Das Haus der toten Mädchen

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Ein packender Thriller und eine fesselnde Liebesgeschichte im grünen Vermont - doch die vermeintliche Idylle ist trügerisch: Einst wurden hier Mädchen grausam ermordet. Ein Mann wurde gefasst und für die Tat verurteilt. Jetzt ist er wieder frei. Doch ist Thomas Griffin überhaupt der Schuldige? Er kann sich nicht erinnern. Unter falschem Namen kehrt er zurück, um die Wahrheit aufzudecken und Licht in das Dunkel seiner Erinnerung zu bringen.


  • Erscheinungstag 10.12.2012
  • ISBN / Artikelnummer 9783955762780
  • Seitenanzahl 192
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Anne Stuart

Das Haus der toten Mädchen

Roman

Aus dem Amerikanischen von
Dr. Andrea Kamphuis

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MIRA® TASCHENBUCH

 

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Cora Verlag GmbH & Co. KG,

Axel-Springer-Platz 1, 20350 Hamburg

Deutsche Taschenbucherstausgabe

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

Still Lake

Copyright © 2002 by Anne Kristine Stuart Ohlrogge

erschienen bei: MIRA Books, Toronto

Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II B.V., Amsterdam

Konzeption/Reihengestaltung: fredeboldpartner.network, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Titelabbildung: by pecher und soiron, Köln

Autorenfoto: © by Harlequin Enterprise S.A., Schweiz

Satz: D.I.E. Grafikpartner, Köln

ISBN 978-3-95576-278-0

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

PROLOG

Sommer 1982

Colby, Vermont

Als er erwachte, waren seine Hände voller Blut. Die Laken hatten sich um seinen verschwitzten, nackten Körper gewickelt, im Mund hatte er einen metallischen Geschmack, und seine Hände waren blutig.

Er setzte sich hin, fluchte, strich sich das lange, dunkle Haar aus dem Gesicht und sah verschlafen in die Morgensonne hinaus. Es war früh – er wachte nicht gerne vor dem Mittag auf. Vor allem nicht blutverschmiert.

Er stolperte vom Bett zur Hintertür, um sich zu erleichtern. Als er an sich hinunterschaute, bemerkte er weitere Blutspuren an seinem Körper. Er lehnte sich an die Tür, schloss die Augen und stöhnte.

Er schlief in einer der heruntergekommenen Hütten am See, in denen es keine Duschen gab. Auf keinen Fall konnte er zum Hauptgebäude hinauflaufen. Er würde sich da keineswegs mit all diesem Tierblut auf der Haut blicken lassen. Verdammt, er musste letzte Nacht auf dem Rückweg ein Reh oder irgendein anderes Vieh angefahren haben, konnte sich allerdings an nichts erinnern.

Er schlüpfte in eine abgeschnittene, mit Farbe besprenkelte Jeans und rannte, so schnell sein pochender Kopf es zuließ, zum See hinunter. Er hatte letzte Nacht zu viel geraucht und gesoffen und musste möglichst schnell wieder einen klaren Kopf bekommen. Das kalte Wasser würde ihn schlagartig nüchtern machen und sein Erinnerungsvermögen zurückbringen. Sobald er wieder in seinem Zimmer wäre, würde er zu Ende packen und sich hier verkrümeln. Er hatte die Nase voll von Vermont und diesem Kaff.

Sogar im August war der See eiskalt, ein verdammter Schock. Als er kopfüber ins Wasser eintauchte, entfuhr ihm ein kurzer Schrei, aber da musste er durch. Das kalte Wasser umspülte ihn, wusch das Blut von seinen Händen, aus seinem langen Haar, aus seinem Vollbart.

Fast zwanzig Meter vom Ufer entfernt tauchte er auf, warf sein langes, nasses Haar nach hinten und blinzelte in die Sonne. Am Gasthaus oben herrschte mehr Betrieb als sonst – Peggy Niles war bestimmt im siebten Himmel. Jetzt würde sie ihn erst recht für alle möglichen Handlangerarbeiten gebrauchen können, aber er hatte sie schon informiert, dass er abreisen wolle. Vielleicht wäre es am besten, sich unbemerkt in die Hütte zurückzuschleichen, sein Zeug zu holen und sich zu verdrücken, bevor sie ihn beschwatzen konnte. Lorelei hatte ihn zum Teufel geschickt, und er war kein Typ, den es lange an einem Ort hielt. Der Winter rückte näher, in Colorado gab es während der Wintersportsaison jede Menge Jobs, und er hatte vor, sich eine Weile als Ski-Freak durchzuschlagen.

Er tauchte wieder unter, hielt mit langen, mühelosen Zügen aufs Ufer zu und schwamm an dem schmalen Sandstrand und dem langen Holzsteg entlang, den er vor ein paar Monaten angelegt hatte.

