Julia Collection Band 171

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Ein Mann und eine Frau im Kampf gegen die Elemente: Wenn beim Abenteuer-Trip in der Natur das Adrenalin durch die Adern schießt, führt das häufig noch zu ganz andersartigen berauschenden Erlebnissen …

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  • Erscheinungstag 29.04.2022
  • Bandnummer 171
  • ISBN / Artikelnummer 9783751511810
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Jill Shalvis, Jacquie D’Alessandro, Stephanie Bond

JULIA COLLECTION BAND 171

PROLOG

Die Feuerwehrfrau Lily Peterson stand am Rand einer Klippe mit Blick auf das, was bis vor Kurzem noch die fantastisch grünen Berge von Montana gewesen waren. Jetzt waren die Gipfel schwarz und rauchten immer noch.

Ihr fiel die Aufgabe der abschließenden Kontrolle zu, die darin bestand, das gesamte Gelände abzuwandern und jede noch so kleine Rauchfahne zu überprüfen, die von den toten Bergen aufstieg. Es war eine anstrengende und schmutzige Arbeit. Lily stand am Rande des Waldbrandgebiets, zwischen dem Kahlschlag, den der Brand verursacht hatte, und der unberührten Region. Sie sollte dafür sorgen, dass kein neues Feuer ausbrach, was nicht eben einfach war, da die Erde unter ihren Füßen noch sehr heiß war.

Die Bäume über und unter ihr waren zu Gerippen verbrannt. Aberhunderte Jahre Forstentwicklung waren von einem Idioten zunichte gemacht worden, der sein Campingfeuer nicht richtig gelöscht hatte.

Aber wenigstens war es ihnen gelungen, diesen Teil des Waldes zu retten. Dafür hatten sie Wochen gebraucht. Entsprechend war Lily vollkommen erschöpft und konnte sich kaum noch auf den Beinen halten.

Die Sonne ging gerade erst auf. Da ihre Augen aufgrund des Schlafmangels der letzten Wochen brannten, suchte sie in ihren Taschen nach der Sonnenbrille. Nichts. Sie musste sie in der Hütte vergessen haben. Mit einer Hand schirmte sie die Augen gegen das Sonnenlicht ab und sah sich nach den anderen um. Sie trat näher an den Rand des Plateaus, auf dem sie stand und das gut dreißig Meter über dem Tal lag. Matt und Tony waren weit unter ihr, mindestens eine halbe Meile entfernt und mehrere Fußballfeldlängen voneinander getrennt. Wie Lily gingen auch sie gesenkten Hauptes westwärts.

Nach sechs Wochen ununterbrochener Löscharbeiten fühlte Lily sich ein wenig schwindlig und vor allem todmüde. Zudem setzte ihr die Sonne zu.

Sie wandte den Rücken zum Tal und betrachtete den verkohlten Bereich um sich herum. Hier gab es so vieles, auf das sie achten musste, zu vieles. Aufgrund der ständigen Finanzkürzungen waren sie hoffnungslos unterbesetzt, was zur Folge hatte, dass jeder Einzelne von ihnen zu viele Stunden an den Brandstellen verbrachte und zu wenig Zeit hatte, um sich zwischendurch zu erholen und neue Kraft zu tanken.

Als sie merkte, dass sie zu schwanken begann, weil sie beinahe im Stehen einschlief, lehnte sie sich an einen Baum und sank an dem Stamm zu Boden.

Sie nahm die Hand vom Gesicht, doch nun konnte sie die Augen nicht mehr offenhalten, weil die Sonne blendete. Also schloss sie sie – nur für einen Moment.

Und deshalb sah sie die neue, pechschwarze Rauchwolke nicht, die von einem Flecken keine fünf Meter entfernt aufstieg …

1. KAPITEL

Lily lag flach auf dem Rücken, während ihr Physiotherapeut ihr das Bein über den Kopf bog, als wäre sie eine Brezel, und sie anfeuerte: „Mach mit, Lily. Hör auf zu jammern, und arbeite mit.“ Ein höllischer Schmerz durchschoss sie von den Hüften bis zu den Haarspitzen.

Sie biss die Zähne zusammen und sagte sich, dass dies eben der Preis war, den sie für ihre Dummheit zahlte.

Nein, sie würde sich nicht selbst bemitleiden, nahm sie sich vor, als ihr der Schweiß ausbrach. Ihr Top klebte an ihrer Haut, und ihr Bein zitterte, als sie die verletzten Muskeln anspannte. Verdammt, tat das weh!

Vielleicht war ein Berufswechsel gar gar keine so schlechte Idee. Es war ja nicht so, als würde sie zum ersten Mal den Job wechseln. Nach der Highschool hatte sie als Expeditionsleiterin gearbeitet, was sie aufgab, um Rettungssanitäterin zu werden. Und als sie es nicht mehr aushielt, ein Opfer von Messerstechereien nach dem anderen von den Straßen in Los Angeles zu klauben, hatte sie damit aufgehört und war in die Wald- und Flächenbrandbekämpfung gegangen.

Sie liebte diese Arbeit. Ja, sie genoss es, von Feuer zu Feuer zu ziehen, von Montana in die Dakotas, nach Idaho und Wyoming. Das passte perfekt zu ihrem rastlosen Wesen. Bis zu ihrem schwerwiegenden Fehler, der sie um ein Haar das Leben gekostet hätte.

Nein, sie durfte sich nichts vormachen. Mit ihren Verletzungen konnte sie ihren Beruf unmöglich weiter ausüben. Dabei wünschte sie sich nichts sehnlicher, als wieder da draußen zu sein und etwas zu tun, das ihr gefiel und in dem sie gut war.

„Mehr, Lily.“

Sie kniff die Augen zusammen und streckte sich so, dass ihre Muskeln brannten. Doch viel schlimmer als die Schmerzen waren ihre Ungeduld und Rastlosigkeit. Sie musste dringend wieder unterwegs sein, ihr fehlten das Adrenalin, die Aufregung. Action war nun mal ihr Leben.

„Verdammt, autsch!“, schrie sie ihren Physiotherapeuten an, der ein umwerfend gut aussehender Mann war, Typ Denzel Washington.

Eric nickte und trat einen Schritt zurück. „Ich hab mich schon langsam gefragt, ob du gar keine Schmerzgrenze hast.“

„Keine Sorge, du hast sie gefunden.“

Er lächelte, denn es waren ja nicht seine Muskeln, die so gemein weh taten. „Warte hier. Ich hole dir Eis.“

Seit ihrem Fehler hatte sie viel Zeit im Krankenhaus verbracht, was angesichts ihrer schweren, lebensbedrohlichen Verletzungen nicht ungewöhnlich war. Und dennoch war sie durch diese Erfahrung nicht geduldiger geworden. Abzuwarten und vorsichtig zu sein entsprach nun einmal nicht ihrem Naturell. Sie rollte sich auf den Bauch und richtete sich auf die Hände und die Knie auf.

Was erwartete sie? Sie war inmitten eines lodernden Waldbrandes aufgewacht und von den Flammen zurückgedrängt worden, bis sie schließlich über die Klippe stürzte und im Fallen mehrere brennende Bäume streifte. Zwölf Meter tief war sie gestürzt. Und nun war sie eine Exfeuerwehrfrau, die sich kein Stück weit bewegen konnte.

Okay, wahrscheinlich musste sie doch noch ein wenig Geduld haben.

Sie lauschte den Stimmen der anderen Physiotherapeuten und Patienten. Ein Handy bimmelte. Lily hasste Handys. Überhaupt hatte sie nicht viel für elektronischen Schnickschnack übrig, was sie in ihrer Generation wohl zu einer Art Außenseiterin machte.

Sie brauchte die freie Natur, in der nichts den Klang einer sanften Brise störte. Allein der Gedanke daran weckte eine tiefe Sehnsucht in ihr, und sie sah durchs Fenster zur Golden Gate Bridge. Leider gab es in San Francisco keine Natur, jedenfalls nicht die Art, die Lily meinte. Für sie bedeutete freie Natur, dass man drei Tage wanderte, ehe man auf ein Zeichen von Zivilisation traf.

Nun piepte etwas in ihrer Nähe – irgendjemandes Laptop –, und seufzend kroch sie zu einem der Stühle an der Wand.

Um sie herum gab es nur Menschen mit Verletzungen und Schmerzen, was sie total deprimierte. Sie sah auf den Stapel Zeitschriften neben dem Stuhl. Mode, Klatsch … dann fiel ihr Blick auf die U.S. Weekly Review, auf deren Titel „Adrenalinschub“ stand.

Aha. Zum ersten Mal seit langer Zeit interessierte sie sich wieder für etwas und nahm die Schmerzen in Kauf, die sie das Greifen nach der Zeitschrift kostete. „Au, au, au …“ Das Heft klappte gleich bei der Titelstory auf. Unter der Überschrift war eine Zeile des Herausgebers abgedruckt: „Dieser Artikel hat mein Leben verändert.“

Kein Zeitschriftenartikel hatte jemals Lilys Leben verändert, und so begann sie recht skeptisch zu lesen. Der Autor behauptete, im Leben drehte sich alles darum, Risiken einzugehen. Seiner Meinung nach riskierten zu wenige Menschen überhaupt einmal etwas und lebten ihr Leben nicht so, wie sie es eigentlich könnten und sollten.

So weit stimmte Lily ihm zu. War sie nicht auch einige Risiken eingegangen, von denen das letzte damit endete, dass sie hier gelandet war? Ja, sie hatte ihr Leben stets bis zum Extrem gelebt, und das in allen Bereichen.

Nun ja, in allen bis auf einen, aber über ihr nicht vorhandenes Liebesleben wollte sie lieber nicht nachdenken.

In ihrer Welt kamen und gingen die Männer, ohne dass auch nur ein einziger von ihnen bleibenden Eindruck hinterlassen hätte. Lily war durchaus klar, was es über sie aussagte, dass sie bisher noch nie eine längere Beziehung gehabt hatte. Aber das war ihr gleich. Ihr Lebensplan sah nun einmal nichts Langfristiges vor.

Sie wandte sich wieder dem Artikel zu. „Geben Sie Vollgas“, forderte der Autor und erklärte, dass ein Risiko nicht unbedingt etwas mit körperlicher Betätigung zu tun haben musste, sondern einfach bedeutete, Dinge zu tun, die abseits des eigenen, eingetretenen Pfades lagen.

Lilys Pfad führte derzeit von einem Arzt zum nächsten, und sie fühlte sich mehr als bereit, davon abzuweichen. Nur wie? Und vor allem, wie wollte sie den Mut aufbringen, wieder ein Risiko einzugehen?

Andererseits … wie könnte sie damit leben, es nicht zu tun?

„Ah, da bist du“, sagte Eric, der mit der versprochenen Eispackung zurückkam. Er klopfte auf die Matte neben sich, worauf Lily stöhnend die Zeitschrift beiseitewarf und zurückkroch.

