Angels of the Dark - Sinnliches Erwachen

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Halbengel Koldo kennt nur ein Ziel: Rache an dem Engel, der ihn einst qualvoll seiner Flügel beraubte! Dass ihm ewige Verdammnis droht, wenn er sich den Mächten des Hasses hingibt, hält Koldo nicht von seiner Suche ab. Das ändert sich, als seine Mission ihn zu der bildschönen Nicola führt. Die von Dämonen verfolgte junge Frau scheint so zerbrechlich - und hat doch eine Stärke in sich, die Koldo fesselt. In ihm erwacht tiefe Leidenschaft, intensiver als alles, was er je fühlte. Und obwohl er sich mit aller Macht dagegen wehrt, wird er den härtesten Kampf ausfechten, um Nicolas Leben zu retten.


  • Erscheinungstag 10.02.2014
  • Bandnummer 2
  • ISBN / Artikelnummer 9783862789108
  • Seitenanzahl 304
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Gena Showalter

Angels of the Dark – Sinnliches Erwachen

Aus dem Amerikanischen von Freya Gehrke

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MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2014 by MIRA Taschenbuch

in der Harlequin Enterprises GmbH

Deutsche Erstveröffentlichung

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

Beauty Awakened

Copyright © 2013 by Gena Showalter

erschienen bei: HQN Books, Toronto

Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II B.V./S.àr.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Covergestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Tania Krätschmar

Titelabbildung: Harlequin Enterprises S.A., Schweiz

Autorenfoto: © Harlequin Enterprises S.A., Schweiz

ISBN eBook 978-3-86278-910-8

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

PROLOG

Der siebenjährige Koldo hockte in einer Ecke des Schlafzimmers und versuchte, so leise wie möglich zu sein. Seine Mutter kämmte sich das Haar, herrliche dunkle Locken, durch die sich zarte Strähnen in reinstem Gold spannten. Voller Vorfreude leise summend, saß sie an ihrem Schminktisch, ihr lächelndes, sommersprossiges Abbild eingefangen in einem ovalen Spiegel. Er konnte nicht anders, als sie fasziniert zu betrachten.

Cornelia war eines der schönsten Wesen, die je erschaffen worden waren. Das sagten alle. Ihre Augen leuchteten in zartem Veilchenblau, umrahmt von Wimpern in denselben Braun- und Goldtönen wie ihr Haar. Ihre Lippen bildeten eine perfekte Herzform, und ihre Haut strahlte wie die Sonne selbst.

Mit seinem tintenschwarzen Schopf, den dunklen Augen und der tiefbraunen Haut sah Koldo ihr nicht im Geringsten ähnlich. Die einzige Gemeinsamkeit zwischen ihnen waren ihre Flügel, und vielleicht war das auch der Grund, dass er so stolz auf die schimmernden weißen Federn mit den dichten bernsteinfarbenen Daunen war. Sie waren das einzig Gute an ihm.

Plötzlich hörte sie auf zu summen.

Koldo schluckte.

„Du starrst mich an“, fuhr sie ihn an, und ihr Lächeln war wie weggewischt.

Sofort schlug er die Augen nieder und starrte zu Boden, wie sie es lieber mochte. „Tut mir leid, Mama.“

„Ich hab dir doch gesagt, du sollst mich nicht so nennen.“ Hart knallte sie den Kamm auf die Tischplatte. „Bist du so dämlich, dass du das schon wieder vergessen hast?“

„Nein“, antwortete er kleinlaut. Alle lobten ihre Lieblichkeit, ihre Sanftheit, genauso sehr wie ihre Schönheit, und sie taten recht daran. Freigiebig verteilte sie Lob und war freundlich zu jedem, der sich an sie wandte – jedem außer Koldo. Er hatte immer eine ganz andere Seite von ihr erlebt. Was er auch tat oder sagte, sie hatte jedes Mal etwas daran auszusetzen. Und trotzdem liebte er sie von ganzem Herzen. Nie hatte er etwas anderes gewollt, als vor ihren Augen Gnade zu finden.

„Du widerwärtige kleine Kreatur“, murmelte sie und erhob sich, umgeben vom leichten Duft von Jasmin und Geißblatt. Flüsternd schwang der purpurne Stoff ihres Gewands um ihre Knöchel, und die Edelsteine, die in den Saum gewebt waren, funkelten im Licht. „Genau wie dein Vater.“

Koldo hatte seinen Vater nie kennengelernt, immer nur von ihm gehört.

Böse.

Widerwärtig.

Abstoßend.

„Ich kriege Besuch von ein paar Freunden“, erklärte sie und warf sich das Haar über die Schulter. „Du bleibst hier oben. Hast du verstanden?“

„Ja.“ Oh ja. Er verstand. Wenn irgendjemand einen Blick auf ihn erhaschte, würde sie sich schämen, weil er so hässlich war. Sie würde wütend werden. Er würde leiden.

Einen langen Augenblick sah sie auf ihn herab. Schließlich knurrte sie: „Ich hätte dich in der Badewanne ertränken sollen, als du noch zu klein warst, um dich zu wehren“, und stapfte aus dem Zimmer. Mit einem Knall zog sie die Tür hinter sich zu.

Die Zurückweisung traf ihn bis ins Mark, und er war sich nicht sicher, wieso. Sie hatte schon unzählige Male weit Schlimmeres gesagt.

Hab mich einfach lieb, Mama. Bitte.

Vielleicht … vielleicht konnte sie es nicht. Noch nicht. Hoffnung spross in seiner Brust, und er hob das Kinn. Vielleicht hatte er nicht genug getan, um sich würdig zu erweisen. Wenn er etwas ganz Besonderes für sie tat, würde sie vielleicht endlich erkennen, dass er seinem Vater in nichts glich. Vielleicht wenn er ihr Zimmer aufräumte … und ihr frische Blumen besorgte … und sie in den Schlaf sang … Ja! Zum Dank würde sie ihn umarmen und küssen, wie sie es oft mit den Kindern der Bediensteten tat.

Aufgeregt faltete Koldo die Laken zusammen, die sein Lager auf dem Boden bildeten, und sprang auf. Flink eilte er durch den Raum und sammelte die liegen gelassenen Gewänder und Sandalen ein, dann klopfte er die Kissen auf, die um den großen Teppich in der Mitte verstreut waren, wo Cornelia sich gern zum Lesen und Entspannen niederließ.

Die Wand mit den Waffen – die Peitsche, die Dolche, die Schwerter – beachtete er nicht, stattdessen ordnete er die Utensilien auf dem Schminktisch: den Kamm, die Parfümfläschchen, die Cremes für die Haut seiner Mutter und die scharf riechende Flüssigkeit, die sie immer trank. Er polierte jede Kette, jedes Armband und jeden Ring in ihrem Schmuckkästchen.

Als er fertig war, blitzte und funkelte der Raum mit allem darin wie neu. Er grinste, stolz auf seine Mühen. Sie würde sich freuen über all das, was er getan hatte – er wusste es einfach.

Jetzt zu den Blumen.

Cornelia wollte, dass er hierblieb, und hätte er versprochen, ihr zu gehorchen, wäre er es auch. Aber er hatte es nicht versprochen. Er hatte ihr nur gesagt, dass er verstand, was sie wollte. Außerdem war das alles für sie, nur für sie, und niemand würde ihn zu Gesicht bekommen. Dafür würde er sorgen.

Er marschierte zum Balkon und stieß die Doppeltür auf. Kühle Nachtluft umfing ihn. Der Palast stand in einer entlegenen Gegend der niederen Himmelreiche, umgeben von Tausenden von Sternen, die aus der endlosen samtenen Schwärze herüberfunkelten. Hell stand der Mond hoch oben am Himmel, eine schmale Sichel mit aufwärtsgerichteten Spitzen.

Der Mond lächelte ihm zu.

Ermutigt trat Koldo an den Rand des Balkons. Es gab kein Geländer, und er krümmte die Zehen um die Kante. Dann breitete er die Flügel zu ihrer vollen Spannweite aus. Pure Freude durchströmte ihn. Er liebte es, durch den Himmel zu fliegen, hinaufzugleiten und hinabzusausen, Purzelbäume durch die Wolken zu schlagen und Vögeln nachzujagen.

Seine Mutter ahnte nichts davon. „Untersteh dich, deine Flügel je zu benutzen“, hatte sie ihm an jenem Tag befohlen, als sie begonnen hatten, aus seinem Rücken zu sprießen. Natürlich hatte er vorgehabt, ihr zu gehorchen, aber dann hatte sie eines Tages getobt und geschrien, wie sehr sie ihn verabscheute, und er war aufs Dach geklettert, damit sie sein hässliches Gesicht nicht länger sehen musste. Abgelenkt von seinem Elend, war er gestürzt – hinab in die unendliche Tiefe.

Kurz vor der Landung hatte er die bislang unbenutzten Gliedmaßen gespreizt und es geschafft, seinen Aufprall zu bremsen. Einen Arm und ein Bein zerschmettert, mehrere Rippen gebrochen, die Lunge durchstoßen und einen Knöchel angeknackst, war er vom Aufschlagort fortgekrochen. Mit der Zeit waren seine Wunden verheilt – und beim nächsten Mal war er absichtlich gesprungen. Er war süchtig gewesen nach dem Gefühl des Windes auf seiner Haut und in seinem Haar und hatte sich nach mehr gesehnt.

Jetzt, in der Gegenwart, stürzte er sich kopfüber hinab. Scharf fuhr ihm der Wind ins Gesicht, und er musste einen Jubelschrei unterdrücken. Diese Freiheit … das Kitzeln der Gefahr … der Rausch von Wärme und Kraft – davon würde er niemals genug bekommen. Sekunden vor dem Aufprall drehte er sich und richtete sich auf, fing die Luftströme mit seinen Flügeln ein. Sanft landete er, die Füße schon in Bewegung.

Ein Schritt, zwei, drei, und schon war er kilometerweit in den Wald vorgedrungen. Nicht nur weil er schnell war – denn das war er –, sondern weil er etwas konnte, wozu seine Mutter und die anderen Himmelsgesandten, die er gesehen hatte, nicht in der Lage waren. Er konnte sich mit bloßer Gedankenkraft von einem Ort zum anderen begeben.

Diese Fähigkeit hatte er vor ein paar Monaten entdeckt. Anfangs hatte er sich nur einen Meter weit teleportieren können, dann zwei, aber Tag für Tag hatte er es ein kleines bisschen weiter geschafft. Dafür musste er nur seine Emotionen dämpfen und sich konzentrieren.

Schließlich kam er bei der Wiese voller Wildblumen an, die er entdeckt hatte, als er das letzte Mal die Regeln gebrochen und den Palast verlassen hatte. Er pflückte nur die hübschesten mit ihren leuchtend lavendelfarbenen Blütenblättern, die ihn an die Augen seiner Mutter erinnerten. Neugierig hob er sie an die Nase und roch daran. Sofort hüllte ihn das köstliche Aroma von Kokosnüssen ein, und sein Grinsen kehrte zurück.

Wenn Cornelia fragte, woher er den Strauß hatte, würde er ihr natürlich die Wahrheit sagen. Lügen würde er niemals, nicht einmal, um einer Strafe zu entgehen. Nicht nur, weil Gesandte – anders als er – es schmeckten, wenn ein anderes Wesen log, sondern auch weil Lügen die Sprache der Dämonen waren. Und Dämonen waren beinahe so böse wie sein Vater.

Seine Mutter würde seine Ehrlichkeit zu schätzen wissen. Bestimmt.