Als er wieder auftauchte, sah er zwischen dem Rohrkolbenschilf, gegen das er den halben Sommer lang angekämpft hatte, ein Knäuel Kleidung treiben. Er erkannte das knallbunte Streifenhemd, eines seiner Lieblingshemden, und fragte sich, wer zum Henker seinen Koffer geklaut und in den See geworfen hatte. Lorelei wahrscheinlich – sie war stinkwütend gewesen, als er ihr gesagt hatte, dass er weggehen würde. Doch sie hatte ihm schließlich auch nicht den geringsten Grund gegeben zu bleiben. Er konnte sich auch keinen vorstellen.

Blinzelnd schwamm er auf das Bündel zu. Er war etwas kurzsichtig, trug jedoch meistens nur eine Sonnenbrille, die jetzt allerdings irgendwo in seinem unaufgeräumten Zimmer herumlag. Die Klamotten trieben halb unter Wasser, aber eins war klar: Das weiße Hemd gehörte ihm nicht. Es besaß keine langärmligen Hemden.

Er hörte auf zu schwimmen, richtete sich auf und bekam, bis zur Hüfte im eisigen Wasser stehend, sofort eine Gänsehaut. Dann lief er, so schnell das Wasser es zuließ, zu ihr hinüber, drehte sie um und blickte in ihr blasses, erloschenes Gesicht, auf ihre aufgeschlitzte Kehle. Der sichelförmige Schnitt, direkt unter ihrem Kinn, sah aus wie das Grinsen eines Clowns.

Wie aus dem Nichts tauchten sie vor ihm auf, um ihn am Ufer in Empfang zu nehmen, und er konnte sich nicht rühren. Zitternd stand er im eisigen Wasser und umklammerte Loreleis Leichnam.

„Thomas Ingram Griffin, alias Gram Thomas, alias Bill Gram, ich nehme Sie fest wegen des Verdachts des vorsätzlichen Mordes an Alice Calderwood, Valette King und Lorelei Johnson. Alles, was Sie sagen …“

Er hörte nicht zu. Er schaute auf das Mädchen in seinen Armen hinab, das Mädchen, das er letzte Nacht gehalten, das Mädchen, dessen Blut seine Hände befleckt hatte.

Und er musste weinen.

1. KAPITEL

Sie hätte gerne die Welt gerettet. Es gab nur einen Haken an der Sache: Niemand wollte ihre Hilfe. Sophie versüßte sich diese bittere Erkenntnis, indem sie sich einen halben Blaubeermuffin in den Mund schob.

Die Küche der Stonegate-Farm war leer. Sophie ließ sich auf einem Hocker nieder, zog den weichen Chintz-Rock etwas hoch, der ihre Beine umspielte, und verdrückte den Rest des Muffins, was sich als gar nicht so leicht erwies – war es doch einer dieser gemeinen übergroßen, die genügend Fett enthielten, um die Adern einer vierköpfigen Familie zu verstopfen. Sie glaubte fest an die Lehre, dass Kalorien, die man sich allein und unbeobachtet zuführte, nicht ansetzten. Vom Frühstück waren drei Muffins übrig geblieben, und nun langte sie nach dem zweiten.

Sonst war ja niemand da, der Anspruch auf sie erhoben hätte. Ihre Mutter Grace aß kaum genug, um am Leben zu bleiben, und wenn ihre Halbschwester Marty sich endlich aus den Federn quälte, verlangte sie ausschließlich nach Kaffee und Zigaretten.

Das mit den Zigaretten konnte Sophie gut nachempfinden. Sie hatte das Rauchen vor vier Monaten aufgegeben, und was war der Dank? Sieben Kilo hatte sie zugelegt, gut verteilt über ihre ohnehin schon üppige Figur. Und es verging kein Tag, an dem sie sich nicht nach einem Zug sehnte.

Sie zerteilte den zweiten Muffin und legte in der vergeblichen Hoffnung, so der Versuchung widerstehen zu können, eine Hälfte auf den englischen Steingutteller zurück. Zucker und Butter waren zwar ein ganz passabler Nikotinersatz, hatten aber leider erhebliche körperliche Nebenwirkungen. Die Zigaretten hatten ihre Lungen geschwärzt, aber wer sah schon ihre Lungen? Wenn sie so weitermachte, würde sie bald aus Kleidergröße 42 hinaus- und in 44 hineinwachsen. Zum Trost führte sie sich rasch noch die zweite Hälfte zu Gemüte.

