Dämonenglut

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Das Leben aller Menschen liegt in den Händen der jungen Ivy. Im Krieg zwischen Engeln und Dämonen ist sie dazu bestimmt, das Reich der Dunkelheit für immer zu vernichten. Doch ihr eigenes Leben ist in Gefahr, wenn sie die heilige Waffe gegen die Dämonen der Finsternis einsetzt. Adrian, Ivys große Liebe, will ihr in dem finalen Kampf beistehen. Nur seine dämonische Seite scheint stark genug zu sein, um Ivy zu retten - doch das Böse in ihm könnte ihre Liebe für immer zerstören. Im Kampf um ihr Leben müssen Ivy und Adrian ihrem Schicksal gegenübertreten …

"Ich öffne jedes neue Frost-Buch in freudiger Erwartung und werde niemals enttäuscht."
Bestsellerautorin Charlaine Harris

"Eine Geschichte voller Leidenschaft, dunkler Sinnlichkeit und rasanter Action"
Bestsellerautorin Kresley Cole


  • Erscheinungstag 03.04.2018
  • Bandnummer 3
  • ISBN / Artikelnummer 9783955767327
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für alle, die das Unmögliche wollten
und dennoch dafür kämpften.

1. Kapitel

Ich betrat das Museum Hand in Hand mit einem Halb-Dämon, während draußen beim Auto ein Gargoyle auf mich wartete. Schon als Geschichtsstudentin hatte ich oft von einer Tour durch europäische Museen geträumt – wäre aber nie darauf gekommen, dass mein Wunsch sich einmal auf diese Weise erfüllen würde.

Adrian, besagter Halb-Dämon und mein frisch angetrauter Ehemann, wandte sich an die Aufseherin. »Wir wollen die Führung um sechzehn Uhr mitmachen.«

»Die Sechzehn-Uhr-Gruppe wartet da drüben.« Sie deutete auf ein paar Leute, die sich ungefähr fünf Meter entfernt zusammengefunden hatten.

Also stellten wir uns in die Nähe der anderen Besucher. Mit dem Finger zeichnete Adrian den Verlauf des Tattoos auf meinem rechten Handrücken nach. Der Rest des geflochtenen Seils wurde von meinem langen Ärmel verdeckt, während die andere heilige Waffe, die auf übernatürliche Weise mit meiner Haut verschmolzen war, unter meiner hochgeschlossenen Bluse verschwand. Falls die heilige Waffe, nach der wir gerade suchten, tatsächlich hier war, würde ich mir zweifellos ein drittes übersinnliches Tattoo einhandeln, das möglicherweise eines Tages meinen kalten Leichnam schmücken würde.

»Spürst du irgendwas, Ivy?«, flüsterte Adrian.

Ich warf mein inneres Radar an und empfing neben den schwachen Schwingungen, die einfach nur belegten, dass wir uns auf geweihtem Boden befanden, einige machtvolle Energieschübe von den diversen Reliquien, die in diesem Museum ausgestellt waren. Doch keine davon schien mir stark genug zu sein, um damit eine Schneise durch jedes existierende Dämonenreich zu schlagen – und einzig hinter diesem speziellen Relikt waren wir her.

»Nein«, antwortete ich frustriert.

Ich hatte die Macht, nach der wir suchten, weder vorige Woche im Petersdom in Rom gewittert noch vor ein paar Tagen in der Wiener Hofburg. Jetzt befanden wir uns in der Kathedrale von Etschmiadsin in der armenischen Provinz Armawir – der weltweit dritten Institution, die sich mit dem Besitz der Longinuslanze brüstete, die auch unter der Bezeichnung Heilige Lanze geführt wurde. Es handelte sich um die letzte der heiligen Waffen, und das Schicksal schien offenbar mich dazu bestimmt zu haben, die Macht dieser Relikte zu verwenden. Doch wenn mein angestammtes Radar für derlei Dinge recht behielt, galt der Spruch »Aller guten Dinge sind drei« in diesem Fall leider nicht. Ich konnte heilige Objekte verlässlich orten, und da ich gerade nichts spürte, war der legendäre Speer auch nicht hier – es sei denn, Schutzzauber wehrten meine Fähigkeiten ab.

Ich schätzte unsere Erfolgschancen nicht besonders optimistisch ein. »Wenn die echte Lanze tatsächlich an einem der Orte wäre, an denen sie sich angeblich befinden soll, dann hätten Dämonen sie schon vor Jahrhunderten gestohlen.«

Eine Museumsbesucherin in Hörweite sah mich bestürzt an. Lässig winkte ich ihr zu und machte mir keine Sorgen, dass die schockierende Wahrheit über Dämonen, dämonische Lakaien, Archonten – besser bekannt als Engel – oder andere übersinnliche Kreaturen ans Licht kommen könnte. Kein Mensch würde mir glauben, auch nicht, wenn ich die nächsten zwanzig Minuten damit verbrächte, über die tatsächliche Existenz dieser Wesen zu referieren. Vermutlich würden die Leute es mir nicht mal dann abnehmen, wenn ihnen während meines Vortrags ein Rudel Dämonen auf die Pelle rückte. Das wusste ich aus Erfahrung.

Adrian zog mich an sich und strich mir übers Haar. »Wir mussten auch dieses Museum überprüfen, um sicherzugehen, dass die Lanze nicht einfach ganz unauffällig in irgendeiner Vitrine rumliegt, was ja mitunter die beste Tarnung ist.« Langsam beugte er sich zu mir hinunter, bis sein Mund meinem ganz nah war. »Außerdem«, murmelte er, »mag das hier ja keine sonderlich erfolgreiche Reliquien-Jagd sein, aber als Flitterwochen ist diese Reise ein echter Volltreffer.«

Seine Bemerkung brachte nicht nur meine Wangen zum Glühen, doch statt ihn zu küssen, schob ich ihn von mir. Sein Blick ließ keinen Zweifel daran, dass er drauf und dran war, seine Lippen auf eine Art und Weise auf meine zu pressen, die besser in unser Schlafzimmer passte als in ein Museum im zentralen Gotteshaus der armenischen apostolischen Kirche.

Aber natürlich hatte Adrian recht. Wir mochten bei unserer Suche nach der dritten heiligen Waffe keinen Schritt weitergekommen sein, doch abgesehen davon war der vergangene Monat die beste Zeit meines Lebens gewesen. Ich hatte die zweite heilige Waffe eingesetzt, um sämtliche Übergänge zwischen den Dämonenreichen und unserer Welt zu verschließen und die Dämonen dadurch wirkungsvoll auszusperren. Für mich, Adrian, meine Schwester, unseren Freund Costa und alle anderen Menschen auf dieser Welt war das Dasein damit tausend Mal sicherer geworden. Nur die Lakaien waren auf unserer Seite zurückgeblieben, schienen aber ohne ihre eingeschlossenen dämonischen Meister eher geneigt, Angst und Schrecken zu empfinden, als sie zu verbreiten.

»Küss mich später. Erst mal machen wir die Führung mit«, sagte ich. »Zwar spüre ich nichts, aber die Macht der zweiten Waffe war schließlich auch durch Schutzzauber blockiert. Vielleicht ist die Lanze ja doch hier, und ich kann sie bloß noch nicht orten.«

»Ja, vielleicht«, bestätigte Adrian. Doch sein beiläufiger Tonfall passte so gar nicht zu dem plötzlich düsteren Ausdruck seiner saphirblauen Augen.

Er richtete sich auf, und binnen Sekunden wurde der gut gelaunte, leidenschaftliche Mann, der mich gerne neckte und den ich liebte, zu dem hartgesottenen Krieger, der von Dämonen zum effizientesten Killer der Welt ausgebildet worden war. Ich atmete tief durch und rief mir in Erinnerung, dass die Bemühungen der Dämonen nach hinten losgegangen waren. Schließlich nutzte Adrian seine sensationellen Fähigkeiten heutzutage nicht für, sondern gegen sie.

Außerdem wappnete er sich nur für den Fall, dass die Lanze tatsächlich hier war. Denn dann würde ihre unglaubliche Macht mich dazu zwingen, sie auf der Stelle einzusetzen, und dazu war ich nicht bereit. Noch nicht. Deshalb würde Adrian mit all seinen dämonisch befeuerten, vom Schicksal verstärkten Kräften darum kämpfen, mich aufzuhalten.

Wenn ich die Lanze jetzt benutzte, würde mich das umbringen.