Zwei Monate später

Lily hatte sich inzwischen weit genug erholt, um die erzwungene Ruhe als unerträglich zu empfinden. Sie war frustriert, und wenn sie ehrlich sein sollte, hatte sie eine schreckliche Angst. Die äußerte sich in wiederkehrenden Albträumen davon, wie sie inmitten von Flammen aufwachte, und in ihrer plötzlichen Abneigung gegen das Alleinsein.

Sie könnte ihre Mutter zu sich rufen, aber der gefiel der Gedanke viel zu gut, dass Lily „endlich zur Ruhe kam“. Lily hatte keine Geschwister, und ihr Vater … nun, angeblich ähnelte sie ihm sehr. Zumindest hatte man ihr das erzählt, doch sicher sein konnte sie sich nicht, denn er war seit Jahren nicht mehr aufgekreuzt.

Wie dem auch sei, sie war allein, und daran ließ sich nichts ändern. Allerdings war sie auch zum ersten Mal im Leben schwach, und sie hasste es. Sie brauchte etwas, womit sie sich bewies, dass sie wieder der Mensch werden könnte, der sie vor ihrem Unfall gewesen war.

Vor allem aber brauchte sie Geld. Seit Wochen war sie auf der Suche nach einem geeigneten Job, fand jedoch keinen, der sie interessierte.

Sie schlug den Stellenanzeigenteil der Zeitung auf, und ihr fiel sofort eine Anzeige ins Auge. Outdoor Adventures, eine Firma, die Expeditionen anbot, suchte baldmöglichst eine Trekkingführerin.

Lily starrte auf die Anzeige und erlebte ein Déjà-vu. Als Achtzehnjährige – vor fast zwölf Jahren – hatte sie bei Outdoor Adventures ihren ersten Job gehabt. „Geben Sie Vollgas … Gehen Sie Risiken ein“ … War das ein Zeichen? Sie könnte noch einmal an den Anfang zurückkehren. Vielleicht wurde sie dann wieder stark, wieder zu dem Menschen, der sie einmal gewesen war.

Ohne sich Zeit zum Nachdenken zu gestatten, nahm sie das Telefon und wählte die angegebene Nummer. Eine Empfangsdame meldete sich, und Lily fragte automatisch nach Keith Tyler. Doch als sie seine tiefe, schmerzlich vertraute Stimme hörte, brachte sie keinen Ton mehr heraus. Alte Erinnerungen wurden wach: ans Bergsteigen, an die Wandertouren, die sie geführt hatte, und daran, wie sie damals gewesen war.

„Hallo?“, fragte Keith mit einem Anflug von Ungeduld in der Stimme. „Ist da jemand?“

„Wow“, brachte sie schließlich heraus. „Du hörst dich noch genauso an wie früher.“

Es trat eine Pause ein. „Lily? Lily Peterson?“

„Wie geht es dir, Keith?“

„Ich freue mich, von dir zu hören. Erst kürzlich habe ich an dich gedacht und mich gefragt, ob du dich eigentlich noch an mich erinnerst.“

„Natürlich erinnere ich mich. Du warst …“ Was sollte sie sagen? Ihr erster Boss … oder ihr erster Liebhaber?

Beides traf zu.

Er lachte leise. „Ja, ich war schon immer schwer in eine Schublade zu packen. Das bin ich noch.“

Lily legte sich auf ihrem Bett zurück, schloss die Augen und tauchte in die Vergangenheit zurück. Sie hatte gerade den Highschool-Abschluss gemacht und war endlich in der Lage, ihrer Wanderlust nachzugeben. Also verließ sie Los Angeles, ihre Mutter und ihre Freunde und begann, als Expeditionsleiterin zu arbeiten.

Als Keiths Expeditionsleiterin. Er war zehn Jahre älter als sie, bewundernswert weltgewandt und natürlich auch umwerfend sexy. Einen langen, heißen Sommer lang hatte sie für Outdoor Adventures Touren durch die Sierras geführt und Leuten alles über das Leben im Freien beigebracht.

Bis sie zu ihrem nächsten Abenteuer aufbrach und Keith und all die Erinnerungen zurückließ. „Ich habe deine Anzeige in der Zeitung gesehen“, sagte sie.

„Und ich habe dich in der Zeitung gesehen, allerdings nicht im Anzeigenteil, sondern auf der Titelseite. Das war ein ziemlich übler Sturz.“

Nach all den Monaten zuckte sie immer noch zusammen, wenn jemand sie darauf ansprach. Warum musste ihr Versagen in der Öffentlichkeit breitgetreten werden? „Ja.“

„Du hast dir die Wirbelsäule gebrochen. Du … Sitzt du jetzt im Rollstuhl?“

„Nein.“

„Aber in der Zeitung stand, dass du nie wieder würdest laufen können.“

„Glaub mir, ich laufe, und mir geht’s gut.“ Sofern „gut“ ein dämliches Humpeln und Dauerschmerzen miteinschloss.

„Nur nicht gut genug, um weiter als Feuerwehrfrau zu arbeiten.“

„Wenn ich bedenke, dass ich deine typische Unverblümtheit mal mochte …“

„Ja, ich fürchte, ich habe mich nicht sehr verändert.“ Sie hörte an seiner Stimme, dass er lächelte. „Dann willst du also wieder ins Trekkinggeschäft einsteigen? Kannst du denn …“

„Ich weiß, dass ich es kann“, fiel sie ihm ins Wort. Nun, das war eine Lüge. Sie wusste es absolut nicht. Was sie jedoch genau wusste, war, dass ihr Körper sie früher nie im Stich gelassen hatte.

„Stell mich auf die Probe“, sagte sie und hasste sich dafür, wie verzweifelt sie sich anhörte. Bitte, bitte, versuch’s mit mir. Sie brauchte diesen Job, sie musste draußen sein und sich beweisen, dass sie wieder alles schaffte, was sie sich vornahm.

„Du warst eine tolle Führerin“, gestand Keith. „Also, wenn es dir ernst ist, ich habe nächste Woche eine Campingtour in den Sierras. Es ist eine ziemliche Höhe und außerdem Hochsommer“, warnte er sie. „Und es bedeutet vier Tage lang sieben bis zehn Meilen Fußmarsch am Tag.“

„Das schaffe ich“, sagte sie rasch, obwohl sie blass wurde, als sie daran dachte, was sie ihrem Körper damit zumutete.

„Tja, niemand kennt diese Region besser als du. Eigentlich wärst du genau die Richtige. Die Vorbesprechung ist in drei Tagen in meinem Büro.“

Sie lächelte, das erste Mal seit Langem. Ja, sie würde es schaffen und sich endlich wieder lebendig fühlen. „Ich werde da sein.“

„Ich schätze, die Wanderung wird dir guttun.“

Guttun? Wahrscheinlich nicht.

Die Büros von Outdoor Adventures befanden sich in einem großen alten Jugendstilbau direkt an der Bucht. Zweimal war sie auf der Suche nach einem Parkplatz schon daran vorbeigefahren. Sie fand einfach keinen. In San Francisco fand man nie einen Parkplatz.

Lily blickte auf die Zeitschrift neben sich. Es war die mit dem Adrenalinschub-Artikel, die sie sich gekauft hatte.

Risiko.

Oh ja, und was für ein Risiko sie einging!

Genau in diesem Moment wurde eine Parklücke unmittelbar vor Outdoor Adventures frei. Das ist ein Zeichen, dass ich das Richtige tue, dachte sie. Also betätigte sie den Blinker und …

Und fuhr fast in einen brandneuen Lexus, dessen Fahrer denselben Parkplatz ansteuerte.

Ihr Wagen war nur Zentimeter von dem anderen entfernt, und der Fahrer sah sie durch seine Designer-Sonnenbrille an.

Nein, den kriegst du nicht, dachte sie und zeigte erst auf die Parklücke, dann auf sich. Meiner.

Der Mann in dem Lexus hob die Augenbrauen und neigte fragend den Kopf, als wäre er nicht daran gewöhnt, dass ihm jemand etwas abschlug.

Sie hätte ihm gerne dazu ihre Meinung gesagt, nur tat er jetzt etwas, mit dem sie nicht gerechnet hatte. Er winkte ihr zu.

Nur zu, bedeutete er ihr, wobei ihm die Brille ein Stück die Nase hinunterrutschte. Er schob sie wieder hoch und winkte nochmals. Fahren Sie schon hinein.

Wer hätte das gedacht? Sie sah sprachlos zu, wie er zurücksetzte, damit sie Platz zum Rangieren hatte. Verwundert fuhr sie in die Lücke. Bis sie aus ihrem Wagen ausstieg, war der Lexus fort. Er musste wohl bis Seattle fahren, um einen Parkplatz zu finden.

In diesem Augenblick blickte sie auf und sah es. Der Behindertenausweis, den man ihr nach ihrem Unfall gegeben hatte, baumelte an ihrem Rückspiegel. Sie hatte vergessen, ihn wieder abzunehmen.

Also hatte ihr der andere Fahrer den Parkplatz aus Mitleid überlassen.

Wie sie das hasste! Ich brauche kein Mitgefühl von Fremden, dachte sie wütend und bemühte sich, den Schmerz zu ignorieren, der ihr durch den Rücken schoss.

Ihr Arzt hatte ihr gesagt, sie wäre gesund genug, um von hier bis ans Ende der Welt zu wandern, aber der Schmerz beim ersten Auftreten würde bleiben. Sie hatte diese Diagnose so gedeutet, dass sie auch Touristen ans Ende der Welt oder irgendwohin führen könnte, wenn sie wollte.

Es war Juli und für San Francisco ungewöhnlich kühl. Lily machte es nichts aus, denn sie mochte die feuchte Luft und die salzige Brise, auch wenn sie sich danach sehnte, wieder in die Berge zu kommen.

Falls du es denn so weit schaffst.

Sie verdrängte ihre Zweifel und ging die Treppe hinauf. Vor ihr ging ein Mann, groß und schlaksig, mit kurzem dunklem Haar und in einem Leinenanzug, der direkt aus einem Hochglanzmagazin für Herrenmode hätte stammen können. Er hielt irgendein elektronisches Dings in der Hand und hatte einen Stöpsel im linken Ohr. Mit dem Daumen tippte er in Lichtgeschwindigkeit etwas in das kleine Gerät ein, während er ging und mit sich selbst sprach.

Nein, gar nicht wahr! Er sprach nicht, sondern sang. Und das ziemlich schlecht. Lily verstand ein paar der Worte, die er sang, und erkannte, dass er gerade dabei war, einen sehr schönen Song von U2 zu verstümmeln.

Er steckte das Gerät, offenbar ein Minicomputer mit Handyfunktion, in seine Tasche. Lily bemerkte, dass das Display noch leuchtete, was bedeutete, dass er gerade neue Nachrichten bekam. Doch er ignorierte sie, um einen streunenden Hund zu streicheln, der auf der Außentreppe des Bürogebäudes stand.