Sie musste ihr Leben wieder in den Griff bekommen. Das erste Geschäftsjahr würde naturgemäß das schwierigste werden, aber die Stonegate-Farm war das ideale Landgasthaus, und an Energie und Enthusiasmus mangelte es Sophie nun wirklich nicht. Jahrelang hatte sie sich vor allem theoretisch mit Innenausstattung und Backen und dergleichen beschäftigt, um die Kolumnen zu füllen, die sie an mehrere Zeitungen verkauft hatte, um damit ihre kleine Wohnung in New York zu finanzieren. Marty hatte sie die Martha Stewart der armen Frauen genannt, was bei Sophie glatt als Kompliment durchgegangen wäre, wenn Marty dabei nicht spöttisch gegrinst hätte.

Und jetzt hatte sie dieses Farmhaus aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert am Rande des Northeast Kingdom in Vermont, ein Traumhaus für einen Traumberuf. Das alte Haus war weitläufig und verschachtelt, es hatte ein halbes Dutzend Schlafzimmer und einen weiteren Flügel an der Rückseite, den man vielleicht noch retten und in weitere Gästezimmer verwandeln konnte. Alles hatte so einfach ausgesehen – also hatte sie ihr Hab und Gut und ihre Seele verpfändet und Marty und Grace hierher mitgenommen.

Nicht, dass Grace davon besonders angetan gewesen wäre. Sie war nie der bodenständige Typ gewesen, aber seit ihrer letzten Brustkrebsoperation war sie erschreckend schwach, und zum ersten Mal hatte sie sich eingestehen müssen, dass sie Hilfe brauchte. Also war sie den beiden widerwillig gefolgt, nicht ohne zu betonen, dass sie ihren nomadischen Lebensstil wieder aufnehmen würde, sobald sie wieder bei Kräften sei. Jetzt, vier Monate später, wusste Sophie, dass es dazu nicht mehr kommen würde.

Diesmal war es nicht der Krebs. So wie es ausschaute, hatte Grace diesen zweiten Rückfall glänzend überstanden. Aber in den letzten Monaten hatte ihr Gedächtnis dramatisch nachgelassen. Eine besonders tiefsinnige Denkerin war Grace nie gewesen: Martys und Sophies gemeinsamer Vater hatte sie oft – teils hämisch, teils zärtlich – als „Gracey vom anderen Stern“ bezeichnet. Aber ihr momentaner Zustand war ernst genug, um Sophie Sorgen zu bereiten.

Nicht, dass sie irgendetwas tun konnte. Auch Doc – ihr bester Freund und Vertrauter, seit sie hierher gezogen waren – hatte nur den Kopf geschüttelt. „Ich weiß nicht, ob sie kleine Schlaganfälle hat oder eine früh einsetzende Alzheimer-Demenz“, hatte er gesagt. Eine Untersuchung im Krankenhaus hatte Grace strikt abgelehnt, und Doc vertrat die Meinung, dass man das immer noch nachholen konnte, wenn es schlimmer wurde.

Marty, mit typischem Teenagercharme, fand alles, was mit dem Gasthaus zu tun hatte, einfach nur blöd – einschließlich des Umstandes, dass sie im Haus helfen sollte. Ihre ältere Schwester fand sie ganz besonders blöd, aber das war nichts Neues. Und Grace wurde – obwohl sie eigentlich noch zu jung war, um senil zu werden, immer schusseliger, so dass sie wie eine unheimliche Fremde durch ihr Leben geisterte. Marty ließ das kalt. Schlimm genug, dass Sophie sie ans Ende der Welt verschleppt hatte – warum war es auch noch nötig gewesen, die alte Schachtel aufzunehmen? War dieses Kaff nicht schon Folter genug?

Sophie beäugte den letzten Muffin. Wenn sie auch diesen dritten noch äße, würde ihr schlecht werden – nicht sofort, aber früh genug. Egal, sie wollte diesen Muffin, und niemand würde es sehen.

Als sie gerade nach ihm griff, hörte sie vor der Tür ein Geräusch und zog die Hand zurück. Ertappt.

Grace spazierte in die Küche. Ihr hagerer Körper steckte in Kleidungsstücken, die nicht zueinander passten, und sie hatte ihre zerknautschte Strickjacke falsch zusammengeknöpft. Grace, die immer so stolz auf ihre Designerklamotten und ihre makellose Frisur gewesen war … Sie war erst sechzig, wirkte aber zwanzig Jahre älter. Marty kam hinter ihr her und schien mal wieder verstimmt zu sein.

„Ich habe Muffins gebacken“, erklärte Sophie fröhlich. Sie ging darüber hinweg, dass nur ein einziger übrig war.