Wie sich herausstellte, brauchten wir uns keine Sorgen zu machen. Schon ein Blick auf die Reliquie hätte gereicht, um zu erkennen, dass sie nicht echt war. Ich berührte die Glasvitrine, um sicher auszuschließen, dass irgendwelche Zauber das Objekt schützten, doch das wäre im Grunde gar nicht nötig gewesen. Eine römische Speerspitze aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert war kein kurzes, flaches, verschnörkeltes Ding, das eher einem Halsschmuck glich als einer antiken Kriegswaffe, sondern eine scharfe, pyramidenförmig geschliffene Klinge, die in einen fiesen, sechzig Zentimeter langen Schaft eingelassen und speziell dazu geschaffen war, einen menschlichen Körper durch einen Schienenpanzer hindurch aufzuspießen.

Nein, das hier war nur eine weitere Nachbildung, und damit waren wir am Ende unserer Weisheit angelangt. Wir hatten absolut keine Ahnung mehr, wo wir nach der echten Lanze suchen sollten. Doch Adrian war darüber nicht annähernd so unglücklich wie ich und machte nicht mal den Versuch, das zu verbergen.

»Du könntest wenigstens so tun, als ob du enttäuscht wärst«, rügte ich ihn, während wir wieder zum Parkplatz gingen.

Er sah mich von der Seite an. »Dann würde ich lügen, und ich dachte, wir hätten uns darauf geeinigt, dass wir einander immer die Wahrheit sagen.«

Das stimmte, aber er brauchte mir trotzdem nicht so unverhohlen unter die Nase zu reiben, dass es ihm am liebsten wäre, wenn ich die Lanze nie finden, geschweige denn schwingen würde. Ich konnte seine Gründe nachvollziehen, aber wenn ich vor dieser Aufgabe kapitulierte, würden die Dämonen gewinnen, und Tausende unschuldige Menschen müssten sterben.

»Und ich dachte, du hättest zugestimmt, mich zu unterstützen«, gab ich scharf zurück. Der Gedanke an all diese gefährdeten Leben lastete schwer auf meinem Gewissen.

Adrian blieb stehen und drehte sich zu mir. Die Sonne stand schon so tief, dass sie sein goldenes Haar in rötlichen Glanz tauchte. Mit seiner überdurchschnittlichen Größe, seiner eindrucksvollen Figur und den atemberaubend schönen Gesichtszügen hatte er unterwegs viele Blicke auf sich gezogen, doch er schien nur Augen für mich zu haben. Adrian schaute mich an, als wäre ich der einzige Mensch in diesem gewaltigen Gebäudekomplex.

»Das tue ich ja auch.« Sein freundlicher Tonfall täuschte mich keine Sekunde. Unzerstörbare Bande konnten auch aus feinster Seide geknüpft sein. »Tatsächlich ist alles, was ich tue, von meiner unsterblichen Liebe zu dir motiviert. Was willst du denn noch?«

So gesehen war das eine berechtigte Frage. Was konnte ich noch wollen? Doch irgendwas kam mir … seltsam vor, als ob Adrians Worte weniger wichtig waren als das, was er nicht sagte.

Abgesehen vom Glück und der Freude, die mir im vergangenen Monat zuteilgeworden waren, hatte stets auch das Gefühl an mir genagt, dass mir irgendetwas Wesentliches entging. Natürlich konnte es auch sein, dass ich einfach nicht wusste, wie sich richtiges Glück anfühlte. Ich hatte noch nie zuvor eine wirkliche Beziehung gehabt, was vielleicht auch daran lag, dass ich und alle, die mich kannten, noch vor sechs Monaten davon ausgegangen waren, dass ich verrückt war.

»Mir ist schon klar, dass du vor Ungeduld, die Lanze zu finden, nicht gerade mit den Füßen scharrst, weil der Einsatz der Waffe so riskant für mich ist«, wagte ich mich vor, um dieses nagende Gefühl etwas besser auszuloten. »Aber du weißt auch, dass ich schon ziemlich viele Gefahren überstanden habe. Ich schaffe das auch diesmal.«

Adrian öffnete den Mund, als wollte er widersprechen, klappte ihn dann aber wieder zu und holte tief Luft. »Ja, das weiß ich«, sagte er dann, immer noch in diesem beiläufigen Ton. »Du bist einfach nur noch nicht so weit. Deshalb bin ich froh, dass keine der Reliquien, die wir bislang gesehen haben, echt ist. Später, wenn du mehr Zeit zum Trainieren hattest, wirst du auch mit der Lanze klarkommen.«

»Nur sollte dieses Später besser nicht allzu lange auf sich warten lassen«, murmelte ich verzagt. Die vielen Menschen, die noch immer in den Dämonenreichen gefangen waren, konnten nicht Jahre darauf warten, dass ich meine übersinnlichen Kräfte ausbaute.

»Mach dir keine Sorgen«, bat Adrian und sah mich eindringlich an. »Ich bringe dich so gut in Form, dass du sicher bist. Versprochen.«

Ich belohnte ihn mit einem schiefen Lächeln. Es stimmte – das Training mit Adrian und unserem guten Freund Costa hatte mich in Sachen Ausdauer, Kraft und besondere Fähigkeiten weit nach vorn gebracht. Ich zählte darauf, dass ein paar weitere Einheiten ausreichen würden, um mich am Leben zu erhalten, wenn ich die letzte heilige Waffe einsetzte. Vorausgesetzt, wir fanden sie jemals.

Entschlossen versuchte ich, das nagende Gefühl zu verdrängen. Wahrscheinlich projizierte ich ohnehin nur meine eigene Paranoia auf Adrian. Schließlich hatte er nach unserem heftigen Streit, als ich beschloss, die Lanze zu suchen, nie wieder dagegen argumentiert. Er hatte die Reisen organisiert, mich trainiert und unterstützt, wo er nur konnte. Obwohl ich mittlerweile neben meinem Heilig-Radar auch etliche innere Antennen für »drohenden Ärger« entwickelt zu haben schien, fand dieses spezielle Problem also wohl nur in meinem Kopf statt.

»Alles klar«, sagte ich betont fröhlich. »Da die Lanze ja nun ein Reinfall war – kennst du irgendwelche guten Restaurants in der Nähe, die …?«

Ich wurde jäh unterbrochen, als Adrian mich zu Boden stieß, und zwar so kräftig, dass ich ohne mein Training der Länge nach hingeknallt wäre. So allerdings rollte ich mich geschmeidig ab. Über mir knallte es mehrmals in schneller Folge. Es klang wie Feuerwerkskörper, doch als den Geräuschen Schreie folgten, wusste ich, was los war: Schüsse waren gefallen.

»Lauf, Ivy«, brüllte Adrian.

Ich sprang auf und suchte Deckung hinter dem nächstbesten Auto. Um Adrian brauchte ich mich nicht zu kümmern, Kugeln waren für ihn nicht tödlich. Statt zu mir zu laufen, rannte er in die Richtung, aus der die Schüsse gekommen waren – eine Aktion, die für jeden anderen selbstmörderisch gewesen wäre, doch dank seiner halbdämonischen Herkunft konnte nur ein anderer Dämon Adrian umbringen.

»Ich bin okay«, rief ich, damit er sich keine Sorgen machte.

Eine neue Salve zerschmetterte das Autofenster über mir. Aber viel schlimmer war, dass die Kugeln diesmal aus einem gänzlich anderen Winkel kamen. Das hieß, dass wir von zwei Angreifern attackiert wurden.

Ich warf mich zu Boden, um unter einem anderen Wagen Schutz zu suchen. Dabei schrammte ich mir die Knie auf dem Asphalt auf, registrierte den Schmerz aber kaum. Eine weitere Kugel verfehlte mich nur um wenige Zentimeter, und ich kroch vorwärts, um der nächsten zu entkommen.

»Larastra!«, schrie ich Brutus zu und benutzte das dämonische Kommando, das Adrian mir beigebracht hatte. Hoffentlich konnte der Gargoyle mich hören, denn unser gemieteter Transporter stand am anderen Ende des Parkplatzes.

Ein vertrautes Brüllen antwortete auf mein Rufen, gefolgt von einem noch lauteren Krachen. Inständig hoffte ich, dass mein Haustier und nicht etwa ein dritter Angreifer der Verursacher des Geräuschs war, wagte aber nicht, den Kopf zu heben, um einen Blick zu riskieren. Ich kauerte hinter einem Pick-up, der breit genug war, um mich abzuschirmen, und machte mich so klein wie möglich.

Dann hörte ich neue Schreie und fuhr herum. Ein blondes Mädchen kniete ganz in der Nähe neben einem Auto. Sie zitterte am ganzen Leib, starrte mich benommen an, war aber nicht nah genug am Boden, um sicher zu sein.

»Hinlegen«, zischte ich.