Die Hände voll mit feuchten grünen Stängeln, sprintete er aus dem Wald und schwang sich empor, höher und höher, die Federn raschelnd im Wind, die Muskeln auf seinem Rücken herrlich gefordert. Auf und ab glitten seine Flügel. Donnernd schlug ihm das Herz in der Brust, als er wieder auf dem Balkon landete und durch den Türspalt spähte. Von seiner Mutter war nichts zu sehen.

Erleichtert atmete er auf und ging hinein. Sorgsam nahm er die alten, vertrockneten Blumen aus Cornelias Lieblingsvase, stellte die neuen hinein und gab ihnen Wasser. Dann kehrte er auf seinen Platz in der Ecke zurück, setzte sich hin und wartete.

Stunden verstrichen.

Und noch mehr Stunden.

Als das Quietschen der Scharniere endlich verkündete, dass jemand die Tür öffnete, waren ihm die Lider schwer, seine Augen trocken und wie mit Sandpapier bearbeitet. Aber er hatte es geschafft, wach zu bleiben, und augenblicklich saß er kerzengerade, gespannt auf ihre Reaktion.

Leise Schritte. Es entstand eine Pause.

„Was hast du gemacht?“, japste seine Mutter. Wild drehte sie sich um die eigene Achse und nahm den Raum in sich auf.

„Ich hab alles für dich schön gemacht.“ Hab mich lieb. Bitte.

Scharf holte sie Luft, bevor sie auf ihn zustürmte, direkt vor ihm stehen blieb und mit flammendem Hass auf ihn hinabstarrte. „Wie kannst du es wagen! Mir hat es genau so gefallen, wie es war.“

Enttäuschung legte sich so schwer auf seine Brust, dass sie ihn fast erdrückt hätte. Schon wieder hatte er sie enttäuscht. „Es tut mir leid.“

„Woher hast du die Ambrosia?“ Noch während sie sprach, schoss ihr Blick zur Balkontür. „Du bist geflogen, stimmt’s?“

Er zögerte nur einen Sekundenbruchteil, bevor er gestand: „Ja.“

Zuerst zeigte sie keine Reaktion. Dann straffte sie die Schultern, als würde sie einen Entschluss fassen. „Du glaubst also, du kannst dich mir widersetzen, ohne je Konsequenzen tragen zu müssen, ist es das?“

„Nein. Ich wollte nur …“

„Lügner!“, schrie sie. Schallend klatschte ihre Hand in sein Gesicht, so hart, dass er mit dem Hinterkopf gegen die Wand schlug. „Du bist genau wie dein Vater. Machst einfach, was du willst und wann du willst, egal, was irgendjemand sonst davon hält. Aber das lasse ich dir nicht länger durchgehen.“

„Es tut mir leid“, wiederholte er bebend.

„Glaub mir, das wird es.“ Grob packte sie ihn am Arm und zerrte ihn hoch. Er wehrte sich nicht, ließ zu, dass sie ihn bäuchlings aufs Bett warf und ihm Hände und Füße an die Bettpfosten fesselte.

Jetzt peitscht sie mich wieder aus, dachte er und zwang sich, nicht um Gnade zu betteln, die sie ihm sowieso nicht schenken würde. Es würde wehtun, aber er würde sich erholen. Das wusste er mit Bestimmtheit. Schon tausendmal hatte er sich eine solche Strafe verdient, und jedes Mal hatte er sich erholt. Zumindest körperlich. Das Herz in seiner Brust würde noch über Jahre bluten.

Ohne die Peitsche, die sie normalerweise verwendete, auch nur eines Blickes zu würdigen, nahm seine Mutter ein Messer von der Wand.

Sie würde ihn … umbringen?

Jetzt wehrte Koldo sich doch, er zog und zerrte, aber seine Kräfte reichten nicht aus, um sich zu befreien. „Es tut mir leid. Es tut mir wirklich leid. Ich putze nie wieder dein Zimmer, versprochen. Ich verlasse nie wieder diesen Raum.“

„Du glaubst wirklich, das wäre das Problem? Oh, du törichter Bengel. In Wahrheit kann ich dich einfach nicht auf die Welt loslassen. Du bist verdorben vom bösen Blut deines Vaters.“ Das Feuer in ihren Augen hatte sich über ihre Züge ausgebreitet und tauchte sie in ein wildes, irrsinniges Leuchten. „Ich tue der Welt einen Gefallen, wenn ich deine Möglichkeit zur Fortbewegung einschränke.“

Nein. Nein! „Nicht, Mama. Bitte nicht.“ Er durfte seine Flügel nicht verlieren. Das durfte einfach nicht passieren. Lieber würde er sterben. „Bitte.“

„Ich hab dir doch gesagt, du sollst mich verflucht noch mal nicht so nennen!“, kreischte sie.

Panik fraß sich wie kleine Eiskristalle durch seine Adern. „Ich mach’s nie wieder, versprochen. Nur … bitte, mach das nicht. Bitte.“

„Ich muss.“

„Du kannst doch meine Beine nehmen. Nimm meine Beine!“

„Damit du für den Rest deines Lebens auf mich angewiesen bist? Ganz sicher nicht.“ Ihre Mundwinkel hoben sich zu einem trägen Grinsen. „Das hätte ich schon vor langer Zeit tun sollen.“

Eine Sekunde später hieb sie auf ihn ein.

Koldo schrie und schrie und schrie … bis seine Stimme ihn verließ und seine Kräfte versiegten. Bis er seine wunderschönen Flügel am Boden liegen sah, die Federn getränkt von seinem Blut.

Bis er nur noch die Augen schließen und um den Tod beten konnte.

„Schon gut, still jetzt. Es ist vorbei“, sagte sie fast sanft. „Du hast verloren, was du nie verdient hattest.“

Es musste ein Traum sein, anders ging es nicht. So grausam war seine Mutter nicht. Niemand wäre so grausam.

Weiche, warme Lippen pressten sich auf seine tränennasse Wange, und der Geruch von Jasmin und Geißblatt, der von ihr ausging, überdeckte die letzten Spuren des Kokosnussdufts. „Ich hasse dich, Koldo, jetzt und bis in alle Ewigkeit“, flüsterte sie ihm ins Ohr. „Und du kannst nichts dagegen tun.“

Nein, kein Traum. Die Realität.

Seine neue Realität.

Seine Mutter war weit mehr als bloß grausam.

„Ich will auch gar nichts dagegen tun“, antwortete er mit zitterndem Kinn. Nicht mehr.

Ihr entschlüpfte ein glockenhelles Lachen. „Höre ich da etwa Zorn? Sieh an. Du bist deinem Vater schon weit ähnlicher, als ich dachte. Vielleicht wird es Zeit, dass du ihn kennenlernst.“ Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: „Ja, morgen früh werde ich dich zum Volk deines Vaters bringen. Und du wirst erkennen, wie gut ich eigentlich zu dir war – falls du überlebst.“

1. KAPITEL

In einer Welt der Finsternis ist auch das kleinste Licht ein Leuchtfeuer.

Gegenwart

Koldo pirschte sich durch die Intensivstation des Krankenhauses, auch wenn er und der Krieger an seiner Seite für menschliche Augen unsichtbar und vor menschlichen Berührungen geschützt waren. Ärzte und Krankenschwestern, Besucher und Patienten glitten durch sie hindurch, ohne etwas von der Anderswelt zu ahnen, die sich unsichtbar neben der ihren erstreckte. Eine spirituelle Welt, die diese natürliche Welt, die Welt der Menschen, erst hervorgebracht hatte.

Eine spirituelle Welt, welche die wahre Realität für alle Geschöpfe darstellte.

Eines Tages würden diese Menschen entdecken, wie wahr diese Aussage tatsächlich war. Ihre Leiber würden sterben, ihre Geister würden sich erheben – oder hinabsteigen –, und sie würden langsam erkennen, dass die natürliche Welt vergänglich war, die spirituelle jedoch ewig.

Ewig. Genau wie scheinbar Koldos Verärgerung. Er wollte nicht hier unter den Menschen sein, betraut mit einer weiteren albernen Mission, und seinen Begleiter Axel konnte er erst recht nicht leiden. Aber sein neuer Anführer Zacharel wollte ihn beschäftigt wissen, abgelenkt, denn er hegte den Verdacht, dass Koldo um Haaresbreite davorstand, die himmlischen Gesetze zu brechen.

Und damit lag Zacharel gar nicht so falsch.

Nach allem, was Koldo im Lager seines Vaters durchgemacht hatte … nachdem er entflohen war und Jahrhunderte mit der Suche nach seiner Mutter verbracht hatte … war es ihm endlich gelungen, sie zu finden – und er hatte sie in einer seiner vielen Wohnungen in einen Käfig gesperrt.

Also: ja. Koldo stand kurz davor. Aber niemals würde er der Frau irreparablen Schaden zufügen. Er würde sich nicht einmal dazu herablassen, ihr einen Fingernagel abzubrechen. Fürs Erste wollte er sie einfach nur mit dem Entsetzen einer ausweglosen Situation vertraut machen, wie sie es ihm so eindringlich beigebracht hatte. Und immer noch beibrachte.

Später würde er … Er war sich nicht sicher. Mit der Zukunft beschäftigte er sich momentan lieber nicht.

Wegen seines Abscheus Cornelia gegenüber war Koldo in der Unheilsarmee gelandet. Für ein so hochkarätiges Einsatzkommando war das ein furchtbarer Name, der jedoch trotz allem passte. Ihre Mitglieder waren die Schlimmsten der Schlimmen, die Bösesten der Bösen … männliche und weibliche Himmelsgesandte, die kurz vor der Verdammnis standen.

Aus den verschiedensten Gründen hatten alle zwanzig Soldaten hohe himmlische Gesetze missachtet. Sie sollten lieben, doch sie hassten. Sie sollten anderen helfen, aber in Wahrheit fügten sie nur Schmerzen zu. Sie sollten aufbauen, doch sie taten nichts, außer zu zerstören.

Vor drei Monaten war allen Mitgliedern ein Jahr gewährt worden, sich von ihrem Pfad des Verderbens abzuwenden. Anderenfalls würde man ihnen ihre Fähigkeiten nehmen und sie in die Hölle hinabstoßen.

Koldo würde tun, was immer nötig war, um diesem Schicksal zu entgehen – selbst wenn er sich dafür echte Rache versagen musste. Auf keinen Fall würde er das einzige Zuhause verlieren, das er je gekannt hatte.

Axel packte ihn beim Arm und zwang ihn, stehen zu bleiben. „Alter! Hast du die zwei Fleischsäcke an dem Mädchen gesehen?“

Und das war der wichtigste Grund, aus dem Koldo ein Problem damit hatte, mit Axel zusammenzuarbeiten. „Geht’s auch noch abstoßender?“ Angeekelt riss er sich von dem Krieger los. Körperkontakt war nichts, was er genoss.

„Klar“, entgegnete Axel mit einem respektlosen Grinsen. „Jederzeit. Aber einer von uns beiden, und ich werde nicht deinen Namen sagen, K, mein Gutester, muss mal seine schmutzigen Gedanken in den Griff kriegen. Ich hab nicht von ihren Möpsen geredet.“

Koldo fuhr sich mit der Zunge über die Zähne. „Wovon dann?“

„Hallo? Ich meinte ihre Dämonen. Sieh hin.“

Sein Blick glitt zu dem Zimmer rechts von ihnen. Doch die Tür war bereits am Zuschwingen und fiel jetzt mit einem Klick ins Schloss, sodass sie die Insassin nicht mehr sehen konnten. „Zu spät.“

„Zu spät ist es erst, wenn du tot bist. Komm schon, das musst du dir ansehen.“ Axel marschierte los, geradewegs durch die geschlossene Tür.