„Wie schön, Liebes“, antwortete Grace mit sanfter Stimme. Sie hatte versucht, ihr langes, ergrauendes Haar zu einem Dutt zusammenzustecken, aber zahlreiche Strähnen fielen ihr auf die Schulter, und Sophie ahnte, dass die ganze Konstruktion sich im Handumdrehen auflösen und Grace dann noch verwahrloster aussehen würde. „Ich glaube, ich nehme nur einen Kaffee.“

„Du musst etwas essen, Mama“, mahnte Sophie. „Du weißt, was Doc gesagt hat.“

Grace blieb stehen und schaute sie an. In ihren blauen Augen lag ein seltsamer Ausdruck. „Glaub nicht alles, was man dir sagt, Sophie. Bei manchen Leuten trügt der Schein.“

„Ich glaube nicht …“, setzte Sophie an, ohne sich von Grace’ zunehmender Paranoia aus der Ruhe bringen zu lassen, aber ihre Mutter hatte sich bereits eine Tasse Kaffee eingeschenkt, Sophie und ihrer Schwester den Rücken zugekehrt und sich davongemacht.

Marty lief wortlos zur Kaffeemaschine hinüber.

„Auch dir einen guten Morgen.“ Kaum dass sie es ausgesprochen hatte, hätte Sophie sich ohrfeigen mögen: Sarkasmus half bestimmt nicht weiter.

Marty würdigte sie keines Blickes. Sie goss sich Kaffee ein, nahm einen großen Schluck und behandelte Sophie demonstrativ wie Luft.

„Hast du die neuen Handtücher in die Wäschekammer gelegt?“ Sophie versuchte, einen unbeschwerten, neutralen Ton anzuschlagen. Marty bekam oft harmloseste Bemerkungen in den falschen Hals, und Sophie bemühte sich, ihr möglichst wenig Grund zur Aufregung zu bieten.

Marty wandte die Augen nicht vom Kreuzworträtsel, in das sie sich vertieft hatte. Diese Woche trug sie ihre kurze Igelfrisur schwarz und hatte fuchsienrote Strähnchen einfärben lassen. Wenn sie zur nächsten Phase übergehen wollte, müsste das Haar zunächst gebleicht werden. Früher oder später würde sie gar keine Haare mehr haben; eine Aussicht, die bei Sophie gemischte Gefühle hervorrief. Wenigstens würden nicht allzu viele böse Jungs scharf darauf sein, eine kahlköpfige Siebzehnjährige zu schwängern. „Dein Wunsch ist mir Befehl – wie immer“, gab Marty feindselig zurück.

Sophie seufzte und unterdrückte ihre Enttäuschung. „Ich brauche deine Hilfe, Marty. Du musst deinen Teil dazu beitragen, dass der Laden läuft, sonst schaffen wir es nicht. Der Sommer geht zu Ende, und du weißt, dass wir im Herbst öffnen müssen, um noch dieses Jahr einen Teil der Renovierungskosten wieder reinzuholen. Ich habe schon Reservierungen für den September …“

„Was habe ich damit zu tun? Es war deine Idee, mich mitten ins Nichts zu verpflanzen, weit weg von meinen Freunden. Ich interessiere mich nicht fürs Hotelgewerbe, ich bin nicht scharf darauf, mit dir und der verrückten alten Schachtel in der tiefsten Provinz festzusitzen, und ich habe keine Lust, dir zu helfen.“

Nur gut, dass Sophie den dritten Muffin nicht gegessen hatte: Der zweite sorgte bereits für Aufruhr in ihrem Magen. „Diese verrückte alte Schachtel ist meine Mutter“, erwiderte sie. „Ich weiß, dass sie nicht deine ist, aber ich bin für sie verantwortlich. Müssen wir das wirklich jeden Tag aufs Neue durchkauen, Marty? Warum hackst du zur Abwechslung nicht mal auf anderen Leuten herum?“

„Weil nur du mir Ärger machst, und ich werde dir so lange auf die Nerven fallen, bis du mir zuhörst.“

„Ich höre dir zu“, sagte sie geduldig. „Ich bin mir darüber im Klaren, dass du deine Freunde vermisst, aber, Marty, diese Leute waren nicht gut für dich.“

„Woher willst du das wissen? Du hast doch schließlich keine Freunde. Hand aufs Herz, Sophie, du hast keine Ahnung, wie man Freunde findet, und du bist neidisch, dass ich so viele habe.“

„Deine so genannten Freunde sind ein einziges Ärgernis.“ Noch ein Fehler, dachte Sophie, sobald sie den Satz ausgesprochen hatte. Das gab Marty nur Gelegenheit zurückzuschießen. Wie schaffte ihre kleine Schwester es nur immer wieder, sie derart zu provozieren?