Ihre Augen weiteten sich, aber sie rührte sich nicht. Vielleicht konnte sie es auch gar nicht. Ich hatte schon gesehen, wie Menschen vor Schock erstarrten, aber sie musste sich hinlegen, sonst …

»Verdammt«, rief ich, als sich nach einer neuen Salve ein Blutfleck auf ihrer Schulter ausbreitete. Sie zitterte noch heftiger, machte sich aber immer noch nicht klein genug, um einem weiteren Treffer auszuweichen. Vorsichtig schaute ich in die Richtung, aus der die Schüsse gekommen waren. Zwar war ich keine Expertin, schloss aber aus dem Winkel, dass der Schütze sich vermutlich auf einem Dach befand. Von wo aus er einen prächtigen Blick auf den Parkplatz hatte – und auf mich, wenn ich hinter dem Pick-up hervorkäme, um dem Mädchen zu helfen.

Vermutlich war das der Plan des Angreifers: die Blondine anschießen, um mich aus der Deckung zu locken. Okay, da hatte ich aber schlechte Neuigkeiten für ihn – ich würde bleiben, wo ich war.

»Hilf mir«, flüsterte das blonde Mädchen.

Sie hatte blaue Augen wie meine Schwester und war auch ungefähr in Jasmines Alter. Und sie war zwischen die Fronten eines Krieges geraten, von dessen Existenz sie nichts ahnte.

Bleib, wo du bist! drängte die finstere Stimme meines Überlebensinstinkts. Wenn dieses Mädchen sich nicht wegducken kann, dann ist das sein Problem, nicht deins.

Halt bloß die Klappe, zischte mein Gewissen zurück. Sie hat mit all dem nichts zu tun. Diese Schützen sind deinetwegen hier, nicht ihretwegen.

Es war riskant, aber ich konnte sie nicht einfach da draußen lassen. Wenn der Schütze sie einmal verletzt hatte, um meine Aufmerksamkeit zu erregen, dann würde er es auch noch mal tun, und der nächste Schuss könnte tödlich für sie sein. Ich erhob mich aus meiner kauernden Haltung, um besser Tritt fassen zu können, starrte das Mädchen beschwörend an und formte mit den Lippen: Ich komme jetzt zu dir.

2. Kapitel

Mit der vollen Geschwindigkeit, die mir mein übernatürliches Erbe verlieh, sprang ich zu ihr hinüber, aber es reichte nicht ganz. Ich spürte einen brennenden Schmerz in der Wade und hörte einen weiteren lauten Knall, schaffte es aber dennoch, das Mädchen zu Boden zu werfen und hinter das Auto zu ziehen. Dann drückte ich eine ihrer Hände auf die Schusswunde in ihrer Schulter.

»Bleib unten, und drück da fest drauf.«

Sie wirkte immer noch wie betäubt vom Schock, doch ihre Hand blieb, wo sie war, und sie machte keine Anstalten aufzustehen. Ermutigend nickte ich ihr zu.

»Nicht bewegen. Hilfe ist unterwegs.«

Eine Explosion von Glasscherben folgte unmittelbar auf mein Versprechen. Dann noch eine und noch eine. Der Angreifer versuchte, sich durch das Auto zu uns durchzuschießen. Für den Moment waren wir noch abgeschirmt, aber früher oder später würden die Geschosse zu uns durchdringen.

Ich schaute auf meine Wade. Blut strömte aus einer hässlichen Wunde, die sich genauso schlimm anfühlte, wie sie aussah. Ich versuchte aufzutreten und unterdrückte einen Schmerzensschrei. Notfalls konnte ich damit gehen, vielleicht sogar rennen, aber nicht schnell genug, um der nächsten Kugel zu entkommen.

Während ich mir noch hektisch meine Optionen durch den Kopf gehen ließ, landete ein massives Flügelwesen auf dem Auto hinter uns. Die Motorhaube knautschte sich unter seinem Gewicht zusammen wie eine Konservendose, die Alarmanlage ging los, wurde aber Sekunden später von einem ohrenbetäubenden Gebrüll übertönt.

»Guter Junge!«, rief ich erleichtert. »Das gibt heute Abend ein schönes Steak für dich.«

Mein Haus-Gargoyle Brutus spreizte seine ledrigen Flügel, als wüsste er, dass ich Deckung brauchte. Schnell lief ich zu ihm und zog mich an dem Geschirr, das er jetzt immer trug, auf seinen Rücken.

Wieder hörte ich Schüsse und spürte, wie Brutus zusammenzuckte – er war getroffen worden. Seine schuppige Haut war so dick, dass die Kugeln ihn nicht wirklich verletzen konnten, aber das hieß nicht, dass er sie nicht spürte. Wütend brüllte er auf, und seine Krallen machten der Motorhaube vollends den Garaus. Dann schlug er einmal mit seinen mächtigen Flügeln, und wir waren in der Luft. Aber ich wollte nicht, dass er einfach mit mir davonflog. Ich wollte dem Schützen das Handwerk legen, bevor er noch mehr Schaden anrichtete.

Also zog ich an den Zügeln und lenkte Brutus erst fast senkrecht nach oben und dann, nachdem wir ausreichend an Höhe gewonnen hatten, wieder abwärts – auf das Dach des Museums zu, in dem Adrian und ich gerade gewesen waren. Auf diesem Dach befand sich eine kleinere architektonische Einheit, eine Art Türmchen, aus dessen geöffnetem Fenster ich den Lauf eines Sturmgewehrs ragen sah.

Rachsüchtig starrte ich darauf und tätschelte Brutus’ Seite. »Dem zeigen wir’s, alter Junge!«, rief ich, lenkte Brutus direkt auf das Fenster zu, duckte mich hinter seinen breiten Buckel und kniff die Augen zu.

Brutus wusste genau, was er tun sollte. Im allerletzten Moment legte er die gewaltigen Flügel an, was seinen Leib windschnittiger und damit noch schneller machte, und preschte durch die Fensteröffnung, wobei er noch einen guten Teil der Mauer mitnahm. Wir landeten mit einem dumpfen Schlag, der mir durch Mark und Bein ging.

Der Anblick, der sich mir bot, als ich die Augen wieder öffnete, vertrieb jeden Gedanken an irgendwelche körperlichen Beschwerden. Brutus war so heftig auf jemanden niedergefahren, dass dessen Eingeweide an beiden Seiten hervorquollen. Jegliches Unbehagen meinerseits legte sich, als ich das Gewehr in der Hand des toten Mannes sah. Die Leiche zerfiel langsam zu Asche und bestätigte damit meinen Verdacht.

Nur Lakaien und Dämonen wurden unmittelbar nach ihrem Tod zu Asche. Dämonen waren aktuell in ihren eigenen Reichen eingeschlossen, außerdem befanden wir uns auf geweihtem Boden, den sie ohnehin nicht betreten konnten. Der tote Schütze musste also ein Lakai sein.

Brutus spreizte die langen, ledrigen Flügel und wirbelte im Halbkreis herum. Erst jetzt bemerkte ich den zweiten Kerl, der an der hinteren Wand gekauert hatte, bevor Brutus’ Schlag ihn zu Boden warf. Er wirkte benommen und verängstigt. Seine Augen leuchteten auf wie die eines Tiers im Scheinwerferlicht – eine nichtmenschliche Eigenschaft, die ihn ebenfalls als Lakai outete.

»G…g…gutes Vögelchen«, stotterte er und starrte Brutus an.

Dank des Archonten-Tarnzaubers sah er keinen massiven, fast drei Meter großen Gargoyle mit drachenartigen Flügeln und graublauer Reptilienhaut vor sich, sondern eine Möwe mit fluffigem Federkleid. Allerdings war besagte Möwe gerade buchstäblich durch ein Fenster in den Raum hineingeplatzt und hatte seinen Kumpel totgetreten, und das alles auch noch mit einem Passagier auf dem Rücken. Kein Wunder, dass der Lakai aussah, als wüsste er nicht so genau, ob er schreien oder in Ohnmacht fallen sollte.

»Erbarmen, Davidin«, sagte er.