Der Hund, ein Mischling mit schwarzen, weißen und schlammfarbenen Flecken, rollte sich auf den Rücken, damit der Mann ihm den Bauch kraulte, wobei ihm die Zunge seitlich aus dem offenen Maul hing.

„Braver Junge“, sagte der Fremde und setzte sich in seiner beigefarbenen Leinenhose auf die Stufen, woraus Lily schloss, dass er seine Kleidung nicht selbst reinigte. „Du bist ja ein ganz Braver.“

Der Hund antwortete, indem er vor Freude sabberte.

Als Lily auf ihrer Stufe ankam, sahen beide zu ihr auf, und der Mann lächelte ihr zu.

Es war der Lexusfahrer.

2. KAPITEL

Sein Lächeln wirkte ansteckend, auch wenn Lily nicht verstand, warum. Normalerweise entlockte ihr dieser Typ Mann kein Lächeln. Sie mochte rebellische Typen, die sie ständig aufs Neue überraschten und bei denen sie sich fortwährend fragte, was als Nächstes kam. Männer, die ihr das Gefühl von Abenteuer vermittelten.

Dieser hier in seinem edlen Anzug und mit den Taschen voller elektronischer Spielzeuge sah zwar nicht schlecht aus, aber sie stand nun mal nicht auf Computerfreaks. „Sie hätten mir den Parkplatz nicht überlassen müssen“, sagte sie.

„Okay.“ Er sah sie an, und ihr fiel auf, dass seine Augen eine Mischung aus Whiskeybraun und Meergrün waren.

„Sie wollten ihn doch für sich.“ Er schien das lustig zu finden. „Sie sind es wohl nicht gewöhnt, Parkplätze geschenkt zu bekommen, was?“

Sie war es nicht gewöhnt, überhaupt etwas geschenkt zu bekommen.

Er beugte sich vor, zog die Augenbrauen hoch und sagte: „Soll ich Ihnen einen Tipp geben? Die richtige Antwort wäre ‚Danke schön‘ .“

Verdammt, er hatte recht. „Danke schön“, sagte sie und ging durch die Tür, die er ihr aufhielt. Sie durchquerte die Eingangshalle des Gebäudes und weigerte sich, darüber nachzudenken, wie gut er roch oder dass er ihr Humpeln bemerken würde.

„Alles okay?“, fragte er wie aufs Stichwort.

Ihre Schultern versteiften sich. „Ja, mir geht es gut.“ Um es zu beweisen, marschierte sie an den Fahrstühlen vorbei zu der Tür, die ins Treppenhaus führte. „Ich werde die Treppe nehmen, wo Sie mir schon erspart haben, von Timbuktu herzuwandern.“

Er lachte, und es klang so leicht und unbeschwert, dass Lily sich unwillkürlich umdrehte und ihn ansah. Lachfältchen umrahmten seine interessanten Augen, woraus sie schloss, dass er häufiger lachte.

„Freut mich, dass ich das verhindern konnte“, sagte er. „Stellen Sie sich doch nur vor, wie viel Benzin Sie für den Weg nach Timbuktu und zurück verbraucht hätten.“ Sein Handy piepste wieder, und er griff in seine Tasche. „Entschuldigung, ich muss da rangehen, sonst zerstört sich das Ding selbst.“

„Klingt gefährlich.“

„Ja, schön ist das nicht.“

Während er sich seinem Minicomputer widmete, tat sie, was sie immer tat, wenn sie sich unbehaglich fühlte – sie ging weg. Auf halbem Weg die Treppe hoch dachte sie, sie müsste sterben, und blieb stehen, um zu verschnaufen. Verdammte Schwäche!

Als sie schließlich oben ankam, öffnete sie die Tür zu Outdoor Adventures und atmete tief durch. Wie vertraut ihr das alles hier doch war. An den Wänden hingen immer noch die Karten und Fotos aus der ganzen Welt. Auf den Karten waren jene Orte mit Fähnchen markiert, zu denen sie bereits Expeditionen geleitet hatten. Einst waren Lilys Touren mit den gelben Fähnchen markiert gewesen, doch inzwischen stand diese Farbe für einen anderen Guide.

Als sie das erste Mal herkam, war sie von der energiegeladenen Atmosphäre und dem Hauch von Abenteuer in der Luft vollkommen hingerissen gewesen. Und während des Vorstellungsgesprächs hatte Keith auf seinem Schreibtisch direkt vor ihr gesessen, überlebensgroß, umwerfend aussehend und wahnsinnig sexy. An dem Tag versprach er ihr, ihr alles über die Arbeit als Tourguide beizubringen. Und dieses Versprechen hatte er gehalten.

Nachdem sie auf seinem Schreibtisch ihre Unschuld verloren hatte.

Jetzt war eine Gruppe von Leuten im Empfangsbereich, die Wasser tranken und an Müsliriegeln knabberten – die klassische Szene vor einer Vorbesprechung mit den zukünftigen Tourteilnehmern. Lily blickte sich um. Als sie Keith entdeckte, war sie schlagartig keine verletzte Frau mehr, die auf die dreißig zuging, sondern eine nervöse Achtzehnjährige.

„Lily“, sagte er und kam auf sie zu. Sein weizenblondes Haar war immer noch fast schulterlang, die Lachfalten um seine himmelblauen Augen waren mehr und tiefer geworden, doch wie bei allen Männern machte ihn das nur noch attraktiver. Er war nach wie vor schlank und durchtrainiert, allzeit bereit, den nächsten Berg zu besteigen und sich auf das nächste Abenteuer zu begeben.

Gerade das hatte damals für Lily seinen besonderen Reiz ausgemacht. Und jetzt stand sie vor ihm und wartete darauf, dass ihre Gefühle sich meldeten, aber das geschah nicht. Hatte sie denn geglaubt, sie müsste nur hierherkommen, und gleich wäre sie wieder wie früher?

Ein bisschen schon, auch wenn es unrealistisch war.

Keith nahm sie in die Arme und küsste sie auf beide Wangen, wobei er sich mehr Zeit ließ, als es der Anstand erlaubte.

Nicht dass Keith sich je um Anstand und Sitte geschert hätte. Er tat, was er wollte und wann er wollte, und es interessierte ihn nicht, was andere von ihm dachten.

„Du siehst fantastisch aus“, sagte er so leise, dass nur sie es hören konnte, und reichte ihr etwas zu trinken von einem Tablett in der Nähe. „Ich stelle dich jetzt der Gruppe vor. Alle mal herhören!“, rief er, und prompt verstummten alle anderen Anwesenden. „Das ist Lily Peterson. Ihren Lebenslauf kennen die meisten wahrscheinlich schon aus den Reiseunterlagen, aber jetzt habt ihr alle Gelegenheit, sie persönlich kennenzulernen und ihr Fragen zu stellen.“

Nun redeten alle auf einmal, und Keith lachte.

Lily nicht. Sie wurde selten nervös. Schließlich hatte sie schon einmal ohne Aussicht auf Rettung und Überleben in einem Schneesturm auf einem Berg festgesessen und war mit einem Kajak eine besondere gefährliche Stromschnelle hinuntergepaddelt, wobei ihr Boot an den Felsen zerschellt war. Verdammt, sie war sogar schon von einer Klippe gestürzt, hatte sich die Wirbelsäule gebrochen und von den Ärzten gehört, dass sie wohl nie wieder würde gehen können. In keiner dieser Situationen war sie nervös gewesen.

Doch fremde Menschen kennenzulernen … das machte sie nervös. Sie nippte kurz an ihrem Wasser und rang sich ein Lächeln ab. „Hallo, Leute.“

„Fangen wir mit Rose McCall an“, sagte Keith und zeigte auf die Frau, die Lily am nächsten stand. „Rose ist Maklerin und auf der Suche nach etwas Neuem und Spannendem. Deshalb will sie mit auf die Wanderung.“

Rose winkte Lily mit ihren manikürten und diamentenbeladenen Fingern zu. „Ich freue mich schon darauf.“ Sie trug eine Designerjeans, die tief auf ihren kurvigen Hüften saß und so eng war, dass Lily sich fragte, wie sie sich darin überhaupt bewegen konnte. Ihr schwarzes Neckholder-Top war strassbesetzt, passend zu ihren hochhackigen Schuhen. Das aufwendige Make-up maskierte ihr wahres Alter, aber Lily schätzte sie auf Ende dreißig.

Eine Frau auf der Pirsch, dachte Lily, während sie ihr die Hand schüttelte. „Freut mich.“

Rose lächelte. „Ganz meinerseits. Ich habe eine Frage. Was hältst du von Sandalen?“

„Auf der Wanderung?“

„Ja. Meine Zehen müssen atmen können.“

„Wahrscheinlich werden sie vorher und nachher atmen wollen, aber während der Tour sind eindeutig Wanderstiefel die beste Fußbekleidung“, sagte Lily so diplomatisch wie möglich.

„Dem stimme ich zu“, sprang Keith ihr bei, die Hände auf ihren Schultern, und drehte sie sanft zum nächsten Teilnehmer. „Und das hier ist Roland Rocklin.“

Roland war ein vollständig schwarz gewandeter Mittzwanziger, und er sah so atemberaubend aus, dass Lily unwillkürlich blinzelte.

„Rock“, korrigierte Roland und reichte ihr lächelnd die Hand. Lily fiel auf, dass er auffallend muskulös war.

„Ringer?“, fragte sie prompt. Sie liebte es, Menschen mit Etiketten zu versehen, auch wenn sie diese normalerweise für sich behielt.

„Boxer“, antwortete Rock grinsend. „Mein Trainer hat mir diesen Trip zum Geburtstag geschenkt und meinte, ich wäre ein Weichei, wenn ich die Tour nicht bis zum Ende durchstehe.“

„Ach, du wirst schon durchhalten“, versicherte Lily ihm. Bei Expeditionen, die sie leitete, gab niemand vorzeitig auf, nicht einmal sie – und wenn es sie umbrachte. „Wir schaffen es alle.“

„Das beruhigt mich.“ Rocks Blick wanderte zu Rose, die gerade das Nackenband ihres Tops neu knotete, wobei der Stoff ein Stück herunterglitt und für einen kurzen Moment eine ihrer Brustspitzen entblößte.

„Huuch.“ Sie kicherte. „Entschuldigung, achtet gar nicht auf mich.“

Rock blieb der Mund offen stehen.

Keith räusperte sich. „Und weiter geht’s. Das, Lily, sind Jack und Michelle Moore.“ Er zeigte auf das junge Pärchen neben Rose. Sie waren beide typisch kalifornisch blond und topmodisch gekleidet. Zudem sahen sie aus, als wohnten sie in einem Fitnesscenter. „Die Tour ist ein Geschenk von Michelles Vater zum ersten Hochzeitstag.“

„Geschenk … oder Strafe für was auch immer“, sagte Michelle lachend, als sie Lily die Hand schüttelte.

„Es wird sicher keine Strafe“, beruhigte Lily sie.