Marty warf ihr ein säuerliches Lächeln zu. „Dann passe ich ja glänzend zu ihnen, was?“

„Bitte, Marty …“

„Die verdammten Handtücher sind längst in dem verdammten Wäscheschrank. In Türkis und Beige und Elfenbein und Lavendel und jeder anderen verdammten Farbe, die du für nötig hältst“, bellte sie. „Alles für deine bescheuerten Gäste. Und jetzt lass mich in Frieden.“

Mit dem Kaffee und der Zeitung in der Hand stürmte sie zur Tür hinaus. Sophie schaute ihr nach; ihr Herz krampfte sich zusammen. Sie nahm sich den dritten Muffin.

Es sah nicht so aus, als würden die Wolken sich bald verziehen. Marty war seit Monaten, im Grunde seit ihrer Ankunft in Colby, mürrisch und niedergeschlagen. Sophie hatte gehofft und gebetet, dass der Abschied von der Stadt dem Mädchen einen Neuanfang ermöglichen würde. Dass die Sonne und die Landluft und die harte Arbeit einen guten Einfluss auf sie hätten.

Bis jetzt schien das nicht der Fall zu sein. Zwar bemühte sich Sophie, Martys Gemeinheiten zu ignorieren und gute Miene zum bösen Spiel zu machen, aber sie war nicht zur Heiligen geschaffen. Wie ein geheimes Mantra wiederholte sie ständig den Gedanken, dass ihre Bemühungen sich eines Tages auszahlen würden.

Sie waren nicht gerade eine ideale Familie. Grace hatte sich von ihrem faden Ehemann aus dem mittleren Westen scheiden lassen, als Sophie neun gewesen war, hatte ihr einziges Kind in ein Internat gesteckt und war in die weite Welt hinausgezogen. Morris, Sophies Vater, hatte bald wieder geheiratet, noch eine Tochter – Marty – gezeugt und Sophie während ihrer Ferien in die steife, sterile Atmosphäre seines Zuhauses einzubinden versucht. Als Marty neun war und ihre Eltern bei einem Autounfall starben, wurde plötzlich alles anders. Familie war Familie, und Sophie, die gerade ihren Abschluss an der Columbia University gemacht hatte, hatte die Schwester unter ihre Fittiche genommen und ihr in Grace’ altem Appartement in der East Sixty-sixth Street ein Zuhause bereitet. Der Verlust der Eltern war an Marty natürlich nicht spurlos vorübergegangen, aber die Globetrotterin Grace und die umso sesshaftere Sophie hatten alles versucht, um diese Lücke zu füllen, was ihnen auch einigermaßen gelungen war. Bis Marty vor anderthalb Jahren angefangen hatte, von einem Desaster ins nächste zu taumeln, und bei Grace erneut Brustkrebs diagnostiziert worden war. Seither ging es bergab.

Als sie den Muffin aufgegessen hatte, entfernte sie sich vom Tisch, um nicht womöglich noch mehr Trostfutter in sich hineinzustopfen. In den letzten Monaten hatte sie pausenlos gearbeitet. Die Stonegate-Farm war zuletzt Anfang der Achtziger als Gasthaus bewirtschaftet worden, und in den letzten fünf Jahren hatte das Anwesen ganz leer gestanden. Schon das Großreinemachen war ein Kraftakt gewesen, und die Renovierung, die Sophies spärliche Rücklagen aufgezehrt hatte, der Anstrich und die Einrichtung konnte man nur als herkulische Großtat bezeichnen. Das Hauptgebäude war wieder hergerichtet, aber der hintere Flügel stellte noch eine Gefahr für Leib und Leben dar, so dass sie ihn mit Brettern vernagelt hatte. Ob sie ihn renovieren oder abreißen würde, sollte die Zukunft zeigen.

Vorerst hatte sie schon mit dem Hauptgebäude der Farm alle Hände voll zu tun. Professionelle Kräfte konnte sie sich kaum leisten, und Grace war zu zerstreut, um ihr eine große Hilfe zu sein – von Marty ganz zu schweigen, die fast nur Scherereien machte. Das Gasthaus stand kurz vor seiner Eröffnung, und Sophies Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Für den Altweibersommer mit seinen spektakulären Laubfarben lagen Buchungen für alle Zimmer vor, und wenn es ihr gelang, das durchzustehen, hätte sie das Schlimmste hinter sich. Oder?

Sie stellte sich an der Spüle vor das Kassettenfenster und blickte auf den See hinab, dessen kühle Reglosigkeit sie unwiderstehlich anzog.