»Erbarmen?«, wiederholte ich ungläubig. »Du meinst dasselbe Erbarmen, das Lakaien den Menschen entgegenbringen, die sie für ihre dämonischen Meister versklaven? Oder das Erbarmen, das die Dämonen für meine Adoptiveltern hatten, als sie sie umbrachten und mir den Mord in die Schuhe schoben? Oder vielleicht meinst du ja das Erbarmen, das die Dämonen meiner Schwester gewährten, als sie sie als Köder für die zahllosen tödlichen Fallen benutzten, die sie mir gestellt haben?«

Missmutig starrte er mich an. »Wie kommst eigentlich ausgerechnet du dazu, dir ein Urteil anzumaßen? Du hast Hunderte Leute getötet.«

»Nein, ich habe Hunderte Dämonen getötet«, stellte ich richtig und wedelte mit meiner tätowierten Rechten. »König Davids Steinschleuder hat es ganz schön in sich, wie sich bei dieser Gelegenheit herausstellte. Aber weißt du was? Ich zeige dir gegenüber genauso viel Erbarmen, wie du eben für mich hattest, als du deinem Freund dabei zugeschaut hast, wie er mich als Zielscheibe für seine Schießübungen benutzte.«

Sein Blick wurde hoffnungsvoll. »Du lässt mich gehen?«

»Wenn du es bis zur Tür schaffst, bist du frei.« Ich lockerte Brutus’ Zügel. »Ich halte dich nicht auf. Versprochen.«

Er wirbelte herum, um loszulaufen – und Brutus sprang vor, ließ seine riesigen Kiefer zuschnappen und biss den Lakaien in der Mitte durch.

»Der Teufel steckt im Detail«, murmelte ich. »Du hättest mir das Versprechen abnehmen sollen, dass er dich nicht aufhält.«

Früher einmal hätte es mich entsetzt, mit anzusehen, wie ein Mann in Stücke gebissen wurde. Doch dieses Mädchen, das ich einmal war, gab es schon lange nicht mehr. Sie war einem neuen Ich gewichen, und dieses neue Ich war durch Trauer, Betrug, permanenten Überlebenskampf und eine große Ladung Schicksal und Tod abgehärtet worden.

Außerdem hätte der Lakai nur noch mehr Menschenleben zerstört, wenn er davongekommen wäre. Während er jetzt nur den Teppich ruinierte, auf dem seine Asche zu schmutzigem Ruß verglühte.

»Guter Junge«, sagte ich zu Brutus und musste mich dann festklammern, um durch seine Freudensprünge nicht abgeworfen zu werden. Der Gargoyle wurde für sein Leben gern gelobt. »Dafür kriegst du heute Abend sogar zwei Steaks.«

3. Kapitel

Ich ließ Brutus vom hinteren Teil des Daches starten, wo ich mit den wenigsten Beobachtern zu rechnen hatte. Klar, irgendwer würde trotzdem Stein und Bein schwören, dass er eine Frau und eine Möwe aus dem oberen Stockwerk hatte springen sehen, aber keiner würde ihm das abnehmen. Genauso wenig, wie man glauben würde, dass besagte Möwe zuvor mit einer Frau auf dem Rücken durchs Turmfenster geflogen war. Ich war nicht naiv. Schließlich hatte ich mit eigenen Augen beobachtet, wie Handy-Videos von einer Dämonenattacke auf einen Uni-Campus als »Fake« abgetan und Hunderte Augenzeugenberichte unter »Massenhysterie« verbucht wurden.

Letztendlich weigerten sich die meisten Leute zu glauben, was sie nicht glauben wollten, und kein Mensch will an Dämonen glauben – geschweige denn, an Dämonenreiche, die parallel zu unserer Welt existieren. Ich selbst hatte auch nicht daran glauben wollen – obwohl ich aufgrund meiner Erblinie von Geburt an sämtliche dämonischen Tarnzauber durchschauen konnte. Erst nach einem Entführungsversuch durch Lakaien war ich bereit gewesen zu akzeptieren, dass ich nicht an den Halluzinationen litt, die man mir mein Leben lang attestiert hatte. Adrian rettete mich damals und brachte mich zu einem mächtigen Archonten namens Zach, der mich informierte, dass ich die letzte direkte Nachfahrin von König David war – und deshalb vom Schicksal dazu bestimmt, mit drei heiligen Waffen gegen die Dämonen zu kämpfen.

Selbst zu diesem Zeitpunkt hoffte ich noch im Stillen, dass ich halluzinierte. Oder vielmehr: vor allem zu diesem Zeitpunkt.

Dennoch wollte ich kein unnötiges Risiko eingehen, indem ich mich vor aller Augen von Brutus zum Parkplatz zurückfliegen ließ. Stattdessen gingen wir zu Fuß – ich unter dem schützenden Baldachin von Brutus’ Flügeln. Ich hörte zwar keine Schüsse mehr, aber es konnte sein, dass der Kampf noch nicht vorbei war. Brutus und ich hatten einen Angreifer und seinen Gehilfen ausgeschaltet. Aber wo war der andere Schütze?

Und wo war Adrian? Kugeln konnten ihn zwar nicht töten, aber durchaus verletzen, und ich durfte nicht zulassen, dass man ihn fortschaffte, wenn er hilflos war. Denn wenn es eine Person gab, die die Lakaien noch lieber als mich zu ihren dämonischen Meistern verschleppen würden, dann war das Adrian: der letzte direkte Nachfahre des Judas, der sich standhaft weigerte, sein Schicksal zu erfüllen, das von ihm verlangte, mich bis in den Tod zu betrügen.

Hinter den Fahrzeugen in den ersten beiden Reihen versteckten sich jetzt mehr Menschen als vorhin. Sie ahnten nicht, dass ich den Schützen vom Dach ausgeschaltet hatte. Plötzlich entdeckte ich eine Blutspur, die ungefähr dort anfing, wo Adrian und ich gestanden hatten, als die ersten Schüsse fielen, und mein Herz fing wie wild an zu hämmern. Die Blutflecke wurden immer größer, je weiter die Spur zwischen die Autos führte. Es konnte sich nicht um mein Blut oder das des blonden Mädchens handeln – wir waren auf der anderen Seite des Parkplatzes angeschossen worden. Bitte, flehte ich insgeheim. Bitte lass Adrian nicht schwer verletzt sein!

Atemlos bog ich in die nächste Reihe Autos ein und blieb dann erleichtert stehen. Adrian drückte einen blonden Lakaien auf den Boden und wirkte trotz einer Schusswunde in der Schulter nicht allzu gehandicapt, während er dem Typ die Seele aus dem Leib prügelte.

»Du hast versucht, Ivy zu töten. Warum?«, stieß er zwischen zwei brutalen Rippenstößen hervor.

Der Grund schien mir eigentlich auf der Hand zu liegen. Offenbar fand auch der Lakai, dass das eine dumme Frage war. Er lachte gequält auf und sagte etwas auf Dämonisch – so nannte ich die seltsame, schroffe, aber schöne Sprache, in der Dämonen sich verständigten. Seine Worte – was auch immer sie bedeuten mochten – brachten Adrian noch mehr auf die Palme.

»Fick dich«, fauchte er. Seine Faust traf das Gesicht des Lakaien mit einer solchen Wucht, dass sie auf der Rückseite seines Kopfes wieder herauskam. Ich verzog das Gesicht, nicht nur wegen der Hirn- und Blutspritzer, sondern auch wegen des krachenden Geräuschs, als der Asphalt den Schlag schließlich stoppte. Es wäre das reinste Wunder, wenn Adrian sich dabei nicht die Hand gebrochen hätte.

Eine Frau sprang hinter einem Auto hervor. »Sie haben ihn umgebracht«, kreischte sie, zog mit zitternden Fingern einen Taser aus ihrer Handtasche und richtete ihn auf Adrian.

Brutus schnaubte warnend und baute sich angriffslustig vor ihr auf. Er würde niemanden tolerieren, der uns bedrohte, ob Mensch, Lakai oder Dämon.

Irgendwas an dem Laut, den er von sich gab, ließ der Frau das Blut aus dem Gesicht weichen – als ob sie instinktiv das Raubtier witterte, das er in Wahrheit war. Könnte sie seine wahre Form unter der Möwentarnung erkennen, würde sie nicht einfach nur blass werden. Sie würde sich vor Angst in die Hose machen.

»Nein«, beruhigte ich Brutus und straffte die Zügel. Dann wandte ich mich an die Frau. »Sie stehen unter Schock. Er hat niemanden umgebracht. Außer uns dreien ist niemand hier.«

»Natürlich ist da noch jemand«, blaffte sie mich an. »Er liegt hier am …«

Sie unterbrach sich mitten im Satz, als der Lakai vor ihren Augen zu Asche zerfiel. Adrian stand auf, schüttelte das Blut von seiner rechten Hand und klopfte mit der linken Asche von seiner Jeans. Auch die Blutspritzer an seiner Kleidung wurden zu Asche, und kurz darauf waren sämtliche schwarzen Flocken vom Winde verweht.

»Das … das ist unmöglich«, flüsterte die Frau.