Unwillkürlich ballte Koldo die Hände zu Fäusten und musste sich davon abhalten, auf die Wand einzuschlagen. Sie hatten eine Mission. Ablenkungen wie diese sorgten nur dafür, dass sie noch länger an diesem Ort verweilen mussten, wo unzählige Dämonen lachten und tanzten angesichts der Qualen, die die Menschen litten. Und wo sie jedem, der zuhörte, ihre Bosheiten einflüsterten.

Das überlebst du nicht, flüsterten sie. Es gibt keine Hoffnung. Und diese Menschen … So viele von ihnen waren bloße Marionetten, bei denen klauenbewehrte Hände die Fäden zogen. Wenn sie sich nicht zur Wehr setzten, würden sie als Opfer in einem Krieg zwischen Gut und Böse enden, entweder in diesem Leben oder nach dem Tod. So oder so.

So lief es nun einmal.

Der Höchste regierte die Himmelreiche. „Er“ war in Wahrheit eine heilige Dreifaltigkeit aus dem Gnadenvollen, dem Auserwählten und dem Mächtigen, und Er war der König der Könige, Sein Wort war Gesetz. Über die Himmelreiche verteilt, hatte Er mehrere Statthalter eingesetzt. Germanus – oder schlicht „die Gottheit“, wie ihn manche aus Koldos Volk nannten, auch wenn das nicht mehr war als ein Titel – war einer dieser Statthalter. Ein König, der dem König unterstand.

Germanus befehligte die Elite der Sieben – Zacharel, Lysander, Andrian, Gabek, Shalilah, Luanne und Svana –, und jeder dieser Sieben führte eine Armee von Himmelsgesandten an. Zacharel stand an der Spitze der Unheilsarmee.

Gesandte sahen genauso aus wie Engel, waren aber keine. Jedenfalls nicht in dem Sinn, wie Engel in der Welt bekannt waren. Ja, Gesandte hatten Flügel. Ja, sie führten einen Krieg gegen das Böse und halfen den Menschen. Aber eigentlich waren sie die Adoptivkinder des Höchsten; ihr Leben war an das seine gebunden. Er war die Quelle ihrer Kraft, die Essenz ihres Daseins.

Wie die Menschen hatten auch Gesandte mit den Gelüsten des Fleisches zu kämpfen. Sie kannten Lust, Gier, Neid, Zorn, Stolz, Hass und Verzweiflung. Wahre Engel waren Diener und Boten des Höchsten. Sie verspürten keine dieser Empfindungen.

Konzentrier dich auf die Mission.

Koldo straffte die Schultern. Auf Zacharels Befehl hin waren er und Axel hier im Krankenhaus, um einen bestimmten Dämon zu töten. Der Dämon hatte den Fehler begangen, einen Menschen zu quälen, der um die spirituelle Welt wusste, die ihn umgab. Einen Mann, der den Höchsten um Hilfe angerufen hatte.

Der Höchste war die personifizierte Liebe, bereit, jedem zu helfen, der darum bat. Manchmal wurden dazu Engel ausgeschickt, manchmal Gesandte. Manchmal, abhängig von der Situation und den benötigten Fähigkeiten, auch beide. Diesmal war die Wahl auf Koldo und Axel gefallen. Sie waren in der Nähe gewesen, auf dem Weg zu einer Trainingseinheit, als Zacharels Stimme durch ihre Köpfe gegeistert war und ihnen die Anweisung erteilt hatte.

Axel steckte den Kopf durch den Stahl der Tür und drängte: „Alter! Du verpasst es noch!“

„Die Person in diesem Zimmer ist nicht unsere …“

Grinsend verschwand der Krieger wieder.

„… Zielperson“, endete Koldo ins Leere. Sein Zorn wuchs.

Reiß dich zusammen.

Natürlich könnte er problemlos weitergehen und sich auf den Dämon stürzen, wegen dem sie hier waren. Aber Zacharels Anweisung hatte explizit beinhaltet, dass er nicht ohne seinen Partner handeln sollte.

Zähneknirschend ging er los. Ohne jede Schwierigkeit glitt er durch das stählerne Hindernis, dann blieb er stehen und blickte sich um. Das Zimmer war klein und vollgestopft mit medizinischen Gerätschaften, die an eine reglose blonde Frau auf dem Bett angeschlossen waren. Neben ihr saß eine Rothaarige und plauderte vor sich hin.

Der Rotschopf hatte keine Ahnung, dass hinter ihr zwei Dämonen standen, die sich die größte Mühe gaben, die Himmelsgesandten im Raum zu ignorieren.

„Zwei von den Jungs bei mir im Büro diskutierten auf einmal darüber, wer schneller laufen könnte“, erzählte sie, „und mir nichts, dir nichts wurden schon Wetten abgeschlossen.“

In ihrer Stimme schwang ein flüsternder Unterton mit, wie eine Ahnung von Rauch und Träumen, und sie ergoss sich über Koldo wie warmer Honig. Doch mit dem Wohlbehagen kam zugleich eine unerklärliche Anspannung. Jeder Muskel in seinem Leib verhärtete sich, als würde er sich gleich in eine Schlacht stürzen. Er … wollte mit einer derart zarten Menschenfrau kämpfen? Aber warum? Wer war sie?

„Ich kam mir vor wie an der Börse oder so was.“

Ein Lachen perlte aus ihrer Kehle, ein herrliches Lachen, rein und ohne jede Zurückhaltung. Die Art von Lachen, die er niemals ausstoßen könnte.

„Dann haben sie beschlossen, in der Mittagspause auf dem Parkplatz ein Rennen zu veranstalten, und der Verlierer sollte das undefinierbare Etwas aus der Plastikschale im Gemeinschaftskühlschrank aufessen. Du weißt schon, diese Schale, die da schon seit einem Monat steht und mittlerweile nur noch schwarzen Matsch enthält. Ich hab noch die Anfeuerungsrufe gehört, als ich vom Parkplatz gefahren bin, aber ich weiß nicht, wer gewonnen hat.“

Jetzt klang sie sehnsüchtig. Warum?

„Du hättest Blaine angefeuert, da bin ich mir sicher. Er ist bloß knapp eins achtzig, er würde dich also nicht zu sehr überragen, und er hat echt süße blaue Augen. Nicht dass sein Aussehen irgendwelche Auswirkungen auf seine Schnelligkeit hätte, aber ich kenne dich. Ich weiß, dass du ihm trotzdem den Sieg gewünscht hättest. Bei blauen Augen wirst du doch immer schwach.“

Er sah nur ihre obere Körperhälfte, aber nach ihrer zarten Knochenstruktur zu urteilen war sie ein winziges Ding. Ihre Züge waren unscheinbar, ihre Haut durchscheinend wie Porzellan und ihre Augen grau wie ein Wintersturm. Das üppige rotblonde Haar hatte sie sich zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden, und die Strähnen lockten sich bis zu ihren Ellbogen hinab.

Sie war umgeben von einer Aura der Erschöpfung, und trotzdem lag ein Funkeln in ihren Winteraugen.

Ein Funkeln, das die Dämonen hinter ihr in naher Zukunft auslöschen würden.

Er zwang sich, seine Aufmerksamkeit auf die beiden zu richten. Einer stand zu ihrer Linken, einer zu ihrer Rechten, und beide hatten eine besitzergreifende Hand auf ihren Schultern liegen. Sie waren so groß wie Koldo, mit schwarzen Augen ohne Pupillen, die in ihm Gedanken an bodenlose Abgründe weckten. Dem Linken ragte ein einzelnes Horn aus der Stirn, und statt Haut hatte er blutrote Schuppen. Der rechte hatte zwei Hörner auf dem Kopf und war mit einem dunklen, verfilzten Pelz überzogen.

Es gab viele Spezies von Dämonen in allen Formen und Farben. Vom Ersten ihrer Art, dem gefallenen Erzengel Luzifer, bis zu den Viha, den Paura, den Násilí, den Slecht, den Grzech, den Pica und den Envexa – und traurigerweise noch viele mehr. Sie alle strebten nach der Vernichtung der Menschheit – und wenn sie dafür jeden Einzelnen angehen mussten.

Unter den Dämonenspezies gab es Rangordnungen. Rechts hinter der Rothaarigen stand ein hochrangiger Paura, ein Dämon der Furcht. Der Linke war ein hochrangiger Grzech, spezialisiert auf Krankheit.

Dämonen hängten sich gern an einen bestimmten Menschen, um ihn durch Einflüsterungen und Täuschungen mit einem Gift zu infizieren. Im Falle des Paura trieb dieses Gift die Angst des Infizierten in ungeahnte Höhen, im Falle des Grzech schwächte es das Immunsystem. Dann nährten sich die Dämonen an der entstehenden Panik und Bestürzung und schwächten den Menschen noch weiter, machten ihn zu einem leichten Ziel für die endgültige Vernichtung.

Das Mädchen musste für sie ein wahres Festmahl sein.

Wie krank war sie wohl?

Der Grzech gab seine Versuche auf, Axel zu ignorieren, und starrte den Krieger wütend an. Dieser tanzte um ihn herum, ohrfeigte ihn wieder und wieder und kommentierte dabei in dem Dorfjungen-Slang, den er manchmal gern benutzte: „Ich hau dir eine rein, ich hau dir eine rein, was willste dagegen machen, hä?“

Koldo verabscheute Dämonen mit jeder Faser seines Seins. Welcher Gattung oder Klasse sie auch angehörten, sie waren Diebe, Lügner und Mörder, genau wie das Volk seines Vaters. Wo sie auftauchten, hinterließen sie nichts als Chaos und Verwirrung. Sie brachten Zerstörung. Und diese beiden würden das Mädchen nicht in Ruhe lassen, wenn sie niemand dazu zwang – doch selbst dann könnte sie jederzeit andere an sich heranlassen.

Es brannte in seiner Brust, als er sich dem Mädchen auf dem Bett zuwandte. Aber … sein Blick drang durch die zerknitterte Decke, das dünne Krankenhaus-Nachthemd, selbst durch Fleisch und Knochen. Was er sah, verblüffte ihn.

Für ihn war die Blondine jetzt durchsichtig wie Glas, wodurch er freien Blick auf den Dämon hatte, der sich in ihren Körper gewühlt hatte. Ein Grzech, aber eine andere Art als der, der den Rotschopf plagte. Dieser hatte Tentakel, die sich durch die Gedanken der Blonden bis in ihr Herz erstreckten und ihr das Leben aussaugten.

In schwierigen Situationen segnete der Höchste seine Gesandten oft mit besonderen Fähigkeiten, so zum Beispiel mit diesem „Röntgenblick“, wie er andere dazu hatte sagen hören. Bis jetzt war Koldo noch nichts dergleichen passiert. Warum hier? Warum jetzt? Warum bei diesem Mädchen und nicht bei dem anderen?

Eine Sekunde später traten all diese Fragen in den Hintergrund, als Koldo von jetzt auf gleich erfuhr, wie genau ihr das widerfahren war, als würden ihm die Informationen direkt ins Hirn projiziert.

