rhiannon, die in einer anderen Welt die Inkarnation einer Göttin war, den Platz getauscht, und Clint hatte sie wieder zurück nach Oklahoma geholt. Seine Tochter war keine Lügnerin, und die Frau, die in den vorhergegangenen Monaten auf der Farm herumgelaufen war und sich benommen hatte wie eine kalte, kalkulierende Ziege, die Frau, die alle ihre Freunde und ihre Familie vor den Kopf gestoßen hatte, hatte zwar ausgesehen wie seine Tochter, sich aber nicht wie sie verhalten.

Schon bevor der grundschlechte Nuada ihn beinahe im eisigen Teich ertränkt hätte, und bevor er Zeuge der gottgegebenen Kräfte seiner Tochter geworden war, war es ihm leichter gefallen, die Vorstellung von einer anderen Welt zu akzeptieren als anzunehmen, seine Tochter habe ihre Persönlichkeit total verändert.

Er hatte gewusst, wann genau Shannon Nuada besiegt und diese Welt wieder verlassen hatte, genauso sicher, wie er wusste, wie Regen riecht oder wie sich das Fell eines Pferdes unter seinen Fingern anfühlt. Es war ein angeborenes Wissen, das tief in seiner Seele wurzelte. Er hatte auch gewusst, dass Clint bei dem Versuch, Shannon zurück nach Partholon zu bringen, getötet worden war. Dieses Wissen hatte ihn beinahe so traurig gemacht wie der Verlust seines einzigen Kindes. Zum Glück war Shannon wenigstens nicht gestorben. Für ihn war es einfacher, sich vorzustellen, sie sei nach Europa oder vielleicht Australien gezogen, und sie würden einander eines Tages besuchen.

Richard seufzte und ging unruhig von einer Seite der betonierten Terrasse zur anderen. Shannon hatte gehen müssen. Sie war in dieser anderen Welt verheiratet mit dem Vater ihres damals ungeborenen Kindes. Sie liebte ihn, und ein Kind, eine Tochter, brauchte einen Vater.

„Aber auch ihren Grandpa“, murmelte er. Er hoffte, dass Shannon auf irgendeine Weise Kontakt mit ihm aufnehmen konnte, und sei es noch so kurz, damit er sich nicht so fühlte, als hätte er seine Tochter für immer verloren. Er träumte oft von ihr. In seinen Träumen war sie glücklich und von Menschen umgeben, die sie anbeteten. Er hatte in seinen Träumen sogar den Zentauren gesehen, der ihr Ehemann war. Richard schnaubte. „Und das ist ein verdammt interessanter Anblick gewesen.“ Er glaubte, dass Shannon hinter diesen Träumen steckte – genauer gesagt, Shannons Göttin, Epona. Wie auch immer, es war beinahe, als würde er Briefe von ihr erhalten, und er war zufrieden mit den kleinen Einblicken, die ihm in ihr Leben gewährt wurden.

An diesem Abend war es anders als in den Träumen. Dieses Gefühl, diese schreckliche Vorahnung hatte sich so sehr in seinem Magen festgesetzt, dass er nicht ruhig stehen bleiben konnte. Versuchte Shannon, direkter mit ihm zu kommunizieren? Das würde passen. Es war die Zeit für die Geburt seiner Enkelin, und natürlich würde seine Tochter ihm dieses Ereignis mitteilen wollen. Warum war das Gefühl dann so negativ? Warum hatte er diese Ahnung drohender Gefahr? Er blieb abrupt stehen, als ihm ein fürchterlicher Gedanke kam, der ihm sprichwörtlich den Atem raubte.

Fühlte er ihren Tod? War sie in dieser alten Welt, in der es keine Krankenhäuser und keine moderne Medizin gab, bei der Geburt gestorben? Fühlte sich die Luft deshalb so schwer an, so sehr nach drohendem Verhängnis?

„Bitte, Epona“, sagte er in den Wind. „Beschütze sie.“

„Honey, was ist los?“ Patricia Parker, Mama Parker für Legionen von Football-Spielern, die er coachte, rief von drinnen durch die offene Fliegengittertür hinter ihm.