»Wie gesagt, das ist der Schock nach der Schießerei«, fuhr ich fort. »In dem Zustand spielt das Gehirn einem manchmal Streiche. Gehen Sie nach Hause zu Ihrer Familie, und vergessen Sie das Ganze hier.«

Immer mehr Leute tauchten zwischen den geparkten Autos auf, hinter denen sie Zuflucht gesucht hatten. Es würde nicht mehr lange dauern, bis ein Rettungswagen auftauchte, was gut für das verwundete Mädchen war. Aber das bedeutete, dass auch die Polizei nicht mehr fern war, und den Stress konnten wir jetzt wirklich nicht gebrauchen.

Das war auch Adrian klar. »Zeit, hier abzuhauen.« Er ergriff meinen Arm und machte Anstalten, mich wegzuziehen, blieb aber fluchend stehen, als er mein Bein sah. »Du bist getroffen worden.«

»Nur eine Fleischwunde«, wiegelte ich ab, was zwar stimmte, aber dem Schmerz keinen Abbruch tat.

Adrian hob mich hoch und marschierte los. »Wir haben Manna im Wagen und können die Wunde auf dem Weg ins Hotel versorgen.«

Wir hatten den Van ganz hinten auf dem Platz abgestellt, unter einem großen Baum, der ihn von der Sonne abschirmte, die Brutus so sehr hasste. Doch ich brauchte nur einen Blick auf das Fahrzeug zu werfen, um zu erkennen, dass wir damit nicht mehr weit kommen würden.

Seufzend begutachtete ich die herausgerissene Tür und die tiefen Krallenspuren. »Brutus hat das Ding plattgemacht.« Die Mietkaution konnten wir uns wohl abschminken.

Adrian setzte mich ab, holte unsere Reisetasche aus dem ruinierten Van und die Papiere aus dem Handschuhfach.

»Brutus kann uns zurückfliegen.« Er zog eine kleine Plastiktüte aus der Reisetasche. Der Inhalt sah aus wie harmlose Kekskrümel, doch was Adrian auf meinem verletzten Bein verteilte, war nichts Geringeres als das berühmte Himmelsbrot, das den Israeliten auf ihrer vierzigjährigen Wanderschaft durch die Wüste als Nahrung gedient hatte. Manna war aber nicht nur zur Speisung gut. Es konnte auch alle nichttödlichen Wunden heilen.

Ich warf einen zweifelnden Blick in den noch nicht besonders dunklen Himmel. »Man könnte uns sehen. Warum nehmen wir nicht einfach ein Taxi?«

»Wir müssen vor Sonnenuntergang im Hotel sein.« Mühelos hob er mich wieder hoch und lief los, obwohl wir nur ein paar Minuten hätten warten müssen, bis das Manna seinen Zweck erfüllt hätte. Brutus hielt mühelos Schritt mit Adrians rasantem Tempo. Sein großer Kopf drehte sich emsig, während er in alle Richtungen Ausschau hielt.

»Warum haben wir es denn so eilig? Wir brauchen uns keine Gedanken mehr darum zu machen, ob wir im Dunkeln draußen sind. Es gibt in unserer Welt keine Dämonen mehr – oder hast du das etwa vergessen?«

»Kann sein, kann aber auch nicht sein«, gab er zurück und lief noch schneller. »Möglicherweise ist es einigen gelungen, hier zurückzubleiben.«

»Was?«, platzte ich heraus. »Wie denn? Du hast doch gesagt, dass Dämonen es in unserer Welt nicht lange aushalten. Und die Übergänge zu den Reichen sind jetzt seit mehr als vier Wochen verschlossen, also müsste jeder Dämon, der auf unserer Seite gestrandet ist, inzwischen tot sein.«

»Nicht wenn er sich auf verfluchtem Boden aufhält«, gab er zurück und steuerte eine Baumgruppe an. »Erinnerst du dich noch an den Dämon, den ich unter der alten Kapelle gefangen gehalten habe? Ich habe den Boden verflucht, auf dem er sich befand, daher konnte er in unserer Welt bleiben, sogar unter einer Kirche. Die Dämonen waren vorgewarnt, dass du nach dem Stab Mose fahndest, und sie wussten auch, dass man damit die Pforten zu den Reichen verschließen kann. Sie hatten also genug Zeit, vorsichtshalber bestimmte Flächen in dieser Welt zu verfluchen – als sichere Zuflucht für den Fall, dass du Erfolg hast, was dann ja auch zutraf.«

Das war das erste Mal, dass ich davon hörte. Warum hatte er mir nicht schon früher erzählt, dass für Dämonen die Möglichkeit bestand, sich dauerhaft bei uns einzurichten?

Doch bevor ich dazu kam, diese Frage zu stellen, geschweige denn eine der zahlreichen anderen, die mir in den Sinn kamen, hob Adrian mich auf Brutus’ Rücken. »Verdammt, die Sonne ist gleich komplett verschwunden«, murmelte er, setzte sich hinter mich und ergriff die Zügel. »Tarate!«

Der Gargoyle hob ab, und schon bald lag die Kathedrale von Etschmiadsin hinter uns. Die letzten verbleibenden Sonnenstrahlen wichen langsam dem blauschwarzen Nachthimmel.

Ich redete mir ein, dass das Ganze absolut keine Ähnlichkeit mit dem hatte, was man sah, wenn ein Dämonenreich einen Ort auf unserer Welt verschlang – was eigentlich auch stimmte. Dennoch konnte ich eine unheilvolle Vorahnung nicht abschütteln, als die Dunkelheit auch die letzten verbliebenen Reste des Tageslichts schluckte. Diese Dunkelheit brachte irgendetwas Schlimmes mit sich, das spürte ich.

Und wenn Adrian recht hatte, dann könnte es sich bei diesem Etwas um Dämonen handeln.

4. Kapitel

Mit dem Auto hätten wir bis zum Hotel gut dreißig Minuten gebraucht. Auf dem Luftweg waren es weniger als fünfzehn. Adrian orientierte sich anhand des Navigationssystems seiner Smartwatch, da man die Straßenschilder von hier oben nicht erkennen konnte, und ließ Brutus auf dem Dach landen, um möglichst wenig Aufmerksamkeit zu erregen. Zwar gab es um das Hotel herum noch andere Häuser, aber die meisten Leute verbrachten ihre Abende nicht damit, in den nächtlichen Himmel hinaufzustarren.

»Hast du noch mal versucht, Jasmine und Costa zu erreichen?« Mit einem harten Tritt zerbrach Adrian das Schloss der einzigen Tür auf dem Hoteldach.

»Ja. Immer noch keine Antwort.«

Ich versuchte, meine aufsteigende Panik unter Kontrolle zu bekommen. Vielleicht waren sie ja ausgegangen. Meine Schwester und Costa glaubten zwar, wir wüssten nicht, dass sie zusammen waren, aber in Wahrheit warteten wir nur darauf, dass sie sich dazu bekannten.

»Warte hier mit Brutus«, beschied Adrian mir knapp. »Ich bin in zehn Minuten wieder da. Beim ersten Anzeichen von Gefahr fliegst du weg.«

»Kommt gar nicht infrage«, fauchte ich. »Falls sich hier tatsächlich irgendwo ein Dämon rumtreibt, lasse ich dich, Jasmine und Costa bestimmt nicht allein mit der Situation.«

»Falls sich hier einer rumtreibt, dann ist die Gefahr für dich am größten«, gab er zurück. »Wenn alles in Ordnung ist, verschwendest du hier oben ganze zehn Minuten, in denen ich mich vergewissere, dass Costa und Jasmine ihre Handys nur deshalb ignorieren, weil sie zu sehr mit sich selbst beschäftigt sind.«

»Aber ich bin die Einzige, die das hier hat.« Ich deutete auf die Schleuder in meinem rechten Arm. »Damit kann man Dämonen töten, also komme ich mit. Ende der Diskussion.«

Seine Miene verhärtete sich auf diese typische Weise, die darauf schließen ließ, dass er nicht auf mich hören wollte. Ich machte Anstalten, mich an ihm vorbeizuschieben, doch er stieß mich zurück und sagte ein Wort auf Dämonisch, das ich noch nie gehört hatte.

Sofort packte Brutus meine Taille und zog mich an sich. Als ich anfing zu zappeln, verschränkte er die Arme vor meinem Bauch. Ich trommelte mit beiden Fäusten darauf ein, was ungefähr so effizient war wie der Versuch, mit bloßen Händen Holz zu hacken.