Als Frühchen in der sechsundzwanzigsten Woche zur Welt gekommen, hatten die Blonde und ihre rothaarige Zwillingsschwester mit einem angeborenen Herzfehler ums Überleben kämpfen müssen. Sie waren mehrfach operiert worden und beide unzählige Male beinahe gestorben – wobei jedes Mal jegliche Fortschritte wieder zunichtegemacht worden waren. Über die Jahre hatten ihre Eltern sich angewöhnt, ihnen zu sagen: „Du musst dich beruhigen, sonst bekommst du wieder einen Herzstillstand.“

Unschuldige Worte, die den beiden hatten helfen sollen – so schien es zumindest.

Worte waren eine der größten Mächte, die es gab, ob die Menschen es nun wussten oder nicht. Der Höchste hatte diese Welt mit Seinen Worten erschaffen. Und die Menschen, die nach Seinem Bilde gemacht worden waren, konnten den Verlauf ihres gesamten Lebens mit ihren Worten lenken, ihr Mund war wie das Steuerruder eines Schiffs, wie die Zügel eines Pferdes. Mit ihren Worten schufen sie. Mit ihren Worten zerstörten sie.

Irgendwann hatte sich in der Blonden die Vorstellung festgesetzt, jeder noch so kleine Gefühlsausbruch würde tatsächlich einen neuerlichen schmerzhaften Herzanfall auslösen. Und mit diesem Glauben war auch die Furcht zum Leben erwacht.

Furcht – der Anfang vom Ende, denn die himmlischen Gesetze besagten, dass alles, was jemand fürchtete, ihm auch zustoßen würde. Im Fall der blonden Frau hatte ihre Furcht sie in Form des Grzech heimgesucht. Sie hatte seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen, und sie war ein so leichtes Ziel gewesen.

Zu Beginn hatte der Dämon ihr sein Gift ins Ohr gehaucht, ihr destruktive Dinge eingeredet.

Jeden Moment könnte dir das Herz stehen bleiben.

Oh, diese Schmerzen … Es ist schier unerträglich. Das überlebst du nicht noch einmal.

Diesmal können die Ärzte dich vielleicht nicht wiederbeleben.

Dämonen wussten, dass die Augen und Ohren der Menschen ein Tor zu ihren Gedanken waren, und die Gedanken waren das Tor zum Geist. Als die Blonde sich also mit diesen furchtbaren Einflüsterungen beschäftigt hatte, sie ohne Unterlass in ihrem Kopf umhergewälzt hatte, war ihre Angst auf ein Vielfaches angeschwollen und zu einer vergifteten Wahrheit geworden. Ihre Abwehr war zerbröckelt, und schließlich hatte der Dämon sich in ihr Inneres schlängeln können, wo er sich festgesetzt hatte und sie nun von innen heraus zerstörte.

Nun hatte sie tatsächlich einen weiteren Herzanfall erlitten, und das lebenswichtige Organ war zu geschwächt, als dass die Medizin der Menschen es noch hätte retten können.

Wollte der Höchste, dass Koldo ihr half, auch wenn sie nicht das Ziel seiner augenblicklichen Mission war? Hatte Er ihm deshalb all das enthüllt?

Seufzend lehnte die Rothaarige sich auf ihrem Stuhl zurück und zog Koldos Aufmerksamkeit damit wieder auf sich. Nun sah er wieder Fleisch und Blut vor sich statt der Geisterwelt. Die Gabe des Höchsten erstreckte sich nicht auf sie.

Ihm blieb keine Zeit, sich nach dem Grund zu fragen. Ein Hauch von Zimt und Vanille stieg in seine Nase, sogleich gefolgt von ekelerregendem Schwefelgestank. Ein Geruch, den das Mädchen nicht loswerden würde, solange die Dämonen an ihr klebten.

„Wird Zeit, dass ich mich wieder auf den Weg mache“, erklärte sie und massierte sich den Nacken, als wären ihre Muskeln verspannt. „Ich erzähl dir dann, wer das Rennen gewonnen hat, La-La.“

Hatte sie auch nur den Hauch einer Ahnung, dass das Böse auf ihr lastete und ihr auf Schritt und Tritt folgte?

Wusste sie, dass sie vollgepumpt war mit Dämonengift, genau wie ihre Schwester? Dass sie, wenn sie nicht dagegen ankämpfte, genauso enden würde, mit Dämonen, die sich in ihren Leib fraßen?

Koldo könnte den Paura und den Grzech töten, aber es blieb dabei: Andere Dämonen würden spüren, dass sie leichte Beute war, und sie angreifen. Unwissend, wie sie offensichtlich war, würde sie ihnen von Neuem erliegen.

Um auch nur annähernd längerfristigen Erfolg zu ermöglichen, müsste er ihr beibringen, wie sie sich gegen ihr Gift zur Wehr setzen konnte. Doch um das zu erreichen, bräuchte er Zeit und ihre Kooperation. Zeit, die sie vielleicht nicht hatte. Kooperation, zu der sie möglicherweise nicht bereit wäre. Aber … vielleicht war sie es, der er nach dem Wunsch des Höchsten helfen sollte. Vielleicht sollte Koldo den Rotschopf vor dem Schicksal ihrer blonden Schwester bewahren.

So oder so, die Entscheidung, ob er ihr half oder nicht, lag bei Koldo. Germanus und Zacharel mochten Befehle erteilen, nicht aber der Höchste. Nicht einmal, wenn Er eine Wahrheit enthüllte. Er setzte sich niemals über den freien Willen eines anderen hinweg.

„Willst du mitmachen, Kumpel?“, warf Axel ihm über die Schulter zu, während er die mittlerweile fauchenden Dämonen hinter der Rothaarigen weiter traktierte. „Ich werd nämlich gleich mal einen Gang zulegen.“

„Ein Gang höher als nervig ist bloß ärgerlich“, gab er zurück, während er innerlich brodelte vor Zorn, weil er bereits wusste, dass er sich für die von Zacharel erteilte Mission entscheiden würde. Das Überleben stand immer an erster Stelle.

Warum war er überhaupt wütend? Dann gefiel ihm eben die Stimme des Mädchens – na und? Was bedeutete sie ihm schon? Gar nichts. Warum sollte er sich um sie und ihre Zukunft Gedanken machen?

„Wir haben eine Pflicht“, erinnerte er Axel. „Lass uns zusehen, dass wir sie erledigen.“

Augenblicklich versuchten sich in ihm Schuldgefühle breitzumachen. Wer auch immer sie war – oder nicht war –, es war kalt und herzlos von ihm, sie einem solchen Schicksal zu überlassen, oder etwa nicht? Dieselbe Wahl hätte sein Vater getroffen. Seine Mutter … Er war sich nicht sicher, was sie getan hätte. Es hatte immerhin gewirkt, als liebte sie außer Koldo jeden.

„Komm schon, Tiger“, stachelte Axel ihn an. „Für ‘ne kleine Vergnügungspause ist immer Zeit.“

„Komm du lieber“, entgegnete Koldo. „Jetzt!“ Bevor er es sich doch noch anders überlegte.

„Schon gut, meinetwegen.“ Axel schlenderte um die Dämonen herum und versetzte einem von ihnen einen Tritt in die Kniekehlen. Geschickt drehte der andere den Oberkörper, um Axel eine massige Faust an die Schläfe zu rammen, sodass der Krieger an die Wand geschleudert wurde.

Sofort eilte Koldo zurück in den Raum und stellte sich vor seinen Bruder, um ihn davon abzuhalten, zu einem ernst gemeinten Angriff überzugehen. „Fasst ihn noch einmal an und ihr könnt euch aus nächster Nähe ansehen, wie ich mit dem Feuerschwert umgehe“, warnte er die Dämonen.

Loyalität bedeutete Koldo viel. Ob sie nun verdient war oder nicht.

„Genau.“ Axel klang nicht im Geringsten verärgert oder auch nur außer Atem. Er klang fröhlich. „Da schließ ich mich direkt mal an.“

Mit einem Seitenblick erfasste Koldo, dass Axel mit erhobenen Fäusten von einem Fuß auf den anderen hüpfte. Der Mann konnte nicht Tausende von Jahren alt sein. Es war einfach nicht möglich.

„Ihr seid hier die ungebetenen Gäste“, behauptete der Dämon, der Axels Schädel mit einem Baseball verwechselt hatte. Seine Stimme war wie Glasscherben in den Gehörgängen. „Das Mädchen gehört uns.“

Mühsam kämpfte Koldo den Drang nieder, die Dämonen zu Brei zu schlagen, während er hinter sich griff, Axel beim Kragen packte und ihn durch die Tür zurück auf den Flur stieß. „Ich bete, dass wir uns wiedersehen“, drohte er den Monstern.

Ein Fauchen schallte ihm hinterher, als Koldo aus dem Zimmer stapfte.

In der Mitte des Gangs erwartete ihn Axel, das schwarze Haar um ein Gesicht gelockt, von dem er gern behauptete, die Frauen erblickten es in ihren Träumen – weil er es in seinen eigenen sah. Der Blick seiner strahlend blauen Augen schien Koldo förmlich zu durchbohren. „Alter! Du hast meine Sachen verknittert.“

Wenigstens waren sie wieder bei „Alter“ statt bei „Tiger“. Offenbar hatte der Krieger keine Ahnung, wie gefährlich Koldos Stimmung im Moment war. Mit jedem Schritt, den er sich von dem Mädchen entfernte, verfinsterte sich seine Laune. „Was spielt das für eine Rolle? Wir sollen uns in die Schlacht stürzen, nicht die aktuelle Mode der Himmelreiche präsentieren.“

„Ach, echt. Aber ein Kerl muss sich nun mal von seiner besten Seite zeigen, egal zu welchem Anlass.“ In diesem Moment schob ein Pfleger einen Wagen vorbei, auf dem sich Krankenhausessen stapelte, und fesselte Axels Aufmerksamkeit. Augenblicklich trabte er hinterher, ein entzücktes Lächeln auf dem Gesicht. „Ich rieche Pudding!“

Wie großartig. Da bin ich doch tatsächlich an den einzigen geflügelten Krieger mit ADS gebunden.

Der Spaß hatte ein Ende, sobald Koldo und Axel den gesuchten Dämon im Visier hatten. Der Mensch, den die Kreatur quälte, war ans Bett gefesselt und stand zudem unter Medikamenteneinfluss, wenn Koldo den Sabberfaden richtig deutete, der ihm aus dem Mundwinkel hing.

Zu seiner Rechten hing ein Slecht in der Luft und wisperte ihm einen abscheulichen Fluch nach dem anderen ins Ohr.

„V-verschwinde“, brachte der Mann röchelnd hervor. Den Dämon konnte er sehen, nicht aber Axel und Koldo. „Lass mich in Ruhe!“ Je länger er sprach, desto stärker wurde er … aber noch nicht stark genug.

Man kann keinen Drachen töten, wenn man nicht vorher gelernt hat, wie man einen Bären erlegt.

Axel überrumpelte Koldo, indem er ohne ein Wort vorstürmte, wobei er die Flügel explosionsartig ausbreitete. Dem Dämon blieb gerade genug Zeit, um zu ihm aufzusehen und entsetzt zu japsen, bevor der Krieger ein Paar zweischneidige Schwerter aus einer Luftfalte zog und zuschlug.

Die Schwerter waren ein Geschenk des Höchsten, das jedem Gesandten verehrt wurde. Axel kreuzte die Handgelenke und bildete eine höchst effiziente Schere, die in weniger als einem Herzschlag den Kopf des Dämons von seinem Körper trennte. Mit einem dumpfen Geräusch plumpsten die Teile zu Boden und lösten sich sofort in Asche auf.

Unbewusst hatte Koldo erwartet, er würde den Löwenanteil bei diesem Kampf übernehmen. So war es … war es …

Unfair.