„Na gut. Übrigens, ich habe mich gefragt“, Michelle beugte sich zu Lily vor, „ob es vielleicht eine Möglichkeit gibt, nur so zu tun, als wären wir dabei. Du weißt schon, falls mein Vater nachfragt.“

Lily sah sie verwundert an. „So tun?“

„Hör nicht auf sie“, mischte sich Jack ein. „Wir sind dabei.“ Dann wandte er sich an seine Frau. „Du hast dich bereit erklärt, damit dein Vater dich weiterhin finanziell unterstützt. Wenn dir das Geld so wichtig ist, dann wanderst du auch.“

Michelle seufzte. „Okay. Aber … könnten wir vielleicht die Zeiten etwas ändern, damit wir morgens nicht ganz so früh rausmüssen?“

Lily schüttelte den Kopf. „Bedaure, nein. Wir müssen um acht Uhr starten.“

„Acht Uhr ist unchristlich“, schmollte Michelle.

„Mag sein, aber wir haben einen festen Zeitplan.“

„Hmm.“ Michelle überlegte kurz. „Und was ist, wenn jemand, sagen wir, zu spät ist?“

Lily blickte Keith an, der nur die Augenbrauen hochzog. Er spielte ihr den Schwarzen Peter zu, weil er es gern vermied, sich unbeliebt zu machen. „Wenn ihr zu spät kommt“, sagte sie freundlich, aber bestimmt, „werden wir anderen schon weg sein.“

Michelle schien das für gar keine schlechte Aussicht zu halten, doch Jack ermahnte sie. „Michelle!“

„Ja, ja, schon gut. Wir werden rechtzeitig aufstehen.“

Hinter ihnen ging die Eingangstür auf und herein kam …

„Ah“, rief Keith, „da ist ja auch unser letztes Gruppenmitglied, Daniel Skye.“

Der Mann, der Parkplätze verschenkte, stehen blieb, um streunende Hunde zu streicheln, und missgelaunten Frauen die Türen aufhielt, hatte jetzt einen Namen.

Er lächelte Lily zu, und etwas … irgendetwas war mit ihrem Bauch los. Auf einmal wusste sie, nein, sie war sich hundertprozentig sicher, dass sie und diesen Mann am Ende der Expedition eine gemeinsame Geschichte verbinden würde.

Und das gefiel ihr ganz und gar nicht.

Er nahm seinen Ohrstöpsel heraus und schüttelte Keith die Hand, der Lily näher zu sich zog. „Daniel, darf ich dir Lily vorstellen? Sie leitet die Tour.“

Einen Moment lang schien Daniel verwirrt. Sicher wunderte er sich, wie eine Frau mit einem Behindertenausweis im Wagen eine Wandertour anführen konnte.

Keith gab Daniel etwas zu trinken. „Ich muss dich warnen, Daniel“, sagte er mit einem Grinsen in Lilys Richtung. „Komm ja nicht zu spät zum Tourbeginn, sonst lässt unsere hübsche Führerin dich in der Wüste stehen. Glaub mir, das ist mir schon passiert.“

„Ich werde pünktlich sein.“ Daniel prostete Lily mit seinem Wasser zu. „Auf einen guten Start und eine schöne Wanderung.“

Wieder empfand sie ein seltsames Kribbeln, und während alle auf die Tour anstießen, betrachtete sie Daniel genauer. Keine Frage, die Augen mit dieser Mischung aus Schokoladenbraun und Meeresgrün waren reizvoll, und er hatte ein sympathisches, ansteckendes Lächeln.

Keith blickte von Daniel zu Lily, als hätte er die Schwingungen zwischen ihnen bemerkt. „Kennt ihr zwei euch schon?“

„Nicht direkt“, antwortete Daniel und sah Lily an. „Allerdings habe ich das Gefühl, dass ich jetzt derjenige bin, der sich bedanken sollte.“

„Noch habe ich dich nirgendwo hingeführt“, erwiderte sie. „Möglicherweise findest du es furchtbar.“

„Meinst du?“

Sie sah ihn an. Sein Gesicht war glattrasiert und zwar nicht blass, aber eben auch nicht gebräunt. Offensichtlich verbrachte er wenig Zeit im Freien. Und seine blitzsauberen Turnschuhe hatten noch nie einen Wanderweg gesehen. Wieder rutschte ihm die Brille herunter, und sie wettete, dass er sie gleich am ersten Tag verlieren würde, sofern er sie nicht mit einem Band sicherte.

Nein, er hatte nichts von einem Naturburschen. Vielmehr war er ein Typ, der sich den lieben langen Tag über einen Laptop beugte und das Haus höchstens verließ, um noch mehr elektronisches Spielzeug zu kaufen. In diesem Moment piepte es wieder in seiner Tasche.

„Noch mehr digitale Ausrüstung?“, fragte sie. „Was für eine Überraschung!“

Grinsend angelte er das ärgerliche Ding aus seiner Tasche und drückte es mit dem Daumen aus, ohne auf das Display zu sehen. „Entschuldigung.“

Keith schüttelte den Kopf. „Den ganzen Kram lässt du besser zu Hause.“

„Ach ja?“ Daniel steckte seinen Organizer wieder ein. „Und warum?“

„Weil du dir damit das Naturerlebnis verdirbst.“

Daniel wandte sich an Lily. Seine Brillengläser spiegelten gerade so stark, dass sie seine Augen nicht erkennen konnte. Zugleich hatte sie das Gefühl, er könnte in ihren deutlich sehen, was in ihr vorging.

Und wieder verspürte sie jenes befremdliche Kribbeln. Das war verrückt! Sie mochte stärkere, härtere, erfahrenere Männer, die allein ihren Weg durch die Wildnis fanden, einen Berg bestiegen und durch Stromschnellen paddelten. Eben Männer wie … Keith.

Nur empfand sie keinerlei Kribbeln, wenn Keith sie ansah.

Daniel lächelte immer noch. „Du denkst also, ich bin nicht der Wander- und Zelttyp.“

„Ich bin nicht hier, um ein Urteil über dich zu fällen.“

„Sag die Wahrheit.“

„Okay. Nein, tut mir leid, du scheinst mir nicht der Abenteuerurlaubtyp. Aber ich könnte mir vorstellen, dass du deinen Spaß haben wirst.“

Er nippte an seinem Wasser und sah sie eindringlich an. „Ich habe gelernt, dass Äußerlichkeiten täuschen können.“

In dieser Nacht lag Daniel Skye wach im Bett und starrte an die Decke. Was hatte er gemacht? Er war bekennender Stadtmensch. Weshalb hatte er sich ausgerechnet eine Woche freigenommen – allein das war schon eine Seltenheit –, um auf eine Wandertour zu gehen? Warum tat er sich freiwillig Camping an, mit Felsen, Insekten und ohne fließendes Wasser?

Das passte überhaupt nicht zu ihm. Genau genommen hatte er in den ersten zweiunddreißig Jahren seines Lebens noch nie eine Nacht im Freien verbracht. Aber wenn ihn das Leben kürzlich eines gelehrt hatte, dann, dass man auch einmal neue Pfade betreten musste.

Er hatte in diesem Jahr eine zweite Chance bekommen, und seitdem wollte er nicht mehr abwarten, was geschah. Er wollte die Dinge bewusst angehen. Und das hieß, wenn sich etwas Interessantes anbot, dann griff er zu.

Und Lily Peterson interessierte ihn.

Dabei ging es nicht bloß darum, dass er gern mit ihr ins Bett gehen würde, obwohl er das natürlich auch wollte. Aber darüber hinaus wollte er diese Frau vor allem kennenlernen.

Eine Frau, die das genaue Gegenteil von ihm war.

Es mochte jeder Logik widersprechen, doch da er sich ohnehin nicht mehr auf Logik verließ, war es ihm egal. Nein, er wollte sein Leben genießen, unabhängig davon, was logisch war und was nicht.

Als er schließlich einschlief, träumte er – was Wunder – von seiner Trekkingführerin mit den verletzlichen Augen, mit dem höflichen Lächeln, hinter dem sie ihre Gedanken verbarg, und mit dem gestählten kleinen Körper, den er zu gern aus nächster Nähe …

Er wachte erregt auf und musste über sich selbst lachen, auch wenn er sich wünschte, wieder in den Traum zurückdriften zu können.

Stattdessen stand er auf. Sein erster Campingurlaub würde noch viel spannender werden, als er gedacht hatte.

Lily setzte sich kerzengerade im Bett auf und japste nach Luft. Sie hatte geträumt, dass sie in einem Kajak saß und mit den Stromschnellen kämpfte. Der beste Kajaker, den sie kannte, war Keith. Aber in ihrem Traum war nicht er bei ihr gewesen, sondern ein Mann, der sich tadellos kleidete, das Haar kurzgeschnitten trug und eine Designerbrille auf der Nase hatte. Ein Mann mit einem ansteckenden Lächeln und einem schlaksigen Körper, der kein bisschen durchtrainiert war.

Daniel Skye ließ ihr einfach keine Ruhe.

Sie stand auf und duschte sich den Schmerz und die Steifheit in den Knochen weg. Vor ihrem Sturz hatte sie beides nicht gekannt, aber sie tröstete sich damit, dass es immer noch besser war, Schmerzen zu haben, als unter der Erde zu liegen und gar nichts mehr zu fühlen.

Sie zog sich an und ging zur Physiotherapie, um sich ein weiteres Mal von Eric quälen zu lassen. Danach duschte sie wieder, zog sich an und ging für die Expedition einkaufen, bevor sie nach Hause fuhr und packte. Währenddessen sagte sie sich unentwegt, dass die Schmetterlinge in ihrem Bauch vom Hunger herrührten und kein Zeichen von Angst waren.

Doch ganz gleich, wie hartnäckig sie sich selbst belog, ihre Angst fraß sie beinahe auf.

Nachdem sie die Karten studiert und alles markiert hatte, einschließlich alternativer Routen und Rastplätzen für Notfälle, fuhr sie zu Outdoor Adventures, wo sie die Versorgung mit Lebensmitteln, Ausrüstung und Kanus koordinierte.

Keith ging alles höchstpersönlich mit ihr durch. Als sie fertig waren, nahm er sie in die Arme.

„Wir sollten heute Abend etwas trinken gehen“, schlug er vor, „und auf die Expedition anstoßen.“

Sie wollte sein Angebot annehmen, aber auf einmal wurde ihr klar, dass ihre gesamte Kraft von ihren Bedenken, ihren Sorgen und ihren Zweifeln an ihren Zielen verschlungen worden war.

„Ich reise noch heute Abend ab“, sagte sie. Keith würde sich nicht darüber wundern, denn die meisten Expeditionsleiter – und wahrscheinlich auch viele der Teilnehmer – fuhren am Abend zuvor ab und übernachteten in Hotels oder Pensionen, die näher am Startpunkt der Wanderung waren. Der nämlich lag immerhin dreieinhalb Stunden Autofahrt von San Francisco entfernt.