„Nichts.“ Er merkte, dass sein Ton barscher war, als er beabsichtigt hatte, und warf ihr über die Schulter ein entschuldigendes Lächeln zu. „Ich bin heute Abend einfach ein wenig ruhelos.“

Ihr freundliches Gesicht nahm sofort einen besorgten Ausdruck an. „Es ist nicht … nicht … das wieder, oder?“

Patricia war für ein paar Tage zu Besuch bei ihrer Schwester in Phoenix gewesen, als Shannon zurückgekehrt war und Nuada ihn angegriffen hatte, aber sie hatte die Auswirkungen des Angriffs gesehen. Er hatte ihr natürlich alles darüber erzählt. Ironischerweise war Mama Parker erleichtert gewesen, als sie vom Tausch von Rhiannon/Shannon hörte, bedeutete es doch, dass die Frau, die sie aufgezogen und wie eine eigene Tochter geliebt hatte, sich nicht gegen sie gewandt hatte, dass all die bösen Dinge, die sie tat und sagte, von Rhiannon kamen, nicht von Shannon.

„Nein, nein, nein“, sagte er ruppig. Es tat ihm leid, dass er einen falschen Eindruck erweckt hatte. Er wusste ja nicht einmal, ob wirklich etwas Schreckliches passiert war. Vielleicht waren ihm die Jalapeños im Abendessen einfach nicht bekommen. „Alles ist gut. Ich komme auch bald rein.“

„Okay, mein Schatz. Dann mach ich eben den Abwasch.“

Sie hatte sich schon umgedreht, da hörten sie den Motor eines näher kommenden Autos. Richard schaute auf seine Uhr. Es war bereits nach halb elf. Ziemlich spät für einen Besuch. Ein eisiger Schauer lief ihm über den Rücken, während er zusah, wie ein verbeulter blauer Chevy die Auffahrt hochkroch und schließlich keuchend hinter den beiden Trucks stehen blieb, die in der Auffahrt parkten. Ein alter Indianer stieg aus und schaute ihn an.

„’n Abend, Richard Parker.“

Richard streckte automatisch die rechte Hand aus. Der alte

Mann schaute ihm ruhig in die Augen und schüttelte die dargebotene Hand mit erstaunlicher Kraft.

„John Peace Eagle. Es tut mir leid, dass ich Sie so spät noch störe.“

„Kein Problem. Womit kann ich Ihnen helfen?“

„Rhiannon hat darum gebeten, dass ich sie nach Hause bringe.“ Richard blinzelte überrascht. „Rhiannon?“ Nachdem Shannon diese Welt verlassen hatte, hatte er nichts mehr von Rhiannon gehört und angenommen, Shannon habe sie mitgenommen, damit sie sich den Konsequenzen wegen der Vernachlässigung ihrer Pflichten als Eponas Auserwählter stellte. Nun war sie hier? Behauptete, das hier sei ihr Zuhause? Er straffte die Schultern. Egal, wie sehr sie seiner Tochter auch ähnelte, Rhiannon war nicht Shannon, und er würde ihr nicht erlauben, sich wieder als sie auszugeben. Das war jedoch kein Thema, das er vor einem Fremden diskutieren wollte. Es musste warten, bis sie alleine waren. Dann würde er sie in die Stadt oder zum Flughafen bringen oder wohin zum Teufel auch immer. Alles war prima, solange es nicht in Oklahoma lag. „Wo ist sie?“ Er versuchte, in den hinteren Teil des Trucks zu schauen. Irgendjemand saß da, aber es war zu dunkel, um die Person zu erkennen. Er schnaubte. Sie hatte Grund, Angst davor zu haben, herauszukommen und sich ihm zu stellen.

„Sie ist hier.“

Der alte Mann ging nicht zum Fond des Wagens, sondern zur Rückseite. Die Angeln quietschten, als er die Heckklappe öffnete. Richard folgte ihm und runzelte die Stirn. Es lag nur eine Sache auf der Ladefläche des Trucks. Anfangs dachte er, seine Augen und das schwache Licht der Außenbeleuchtung würden ihm einen Streich spielen. Das Ding sah aus wie ein Körper, der von Kopf bis Fuß in eine indianische Decke eingewickelt war. John Peace Eagle kletterte erstaunlich behände hinauf. Dort ging er auf die Knie und zog die Decke langsam beiseite. Der Anblick ihres Gesichts war für Richard wie ein Schlag in die Magengrube.