Der Mensch sackte auf dem Bett zusammen, sein Kopf rollte zur Seite. „Weg“, seufzte er erleichtert. „Er ist weg.“ Seine Augen schlossen sich, und er sank in den vermutlich ersten friedlichen Schlaf seit Monaten.

Axel warf die schwarz verschmierten Waffen zurück in die Luftfalte. „Verflixt, das wollte ich doch nicht mehr machen.“

Nicht mehr? „Du hast schon mal so schnell getötet?“

„Äh, ja … Jedes Mal. Dabei würde ich gern wenigstens ein einziges Mal meinen Gegner nur verletzen und noch ein bisschen tänzeln und ein paar Paraden einbauen, bevor ich ihm den Todesstoß versetze. Also, bis dann.“ Und damit flog Axel durch die Decke und verschwand aus Koldos Sicht.

Der Mann war mindestens so verkorkst wie Koldo. Kein Wunder, dass Axel in Zacharels Armee versetzt worden war.

Wie haarscharf stand er tatsächlich davor, zu fallen?

So dicht wie Koldo?

Geh nach Hause.

Ein guter Rat, und, Wunder über Wunder, er war seinem eigenen Hirn entsprungen. Und er wollte ihn befolgen. Das wollte er wirklich. Aber ein einziger Gedanke hielt ihn davon ab. Die Rothaarige. Er wollte sie sehen. Von Neuem spannten sich all seine Muskeln an, als Koldo sich zurück in das Krankenzimmer der Blondine teleportierte.

Bloß dass der Rotschopf nicht mehr hier war.

Zuerst traf ihn die Enttäuschung, dann eine weitere Woge der Frustration und Wut.

Er versetzte sich in seine Wohnstatt, versteckt in den Klippen an der Küste Südafrikas. Beamen nannte man das. Er hatte eine Menge über sich und seine Fähigkeiten gelernt, seit er vor all den Jahrhunderten mitten im Camp seines Vaters ausgesetzt worden war.

Um zu überleben, tut ein Mann so gut wie alles, Kleiner. Und das werde ich dir beweisen.

Die Worte seines Vaters – und ja, Nox hatte seine Aussage tatsächlich bewiesen.

Mit einem Mal brachen Frust und Zorn sich Bahn, und er brüllte auf. Er rammte die Fäuste gegen die Felswände, wieder und wieder, bis seine Knöchel blutüberströmt waren, seine Knochen genauso zersplittert wie das Gestein. Jeder Schlag war die Manifestation einer jahrhundertealten Wut, einer seelenzerfetzenden Qual, die niemals verschwunden war. Eine schwärende Wunde, von der er wusste, dass sie niemals heilen würde.

Er war, was er war.

Er war, wozu seine Eltern ihn gemacht hatten.

Er hatte versucht, sich darüber zu erheben. Hatte versucht, besser zu sein. Aber jedes Mal hatte er jämmerlich versagt. Ohne Unterlass strömte Finsternis auf ihn ein, peitschte gegen einen instabilen Damm aus verdorbenen Erinnerungen und zerfressenden Gefühlen. Einen Damm, den er nur nach Ausbrüchen wie diesem von Neuem errichten konnte.

Wie besessen prügelte er auf die Wand ein, bis er keuchte und schweißüberströmt war. Bis Haut und Gewebe in Fetzen hingen und den Blick auf gebrochene Knochen freigaben. Selbst dann hätte er noch stundenlang weitermachen können, doch er tat es nicht. Er zwang sich, mit gemessener Präzision auszuatmen und zu visualisieren, wie ein Wasserfall purer Schwärze aus ihm herausströmte.

Der Damm festigte sich wieder.

Langsam machten sich stechende Schmerzen bemerkbar, doch das war okay. Die Prügelattacke war vorüber. Das war alles, was zählte.

Barfuß tappte er durchs Wohnzimmer. Auf dem Weg griff er sich an den Kragen des dreckigen Gewands und zog es sich über den Kopf. Er ließ das Kleidungsstück zu Boden fallen, während Wind und Gischt ihn ungehindert umspielten. Hier gab es keine Türen gegen den Sturm, keine Fenster, die das Lied der Natur aussperrten; das gesamte Haus war allen Elementen geöffnet. Besser noch, die Wände genau wie Decke und Fußboden waren von den Elementen selbst geformt worden, eine glitzernde Skulptur aus dunklem Felsgestein.

Er hielt inne an einer Kante, die den Blick auf einen herrlichen rauschenden Wasserfall freigab, der sich donnernd in ein scharfkantiges Becken darunter ergoss. Dichte Gischt schlug von der aufgewühlten Meeresoberfläche empor und legte sich um seinen nackten Leib.

Hierher kam er, wenn er sich nach Ruhe und Frieden sehnte. Das Tosen um ihn herum ließ seinen Geist irgendwie ruhiger erscheinen, als er war. Als der Wind stärker wurde, klickten die Perlen aneinander, die er sich in den langen Bart geflochten hatte.

Einst hatte er auf dem Kopf die passende Mähne dazu gehabt. Lang, dick und schwarz, mit unzähligen Perlen in den kostbaren Strähnen. Jetzt – mit einer Hand rieb er sich über die glatte Kopfhaut –, jetzt war er kahl, das geliebte Haar für seine Rache geopfert.

Jetzt sah er aus wie sein Vater.

Bevor er etwas dagegen tun konnte, glitten seine Gedanken zurück zu einem der vielen Male, wo er am Grund einer tiefen, dunklen Grube gestanden hatte, während Tausende zischende Naga-Dämonen über seine Füße geglitscht waren – Füße, die gehäutet waren wie ein Stück Fisch. Während sie sich ihm um den Hals geschlängelt hatten – einen Hals, der aufgeschnitten war wie eine Weihnachtsgans.

Nagas waren ganz ähnlich wie Schlangen, und ohne Unterlass hatten sie ihre Fangzähne in sein Fleisch geschlagen, überall, und ihr Gift direkt in seine Blutbahn gepumpt. Doch die ganze Zeit über hatte er vollkommen still dagestanden, war stark geblieben, hatte sich geweigert, auch nur ein Stöhnen auszustoßen. Sein Vater hatte geschworen, er würde ihm für jedes Zeichen von Schwäche, das er erkennen ließ, einen Finger abschneiden. Und wenn keine Finger mehr übrig wären, hatte man ihm gesagt, würde er die Hände verlieren, die Füße … die Arme und Beine.

Zu jenem Zeitpunkt war er noch nicht voll ausgewachsen gewesen – was auch der Grund war, dass seine Flügel nicht nachgewachsen waren – und hätte sich nicht regenerieren können. Sein Leben lang hätte er leiden müssen, und er …

Er trieb die hässliche Erinnerung zurück in die hintersten Ecken seines Geistes, wo sie hingehörte. Dann hatte ihn sein Vater eben elf Jahre lang gefoltert. Na und? Himmelsgesandte hatten ihn gerettet, und später war er selbst Teil einer Armee geworden. Nicht jener Armee, der er jetzt angehörte, sondern der, die dem mittlerweile verstorbenen Ivar unterstanden hatte. Damals war Ivar der Beste aus der Elite der Sieben gewesen. Unter seinem Befehl zu kämpfen hatte eine Ehre bedeutet.

Und doch hatte Koldo bei einem ganz ähnlichen Wutausbruch wie diesem jene Möglichkeit mit Füßen getreten, hatte Ivar vor den Augen all seiner Männer besiegt.

Bis heute verfolgte ihn die Reue. Ein solches Fehlen von Respekt gegenüber einem so bewundernswerten Mann …

Koldo war aus der Armee geworfen und sich selbst überlassen worden – eine Weile lang. Diese Zeit hatte er genutzt, um zum Lager seines Vaters zurückzukehren und alles und jeden auszulöschen.

Es war der beste Tag seines Lebens gewesen.

Mit schmerzenden Fingern griff er nach dem Felsen über sich. Jetzt gehöre ich zu dieser neuen Armee, angeführt von einem Mann, der einst nur als „Eisprinz“ bekannt gewesen war. Morgen würde Zacharel ihn mit einer neuen Mission betrauen, die weit unter seinen Möglichkeiten lag. Mittlerweile wusste Koldo das, denn schon die letzten drei Wochen über hatte sein Anführer ihn jeden Tag ausgeschickt, ohne auch nur einen Moment zu riskieren, in dem er ein himmlisches Gesetz brechen und dafür vor Gericht kommen könnte. Glaubte er zumindest.

Koldo konnte lügen.

Koldo konnte stehlen.

Koldo konnte töten.

Er konnte alle möglichen Dinge tun, die seine Art nicht tun durfte. Aber das würde er nicht.

Dankenswerterweise musste er sich wenigstens keine Gedanken darum machen, dass man ihn noch einmal mit Axel zusammenstecken könnte. Zacharel wies ihm gern für jede Mission einen neuen Partner zu, wahrscheinlich, um ihn auf Trab zu halten.

Traurigerweise funktionierte es.

Und doch, einen Lichtblick gab es, wurde ihm klar. Das Mädchen aus dem Krankenhaus in Wichita, Kansas. Die Rothaarige. Er wollte sie immer noch sehen.

Bestimmt war sie nicht so winzig, wie er sich zu erinnern meinte. Nach allem, woran er sich erinnerte, könnte sie genauso gut die langen, schlanken Beine einer Tänzerin besitzen. Bestimmt hatte ihr Haar nicht dieses süße Rotblond. Es musste Feuerrot oder ein gewöhnliches Dunkelblond sein. Bestimmt hatte er sich die Reinheit ihrer Stimme nur eingebildet. Bestimmt.

Er richtete sich auf, als die Aussicht auf ein Wiedersehen alles andere in den Hintergrund treten ließ. Er musste es wissen. Das Bedürfnis war wie ein lebendes Wesen in seinem Innern.

Erst einmal würde er sie jedoch aufspüren müssen.

2. KAPITEL

Den Rest der Nacht verbrachte Koldo damit, die himmlischen Archive zu durchwühlen, in denen alles über jeden Menschen zu finden war, der je gelebt hatte. Über die Blondine und den Rotschopf fand er einige interessante Details heraus. Das Mädchen, das im Koma lag, hieß Laila Lane, und die andere, die er beobachten wollte, war Nicola Lane. Sie waren Zwillinge, dreiundzwanzig Jahre alt – Nicola zwei Minuten älter als ihre Schwester – und unverheiratet.

So jung. Zu jung.

Die beiden waren eineiige Zwillinge. Blond war Laila nur, weil sie sich das Haar blondiert hatte, um „einzigartig“ zu sein. Die beiden hatten keine weitere Familie und verließen sich nur aufeinander. Ihre Eltern waren vor fünf Jahren bei einem Autounfall gestorben.

Koldo verließ die Bibliothek und beamte sich in Lailas Zimmer im Krankenhaus. Auch diesmal war Nicola nirgends zu entdecken. Doch das bereitete ihm keine Sorgen. Dem Tratsch der Krankenschwestern entnahm er, dass sie jeden Tag hierherkam. Er musste nur warten.

Er trat ans Bett. Diesmal war er nicht mit der Gabe des Höchsten gesegnet, deshalb erblickte er das blonde Mädchen anstelle des Dämons, der sich unter ihrer Haut versteckte.

Dieser Anblick war fast genauso schlimm.

Ihr Haar war trocken, dünn und verfilzt. Unter den Augen hatte sie dunkle Ringe, und ihre Lippen waren aufgeplatzt. Auf ihrer Haut lag ein deutlicher Gelbstich, offenbar versagte ihre Leber bereits.