Sie wusste, dass sie längst hätte an die Arbeit gehen sollen, aber heute fiel es ihr schwer, sich aufzuraffen. Es war ein schöner Spätsommermorgen – die Fenster standen offen, eine sanfte Brise wehte durch den Raum, und das Rascheln und Wispern der Zuckerahornbäume erfüllte die Luft. Seit sie vor sechs Monaten nach Vermont gekommen waren, hatte sie nur geschuftet – verdiente sie da nicht einen freien Tag? Einen Tag, an dem sie herumliegen, Kreuzworträtsel lösen und Zigaretten rauchen konnte, wie Marty es jeden Tag tat, wenn Sophie sie nicht auf Trab hielt?

Vergiss es, keine Zigaretten mehr. Im Grunde hätte sie sich am liebsten mit einem Stapel Kochbücher in eine Hängematte verkrümelt und noch einen Muffin gegessen …

Den letzten hatte sie verdrückt, ohne es überhaupt zu bemerken. Nur gut, dass sie locker sitzende Kleidung bevorzugte, die eine Menge kleiner Sünden kaschierte. Ihre dürre kleine Schwester hingegen zeigte gerne so viel Haut wie möglich.

Einen warmen Sommertag in der Hängematte zu vertrödeln kam nicht in Frage, nicht für sie, nicht diesen Sommer. Vielleicht würde sie sich nächstes Jahr, wenn das Gasthaus gut lief und sie sich mehr Hilfskräfte leisten konnte, hin und wieder einen freien Tag gönnen und das friedliche Landleben genießen, von dem sie ihr Leben lang geträumt hatte. Im Augenblick blieb ihr nichts anderes übrig als weiterzuarbeiten, um das Haus auf die Invasion der Gäste in zwei Wochen vorzubereiten. Damit nicht genug: Am Freitag musste ihre Kolumne fertig sein, und sie hatte den Text noch nicht einmal angefangen.

Wahrscheinlich wäre sie gut beraten, das Schreiben aufzugeben, aber sie brachte es nicht über sich. Schließlich rief ihr die Kolumne „Briefe von der Stonegate-Farm“, die sie für die kleine Zeitschrift „Long Island Magazine“ verfasste, immer wieder in Erinnerung, dass sie tatsächlich ihren Traum verwirklichte. Jahrelang hatte sie gelangweilten Hausfrauen erklärt, wie man Nudeln selber macht, ausrangierte Milchkannen zu eleganten Pflanzgefäßen umfunktioniert und eine Neubauwohnung in ein gemütliches Landhaus oder ein orientalisches Märchen verwandelt, und jetzt konnte sie all das endlich in die Praxis umsetzen. Und schon bald würde sie eine dankbare Anhängerschaft haben, die ihre Aktivitäten besser zu schätzen wusste als ein missmutiger Teenager und eine Mutter, die kaum noch etwas mitbekam.

Der Tag würde wärmer werden, als es hier Mitte August üblich war. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, und Sophie schob die Ärmel ihres Kleides bis zu den Ellbogen hoch. Vielleicht sollte sie zumindest einen kurzen Spaziergang zum Seeufer machen, um den letzten Rest Stille in sich aufzusaugen. Hier, am Nordufer des Sees, war es selbst im Hochsommer relativ ruhig und abgeschieden. Das einzige andere Haus war das alte Whitten-Cottage, das seit Jahren leer stand. Alles andere gehörte zu Sophies Grundstück, auf dem sich auch einige Nebengebäude befanden, darunter eine verfallene Scheune und mehrere baufällige Hütten. Da diese nicht mehr zu retten waren, würde sie sie abreißen lassen, sobald sie es sich leisten konnte. Irgendwann würde das Ganze ein vollkommenes Paradies voller zufriedener zahlender Gäste sein. Im Augenblick war es eine Oase der Stille inmitten des Sommergewimmels.

Die Frage, ob sie wirklich Urlauberhorden hierher locken wollte, verbot sich. Es gab keinen anderen Weg, ihr Leben an diesem Ort zu finanzieren, und sie bemühte sich stets, realistisch zu bleiben. Wenn sie fremde Leute umsorgen musste, um auf dem Land leben zu können, dann wollte sie diesen Preis gerne bezahlen. Außerdem würden Fremde ihre Fürsorglichkeit wahrscheinlich besser zu würdigen wissen.

Sie stieß die Tür auf und ging über den abschüssigen Rasen zum See hinunter. Sofort fiel die Anspannung von ihr ab. Das Wasser war ruhig und dunkel, die fieberhaften Aktivitäten am Südufer schienen es nicht zu berühren. Der Still Lake war ein großes, gewundenes Gewässer, und wenn man an seinem Nordufer stand, konnte man meinen, es gebe nichts außer der friedlichen Atmosphäre der Whitten-Bucht. Erst wenn man weiter hinausschwamm, erkannte man, wie verzweigt der See war und wie weit er sich nach Westen und Süden erstreckte, in Regionen, die man von Sophies abgeschiedenem Uferstück aus gar nicht sehen konnte.