„Shannon!“ Er sprang auf die Ladefläche, ohne die Steifheit in seinen Knien zu beachten.

„Nein, nicht Shannon. Das hier ist Rhiannon. Es war ihr Wunsch, dass ich sie hierher zu Ihnen bringe und dass ich ihr Kind in Ihre Obhut gebe.“

In seinen Ohren summte es, und es fiel ihm schwer, zu verstehen, was der alte Mann sagte.

„Sie ist tot“, sagte Richard.

Peace Eagle nickte. „Sie ist bei der Geburt gestorben, aber nicht, bevor die Liebe, die sie für ihre Tochter empfand, den dunklen Teil ihrer Seele heilen konnte.“

Richard zwang sich, den Blick von dem Gesicht zu lösen, das dem seiner Tochter bis aufs Haar glich. „Sie wissen von ihr? Von Partholon?“

„Ja, ich war dabei, als der Weiße Schamane das Böse besiegte und sich opferte, um Shannon in die andere Welt zurückzubringen. Ich war auch heute Abend da, als das Böse Rhiannon aus dem heiligen Baum befreit hat, in dem sie gefangen gewesen war.“

Richard spähte angestrengt in die sie umgebenden Schatten. „Ist er Ihnen hierher gefolgt?“

„Nein, das Böse begleitet mich nicht. Die Ältesten und ich haben den dunklen Gott von der Heiligen Lichtung verbannt. Bei Eponas Erscheinen floh der Rest der lauernden Dunkelheit, und die Verbindung, die dieser Gott zu Rhiannons Seele hatte, wurde getrennt.“

„Epona hat Rhiannon vergeben?“

„Ja. Ich kann es bezeugen.“

Mit der tiefen, rhythmischen Stimme des Geschichtenerzählers berichtete Peace Eagle, was auf der Heiligen Lichtung mit Rhiannon geschehen war.

„Zum Schluss hat sie das Gute in sich entdeckt.“ Langsam strich Richard über Rhiannons blasse, kalte Wange.

„Oh Gott! Shannon!“ Patricia war an den Wagen getreten.

„Nein, Mama Parker, nein.“ Richard rutschte nach vorn, sodass er auf der Heckklappe saß und sie in die Arme nehmen konnte. „Das ist nicht Shannon. Es ist Rhiannon. Pst, nicht weinen.“ Er streichelte ihren Rücken, während sie an seiner Schulter schluchzte. Er war so beschäftigt damit, seine Frau zu trösten, dass er gar nicht mitbekam, wie der alte Indianer von der Ladefläche stieg. Doch er bemerkte ihn, als er zurückkam, denn in seinen Armen hielt er ein Neugeborenes.

„Das ist Morrigan. Ihre Enkelin.“

Der alte Mann hielt ihnen das Kind hin, und instinktiv nahm Mama Parker es ihm ab. Mit zitternden Händen öffnete sie die Decke und wickelte das Baby aus.

Richard schaute seiner Frau über die Schulter und verliebte sich auf der Stelle und unwiderruflich in das kleine Wesen.

„Sie sieht genauso aus, wie Shannon nach der Geburt ausgesehen hat“, sagte er und lachte. Unerwartet brannten Tränen in seinen Augen. „Wie ein kleiner Käfer.“

„Oh, Liebster, wie kannst du so etwas sagen?“ Mama Parker klang atemlos, so sehr überwältigten sie ihre Gefühle. „Sie ist zu hübsch, um ein Käfer zu sein.“

Richard schaute seine Frau an. Sie waren seit beinahe dreißig Jahren verheiratet. Als sie sich kennenlernten, war Shannon noch ein kleines Mädchen gewesen. Patricia Parker konnte keine Kinder bekommen, aber sie hatte Shannon geliebt und sie großgezogen, als hätte sie sie selbst zur Welt gebracht. Jetzt war sie fünfundfünfzig und er siebenundfünfzig – viel zu alt, um ein Baby aufzuziehen.

Sein Blick verweilte auf Morrigan, die seiner Shannon, seiner Bugsy so sehr ähnelte.

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