Keith schien enttäuscht, fand sich aber damit ab. Und am späten Nachmittag machte sich Lily auf den Weg von San Francisco in die Sierras. Der Highway 80 führte durch das satte Juligrün der Hügel. Sobald sie aus der Stadt war, schaltete sie die Klimaanlage ab und öffnete die Wagenfenster. Genüsslich sog sie den Duft der Berge nach Salbei, Kiefern und all dem anderen ein, das ihr um so viel vertrauter und lieber war als der Gestank der Großstadt.

Ja, sie tat das Richtige. Schon jetzt lächelte sie so häufig wie lange nicht mehr, und sie spürte, wie sich ihre Anspannung legte.

Kurz nach Einbruch der Dunkelheit kam sie bei der kleinen Pension an, die sie sich gebucht hatte, und fand zu ihrer Überraschung einen großen, schlaksigen Mann vor, der in einem der Sessel im Empfangsbereich saß und einen Drink in der Hand hielt.

Daniel Skye.

Als er sie sah, stand er auf und nahm sich den allgegenwärtigen Stöpsel aus dem Ohr. Dann griff er in seine Tasche, holte einen iPod hervor und schaltete ihn ab, ehe er ihn wieder einsteckte.

„Hi“, sagte er freundlich, und da geschah etwas höchst Ungewöhnliches.

Sie lächelte ihn an.

Er erwiderte ihr Lächeln. „Übernachtest du auch hier?“

„Ja.“ Na gut, das war ganz ungünstig. Sie hatte sich eigentlich gewünscht, ein letztes Mal allein zu sein, bevor sie die nächsten vier Tage und Nächte mit der Wandergruppe verbrachte. „Aber …“

Sie brach den Satz ab, da Daniel lachte. „Offensichtlich bist du nicht gerade begeistert, mich zu treffen.“

„Tut mir leid“, sagte sie verlegen. „Es ist … nicht persönlich gemeint.“

Aus unerfindlichen Gründen lächelte er immer noch. „Oh doch, das ist es. Aber keine Sorge, ich bin nicht beleidigt.“ Und wieder grinste er sie auf diese Art an, die ihr das Gefühl gab, unglaublich anziehend zu sein.

„Möchtest du mir vielleicht Gesellschaft leisten?“, fragte er. „Ich spendiere dir einen Drink.“

„Ähm …“

„Komm schon“, sagte er. „Ich verspreche auch, dich nicht zu fragen, ob ich offene Sandalen zum Wandern anziehen darf.“ Er lachte über ihren perplexen Gesichtsausdruck. „Jack und Michelle haben mir davon erzählt. Ich schätze, das wird eine recht unterhaltsame Wanderung.“

„Ziemlich.“

Er schob sie behutsam Richtung Couch, und obwohl ihm ihr Humpeln sicher nicht entgangen war, sprach er es mit keinem Wort an.

Dafür konnte sie nicht länger schweigen. „Was diese Behindertenplakette angeht“, erklärte sie hastig. „Die ist alt. Ich brauche sie nicht mehr.“

Er setzte sich und schwieg eine Weile. „Als jemand, der selbst so ein Ding hatte, bin ich mit der Hassliebe vertraut, die diese Plaketten in einem wecken.“

Überrascht sah sie ihn an. Er kam ihr kerngesund vor. Und dennoch erkannte sie in seinen Augen diesen unverwechselbaren Schimmer, den schmerzliche Erinnerungen hervorrufen. Und in diesem Moment passierte etwas, das sich nicht in Worte fassen ließ.

Sie verstand es nicht. Er sah wie ein Professor aus, wie er in seiner olivgrünen Hose, dem weißen Hemd und mit der Designerbrille dasaß. Wie ein sehr attraktiver Professor allerdings, so viel musste sie ihm zugestehen. Und er betrachtete sie mit solcher Intensität, dass ihr ganz mulmig wurde. Sicher durchschaute er sie mehr, als ihr lieb war. „Jetzt geht es dir wieder gut?“

„Ja.“

Sie nickte. „Nun, diese Schönlingskluft hättest du lieber zu Hause lassen sollen.“

Er blickte an sich runter und zog die Augenbrauen hoch. „Schönlingskluft?“ Dann lächelte er. „Und ich fand, dass ich lässig aussehe. Wer hätte das gedacht?“

Verdammt, er brachte sie schon wieder zum Lachen. „Na ja, es sieht ja auch gut aus, und wenn du dir unbedingt die teuren Sachen ruinieren willst …“

„Das ist doch nur Geld.“

„Sagt ein Mann, der wahrscheinlich noch nie ohne welches auskommen musste.“

„Oho, höre ich da wieder jemanden nach Äußerlichkeiten urteilen?“

Sie wollte widersprechen, entschied sich dann aber dagegen. „Ich glaube, ich gehe jetzt besser ins Bett, bevor ich ins nächste Fettnäpfchen trete.“

„Warte“, sagte er, als sie aufstand.

„Tut mir leid. Ich bin nicht in der Verfassung für eine nette Unterhaltung.“

Er musterte sie von oben bis unten. „Auf mich machst du den Eindruck, als wärst du in sehr guter Verfassung.“

Wenn er wüsste! „Ich sollte …“

„Ein Drink. Sollte ich dir schrecklich auf die Nerven fallen, darfst du jederzeit die Flucht ergreifen.“ Er legte eine Hand auf ihren Arm. „Was meinst du?“

Seine Berührung durchfuhr sie wie ein Stromschlag. „Ähm …“ Wow.

„Na, wenn das nicht interessant ist“, murmelte er.

Er war so nahe, dass sie die Wärme seines Körpers spürte. Und obwohl er sie lediglich am Arm berührte, fühlte sie sich vollkommen von ihm umfangen.

Ganz zu schweigen von seinem Duft – diesem unbeschreiblich männlichen Duft, der ihre Knie weich werden ließ.

Was geschah mit ihr?

Ganz langsam hob er die andere Hand und legte sie ihr ebenfalls auf den Arm. Dann zog er sie ein klein wenig näher zu sich. In seinen Augen erkannte sie einen Anflug des seltsamen Unbehagens, welches sie verspürte. „Das ist nicht die leichte und flüchtige Anziehung, für die ich es hielt.“

„Es ist nichts.“

Ein leichtes Lächeln umspielte seine Mundwinkel. „Du spürst es nicht.“ Er schüttelte lachend den Kopf. „Klar. Das hätte ich mir denken müssen.“

Verdammt. Sie hatte geglaubt, solche Gefühle für Keith zu empfinden, ja, sie wollte es so. Die Wahrheit aber war, dass sie nicht das Bedürfnis hatte, Keith in die Augen zu sehen, sich an seinen Hals zu schmiegen und seinen Duft einzuatmen. Sie musste dringend hier weg.

„Gute Nacht“, sagte sie. „Wir sehen uns morgen früh – in Jeans, will ich hoffen.“

Diesmal lächelte er nicht. „Nacht“, erwiderte er und ließ sie los.

Lily nickte, drehte sich um und wollte zur Treppe gehen, als ihr etwas einfiel. Sie war hergekommen, um wieder zu sich selbst zu finden. Doch der Mensch, der sie einmal gewesen war, hatte sich dem Leben gestellt, statt davor wegzulaufen.

„Daniel.“

„Ja?“

„Ich …“

„Du …?“

„Fühle es.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich will es nur nicht.“

„Aha.“ Seine Augen leuchteten, als er auf sie zukam.

Lily blieb stehen. Gott, wie unglaublich gut er roch, himmlisch. „Ich muss jetzt wirklich gehen und mir noch ein paar Karten ansehen und …“ Und an dich denken.

„Ich bin ziemlich sicher, dass du die Tour bereits bis ins letzte Detail geplant hast.“ Er nahm ihre Hand. „Du verdienst einen entspannten Abend, bevor du vier Tage durcharbeitest.“

Entspannen? Sie hatte monatelang im Bett gelegen, da war sie wohl ausreichend entspannt. Außerdem fürchtete sie, wenn sie hier bei ihm blieb, dann … wer weiß. „Ich muss wirklich gehen.“

„Nur Arbeit und kein Vergnügen.“ Er lachte leise, als sie die Stirn runzelte. „So hätte ich dich nicht eingeschätzt. Komm, Lily. Was möchtest du trinken?“

„Du brauchst mich nicht zu bedienen.“

„Wein?“, fragte er und wirkte so gelassen, so selbstbewusst und so unendlich sexy, dass es ihr den Atem raubte. „Bier? Soda? Schmerzmittel?“

„Wie?“

„Das Humpeln. Du musst Schmerzen haben.“

„Ach das.“ Mit dieser Bemerkung meldeten sich ihre Ängste vor der Expedition zurück. „Das ist nichts. Ein Bier. Ich nehme ein Bier.“ Sie trat einen Schritt zurück und stieß gegen die Wand. „Zum Mitnehmen.“

„Lily …“

„Nein.“ Sie blickte in seine beunruhigend schönen Augen und ging einen Schritt auf die Treppe zu. „Wirklich, es tut mir leid, aber ich muss jetzt …“ Die Fassung wiederfinden. „… gehen.“

Sie nahm das Bier, das er ihr holte, bedankte sich und lief nach oben, wo sie direkt ins Bett ging.

Natürlich träumte sie von ihm. Als sie um drei Uhr nachts aufwachte, fragte sie sich, warum es ihr so wenig behagte, dass sie sich ausgerechnet zu diesem Mann hingezogen fühlte.

Weil sie erwartet hatte, etwas für Keith zu empfinden.

Ja, genau. Sie klopfte ihr Kissen glatt, drehte sich um und nahm sich vor, von den vier wunderbaren Tagen zu träumen, die ihr bevorstanden.

Noch einmal klopfte sie auf ihr Kissen und schloss dann die Augen. Berge, sagte sie sich. Denk an Berge und wilde Tiere.

Das Problem war nur, dass ihr Gehirn ihr nicht gehorchte. Diesmal träumte sie davon, dass sie ihr Bier nicht mit aufs Zimmer nahm, sondern sich unten mit Daniel hinsetzte, dann mit ihm auf sein Zimmer ging und …

Sie hätte Keiths Angebot annehmen sollen. Das wäre einfacher gewesen.

3. KAPITEL

Kurz nach Sonnenaufgang stand Lily am Fuß des Balsam Peak und blickte auf die prächtige Natur um sich herum.

Ihre Zweifel brachten sie beinahe um, aber sie sagte sich wieder und wieder, dass sie es schaffen würde.

Der Sommer war bisher besonders trocken, und entsprechend pulsierten die grünen Berge vor Leben. Die Sierras hatten keinen fantasievollen Namen und boten auch keine fotogene Sehenswürdigkeit wie andere Bergregionen. Trotzdem fand Lily sie faszinierend.

Hier zu sein und die klare, kalte Luft einzuatmen, fühlte sich wunderbar an, und noch wunderbarer war, dass sie weit vor der vereinbarten Zeit angekommen war.