»Zehn Minuten«, übertönte Adrian meine wütenden Forderungen, freigelassen zu werden. »Wenn ich bis dahin nicht zurück bin, flieg weg.«

Damit drehte er sich um und verschwand im Treppenhaus. Ich wand mich immer noch und verfluchte gleichzeitig Adrian und Brutus. Der Gargoyle wimmerte entschuldigend, doch sein unüberwindbarer Griff lockerte sich nicht. Nach ein paar Minuten wurde mir klar, dass mein Gezappel mir nichts weiter einbrachte als eine ansehnliche Kollektion blauer Flecken.

Trotzdem war ich nicht bereit aufzugeben. Verdammt, es war schließlich meine Bestimmung, Leute zu retten. Und nicht tatenlos zuzuschauen, wie andere für mich kämpften. Durch Schimpfen ließ Brutus sich offenbar nicht dazu bewegen, mich freizugeben, aber vielleicht gab es noch einen anderen Weg.

Ich hörte auf zu zappeln. »Wer ist ein guter Junge?«, fragte ich.

Brutus’ Wimmern klang plötzlich weniger entschuldigend, sondern eher hoffnungsvoll. Und ich hatte den Eindruck, dass seine Rückseite sich hin und her bewegte. Im Laufe der vergangenen Monate hatte ich herausgefunden, wie sehr der Gargoyle es liebte, gelobt zu werden. Bekam er richtig viel Lob, flatterte er mit den Flügeln und schwang sein Hinterteil, als ob er mit einem unsichtbaren Schwanz wedelte. Manchmal machte er beides derart enthusiastisch, dass er fast das Gleichgewicht verlor. Es war saukomisch, einen riesigen Gargoyle, der aussah, als stammte er direkt aus einem Albtraum, dabei zu beobachten. Und im Moment könnte dieses Verhaltensmuster genau das sein, was ich brauchte.

»Weeeer ist ein guuuuter Juuunge?«, wiederholte ich meine Worte in gedehntem Singsang.

Jetzt spürte ich definitiv ein Wedeln, und seine Flügel hoben sich wie bei einem Pfau, der drauf und dran war, sein Federkleid vorzuführen. Ich trug meine Komplimente immer dicker auf und versicherte Brutus, dass er der süßeste, schlauste Gargoyle aller Zeiten sei. Dafür erntete ich zwar weiteres Hinternwackeln und Flügelflattern, aber noch nicht genug für meine Zwecke.

Also ergänzte ich die Lobhudelei durch gezielte Bestechung. »Weißt du, was ich dir heute Abend gebe?«, säuselte ich. »Fünf, nein sechs, nein sieben, ja, sieben große Batzen Schmorfleisch! Weil du der allerbeste, allerschönste Brutus bist, ja, das bist du, ja, das bist du wirklich!«

Jetzt bebte er vor freudiger Erwartung am ganzen Körper. Brutus mochte nicht viel Englisch verstehen, aber das Wort Schmorfleisch kannte er. Roh war es seine Leibspeise. Seine Flügel flatterten hektisch, und sein Hinterteil wedelte so heftig, dass er beinahe umfiel. Aber das Entscheidende war, dass er den Griff um meine Taille lockerte.

Ich glitt unter seinen Armen hindurch und rannte, so schnell ich konnte, zur Tür. Brutus sprang mir nach, war aber zu spät dran. Sein maßloses Entzücken hatte ihn abgelenkt und wertvolle Sekunden gekostet, sodass seine Krallen, als er versuchte, mich zu packen, nur leere Luft fingen. Der schmale Eingang zum Treppenhaus war zu eng für seinen breiten Körper.

»Tut mir leid, Junge!«, rief ich und rannte die Stufen hinunter.

Das enttäuschte Jaulen, das mir folgte, weckte Schuldgefühle, aber ich würde Brutus später entschädigen. Zunächst musste ich sicherstellen, dass Adrian, Jasmine und Costa okay waren. Unsere Zimmer lagen im fünften Stock, nur drei Etagen unter dem Dach. Es sollte also nicht allzu lange dauern, zu den anderen zu stoßen …

Plötzlich spürte ich einen brennenden Schmerz in meiner rechten Hand. Das braune Seil in meiner Haut wechselte die Farbe, wurde immer heller, bis es in einem schönen Goldton schimmerte. Mir schlug das Herz bis zum Hals.

Es gab nur eine Sache, die mein übernatürliches Tattoo dazu brachte, so zu brennen und die Farbe zu ändern, und das war die unmittelbare Nähe eines Dämons.

5. Kapitel

Der Schmerz nahm zu, als ich eine Schlaufe des Seils zu fassen bekam und daran zog, während die uralte Tätowierung so real wurde wie die mir drohende Gefahr. Ich ignorierte den Schmerz und zog weiter. Als ich den fünften Stock erreichte, pulsierte zwar mein ganzer Arm, aber dafür war die legendäre Schleuder, mit der David einst den Riesen Goliath getötet hatte, nun eine echte, handfeste Waffe.

Der Schrei einer weiblichen Stimme löste bei mir eine Welle der Panik aus. Das klang nach Jasmine. Ich stürzte durch die Tür zur fünften Etage. Während ich über den Flur rannte, fiel mir ein großer Spiegel auf, der an der Wand lehnte. Der war vorher nicht da gewesen, was nichts Gutes verhieß, da Dämonen Spiegel als Portale benutzen.

In dem kurzen Moment, in dem ich abgelenkt war, öffnete sich eine Tür, und ein Mann schob mir seinen Wagen vom Zimmerservice direkt vor die Füße. Ich stieß so fest dagegen, dass er mit lautem Krachen umfiel, was ich jedoch ebenso wenig zur Kenntnis nahm wie den erschrockenen Aufschrei des Hotelgasts. Ich hatte etwas Wichtigeres entdeckt.

Die Vase auf dem Servierwagen war mit dekorativen Glaskugeln gefüllt gewesen, die sich nun auf dem Boden verteilten.

Schnell schnappte ich mir so viele ich konnte, ohne darauf zu achten, dass ich mich in der Hektik an den Scherben der zerbrochenen Teller schnitt. Die meisten Kugeln stopfte ich in meine Taschen, eine davon schob ich in die Schlaufe meiner Schleuder, bevor ich weitertaumelte.

Noch mehr krachende Geräusche und weitere Schreie ließen mir das Blut in den Adern gefrieren. Ich rannte auf den Lärm zu und zuckte zusammen, als nun auch das Tattoo an meiner rechten Körperseite zu brennen begann. Der Stab Mose, die zweite heilige Waffe, die mit meinem Fleisch verschmolzen war, reagierte offenbar ebenfalls auf die dämonische Präsenz, aber ich hatte nicht die leiseste Ahnung, ob er sich ähnlich wie die Schleuder manifestieren würde. Ich war nicht mehr in der Nähe von Dämonen gewesen, seit ich den Stab benutzt hatte, um die Pforten zwischen ihren Reichen und meiner Welt zu schließen.

Ungefähr zehn Meter vor mir brach Adrian durch die Wand, im Clinch mit einer Person, deren Gesicht von langen rötlich-schwarzen Haaren verdeckt war. Ich begann, die Schleuder zu schwingen. Die unbekannte Frau musste eine Dämonin sein. Ein Mensch oder Lakai hätte seine machtvollen Hiebe nicht verkraften, geschweige denn erwidern können, und sie revanchierte sich mit einem Schlag, der Adrian buchstäblich umhaute. Kreischend warf sie sich über ihn, und durch ihre wilde Mähne hindurch konnte ich ein Lächeln erkennen. Warum sah diese Dämonin aus, als ob ihr seine wütenden Versuche, sich aufzubäumen und sie abzuwerfen, einen Heidenspaß bereiteten?

»Verdammte Scheiße«, stieß ich hervor, als ich sie erkannte.

Ich hatte diese spezielle Dämonin erst einmal getroffen, aber sie war schwer zu vergessen, was weniger mit ihrem Äußeren zu tun hatte als mit der Tatsache, dass sie lange Zeit Adrians Freundin gewesen war. Manche Dämonen sehen aus wie normale Menschen. Andere sind eher animalisch, bis hin zu den klischeehaften Hörnern und Hufen. Und einige sind wie Obsidiana – so schön, dass es regelrecht wehtat, sie anzuschauen.

»Runter von ihm, du Schlampe!«, brüllte ich.

Endlich bemerkte sie mich. Obsidiana warf mir einen boshaften Blick zu, dann sprang sie rasch auf. Adrian schien von dieser unerwarteten Bereitwilligkeit ebenso überrascht zu sein wie ich, erhob sich aber ebenso schnell und griff nach ihrer Kehle. Bei ihrem letzten Kampf hatte er ihr die Gurgel herausgerissen, woran Obsidiana sich offenbar jetzt erinnerte.