Viel länger würde sie nicht durchhalten.

Das Wasser des Lebens war ein mächtiges Heilmittel, das selbst schlimmste Schäden im menschlichen Körper beheben konnte. Es war das Einzige, was sie noch retten könnte. Zugleich würde es sie von dem Dämon befreien. Doch im weiteren Verlauf würde es von ihren Gedanken, Worten und Taten abhängen, wie erfolgreich es wirkte.

Der Grzech könnte zu ihr zurückkehren und versuchen, sie von Neuem zu vergiften. Selbst wenn Koldo ihr also das Wasser des Lebens einflößte, würde sie lernen müssen, wie sie sich gegen die Mächte des Bösen zur Wehr setzen konnte – und es dann auch wirklich tun. Wäre sie bereit, sich in einen solchen Kampf zu stürzen?

Vielleicht. Vielleicht auch nicht. So oder so war Koldo nicht bereit, für sie zu leiden und ein Opfer zu bringen, und genau das würde er tun müssen, um auch nur ans Ufer des Lebensflusses zu gelangen. Zuerst würde man ihn auspeitschen. Dann müsste er etwas aufgeben, das ihm am Herzen lag. Beim letzten Mal hatte er sein Haar geopfert. Wer wusste, was man beim nächsten Mal von ihm verlangen würde. Seine Fähigkeit zur Teleportation? Seine gefangene Mutter?

Niemals!

Diese Bedingungen waren nicht vom Höchsten angeordnet worden – er hielt nicht einmal etwas davon. Doch Germanus weigerte sich, „mit einer Tradition zu brechen, die die Himmelsgesandten seit ihren Anfängen begleitet“. Mit deren Hilfe sie das Ausmaß ihrer Entschlossenheit beweisen konnten. Also siegte wieder einmal der freie Wille, und der Brauch wurde Jahr um Jahr fortgesetzt. Für Koldo gab es keinen Weg daran vorbei.

Plötzlich öffnete sich die einzige Tür, und Nicola trat ein. Koldo richtete sich auf und versteifte sich bei ihrem Anblick. Er runzelte die Stirn. Auf diese Weise hatte sein Körper bisher nur kurz vor einer Schlacht reagiert. Warum geschah das auch bei ihr?

Wenigstens hatte sie keine Ahnung, dass er da war. Er befand sich in der Anderswelt, sie in der natürlichen, und so war er vor ihren Blicken verborgen.

Er betrachtete sie von Kopf bis Fuß, dann gleich noch einmal – wesentlich langsamer. Die rotblonde Lockenpracht trug sie wieder zu einem Pferdeschwanz gebunden, der ihr lang und dick über die Schulter fiel. Unter den Augen hatte sie dunkle Ringe, und ihre Wangen waren gerötet. Ihre Lippen sahen leicht geschwollen aus, als hätte sie darauf herumgekaut. Trotz der Hitze draußen hatte sie sich ein fadenscheiniges rosa Jäckchen um die Schultern gelegt und am Hals eng zusammengezogen.

Sie war winzig, genau wie er sie in Erinnerung hatte, herzzerreißend zierlich. Neben ihr wirkte er riesig. Mit einer einzigen Handbewegung hätte er sie entzweibrechen können.

Ich darf sie niemals anfassen, bläute er sich ein.

Aus irgendeinem Grund verstärkte sich die Anspannung in seinem Innern noch weiter.

Hinter ihr lauerten dieselben zwei Dämonen wie beim letzten Mal, immer dicht auf ihren Fersen. Bei Koldos Anblick spien sie eine Flut von schmutzigen Flüchen aus.

„Warum bist du hier?“

„Was willst du damit erreichen?“

Er ignorierte sie, woraufhin sie offenbar beschlossen, mit ihm dasselbe zu tun. Vielleicht hofften sie, er würde auch dieses zweite Mal einfach verschwinden.

„Hey La-La“, sagte das Mädchen leise. „Ich bin’s, Co-Co. Sie haben mir gesagt, dass dein Zustand sich verschlechtert hat.“

Ihre Worte waren wie eingehüllt in einen dicken, grimmigen Schutzpanzer, und trotzdem streichelte ihre Stimme über seine Haut. Wie eine kitzelnde Feder. Eine samtene, zärtliche Berührung. Genießerisch sog er die Empfindung in sich auf und … mochte sie sogar?

Nicola schob den kleinsten Stuhl ans Bett, wobei sie schwer mit seinem Gewicht kämpfen musste. Höhnisch kicherten die Dämonen. Zornerfüllt machte Koldo einen Schritt in ihre Richtung, um ihr zu helfen, doch augenblicklich zwang er sich, stehen zu bleiben. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, sich ihr zu zeigen. Damit würde er sie nur verängstigen.

Auch die Dämonen hatten seinen abgebrochenen Hilfsversuch bemerkt und schielten sauer zu ihm herüber. So viel zu ihrem Plan, ihn zu ignorieren.

„Du bist hier nicht willkommen, Koldo“, drohte der Grzech.

Wer einem Dämon antwortete, lud ihn nur ein, die Gelegenheit zum Gespräch zu ergreifen. Gespräche boten Gelegenheit zum Lügen. So töricht war Koldo nicht. Aber dass die Kreatur seinen Namen kannte, überraschte ihn nicht. Bei den Unmengen von Dämonen, die Koldo über die Jahrhunderte getötet hatte, kannte ihn die gesamte Unterwelt.

„Wir können dich zwingen, zu verschwinden“, behauptete der Paura.

Also gut. Dann war er eben töricht. „Versuch’s doch.“ Was auch passierte, sie würden scheitern.

Nicola streckte die Hand aus und tätschelte sanft die Finger ihrer Schwester. „Oh, hab ich’s schon erzählt? Blaine hat das Rennen gewonnen.“

Die Gerätschaften piepsten monoton vor sich hin, das komatöse Mädchen regte sich nicht, zuckte nicht einmal.

Seufzend lehnte Nicola sich auf ihrem Stuhl zurück und begann, von den kleinen und großen Herausforderungen ihres Arbeitstags zu erzählen.

Diesmal helfe ich ihr, beschloss Koldo. Als Erstes müsste er etwas unternehmen, um sicherzustellen, dass sie ihm zuhörte und auch tatsächlich nach seinen Worten handelte.

Das war der einzige Weg für sie, aus dieser Geschichte herauszukommen.

Und vielleicht war es auch für ihn der einzige Weg. Mit ihrer Rettung könnte er vielleicht irgendwie Wiedergutmachung leisten.

Wiedergutmachung. Laut hallte das Wort durch seinen Kopf. Manchmal sehnte er sich danach, aber verdient hatte er sie nicht. Manchmal, wenn er die Augen schloss, hörte er noch immer die schmerzerfüllten Schreie, die er verursacht hatte … spürte noch immer den Stachel der Angst im Fleisch seiner Opfer.

Er ballte die Fäuste und fasste einen Entschluss. Er konnte es schaffen. Genau wie sie.

„Bald geht’s dir besser, La-La“, erklärte Nicola plötzlich, als hätten seine Gedanken ihr Hoffnung geschenkt. „Du musst dich erholen. Was anderes lasse ich dir nicht durchgehen. Ich bin die Ältere, du musst tun, was ich sage. Alles andere ist inakzeptabel.“

Den Blick unverwandt auf Koldo gerichtet, beugte der Paura sich hinab und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Versprühte sein Gift.

Ihr wich die Farbe aus den Wangen.

Der Grzech drückte ihre Schulter, und sie sackte in sich zusammen, als hätte sich ein Teil ihrer Energie in Luft aufgelöst.

Jetzt schwang sie keine Siegesreden mehr, sondern begann wieder, von ihrem Tag zu erzählen.

Koldo rieb sich den Nacken. Was gerade geschehen war, stellte vermutlich ein Paradebeispiel des Lebens dar, das sie immer geführt hatte – sie kämpfte sich hoch, nur um wieder zu Boden geschlagen zu werden.

Tja, nicht mehr länger.

Wieder spannte er sich an, von Kopf bis Fuß auf Krieg eingestellt. Doch das hier war anders als das, was er bei Nicolas Ankunft gespürt hatte. Es gab kein Gefühl der Vorfreude, kein Zeichen freudiger Erregung. Er wollte einfach nur seine Gegner abschlachten.

Stumm streckte er die Hand aus und rief ein Feuerschwert herbei – ein weiteres Geschenk, das jeder Gesandte vom Höchsten bekam. Eines, das er jederzeit benutzen durfte.

Sofort waren der Grzech und der Paura hellwach, breiteten ihre ledrigen Schwingen aus.

„Bist du dir sicher, dass du das tun willst?“, fragte der Paura mit einem manischen Lächeln. Die Hörner auf dem Kopf der Kreatur wuchsen … und wuchsen … bis sie monströse elfenbeinerne Speere waren. Fangzähne dehnten seine Lippen, streckten sich bis über sein Kinn herab. „Überleben wirst du, aber nur in höchst schmerzhaften Einzelteilen.“

Bei dem Grzech vollzog sich eine ähnlich groteske Verwandlung, und unter seinen Schuppen flackerten Funken und Flammen auf.

Koldo machte sich nicht die Mühe, zu antworten, sondern stürzte sich schlicht nach vorn, die Klinge effizient durch die Luft schwingend. Explosionsartig wichen die Dämonen auseinander, hasteten aus der Gefahrenzone. Damit hatte er gerechnet und schlug nach unten, als er wieder auf beiden Beinen stand, gleichzeitig verdrehte er den Oberkörper nach rechts. Flammen strichen über den Oberschenkel des Paura.

Begleitet von einem schmerzerfüllten Grunzen des Dämons, breitete sich der Gestank von verbranntem Fell im Zimmer aus.

Koldo sprang in die Höhe, schlug mit einem Bein nach vorn aus und mit dem anderen nach hinten und traf beide Gegner gleichzeitig. Als er landete, hatten sie sich schon wieder weit genug erholt, um sich mit schwingenden Fäusten auf ihn zu stürzen. Einen Schlag wehrte er ab, den anderen nahm er absichtlich auf sich, packte den Grzech am Arm und hielt ihn fest, um ihn als Hebel zu benutzen. Mit seiner Hilfe schwang er beide Beine nach oben und rammte dem Grzech mit einem brutalen Klatschen die bestiefelten Füße gegen den Kehlkopf. Dann riss er den Dämon nieder, warf ihn zu Boden und stampfte auf sein Gesicht ein. Knochen knackten, und plötzlich sah die Kreatur aus wie ein Puzzle, das dringend wieder zusammengesetzt werden musste.

Noch vor dem zweiten Tritt rollte der Grzech sich wieder auf die Füße, federte sich vom Bett ab – ohne dass die Frauen auch nur etwas ahnten – und warf sich frei von jeglichen Überlegungen zu einer klügeren Vorgehensweise auf Koldos Rücken. Ein langer, dicker Schwanz wand sich um seine Mitte und drückte immer fester zu. Der Widerhaken an der Spitze bohrte sich bis in Koldos Eingeweide.

Der Grzech hob seine scharfen Krallen, um Koldo die Luftröhre zu zerfetzen, doch der Krieger teleportierte sich auf die andere Seite des Betts. Sobald er sicher stand, beugte er sich vor und packte die Schwanzspitze der Kreatur. Mit einem Ruck schleuderte er den Dämon herum.