Das war eine alte Gewohnheit. Lily war stets überpünktlich und perfekt organisiert. Sie schob es auf die zwei Jahre, die sie als Mädchen bei den Pfadfinderinnen gewesen war. Damals war sie orientierungslos gewesen und wollte unbedingt allen gefallen. Ihre Mutter hatte rund um die Uhr gearbeitet, und ihr Vater lebte irgendwo in Europa. Folglich verbrachte Lily sehr viel Zeit allein. Zu viel Zeit.

Aber aus ihr war trotzdem etwas geworden. Jedenfalls glaubte sie das. Sie stand auf eigenen Beinen und war nicht darauf angewiesen, dass andere guthießen, was sie tat. Mit diesem Wissen öffnete sie die Heckklappe ihres Trucks und prüfte noch einmal die Ausrüstung und die Vorräte, die sie mitgebracht hatte. Sie teilte alles in kleine Haufen auf, von denen die Gäste und sie jeweils einen in ihre Rucksäcke umpacken sollten.

„Sieht schwer aus.“

Sie hob den Kopf und sah Daniel. „Nicht zu schwer, hoffe ich.“

Er hatte zwar seine Managergarderobe abgelegt, doch in der teuer aussehenden Jeans und dem Polohemd wirkte er nicht weniger förmlich. Immerhin hatte er Wanderstiefel an, und Lily hoffte für ihn, dass sie nicht so funkelnagelneu waren, wie sie schienen. Außerdem hatte er wieder seine Designersonnenbrille auf. „Brauchst du Hilfe?“, fragte er.

„Noch nicht, danke.“

„Irgendwie wusste ich, dass du das sagen würdest.“ Er zeigte auf die Stapel in ihrem Truck. „Sieht aus, als hätten wir eine Menge zu schleppen.“

„Wenn dir das missfällt, kannst du ja einen anderen Urlaub buchen. Zum Beispiel auf einer Ranch für Großstadtcowboys.“

Er lachte und schob seine Sonnenbrille hoch, sodass Lily in seine atemberaubenden Augen blickte. Dann griff er in seine Hosentasche und holte ein gefaltetes Blatt Papier heraus. Nachdem er kurz draufgeschaut hatte, steckte er es wieder ein.

„Was ist das?“, fragte sie.

„Eine Liste.“

Sie wartete auf eine genauere Erklärung, aber die blieb aus. „Eine Erinnerung daran, dass du deine Sachen aus der Reinigung abholen musst?“

Er lächelte. „Nein.“

„Aha. Eine Erinnerung daran, dass deine Putzfrau deine Sachen aus der Reinigung abholen soll?“

„Du gehst offenbar davon aus, dass ich mich als sehr anstrengender Expeditionsteilnehmer erweise, stimmt’s?“

Nicht ganz. Sie ging davon aus, dass er sie ablenken würde. „Ertappt.“ Sie wandte sich wieder den Vorratsstapeln zu, doch er nahm den Wink nicht wahr und blieb neben ihr.

„Es wurmt dich“, sagte er. „Dieses Knistern zwischen uns.“

„Nein, tut es nicht“, erwiderte sie.

Okay, er mochte sehr geschniegelt sein, aber er war nicht aalglatt. Aalglatte Männer mieden jede Konfrontation, und das konnte man von ihm wahrlich nicht behaupten. Zudem hatte er recht.

Dieses Knistern zwischen ihnen wurmte sie ungemein.

„Eines ist jedenfalls sicher“, sagte sie. „Deine Stiefel werden reichlich schmutzig werden.“

Er sah auf seine Füße. „Ein bisschen Dreck macht mir nichts aus.“

„Okay.“

Nun blickte er sie wieder an. Normalerweise mochte sie direkten Augenkontakt mit ihrem Gesprächspartner, doch bei Daniel wurde ihr jedes Mal unbehaglich.

„Du glaubst mir nicht“, sagte er.

Sie zuckte mit den Schultern und wandte sich ab, weil sie das ungute Gefühl hatte, dass er in ihren Augen mehr erkannte, als sie ihm zeigen wollte. „Deine Aufgabe besteht darin, eine nette Zeit zu erleben“, erklärte sie. „Mein Job ist es, dafür zu sorgen, dass es eine nette Zeit wird. Ich werde meinen Job machen.“

„Und ich meinen“, versprach er. „Ich habe mich schließlich freiwillig für diese Expedition entschieden.“ Er blickte zu den Bergen. „Ich wollte mitmachen.“

„Schön, dann kann es ja losgehen. Ach übrigens, auch wenn in der Wettervorhersage weder Regen noch Schnee angesagt sind …“

„Schnee? Im Juli?“

„Das kann passieren. Du hast hoffentlich alles eingepackt, was auf der Liste stand – einschließlich Regensachen.“

„Ja, alles dabei.“

„Und sprüh dich mit Insektenschutz ein. Hast du welches mit?“

„Ja, Ma’am, so wie es auf der Liste stand.“

Sie ignorierte seinen Sarkasmus. „Es ist zwar trocken, aber das kümmert die Mosquitos nicht. Sie sind teuflisch. Glaub mir, die beißen überall.“

„Überall?“ Offensichtlich amüsierte ihn die Vorstellung.

„An bestimmten Stellen sind Bisse nicht witzig.“

Nun grinste er unverhohlen. „Ich merk’s mir“, versprach er.

„Gut.“ Sie verstaute ihre Vorräte in ihrem Rucksack. Als sie eine Weile später wieder aufsah, war Daniel bei seinem blitzblanken Wagen und schien Probleme mit seinem Gepäck zu haben.

Sie atmete tief durch und ermahnte sich, an ihre Ängste und Zweifel zu denken. Die würden sie hinreichend beschäftigen.

Aber sie musste einfach noch einmal hinsehen. Daniel war ganz mit seinem Rucksack befasst und beachtete sie nicht. Gut. Sehr gut. Sie machte sich wieder an die Arbeit und verteilte die Marshmallows auf die Proviantstapel. Dabei fiel ihr ein, dass sie den Schokoladenvorrat überprüfen sollte. Wenn eine Expedition nach einer Extraladung Schokolade schrie, dann diese.

Ein Truck mit dem Logo von Outdoor Adventures kam angefahren. Die Fenster waren heruntergedreht. „Hallo, Schönheit.“

Erschrocken starrte sie den Fahrer an. „Keith?“

Er sprang aus dem Truck und breitete die Arme aus. „Wie er leibt und lebt.“

„Was machst du hier?“

Er trug Cargo-Shorts, ein T-Shirt mit dem Firmenlogo auf dem Ärmel und sah aus, als wäre er bereit, mit der Expedition aufzubrechen. „Du weißt doch, dass ich meine Gruppen gern selbst losschicke.“

Sie sah ihn an und begriff, dass er nicht deshalb hier war. Früher war für sie die Sonne aufgegangen, wenn sie ihn ansah. Keith war der erste Mann in ihrem Leben gewesen, und allein dafür mochte sie ihn. „Du wolltest nach mir sehen.“

Er kam näher, legte eine Hand auf ihre Schulter und blickte an ihr vorbei auf die Ausrüstung. „Ja, ich wollte mich vergewissern, dass es dir gut geht. Die Tour wird wohl nicht allzu schwer. Bist du sicher, dass du dafür fit genug bist?“

Warum bekam sie keine weichen Knie? „Ja, ich bin sicher.“ Lügnerin!

„Hart im Nehmen wie eh und je.“

Schön wär’s.

Er strich ihr über die Wange, und sie dachte daran, wie sie früher bei diesem Grinsen dahinschmolz. Als erinnerte er sich gerade ebenfalls daran, kam er noch näher. „Fühlt sich an wie in alten Zeiten.“ Er zog sie sanft auf die Seite ihres Trucks, sodass ankommende Wagen sie nicht sehen konnten – genauso wenig wie Daniel von seinem Lexus aus.

Lily blickte Keith in die Augen und versuchte angestrengt, einen Anflug von Erregung zu empfinden. Doch seine Nähe fühlte sich befremdlich an, weil sie in diesem Augenblick das verrückte Verlangen verspürte, sich Daniel in die Arme zu werfen. Das ergab überhaupt keinen Sinn. „Keith …“

„Schhh.“ Er berührte ihre Wangen und sah sie an. „Ich versuche, etwas zu sehen.“

„Was?“

„Ob es noch da ist.“

„Ob was …“

„Sei einen Moment still, Lil.“ Und er streifte ihren Mund mit seinen Lippen.

Sie stand stocksteif da und wartete darauf, dass sie die Hitze von früher spürte. Aber da war nichts. Auch nicht, als er den Kuss vertiefte. Kein Feuerwerk. Keine heiße Lava, die durch ihre Adern rauschte.

Was war mit ihr los?

Im Grunde wusste sie es. Daniel war schuld, denn er war es, den sie küssen wollte.

Keith hob den Kopf. „So hätte ich dich gestern begrüßen sollen.“ Er strich mit dem Daumen über ihre Lippen und lächelte. „Ich wünsche dir alles Gute, Lil.“

Und dann ging er wieder zu seinem Truck und stieg ein.

Lily atmete auf, drehte sich um und … blickte direkt in Daniels Augen.

Er war mit seinen Regensachen in den Händen um den Truck herumgekommen. Offensichtlich wollte er ihr zeigen, dass er alles eingepackt hatte, und hatte alles gesehen.

Wortlos wandte er sich um und ging zu seinem Wagen zurück. Für einen kurzen Moment hatte Lily den Wunsch, sich zu entschuldigen. Aber dazu gab es überhaupt keinen Grund.

Im Laufe der nächsten zwanzig Minuten traf der Rest der Gruppe ein. Jack und Michelle fuhren in einem schwarzen wuchtigen Geländewagen vor, den der Chauffeur ihres Daddys steuerte. Nachdem sie ausgestiegen waren, sah Michelle dem Wagen wehmütig nach.

„Das wird Spaß machen“, versicherte Jack ihr.

„Ich hätte lieber Spaß auf Bali.“

Jack seufzte.

Als Nächster kam Rock in einem Jeep und gleich nach ihm Rose mit einem Taxi.

Wie sie den Taxifahrer überredet hatte, sie hier heraufzufahren, war Lily schleierhaft. Rose warf dem Fahrer ein paar Geldscheine hin, blies ihm einen Luftkuss zu und stieg aus. Ihre Designershorts saßen so eng, als wären sie aufgemalt. Dazu trug sie ein außergewöhnlich kurzes Jäckchen.

Wenigstens hatte sie Wanderstiefel an, die sie Lily vorführte, indem sie ein Bein hob und mit dem Fuß wackelte. „Niedlich, nicht? Ich habe sie billiger bekommen.“

Bei der Bewegung rutschte ihre Shorts sehr weit hoch und bot Rock, der gerade neben ihr stand, freien Blick auf einen Teil ihres Pos. Rock trank gerade Wasser und verschluckte sich prompt.