Mit Lichtgeschwindigkeit wehrte sie ihn ab und nutzte seinen eigenen Schwung, um ihn so fest gegen die Wand zu rammen, dass eine Delle entstand. Bevor ich die Glaskugel aus meiner rasant wirbelnden Schleuder schießen konnte, hielt sie Adrian wie einen Schild vor sich. Ihre blutroten Nägel streckten sich auf Messerlänge, und sie stieß sie Adrian in den Hals.

»Einen Schritt näher, Davidin, und ich reiße ihm die Kehle heraus«, schnurrte sie mit demselben unverwechselbaren Akzent, den auch Adrian hatte.

Ich verdrängte den Gedanken an weitere Gemeinsamkeiten. Sie war länger Adrians Geliebte gewesen, als ich lebte, und ich war nicht zu stolz, um zuzugeben, dass ich rasend eifersüchtig auf sie war. Aber nicht so sehr, dass ich Adrians Leben riskieren würde. Ich senkte die Schleuder und rührte mich nicht vom Fleck. Langsam ließ Obsidiana den Blick ihrer topasfarbenen Augen über mich gleiten.

»Ist das dein echtes Ich?« Fragend hob sie eine Braue.

»Höchstpersönlich.« Ich hob ebenfalls eine Braue.

Bei unserer letzten Begegnung war ich durch einen Archonten-Zauber getarnt. Das war jetzt nicht der Fall, und ihrer verächtlichen Miene nach zu urteilen, hätte man meinen können, ich hätte mich in eine tote Maus verwandelt, die ihr von einer streunenden Katze vor die Füße geworfen worden war. Nun ja, sie sollte sich gehackt legen. Wie ich ihr einmal gesagt hatte: Schönheit vergeht, aber böse Schlampe bleibt böse Schlampe.

»Ich fasse es nicht, dass du mich wegen der da verlassen hast«, sagte sie zu Adrian. »Ehrlich, Schatz, damit bestrafst du dich nur selbst.«

Am liebsten hätte ich ihr beide Stinkefinger gezeigt, aber das wagte ich nicht. Wenn Obsidiana über genug dunkle Energie verfügte, um den Boden zu verfluchen und in unserer Welt zu bleiben, dann war sie sehr viel mächtiger, als ich ihr ursprünglich zugestanden hatte. Was sie nur noch gefährlicher für Adrian machte.

Er schien meine Bedenken nicht zu teilen. Jedenfalls lachte er – leise, tief und bösartig. »Als ich dich verlassen habe, kannte ich Ivy noch gar nicht, Obsidiana. Ich bin gegangen, weil ich allein glücklicher war als mit dir.«

Oha, dachte ich, das hat gesessen. Aber ich hielt den Mund. Die Hölle selbst kann nicht wüten wie eine verschmähte Dämonin. War Adrian das nicht klar?

Ihre Stimme senkte sich zu einem verführerischen Schmeicheln. »Ich kann mich daran erinnern, wie glücklich du mit mir warst. Sehr, sehr oft.«

Ich versteifte mich, was sie, wie ihr spöttisches Lächeln vermuten ließ, durchaus mitbekam, auch wenn sie so tat, als ob ihre gesamte Aufmerksamkeit Adrian galt.

»Zu oft, als dass man es zählen könnte«, fuhr sie fort und strich mit der freien Hand liebkosend durch sein Haar. »Du schleuderst mir jetzt rüde Worte entgegen, Benhoven, aber deine Grobheit bestätigt nur die Gerüchte, die mir zu Ohren gekommen sind. Der Mann, den ich liebe, ist immer noch vorhanden. Deshalb habe ich so viel riskiert, um dich zu sehen. Die kleine Davidin hat versucht, dich in etwas zu verwandeln, was du nicht bist, aber sie ist gescheitert.« Feindselig funkelte Obsidiana mich an. »Sie weiß nur noch nicht, wie jämmerlich sie gescheitert ist …«

Adrian packte ihre Handgelenke, riss sie ruckartig nach vorne und beugte sich gleichzeitig vor, wobei er wie ein professioneller Ringer ihren Schwung nutzte, um sie über seinen Kopf zu schleudern. Ihre Nägel bohrten sich in seine Kehle, und ich schnappte entsetzt nach Luft, als ich das Blut aus der Wunde schießen sah. Er fiel auf sie, und dann konnte ich durch die dunkle Masse ihrer Haare und die ineinander verschlungenen Gliedmaßen nichts mehr erkennen.

6. Kapitel

»Adrian«, rief ich und rannte zu den beiden.

Obsidiana schrie auf, als meine Schleuder sie berührte, aber ich konnte mich nicht an ihrem Schmerz erfreuen. Ich war zu bestürzt über den roten Schwall, der aus Adrians Hals schoss. Schnell versuchte ich, das strömende Blut zu stillen, doch er stieß mich beiseite. So gut es ging, stürzte Obsidiana sich auf mich, während sie unter seinem Gewicht gefangen war. Ihre dolchartigen Nägel fuhren über meinen Bauch, schnitten durch meine Kleidung und in mein Fleisch. Adrian packte sie am Hals und zog. Heftig.

Ihr Körper erschlaffte, aber es floss kein Blut. Ihre Halsschlagader befand sich nicht in ihrer Kehle. Dämonenkörper waren anders gebaut als menschliche. Adrian hatte nur ihre Version des Herzens herausgerissen, was ihr vorübergehend das Bewusstsein rauben, sie aber nicht umbringen würde – während ihre Attacke auf seine Kehle durchaus tödlich sein konnte.

»Hör auf, Adrian!«, brüllte ich, als mir klar wurde, dass er sich weiter an Obsidiana abreagieren wollte, und warf mich ihm entgegen.

Er schwankte und schaute auf die rote Flut, die über seinen Hals nach unten floss, als ob er erst jetzt merkte, was los war. Ich trat Obsidianas leblosen Körper zur Seite und legte die Schleuder ab, bevor ich die klaffende Wunde mit den Händen bedeckte. Ich durfte nicht riskieren, Adrian mit der Schleuder zu berühren. Er war ein Halb-Dämon, daher würde sie ihm in ihrer jetzigen, greifbaren Form schaden, und er war schon jetzt schwer verletzt.

»Leg dich hin«, sagte ich panisch. Er hatte schon so viel Blut verloren. »Beweg dich nicht, das macht es nur noch schlimmer. Halt ganz still.«

»Oh, verdammt«, ließ sich eine männliche Stimme vernehmen, als unser bester Freund Costa aus einem der Hotelzimmer trat.

Ein Teil von mir nahm befriedigt zur Kenntnis, dass Costa okay war, aber ich war zu besorgt um Adrian, um echte Erleichterung zu empfinden. »Wo ist Adrians Tasche?«, drängte ich. »Er hat sie mitgebracht, und da ist Manna drin. Bring sie mir, schnell!«

Ich konnte nicht aufstehen, um sie selbst zu holen. Wenn ich die Wunde an seinem Hals nicht abdrückte, würde er vor meinen Augen verbluten. Er hatte bereits so viel Blut verloren, dass das auch so immer noch passieren konnte. Ich versuchte weiter, den schrecklichen, pulsierenden Strom aufzuhalten, und gab mir alle Mühe, nicht in Tränen auszubrechen. Stirb bitte nicht, Adrian, bitte! Ich kann dich jetzt nicht verlieren!

Costa ging zurück ins Zimmer, und ich war mir vage bewusst, dass er fluchend nach etwas suchte. Außerdem merkte ich, dass offenbar die Sprinkleranlage angesprungen war, weil ich von gefühlt allen Seiten mit Wasser bespritzt wurde. Doch ich machte keine Anstalten, es mir aus den Augen zu wischen. Meine ganze Aufmerksamkeit galt Adrian und der klaffenden Wunde in seiner Kehle.

»Du kommst wieder in Ordnung«, sagte ich und lächelte, damit er nicht sah, wie groß meine Angst war. Stirb nicht. Stirb nicht. Stirb nicht! Du darfst nicht sterben. Ich liebe dich zu sehr!

»Ivy!« Meine Schwester kniete sich neben mich. »Was kann ich tun?«

Ich antwortete wie auf Autopilot. »Zerschlag den Spiegel im Flur.« Ansonsten könnten ihn noch mehr mächtige Dämonen benutzen, um herzukommen.

Jasmine rannte los, und kurz darauf hörte ich Glas klirren – und dann, so schwach, dass ich es fast nicht mitbekommen hätte, Adrians Stimme.

»Musst sie … töten, Ivy!«

Ich konnte nicht fassen, dass Adrian mit aufgerissener Kehle sprechen konnte, und versuchte, nicht noch panischer zu werden, als mehr Blut durch meine Finger strömte.