Als das Wesen taumelnd das Gleichgewicht wiederzufinden versuchte, beamte Koldo sich hinter seinen Rücken und schwang das Schwert. Der Dämon versuchte auszuweichen, war aber nicht schnell genug. Feuer traf auf Schuppen und Knochen, und Letztere hatten augenblicklich verloren. Der Arm des Grzech fiel zu Boden, schwarzes Blut spritzte über das Linoleum.

Blut, das die Menschen nicht wahrnehmen würden.

Ein qualvolles Heulen brach aus der Brust des Grzech, als er sich seinen Arm schnappte und aus dem Fenster flog, hinaus in die Nachmittagssonne. Anders als Himmelsgesandte konnten Dämonen ihre Gliedmaßen nicht nachwachsen lassen. Die Kreatur würde sich den Arm wieder annähen lassen müssen.

Tief in seinem Innern wusste Koldo, dass dies nicht ihr letzter Kampf gewesen war.

Fluchend machte der Paura eine halbe Drehung und schlug mit den verwachsenen Flügeln nach Koldo aus. Er hätte ausweichen können, doch stattdessen ließ er sich von einer Flügelspitze am Knöchel treffen, sodass seine Füße zusammenschlugen und er zu Boden fiel. Die Perlen in seinem Bart schlugen klickend aneinander, als der Aufprall ihm die Luft aus den Lungen trieb. Er tat, als könnte er sein Schwert nicht mehr richtig halten, und die Waffe verschwand.

Sofort stürzte der Paura sich auf ihn, genau wie er es geplant hatte, die Zähne gefletscht. Mit aller Macht rammte Koldo ihm die Faust ins Gesicht und brach ihm die Nase, sandte Knorpelsplitter bis in das verrottete Hirn der Kreatur. Dann teleportierte Koldo sich hinter ihn und rief wieder sein Feuerschwert herbei, holte aus. Der Dämon schoss nach vorn, tief gebückt. Aber nicht tief genug. Schwefelgestank und Rauch stiegen in die Luft. Es ertönte ein lautes Klonk, und eins der Hörner der Kreatur fehlte plötzlich.

Mit wutverzerrter Miene sprang der Dämon auf die behuften Füße, während ihm aus der gebrochenen Nase schwarzes Blut übers Gesicht lief. Brüllend stürzte er sich nach vorn. Mit einer Drehung nach links, einem Ausweichen nach rechts begann Koldo den Tanz des Krieges. Der Paura wusste, wann er sich wohin bewegen musste, und schaffte es manchmal tatsächlich, schlimmeren Verletzungen zu entgehen. In einer wilden Choreografie bewegten sie sich von einem Ende des Zimmers ans andere, die Wände hinauf und wieder hinunter, über die Decke. Sie rollten übers Bett, fielen durch Nicola, die munter weiter mit ihrer Schwester plauderte, ohne auch nur zusammenzuzucken.

Koldo ließ das Schwert fallen und schloss die Faust um ein Büschel Haare auf der Brust des Dämons. Kraftvoll schleuderte er die Kreatur durch die gegenüberliegende Wand. Eine Sekunde später raste das Ungeheuer wieder ins Zimmer.

„Das Mädchen gehört mir“, fauchte der Paura und schlich in einem weiten Kreis um Koldo herum. „Mir! Die geb ich nie wieder her.“

„Du warst töricht, als du dich entschlossen hast, Luzifer zu folgen statt dem Höchsten. Und genauso töricht bist du jetzt, wenn du glaubst, du könntest mich besiegen. Deine Seite steht immer auf verlorenem Posten, und so wird es auf ewig bleiben.“ Vor langer Zeit hatte der Höchste alle Höllenmächte vernichtend geschlagen. Doch noch immer hatten die Kreaturen es auf die Menschen abgesehen. Waren fest entschlossen, jene zu verletzen, die der Höchste liebte.

Und der Höchste liebte alle Menschen. Er wollte sie adoptieren, genau wie er die Gesandten adoptiert hatte.

Ein wütendes Zischen ertönte. „Verlorener Posten, dass ich nicht lache!“ Statt sich von Neuem in den Kampf zu stürzen, wich der Dämon einen Schritt zurück, dann zwei … drei. Ein träges Grinsen erschien auf seinen Zügen. „Oh ja, dir werd ich’s zeigen. Und zwar sehr bald.“ Mit diesen Worten verschwand er durch die Wand.

Koldo wartete, in voller Kampfbereitschaft, doch der Dämon kam nicht zurück. Zweifellos war er losgezogen, ein paar von seinen Freunden zu rekrutieren.

Ich werde mich bereithalten.

Das Problem war nur, dass „sehr bald“ Koldo gar nichts sagte. In ihrem Reich konnte ein Tag so lang sein wie tausend Jahre und ein Jahrtausend so kurz wie ein Tag.

„Was zum Geier ist das denn?“, rief Nicola aus. „Ich fühl mich, als wären mir zwei Mühlsteine von den Schultern gefallen.“ Bei diesen Worten erstrahlte ein Lächeln auf ihrem Gesicht, verwandelte sie von unscheinbar zu hinreißend. Ihre blasse Haut nahm einen strahlenden Schimmer an, ihre Augen leuchteten in der Farbe des Sommers, nicht des Winters.

Ihm wurde der Mund trocken.

„Oh, La-La. Es ist so herrlich!“

Herrlich, ja, aber das Gift floss noch immer durch ihre Adern. Darum würde er sich kümmern müssen.

Er würde einen Weg finden müssen, sich ihr schonend zu offenbaren. Etwas, das er noch keinem Menschen gegenüber getan hatte. Er würde ihr Vertrauen gewinnen müssen. Etwas, worum er sich noch bei niemandem bemüht hatte. Aber wann? Wie? Und wie würde sie reagieren?

Sei klug wie eine Schlange und harmlos wie eine Taube, pflegte Germanus ihm zu raten.

Es war seltsam, aber bei dem Mädchen war er sich seines Erfolgs wesentlich weniger gewiss als bei den Dämonen.

3. KAPITEL

Am nächsten Tag

Der Fahrstuhl machte ping, und die Türen glitten auf. Nicola Lane trat in die beengte Kabine, erleichtert, dass sie allein sein konnte. Sie war …

Doch nicht allein, bemerkte sie erschrocken. Oh, wow. Okay. In der anderen Ecke schälte sich ein sehr großer, sehr muskulöser Mann aus dem Schatten. Wie hatte sie den auch nur für eine Sekunde übersehen können?

Die Türen schlossen sich und sperrten sie mit ihm ein. Ich beurteile niemanden nach seinem Äußeren. Ich beurteile niemanden nach seinem Äußeren, nein, wirklich nicht. Aber oh, wow. Wow, wow, wow. Der Typ musste ein zeitreisender Wikinger sein, der hierhergesandt worden war, um moderne Frauen zu entführen und seinen Männern im Mittelalter vorzuwerfen – weil sie alle Frauen in ihrem Dorf umgebracht hatten.

Ich sehe zu viel fern.

Definitiv hatte er eine Aura, die versprach, dass er verdammt gefährlich war – und zwar immer und ohne Ausnahme. Und jetzt war es zu spät, um einem möglichen Raubzug zu entkommen.

Ihr Herz begann wild zu klopfen, und von dem aus dem Takt geratenen Rhythmus wurde ihr schwindlig.

„Welcher Stock?“, fragte er, und seine Stimme war scharfkantiger als ein zerschmetterter Spiegel.

„Erdgeschoss“, brachte sie hervor, und er drückte den entsprechenden Knopf.

Es war erstaunlich, dass nicht der gesamte Fahrstuhl entzweibrach bei seinem Kraftaufwand dafür.

Immerhin ratterte der Fahrstuhl mehr als notwendig, bevor sich die Kabine zu senken begann. In dem winzigen Raum breitete sich ein Duft von Morgenhimmel und – das könnte natürlich reine Fantasiererei ihrerseits sein – Regenbogen aus, und jeder Hauch davon ging von diesem Mann aus. Das war höchstwahrscheinlich das beste Aftershave, das sie je gerochen hatte, und sie hatte große Schwierigkeiten, sich nicht wie die Mädchen aus der Axe-Werbung an ihn zu schmiegen und an seinem Hals zu schnuppern.

Was er natürlich mit Sicherheit umwerfend fände. Er würde von ihr wissen wollen, was zum Geier sie da machte, sie würde in Panik verfallen, und ihr Herz würde aussetzen, genau wie bei Laila, und … und … sie würde jetzt nicht über ihre bezaubernde, kostbare Laila nachdenken. Sie würde nicht darüber nachdenken, wie es sein würde, einen weiteren geliebten Menschen zu verlieren. Erst ihre Mutter, ihren Vater und ihren Br… Nein, auch darüber würde sie jetzt nicht nachdenken. Dann würde sie zusammenbrechen.

Und kam diese köstliche Hitze eigentlich auch von dem Wikinger? Zum ersten Mal seit Jahren fühlte Nicola sich eingehüllt in Wärme, die endlich das von ihren Medikamenten und dem schwachen Kreislauf verursachte Frösteln vertrieb.

Der Mann wandte sich um und lehnte sich gegen die Wand, genau ihr gegenüber. In diesem Moment beschloss sie, dass „sehr groß und sehr muskulös“ keine angemessene Beschreibung für ihn war. Eher „der größte und muskulöseste Mann, den sie je live oder auch nur im Fernsehen gesehen hatte“ – aber selbst das beschrieb nicht einmal annähernd seine überwältigende Gigantosität. Er. War. Riesig.

Und ja, okay, er war auch ziemlich schön, trotz seiner düsteren Ausstrahlung. Er hatte tief gebräunte Haut, einen schimmernden kahlen Kopf und einen schwarzen Bart, in den drei Kristallperlen geflochten waren. Seine Augen glommen in einem erstaunlichen Goldton, überschattet von dichten Augenbrauen mit einem scharfen Bogen in der Mitte. Er trug ein weißes Leinenhemd und eine weiße Leinenhose, deren Stoff fließend wie Wasser über seinen Leib fiel. Seine Füße steckten in Kampfstiefeln.

Sie bemerkte entsetzt, dass sie ihn wie eine Ameise unter dem Mikroskop begutachtete. Nicola hatte oft mit auf die Brust geklebten Elektroden und aus ihren Kleidern hängenden Schläuchen zur Schule gehen müssen, sie kannte also den Schmerz, den man jemandem mit einem einzigen großäugigen Starren zufügen konnte. Schnell richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf die glitzernden rosa Sneaker, die ihre Schwester ihr letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt hatte.

„Ich bin ziemlich groß, ich weiß“, bemerkte er mit einem Akzent, den sie nicht einordnen konnte. Wenigstens klang er nicht beleidigt.

Trotzdem rutschte ihr das Herz in die Hose. Ihm war aufgefallen, wie sie ihn gemustert hatte, und jetzt wollte er sie … über ihre Unhöflichkeit hinwegtrösten? Wie unerwartet und lieb. Also gut, dann würde sie tapfer sein.

Sie hob das Kinn und zwang sich, seinem Blick zu begegnen. „Vielleicht bin ich auch nur unfassbar winzig“, versuchte sie eine humorvolle Antwort.

Daraufhin verengte er bedrohlich die Augen, bis all das Gold verschwunden war und nur noch das Schwarz seiner Pupillen blieb. „Lüge niemals, nicht einmal andeutungsweise. Aus keinerlei Grund, nicht einmal, um nett zu sein.“

Ihr wurden die Finger taub, und von Neuem begann ihr Herz zu flattern. Angestarrt zu werden war okay für ihn, aber Witze stellten eine tödliche Beleidigung dar. Gut zu wissen.