„Alles klar, Süßer?“, fragte Rose ihn lächelnd.

Rock hustete weiter, und Rose strich ihm über den Rücken, was nicht zu helfen schien.

„Du wirst in diesen Shorts nicht froh werden, Rose“, sagte Lily. Sie dachte dabei an den Bergpfad und stellte sich vor, wie alle Männer hinter Rose nur auf deren Hintern starrten, statt auf den schmalen Weg zu achten – und in den sicheren Tod stürzten.

„Süße, diese Shorts sind das Bequemste, was ich besitze.“

Wie beruhigend.

In diesem Moment kam Michelle näher und zog sich eine grellgelbe Regenjacke über, die man ohne Sonnenbrille kaum ansehen konnte. „In welche Richtung gehen wir?“, fragte sie ängstlich.

„Es gibt keinen Regen, zumindest nicht heute“, sagte Lily. „Du musst keine …“

„Sie war noch nie auf einer Wanderung“, erklärte Jack.

„Welche Richtung?“, fragte Michelle nochmals.

„Nun, wir werden die Richtung unterwegs häufiger wechseln“, antwortete Lily.

Michelle schüttelte den Kopf. „Kannst du nicht eine ungefähre Angabe machen? Ich würde gern eine Wegbeschreibung hierlassen, falls wir uns verlaufen …“

„Glaub mir, wir verlaufen uns nicht“, sagte Lily. „Ich kenne diese Strecke …“

„Welche Richtung?“, rief Michelle schrill und ein wenig panisch.

Daniel holte einen Minicomputer aus seiner Tasche, tippte etwas ein und sagte: „Nord-Nordwest“, sagte er und zeigte Michelle den digitalen Kompass.

Alle beugten sich vor und bestaunten das kleine Gerät. Lily seufzte. „Ich dachte, du lässt deine digitale Ausrüstung zu Hause.“

Er sah sie an und steckte den kleinen Computer wortlos wieder ein. Sein Blick war weniger warm als zuvor, was Lily daran erinnerte, dass er Keiths Kuss mitangesehen hatte.

Ach was, sie hatte andere Dinge, über die sie nachdenken musste. „Wenn ihr mir dann alle die Rucksäcke bringt“, sagte sie. „Ich habe die Vorräte aufgeteilt, die ihr noch einpacken müsst.“

Jack hob Michelles Rucksack und hätte eigentlich nicht überrascht sein dürfen, dass er mehr wog als seine Frau. „Verflucht, Michelle, was hast du da drin? Steine?“

Sie sah ihn schmollend über die Schulter an, als er ihr den Rucksack auf den Rücken schnallte. „Der ist viel zu schwer für mich.“

„Ja, ich habe dir ja gesagt, du hast zu viel eingepackt.“

„Jetzt schimpf nicht mit mir. Du willst es meinem Daddy und seinem Geld genauso recht machen wie ich.“

Aha, sie waren also wieder bei ihrem Lieblingsstreitpunkt, dachte er, nämlich dass er nicht nur mit Michelle, sondern auch mit ihrem Daddy verheiratet war. Jack liebte Michelle, mehr als alles andere auf der Welt, aber manchmal trieb sie ihn in den Wahnsinn.

Wie konnte eine so kluge Frau so unendlich schwer von Begriff sein? „Ich pfeife auf sein Geld“, sagte er zum millionsten Mal.

„Klar.“

Jack schüttelte den Kopf. Wie kam er darauf, dass er bei diesem Thema je gewinnen könnte? Allmählich begriff er, was die Leute meinten, wenn sie sagten, Liebe allein wäre nicht genug. „Dann nimm wenigstens zehn Pfund Make-up und Haarpflege wieder raus.“

„Die brauche ich.“

„Brauchst du nicht.“

„In dieser Höhe kriege ich krauses Haar.“

Er schüttelte den Kopf. „Dann flechte dir Zöpfe.“

„Jack!“

Hilflos hob er die Hände. „Wir können den Fahrer gleich wieder herbestellen. Bis mittags bist du völlig am Ende.“

Sie sah ihn erschrocken an. „Du weißt, dass wir das nicht können. Daddy streicht uns sonst das Geld.“

Genau. Und das wäre ein Schicksal, schlimmer als der Tod. Manchmal machte sie ihn furchtbar wütend.

Aber sie liebte ihn auch, wie ihn noch niemand geliebt hatte, und schon deshalb wollte er alles tun, was er konnte. „Hör mal, nur weil dein Vater stinkreich ist, kann er uns nicht zwingen …“

„Er zwingt uns zu gar nichts. Er hat lediglich gesagt, wenn wir weiter sein Geld ausgeben wollen, müssen wir diese Wandertour mitmachen. Er glaubt, wir brauchen dieses gemeinsame Erlebnis.“

„Er zwingt uns doch“, sagte Jack matt und wandte sich seinem eigenen Rucksack zu. Er war frustriert und … traurig. Denn so gern er es auch glauben wollte, fürchtete er doch, dass ihre Ehe so nicht mehr lange funktionieren würde.

Lily gab die Vorräte aus, als Michelle zu ihr kam, die immer noch ihre gelbe Regenjacke trug. „Ähm … ich habe keinen Platz mehr im Rucksack.“

Alle hatten die Broschüre gelesen und waren bei dem Treffen gewesen, wo sie alles durchgegangen waren, einschließlich der Tatsache, dass jeder einen Teil der Vorräte tragen musste. „Dein Proviantanteil wiegt höchstens zwei Pfund.“

„Aber mein Rucksack ist jetzt schon zu schwer.“

„Das stimmt“, bestätigte Jack verbittert und hob wieder die Hände, als Michelle ihn wütend ansah. „Du wolltest ja unbedingt den ganzen Schminkkram einpacken.“

Michelle öffnete ihren Rucksack. „Na gut, dann packe ich eben die Haarpflegesachen wieder aus. Aber wenn ich in zwei Tagen wie ein Penner aussehe, dann ist das deine Schuld.“

„Okay“, sagte Jack und zwinkerte Lily zu.

Michelle nahm die Vorräte, die Lily ihr reichte. „Und das soll für vier Tage reichen?“

„Wir bekommen unterwegs noch zweimal Vorräte, damit wir nicht alles mitschleppen müssen.“

„Wie erfreulich. Ich weiß sowieso nicht, wie ich das alles tagelang mit mir herumtragen soll“, sagte Michelle mit Blick auf ihr Gepäck.

Jack lachte. „Da stimme ich dir zu.“

Lily würde mit dieser Gruppe alle Hände voll zu tun haben. Bisher konnte sie sich auf ein zerstrittenes Pärchen, eine Frau auf Männerpirsch und einen Mann freuen, der bald von besagter Frau vernascht werden würde.

Ihr Blick fiel auf Daniel, der mit umgeschnalltem Rucksack dastand und schwieg.

„Ach, Lily?“, sprach Rose sie an. „Du hast wohl recht, was die Shorts betrifft. Ich werde mich umziehen.“ Sie hielt einen Jeansminirock und eine schwarze Radlerhose hoch. „Was ist besser?“

Lily starrte die beiden Kleidungsstücke an. „Ich weiß nicht.“

„Kein Problem. Dann trage ich heute das eine und morgen das andere.“ Damit wandte sie sich um und zwinkerte Rock zu.

Der kam näher zu Lily. „Ich könnte noch zusätzliches Gepäck nehmen, falls jemand nicht so viel schleppen kann.“

„Das ist sehr nett von dir.“

„Dafür stellst du mein Zelt neben ihrs.“ Er nickte in Richtung Rose, und Lily musste lachen.

„Das entscheide ich nicht“, sagte sie. „Macht das unter euch aus.“

„Na, dann hoffe ich, dass ich eine Belohnung bekomme, falls ich den Tag durchstehe.“

Sie blickte ihn überrascht an. Offensichtlich war sie nicht die Einzige, die gewisse Zweifel hegte. „Warum solltest du nicht? Du siehst von allen hier am fittesten aus.“

„Ja, aber …“ Er verzog das Gesicht und flüsterte: „Ich halte mich im Fitnesscenter fit. Eine viertägige Wanderung durch die Wildnis habe ich noch nie gemacht.“

„Laut deinen Angaben hast du schon mal gecampt.“

Er sah sie schuldbewusst an. „Stimmt. Als Siebenjähriger neben meinem Planschbecken.“

„Ach so.“ Lily rieb sich die Stirn.

„Sag mal ehrlich: Wird es hart?“ Er sah rührend nervös aus für einen so großen muskulösen Mann.

„Machst du Witze?“ Lily zeigte zu Rose und Michelle. „Wir werden alle auf dem Zahnfleisch gehen, ehe du erste Ermüdungserscheinungen zeigst.“

Er grinste. „Danke.“

Lily wollte gerade zum Aufbruch rufen, als Michelle wieder zu ihr kam. „Ich muss mit dir reden“, sagte sie den Tränen nahe. „Ich kann das unmöglich alles tragen.“

„Wie wär’s, wenn du die fünf Paar Schuhe hierlässt?“, schlug Jack vor.

„Ich habe ein Paar für jeden Tag und eines als Ersatz. Ich ziehe nicht zwei Tage dieselben Schuhe an.“

„Ich sag dir was“, mischte sich Lily ein. „Du lässt die Schuhe hier, und ich teile deinen Proviant zwischen Jack, Rock und mir auf. Rock hat sich nämlich freundlicherweise angeboten, mehr zu tragen.“

Rose lächelte Rock zu, der rot wurde.

„Prima“, murmelte Jack. „Ich darf mehr schleppen, und Rock kriegt den Bonus.“

„Ach, komm schon, Jack“, sagte Michelle. „Hilf mir doch. Schließlich liegt dir genauso viel an Daddys Geld wie mir.“

Jack schüttelte den Kopf. „Bei dir ist jeder Widerspruch zwecklos.“

Sie gingen mit Michelles Rucksack beiseite. In diesem Moment kam Daniel zu Lily.

„Hast du auch noch irgendeinen Wunsch?“, fragte sie ein wenig ungeduldig.

„Nein, zur Zeit nicht“, antwortete er.

„Aha.“

Er lächelte kaum merklich und sah sie länger an, als ihr lieb war. Sicher dachte er wieder an den Kuss.

Und vielleicht, aber nur vielleicht wünschte er sich, er wäre an Keiths Stelle gewesen. Dann drehte er sich wieder um.

Lily atmete tief durch. Ihr stand zweifellos eine sehr anstrengende Wanderung bevor.

4. KAPITEL

Nachdem Lily sämtliche Rucksackgurte überprüft hatte, ging Daniel vor zu dem Schild am Anfang des Wanderweges. Amüsiert betrachtete er die furchtlose Leiterin ihrer Gruppe, die unmissverständlich sagte, was sie von den Teilnehmern erwartete.

Ihr Haar war zu einem Zopf geflochten, und sie trug Cargoshorts, die genug Taschenplatz boten, um ein Dritte-Welt-Land auszustatten, sowie zwei Tops übereinander. Auf ihrer Brust prangte das Logo von Outdoor Adventures.