Von der ganzen Gegend um Colby war diese Ecke am schwächsten besiedelt. Vor langer Zeit war die Stonegate-Farm ein florierender Molkereibetrieb gewesen, aber seit vierzig Jahren grasten auf den weitläufigen Wiesen keine Kühe mehr. Sie hatte das Anwesen vom letzten versoffenen Sohn von Peggy Niles gekauft, der offenbar überglücklich war, es loszuwerden. Sie hatte nicht lange gebraucht, um den Grund in Erfahrung zu bringen. Wer wollte schon an den Tatort eines berüchtigten Mordes gefesselt sein?

Andererseits war die Niles-Familie kein besonders feinfühliger Haufen gewesen, wenn sie ihrer Freundin Marge Averill glauben durfte. Der Mann war davongelaufen, die versoffenen Söhne hatten ihre Mutter schamlos ausgenutzt, indem sie die Einrichtung des Hofes, dessen Zimmer sie an Sommerfrischler vermietete, stückchenweise verscherbelt hatten. Und bis zu den Morden hatte der Gasthof tatsächlich genug abgeworfen, um davon zu leben.

Es wollte einem nicht recht in den Kopf, dass dieser perfekte Ort in New England der Schauplatz einer derartigen Untat gewesen sein sollte, aber Sophie war nicht so naiv: Jedes alte Städtchen mit einer langen Geschichte hatte ähnliche Horrorstorys zu bieten, und die Northeast-Kingdom-Morde waren darunter bei weitem nicht die schillerndsten. Natürlich war es eine Tragödie, dass hier drei Mädchen ermordet worden waren, aber man hatte den Fall aufgeklärt: Ein jugendlicher Herumtreiber, der offenbar unter Drogen gestanden hatte, war verurteilt und ins Gefängnis gesteckt worden. Wenn einige der Eltern heute, zwanzig Jahre später, noch immer um ihre Töchter trauerten, dann war das völlig normal: Schon der Gedanke, Marty zu verlieren, versetzte Sophie in hilflose Panik – ganz gleich, wie sehr sich ihre Halbschwester derzeit um Unausstehlichkeit bemühte –, und wenn solche Schreckensvisionen Wirklichkeit wurden, musste das noch um Klassen schlimmer sein.

Aber Colby war darüber hinweggekommen, und es spielte keine Rolle mehr, dass eines der Mädchen unten am See gefunden worden war und die beiden anderen ganz in der Nähe oder dass alle drei bei Peggy Niles im Gasthaus gejobbt hatten. Doc mit seinem makabren Humor hatte Sophie sogar vorgeschlagen, aus der dunklen Geschichte des Hofes Kapital zu schlagen und ihn als Spukhaus zu bewerben.

Das kam für sie überhaupt nicht infrage, schon gar nicht in so einer kleinen Stadt. Und Doc Henley hatte es nicht ernst gemeint. Er war der Inbegriff des netten, altmodischen Arztes für Allgemeinmedizin: Er hatte die halbe Stadt zur Welt gebracht, einschließlich der drei ermordeten Teenager, und für eine ganze Reihe von Mitbürgern den Totenschein ausgestellt, als ihre Zeit abgelaufen war.

Sophie setzte sich auf einen der Adirondack-Stühle, legte die Füße auf einen großen Stein und ließ die Stille der Natur auf sich wirken. Gleich würde dieses schwer greifbare Gefühl des inneren Friedens sich ihrer bemächtigen.

Aber irgendetwas stimmte nicht.

Sie hörte das Auto auf dem Kiesweg. Inzwischen war sie mit der Geräuschkulisse von Vermont so vertraut, dass sie den unregelmäßigen Rhythmus von Marge Averills in die Jahre gekommenem Saab gleich erkannte. Sie winkte träge zu ihr hinüber und machte sich nicht die Mühe aufzustehen. Marge war eine freundliche Dame mittleren Alters, die unter ihrer gemütlichen Fülligkeit einen kräftigen Schuss Skrupellosigkeit verbarg. Seit sie ihr das alte Anwesen der Niles verkauft hatte, kümmerte sie sich rührend um Sophie, was in dieser den Verdacht weckte, dass sie einen viel zu hohen Kaufpreis akzeptiert hatte.

„Ein herrlicher Morgen!“ Mit gewohnt zielstrebigem Schritt kam sie zum Ufer herunter. „Wie geht es deiner Mutter?“

„Gut“, antwortete Sophie. Um diese Jahreszeit hatten Makler immer besonders viel zu tun, und wenn Marge ihr einen Besuch abstattete, musste sie einen verdammt guten Grund haben. „Was führt dich her?“

„Es wird dir nicht gefallen“, sagte Marge unumwunden. Sie ließ sich in einen der leeren Stühle fallen und strich sich das graue Haar aus dem rötlichen Gesicht.