„Lügen sind die Sprache des Bösen“, fügte er in sanfterem Ton hinzu.

Sanfter, aber immer noch eindringlich.

Der Fahrstuhl hielt an, und als die Türen sich öffneten, machte ein kleiner, untersetzter Mann einen Schritt hinein.

„Du nimmst den nächsten Fahrstuhl“, beschied ihm der große Typ.

Augenblicklich erstarrte der kleinere Mann. Dann leckte er sich die Lippen und wich zurück. „Wissen Sie was? Sie haben recht. Das mache ich.“ Er wirbelte herum und rannte davon.

Einen Moment lang überlegte Nicola, es ihm gleichzutun. Es gab Höflichkeit, und es gab Weisheit, und das eine war nicht unbedingt immer vereinbar mit dem anderen. Die Tatsache, dass der Wikinger mit ihr allein sein wollte, konnte nichts Gutes bedeuten.

Die Türen glitten aufeinander zu. Dies war ihre Chance, abzuhauen.

Aber … sie konnte es nicht. „Sie haben ihn nicht angeschrien“, stellte sie fest, ohne genau zu wissen, warum sie nicht die Klappe halten konnte – und warum sie geblieben war. „Dabei wirken Sie wie jemand, der jede Gelegenheit zum Schreien nutzt.“

„Dich habe ich auch nicht angeschrien“, entgegnete er mit einem Stirnrunzeln. Einen Moment lang blieb es still. Dann nickte er, als wäre ihm gerade etwas Wichtiges klar geworden. „Du bist empfindlich. Ich werde vorsichtiger sein.“

Wie jetzt – fürchtete er ihren Zorn, oder was?

Mittlerweile betrachtete er sie genauso intensiv, wie sie ihn gemustert hatte, sodass sie sich unbehaglich wand. „Du bist eins sechzig, oder?“

„Eins einundsechzig, wenn ich bitten darf.“ Diesen bedeutenden Zentimeter vergaß sie nie!

„Das ist für eine Frau eine einigermaßen angemessene Größe, nehme ich an.“

„Genau wie für einen Achtjährigen“, grummelte sie.

„Nicht für die, die ich kenne“, entgegnete er ausdruckslos.

Zog er sie auf? Oder war er einfach so direkt?

Schließlich hatte der Aufzug sein Ziel erreicht, und die Türen öffneten sich zum Foyer. Höflich bedeutete ihr Begleiter ihr, voranzugehen. Sie schenkte ihm ein verwirrtes Lächeln, murmelte „Danke“ und hastete hinaus – sie hatte es überlebt.

Fast allein, dachte sie sehnsüchtig. Dann könnte sie sich mit ihren Gedanken auseinandersetzen und herausfinden, was sie tun würde, wenn ihre Schwester … wenn Laila …

Sie konnte das Wort nicht denken, auch wenn sie wusste, dass es eher früher als später so weit sein würde. Für Laila wäre es eine Erlösung. Für Nicola eine weitere Quelle der Trauer. Sie war sich nicht sicher, wie viel sie noch überleben konnte.

Die meisten Menschen mit ihrer Diagnose und unterentwickeltem Herzen starben noch vor ihrem zwanzigsten Geburtstag. Aber sie und Laila hatten es schon drei Jahre darüber hinausgeschafft, ein wahres Wunder. Sie hätte begeistert sein sollen über die zusätzliche Zeit, die sie miteinander hatten verbringen können. Und doch wollte sie mehr. Für sie beide. Laila war mit ihrem Leben nicht zufrieden, und ein Mensch sollte doch mit seinem Leben zufrieden sein, bevor er starb. Oder?

Nicola war bloß … also, sie musste sich für heute einen Plan zurechtlegen. Ausnahmsweise war sie mal nicht von einem Schleier der Angst und düsteren Vorahnungen erstickt. Aber warum starrten die Leute sie an, als wäre sie ein furchterregendes Monster, das sie alle …

Nicht sie wurde angestarrt, begriff sie, sondern der Mann neben ihr. Der Riese aus dem Fahrstuhl. Nicola blieb stehen, und er tat es ihr gleich. Aus unerfindlichen Gründen ging er nicht einfach um sie herum, als versperrte ihre zierliche Gestalt ihm irgendwie den Weg. Da wandte sie sich ihm ganz zu und stemmte die Hände in die Hüften. Er trat drei Schritte zurück, und sie spürte das Frösteln zurückkehren.

Die Hitze kam tatsächlich von ihm.

Prüfend blickte er auf sie herab, die goldenen Augen umrahmt von den schwärzesten, dichtesten Wimpern aller Zeiten, vollkommen unerwartet in diesem rauen, kantigen Gesicht eines zeitreisenden Kriegers.

„Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“, fragte sie.

„Nein, aber du kannst einen Kaffee mit mir trinken.“

Nein hatte er gesagt. Und gemeint, dass sie ihm nicht helfen konnte. Diese Sache mit der Ehrlichkeit nahm er anscheinend ziemlich ernst. Und hatte er sie gerade … um ein Date gebeten? „Warum denn das?“, fragte sie sich laut. Und warum hatte sie nicht einfach Nein gesagt? Sie musste zurück zur Arbeit, und zwar ziemlich bald. Ihre Mittagspause war fast vorbei.

„Ich will noch nicht nach Hause.“

Ah. Also kein Date. Er sehnte sich einfach nach einer Ablenkung von was auch immer ihn in den Palast von Tränen und Tod verschlagen hatte – wie gut sie das nachfühlen konnte. Und sie war keineswegs enttäuscht, dass er ihr gegenüber keine romantischen Absichten hegte. Wirklich nicht. Ihre Mutter hatte recht gehabt. Jungs waren gleichbedeutend mit Aufregung, und Aufregung war gleichbedeutend mit einem weiteren Herzanfall. Und sie hatte Jungs und Aufregung auch ehrlich gar nicht so sehr vermisst, weil sie immer Laila gehabt hatte. Aber Laila war … war …

„Kaffee klingt toll“, krächzte sie und spürte, wie ihr Kinn anfing zu zittern. Offensichtlich brauchte auch sie eine Ablenkung. Ihre Pläne konnten warten. Genau wie die Arbeit. Jetzt war es erst mal wichtiger, dass sie sich aus diesem Morast von Selbstmitleid befreite. „In dem Gang da hinten gibt’s ein kleines Café.“

Er trat wieder an ihre Seite, und diese köstliche Hitze kehrte zurück. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg, gefolgt von weiteren Blicken und sogar ein paar geflüsterten Kommentaren. Die Leute mussten schockiert sein von ihrem Größenunterschied, und das konnte Nicola ihnen auch nicht verdenken. Ihr Kopf reichte dem Mann nicht einmal bis an die massigen Schultern.

„Also, wie heißen Sie?“, wollte sie wissen.

„Koldo.“

Koldo. Das musste was Ausländisches sein. Mit dem Siezen hatte er es ja auch nicht so. „Ich bin Nicola.“

Nicola. Latein für ‚siegreiches Volk’.“

Sie bogen um die erste Ecke, aber ihre Umgebung veränderte sich dadurch nicht wirklich. Hier waren alle Flure gleich: weiß und silbern mit Schildern an den Wänden. „Äh, haben Sie das gerade heimlich auf einem unsichtbaren Smartphone nachgeguckt, oder wussten Sie das?“

„Ich wusste es.“

„Warum?“

„Worte sind wichtig, machtvoll. Und da man jeden Tag mehrmals mit seinem Namen angesprochen wird, werden die Leute oft zu dem, wie sie heißen. Ich weiß gern, mit wem ich es zu tun habe.“

Tja, dann würde sie ihm nicht seine Illusionen nehmen, indem sie ihm erzählte, dass sie die wenig siegreichste Person überhaupt war. „Was bedeutet Laila?“

„Dunkle Schönheit.“

Interessant. Laila war zwar hellhaarig, aber bezaubernd war sie auch. „Was bedeutet Koldo?“

„Ruhmreicher Krieger.“

Ein Krieger, wie sie im ersten Moment vermutet hatte? Sie fragte sich, ob er Soldat war. „Sind Sie wirklich ‚ruhmreich’? So richtig berühmt?“

„Ja.“

Ohne Zögern. Ohne Stolz. Für ihn schien das eine schlichte Tatsache zu sein. Diese Selbstsicherheit bewunderte sie. „Also, was machen Sie beruflich, Koldo?“

„Ich bin Soldat.“

Volltreffer!

Noch zweimal abbiegen, dann hatten sie das Café erreicht. Er führte sie an einen leeren Tisch. „Was hättest du gern, Nicola?“

Ihr Name von seinen Lippen … wie eine Umarmung und ein Fluch in einem. Es warf sie fast ein wenig aus der Bahn. „Ach, ich kann auch …“

„Du wirst mich nicht beleidigen, indem du mir anbietest, selbst zu bezahlen“, fiel er ihr ins Wort, und diesmal klang er wirklich beleidigt. „Also. Versuchen wir es noch einmal. Was hättest du gern? Ich lade dich ein.“

Sie lächelte. Noch nie hatte jemand darauf bestanden, sie zu einem Getränk einzuladen. Die meisten Angebote kamen von Kollegen, die um ihre Situation wussten, und wurden bloß anstandshalber ausgesprochen. Sobald sie erklärte, sie würde ihre Rechnung selbst übernehmen, gab ihr Gegenüber sich normalerweise damit zufrieden. „Einen Kräutertee, bitte. Irgendwas ohne Koffein. Und vielen Dank.“

Ein knappes Nicken, dann war er fort und ließ sie fröstelnd zurück. Sie sah zu, wie er auf die Theke zuschritt. Beobachtete, wie die punkige Kassiererin ihn vollkommen fasziniert anstarrte. Ihm schien es überhaupt nicht aufzufallen, als er seine Bestellung aufgab und auf die Getränke wartete … und auf Muffins, Scones und Croissants, wie es aussah.

Welche Art von Frau würde wohl seine Aufmerksamkeit wecken?

Vermutlich eine Kriegerin, wie er. Stark, talentiert, mit einem Knochenbau, der stabil genug war, jeglichen Übergriffen … äh, Begegnungen standzuhalten.

Wenige Minuten später war er wieder da und baute ein Festmahl vor ihr auf. Der Duft von Beeren, Hefe und Zucker stieg ihr in die Nase und ließ ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen. Schon seit einer gefühlten Ewigkeit hatte sie nichts Richtiges mehr gegessen. Sie war einfach zu zerfressen von ihrer Sorge um Laila, von der Angst vor den Rechnungen, die sie bisher nicht einmal ansatzweise bezahlt hatte … zu beschäftigt damit, nicht in einem Ozean der Verzweiflung zu ertrinken.

Aber heute war alles irgendwie anders. So schlecht Lailas Zustand auch war, sie fühlte sich besser als seit langer, langer Zeit, und ihr Magen knurrte.

Hitze stieg ihr in die Wangen, als sie sich ihren Tee schnappte, an dem kochend heißen Getränk nippte und die Süße genoss. „Ganz ehrlich, Koldo, das bedeutet mir wirklich viel. Tausend Dank wäre immer noch nicht genug.“

„Es ist mir ein großes Vergnügen, Nicola.“

So höflich, trotz des beharrlichen Duzens. Das gefiel ihr.

Und mittlerweile gefiel ihr mehr an ihm, als ihr nicht gefiel.

„Das Essen ist auch für dich“, erklärte er und schob einen Muffin in ihre Richtung.

Erstaunt riss sie die Augen auf. „Alles?“

„Natürlich.“

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