Sie hatte gern das Sagen, seine Lily.

Und er verstand es. Auch er hatte bis vor Kurzem immer das Kommando gehabt. Er war der Geschäftsführer eines milliardenschweren internationalen Unternehmens gewesen, das Teile für Digitalgeräte entwarf und produzierte.

Bis man ihm das Kommando entzogen hatte.

„Noch irgendwelche Fragen?“, erkundigte Lily sich und kam zu ihm.

„Ja.“ Er setzte die Sonnenbrille auf und lächelte. „Wirst du mir wehtun?“

Sie sah zu Michelle, die ihren Mann anschmollte, zu Rock, der sich zum x-ten Mal die Schuhe neu band, und zu Rose, die sich Lipgloss auftrug. „Irgendwie glaube ich nicht, dass du derjenige sein wirst, der hier leidet.“

Aus dieser Nähe erkannte er jene Andeutung von Verletzlichkeit in ihren Augen, die er gestern Abend erstmals bemerkt hatte. „Aber du?“

Sie blickte zur Seite. „Mit mir ist alles in Ordnung.“

Das wünschte sie sich wahrscheinlich. Und er verstand es sehr gut. Er kannte dieses Gefühl, um jeden Preis wieder gesund sein und beweisen zu wollen, dass alles wieder normal war. Er kannte es nur zu gut.

Sie marschierten los, Lily vorneweg. Eine leichte Morgenbrise wehte und zurrte seidige Strähnen aus ihrem Zopf. Wie ein Heiligenschein umschwebten sie ihren Kopf, was Lily gewiss störte, doch Daniel fand es ganz entzückend.

Alle folgten ihr durch die angenehm wärmende Morgensonne, deren Strahlen von den Berggipfeln reflektiert wurden und die Baumwipfel zum Leuchten brachten. Daniel blickte auf eine Ehrfurcht einflößende Bergformation ein Stück weiter vor ihnen, die er am Ende dieser Wanderung hoffentlich weniger beängstigend finden würde.

„Diese Region ist eine der jüngsten und tektonisch aktivsten in Nordamerika“, erklärte Lily, die sich zur Gruppe umwandte und rückwärts weiterging. Sie schien ganz in ihrem Element.

Als sich ihre Blicke begegneten, spürte er wieder diesen Blitzschlag, den er bereits beim ersten Mal, als er sie sah, erlebt hatte. Ach was, jedes Mal, wenn er sie ansah, traf es ihn wie ein Blitz.

Was ihm nur recht war. Es war unendlich lange her, seit er irgendetwas für eine Frau empfunden hatte. Schließlich war er anderweitig beschäftigt gewesen – wie zum Beispiel damit, zu überleben …

Aber das lag nun hinter ihm, und jetzt genoss er das Leben und nahm sich, was er wollte.

Und er wollte Lily. Zumindest wollte er sie, bevor sie ihren Boss küsste.

„Gibt es da Vulkane?“, fragte Michelle ängstlich.

„Nein, hier nicht“, beruhigte Lily sie. „Obwohl diese Bergformation auf mehreren bewegten Platten liegt. Seht euch an, wie brüchig und uneben die Gipfel sind. Das ist ein Zeichen dafür, dass sie noch sehr jung sind, quasi Babys.“

„Ziemlich große Babys“, stellte Jack fest, und seine Frau lachte nervös.

„Gab es hier Dinosaurier?“, fragte Rose.

„Oh ja“, antwortete Lily. „Damals.“

„Im Mesozoikum“, ergänzte Daniel und schmunzelte, als Lily ihn verwundert ansah.

„Ich bin beeindruckt“, sagte sie. „Was weißt du sonst noch über unser Wandergebiet?“

„Abgesehen davon, dass es hier große Bären gibt, die ich nicht füttern sollte? Nicht viel.“

Michelle drängte sich näher an Jack. „Bären?“

„Keine Sorge“, sagte Lily. „Auf dieser Tour wird niemand von euch zu Bärenfutter.“

„Und wie hoch sind diese Babys nun?“, fragte Jack und zeigte auf den höchsten Gipfel vor ihnen.

„Ungefähr viereinhalbtausend Meter.“

Rock stieß einen leisen Pfiff aus. „Da werden wir ganz schön ins Keuchen kommen.“

Die meisten von ihnen waren jetzt schon aus der Puste, vermutete Daniel. Aber es fühlte sich gut an. Genau genommen fühlte es sich sogar großartig an. Die Luft um ihn herum war von einer Stille erfüllt, die er aus der Stadt gar nicht kannte. Und nicht denken oder arbeiten zu müssen …

Mit der Zeit wurde der Abstand zwischen den einzelnen Teilnehmern größer, während der Wanderweg sie immer weiter nach oben führte, entlang an steilen Abhängen und Felswänden.

Es kostete ihn erstaunlich viel Mühe, mit Lily Schritt zu halten.

„Du machst den Eindruck, als wärst du sehr zufrieden mit dir“, sagte sie und brach damit ein längeres Schweigen.

„Ja, bin ich auch“, erwiderte er. „Ich bin froh, dass ich hier bin.“

Sie lächelte strahlend. „Ich auch. Ich hatte schon … Ach, egal.“

„Nein, was denn?“

„Ich hatte Angst, dass ich es doch nicht schaffe“, gestand sie.

Er nickte, und ihm war klar, wie schwer es für sie war, das einzugestehen. „Ich auch.“

„Es ist ein fantastischer Tag für eine Wanderung, nicht zu warm und nicht zu kalt.“

„Ja, finde ich auch.“

Sie musterte ihn und biss sich auf die Lippe.

„Nur zu“, forderte er sie lachend auf. „Sag etwas zu meiner Garderobe.“

„Okay, du hast doch die richtigen Sachen dabei.“

Sie schien sich wirklich zu amüsieren, und ihm gefiel ausgesprochen gut, was er sah. Von Natur aus war Lily eher hellhäutig, und auf ihrem Nasenrücken waren erste Sommersprossen zu sehen, die Daniel ganz bezaubernd fand. Und ihre braunen Augen leuchteten im Sonnenlicht wie kristallklarer Bernstein. „Sind die Jeans funkelniegelnagelneu?“, fragte sie.

„Nein, die habe ich schon seit Jahren.“

Sie zupfte an dem T-Shirt, das er unter dem offenen blauen Leinenhemd trug. „Hast du das gebügelt?“

„Nein.“ Aber seine Haushälterin wahrscheinlich. „Vielleicht.“

Sie lachte und blickte auf seine Wanderstiefel. „Die sind doch nicht …“

„Nein, sie sind nicht neu. Ich habe sie eingelaufen, ich schwöre. Na, irgendwelche Klagen?“

Sie sah ihn von oben bis unten an. „Nein, keine Klagen“, sagte sie schließlich und klang dabei ein klein wenig atemlos.

Oder war das Einbildung?

In diesem Augenblick schrillte ein Handyklingeln durch die Luft.

Seines.

„Ich glaub’s nicht“, sagte sie.

„Entschuldigung.“ Er holte sein Handy aus der Tasche, sah auf das Display und klappte es auf. „Morgen, Candace.“

„Ihnen auch einen guten Morgen“, erwiderte seine unersetzliche Assistentin fröhlich. „Ich rufe nur an, um zu sagen, dass Sie es sich immer noch anders überlegen können. Ich könnte einen Hubschrauber schicken, der Sie in einer halben Stunde da wegholt.“

„Nein, ich ziehe das durch.“

Sie seufzte. „Dachte ich mir. Na schön. Dann viel Spaß, und lassen Sie sich nicht von einer Klapperschlange beißen. Wir haben Sie ja nicht beinahe verloren, um jetzt mitanzusehen, wie Sie von einem Reptil dahingerafft werden.“

„Ich werde mich von den Schlangen fernhalten.“

Lily sah ihn an, als er sein Handy zuklappte. „Wieso hast du hier oben Empfang?“

„Satellit.“

„Keine Handys auf der Wanderung.“

„Ist das eine feste Regel?“

„Du zahlst eine Menge Geld dafür, dass ich dich von all dem wegbringe. Wenn du unbedingt mit deiner Freundin reden willst, hättest du sie mitnehmen müssen.“

„Assistentin, nicht Freundin.“

„Oh.“

War da ein Anflug von Erleichterung in ihrem Gesicht? „Keine Sorge, Lily, ich lasse alles andere hinter mir.“

Sie sah ihn eine ganze Weile schweigend an, dann blickte sie zu den anderen, die ihnen in unterschiedlich großen Abständen folgten. „Ich bin neugierig“, sagte er leise. „Wieso arbeitest du als Tourguide?“

„Ähm …“ Sie schien abgelenkt. „Weil ich dafür bezahlt werde?“

„Ich bezweifle, dass das besonders gut bezahlt wird. Was heißt, du machst es offenbar wirklich gern.“ Er ließ den Blick über die Bäume, die Berge und den Himmel schweifen. „Zugegeben, es ist wunderschön, aber du musst dich mit einer Menge verzogener Leute abplagen.“

„Ja, und ich werde dafür bezahlt, dass ich den ganzen Tag durch die Wildnis wandre. Glaub mir, die Vorteile überwiegen die Nachteile bei Weitem.“

„Für jemanden, der gern wandert, stimmt das wohl.“

Sie blickte zu ihm auf. „Jetzt urteilst du nach Äußerlichkeiten.“

„Willst du leugnen, dass du rastlos bist?“

Einen Moment sah sie in die Ferne. „Du erkennst mehr in mir, als mir lieb ist.“

„Danke.“

„Das war kein Kompliment.“ Sie bedeutete ihm weiterzugehen, während sie langsamer wurde, um mit den anderen zu reden.

Rock sagte etwas und zeigte auf seine Stiefel. Lily nahm ihren Rucksack ab und beugte sich vor, um genauer hinzusehen. Dann sagte sie etwas, das Rock sichtlich entspannte, denn er lächelte.

Als sie sich wieder aufrichtete, legte sie eine Hand auf ihren Rücken und verzog kurz das Gesicht. Daniel vermutete, dass sie mehr Schmerzen hatte, als sie zugab. Die Frau verfügte eindeutig über sehr viel Stolz.

Und mit Stolz kannte er sich aus. Nach dem Krebs hatte er immer wieder Leute erlebt, die ihn mit einer Mischung aus Mitleid und Sorge betrachteten und ihn mit Samthandschuhen anfassten. Er hasste es. Deshalb verstand er sie, und als sie zu ihm sah, schaute er weg, um ihr Zeit zu geben.

Außerdem fiel es ihm nicht schwer, sich stattdessen auf die berauschende Landschaft zu konzentrieren. Er war noch nie in den Sierras gewesen. Merkwürdig, wenn man bedachte, dass er in Europa, in Südamerika und sogar in Australien gewesen war … allerdings immer nur auf Geschäftsreisen.

Autor

Jill Shalvis
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