»Nicht reden«, beschwor ich ihn. »Costa, wo ist das verdammte Manna?«, brüllte ich dann.

Überraschend kräftig packte Adrian mein Handgelenk. »Töte … sie«, wiederholte er und deutete mit dem Kopf auf Obsidiana.

Die Bewegung löste einen weiteren Blutstrom aus. Plötzlich wehte ein merkwürdiger Wind durch meine Haare, aber ich achtete nicht weiter darauf und verstärkte den Druck auf Adrians Hals.

»Sobald du geheilt bist«, versprach ich.

Adrian fasste sich an den Hals. Das Blut machte seine Hände so glitschig, dass er sie problemlos unter meine schieben konnte. Er drückte fester auf die Wunde, als ich es gewagt hätte, und starrte mich an. In seinen saphirblauen Augen schien ein Feuer zu glühen.

»Jetzt.«

Wusste er nicht, dass sein eigenes Leben am seidenen Faden hing? Ja, Obsidiana würde in ungefähr einer Stunde wieder aufwachen, aber bis dahin stellte sie keine Bedrohung dar.

Oder doch? Immerhin war sie, als die Pforten sich schlossen, stark genug gewesen, auf dieser Seite der Reiche zu überleben. Vielleicht wusste Adrian, dass sie sehr viel früher aufwachen würde, als ich dachte.

»Sobald du das Manna bekommen hast«, beharrte ich. Ich weigerte mich, Adrians Leben aufs Spiel zu setzen, indem ich Obsidiana jetzt tötete, auch wenn das längere Warten mein eigenes Leben gefährdete. Dieses Risiko würde ich in Kauf nehmen.

Adrian stieß einen frustrierten Laut aus und versuchte, sich aufzurichten. Ich stieß ihn zurück. »Lass das«, zischte ich entsetzt. Zornig gestikulierte er in Obsidianas Richtung. Töte sie jetzt! sollte das heißen.

Endlich kam Costa zurück, einen Haufen Manna in der Hand. Ich war so erleichtert, dass ich nicht wusste, ob ich anfing zu weinen oder ob das Wasser in meinem Gesicht von der Sprinkleranlage kam.

»Rutsch zur Seite«, befahl er und schob mich und Adrians Hände weg.

Ich sah zu, wie Costa das Manna auf Adrians Hals verteilte, und ertappte mich dabei, wie ich betete. Der seltsame Wind wurde stärker, die Fontänen aus der Sprinkleranlage ebenfalls, bis sie die Kraft von Hydranten erreichten und man kaum mehr etwas sehen konnte. Sollte Adrians Wunde letal sein, würde das Manna nichts bringen – es wirkte nicht bei tödlichen Verletzungen. Falls er schon zu viel Blut verloren hatte, würde ich mit ansehen müssen, wie er starb.

Der Klumpen Manna auf seiner Kehle färbte sich sofort rot, das Blut strömte weiter. Ich zitterte so heftig, dass ich das Gefühl hatte, dass das ganze Hotel bebte.

»Ivy«, flüsterte Adrian mit ersterbender Stimme, während der gnadenlose rote Schwall weiter über seinen Hals floss. »Bitte … töte sie.«

Adrian konnte nicht sterben. Aber falls er es doch tat und das sein letzter Wunsch war, dann durfte ich ihm den nicht verweigern. Dann war das Letzte, was er sehen würde, wie ich die Schlampe umbrachte, die ihm das angetan hatte.

Ich stand auf und tastete beinahe blind nach der Schleuder. Meine Hände zitterten so sehr, dass ich zweimal danebengriff. »Ich liebe dich«, sagte ich mit tränenerstickter Stimme.

Noch während ich die Schleuder schwang, schob ich Obsidianas Körper mit dem Fuß in sichere Distanz von Adrian. Ich schoss die Glaskugel in ihre Richtung. Obwohl ich alles verschwommen sah und am ganzen Leib zitterte, traf ich sie mitten auf die Brust.

Ihr Körper zerfiel so rapide zu Asche, als hätte ich ein Dutzend übersinnliche Granaten auf sie abgefeuert. Die verglimmende Glut wurde von der kräftigen Brise aufgewirbelt und zog wie dunkler Nebel über mich, Adrian und Costa.

Einen Moment stand ich einfach nur da und schaute zu, wie feuchte Ascheklumpen auf den Teppich fielen. Ich war einem Reich voller Dämonen und Lakaien gegenübergetreten, die allesamt wild entschlossen waren, mich umzubringen, aber ich hatte nie eine derartige Angst empfunden wie in diesem Augenblick. Was wäre, wenn ich mich umdrehte und feststellte, dass das Manna nicht gewirkt hatte? Wie sollte ich es ertragen, wenn meine letzten Sekunden mit Adrian tatsächlich die endgültig letzten gewesen waren, die wir je haben würden?

Ich versuchte zu atmen, aber meine Brust tat zu weh. Der Wind wurde stärker, die Sprinkleranlage spritzte, als müsste sie einen Großbrand löschen. Bitte lass das nicht das Ende sein. Bitte, bitte, bitte!

»Ivy.«

Laut schluchzte ich auf, als ich Adrians Stimme hörte, und wirbelte herum, um neben ihm auf die Knie zu fallen. Ich schaute zu, wie er die Überreste eines weiteren Klumpens Manna von seiner inzwischen geheilten Kehle strich, und stieß einen unverständlichen Laut aus. Kräftige Arme zogen mich an seine Brust, seine Lippen fanden meine, und ich küsste ihn, bis ich schon wieder nicht atmen konnte, aber diesmal aus einem anderen Grund.

Als er schließlich den Kopf hob und mich ansah, lächelte er. »Ich liebe dich auch«, murmelte er. »Mehr, als du jemals wissen wirst.«

»Ich bin froh, dass ich die Chance bekomme, es rauszufinden«, sagte ich zwischen Lachen und Weinen.

Ich sah einen Schatten über sein Gesicht huschen, aber das mussten wohl die Reste der nassen Asche sein. »Eines Tages gelingt dir das vielleicht wirklich.«

7. Kapitel

Adrian küsste mich noch einmal, und ich hätte den Rest der Nacht so verbringen können, doch Costa räusperte sich, um unsere Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Als wir ihn standhaft ignorierten, klopfte er uns auf die Arme. Fest.

»Leute«, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Der Sicherheitsdienst ist da. Und sieht ziemlich sauer aus.«

Ich schaute auf und sah drei uniformierte Männer auf uns herunterstarren. Dann schauten sie fassungslos auf die Löcher in der Wand, den zerbrochenen Spiegel im Flur und das Blut auf Adrians Kleidung.

»Was, zum Teufel, ist hier passiert?«, fragte einer der Wachmänner mit hartem Akzent.

Offenbar war er nicht der Einzige, der das wissen wollte: Mehrere Gäste steckten neugierig die Köpfe aus ihren jeweiligen Hotelzimmern. Adrian erhob sich, bei jeder Bewegung blutige Tropfen versprühend, und griff in seine Hosentasche.

»Keine Sorge, ich zahle für alles«, versicherte er und zog eine Kreditkarte mit lächerlich hohem Limit hervor.

Das war ein möglicher Ausweg aus dieser Situation. Die Sicherheitsleute wirkten jetzt nicht mehr so aggressiv, waren aber definitiv noch verärgert.

»Sie zahlen und verschwinden«, stieß einer der Männer zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und schaute sich noch einmal angewidert um. »Es wird Tage dauern, die Wasserschäden zu beheben!«

»Hey, die verdanken Sie Ihrer Sprinkleranlage«, protestierte ich.

»Was für eine Sprinkleranlage?«, blaffte er.

Ich deutete zur Decke, doch die Worte »Na, die da oben!« erstarben mir im Munde. Der Flur verfügte über mehrere Rauchmelder, aber ich konnte keinen einzigen Sprinklerkopf entdecken. Außerdem war das Wasser, wie mir erst im Nachhinein richtig klar wurde, keineswegs nur von oben gekommen, sondern auch von den Seiten. Und ich hatte noch immer keine Erklärung für den merkwürdigen Wind.

Adrian drückte meine Hand. »Sag am besten gar nichts mehr«, murmelte er.

Autor

Jeaniene Frost
Die Romane der New York Times-Bestsellerautorin erscheinen in zwanzig Ländern. Jeaniene Frost lebt zusammen mit ihrem Mann, der sich längst damit arrangiert hat, dass sie an den Wochenenden bis in die Puppen schläft und fast nie einen Fuß in die Küche setzt. Denn Kochbücher jagen ihr einen mächtigen Schrecken ein...
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