Sophie stöhnte. „Was hat Marty jetzt wieder ausgefressen?“

„Absolut nichts, soviel ich weiß“, erwiderte Marge, ohne sich aus dem Konzept bringen zu lassen. „Nein, ich fürchte, ich habe etwas ausgefressen. Ich habe das Whitten-Haus vermietet.“

Sophie drehte sich um und blickte mit zusammengekniffenen Augen über die flache, sonnenbeschienene Bucht. Das alte Haus wirkte nicht mehr verlassen. Die Fensterläden standen offen, und auch die Haustür war auf. Allerdings konnte man weder ein Auto noch eine Menschenseele sehen.

„Verflixt.“

„Du darfst mir das nicht verübeln. Seit einem halben Dutzend Jahren hat sich niemand für die Bude interessiert, und dann rufen plötzlich die Anwälte an, die den Besitz verwalten, und erzählen mir, sie hätten einen Mieter gefunden, der eventuell sogar kaufen will. Ich konnte ja schlecht behaupten, du hättest mehr geboten, ohne mit dir zu reden, und so hatte ich keine Chance, den Typen von hier fern zu halten.“

„Ich bin im Moment einfach nicht in der Lage, das Cottage zu kaufen, wie du sehr gut weißt“, entgegnete Sophie. Der dritte Muffin lag ihr wie ein Stein im Magen. „Alles, was ich hatte, ist in die Stonegate-Farm geflossen.“

„Hör mal, wahrscheinlich wird er es sich ohnehin anders überlegen. Niemand hat es länger als ein paar Wochen im Whitten-Haus ausgehalten, und warum sollte es diesem Mann anders ergehen? Hab Geduld. Er wird von den Morden erfahren und das Weite suchen.“

„Ich habe nicht das Weite gesucht.“

„Wir beide wissen doch, dass Frauen viel härter im Nehmen sind als Männer“, meinte Marge verschwörerisch. Von der Sonne geblendet, blinzelte sie zum alten Haus hinüber. „Man kann das Whitten-Haus von deinem Grundstück aus so gut wie gar nicht sehen – nur wenn man hier unten am Wasser ist. Außerdem schaut er, gelinde gesagt, gar nicht schlecht aus. Wir bekommen hier nämlich nicht so viele ledige Männer über dreißig zu Gesicht.“

Sophie folgte ihrem Blick. Jetzt bemerkte sie, wie sich neben dem Haus jemand im grellen Sonnenlicht bewegte, aber auf diese Entfernung konnte sie sein Aussehen nicht beurteilen. Außerdem war er ihr Feind. Sie wollte das Whitten-Haus, fast noch mehr, als sie die Stonegate-Farm gewollt hatte. Sie hatte geplant, das ganze Nordufer des Still Lake in eine Enklave der Ruhe zu verwandeln, in der sich Körper und Seele regenerieren konnten. Sie wollte keinen Fremden zum Nachbarn, der ihre Pläne durchkreuzte. Sie wollte vor allem keinen angeblich gut aussehenden männlichen Fremden – nicht, solange sie eine leicht zu beeindruckende kleine Schwester zu hüten hatte.

Sie wandte sich wieder Marge zu und runzelte die Stirn. „Was weißt du über ihn?“

„Angeblich heißt er John Smith, ob du’s glaubst oder nicht. Irgendjemand hat die Vermutung geäußert, dass er ein Computer-Spezi ist, der hier eine kleine Firma aufmachen möchte. Andere meinen, er könnte so eine Art Finanzberater sein. Er dürfte höchstens sechs Monate durchhalten. Niemand kann sich hier lange halten, wenn er nicht stinkreich ist.“

„Ich habe genau das vor.“

„Das ist etwas anderes“, erwiderte Marge unbekümmert. „Du lebst vom Tourismus, genau wie ich. Wenn Mr. Smith Tischler oder Klempner wäre, sähe es natürlich anders aus. Obwohl wir hier in der Gegend genügend Tischler haben. Wie auch immer, ich wollte dich vorwarnen, damit du nicht ahnungslos hinüberspazierst. Er hat es für ein Jahr gemietet und sich das Vorkaufsrecht gesichert, aber ich wette, er ist weg, sobald der erste Schnee fällt. Oder sobald er von den Morden erfährt.“

Er war hinter dem alten Haus verschwunden, und Sophie guckte ihm versonnen nach. „Vielleicht“, meinte sie. „Aber vielleicht weiß er es bereits.“

„Was willst du damit sagen?“

Sophie zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Es ist doch komisch, dass er sich an dieser Seite des Sees einmietet, wo doch am Südufer ein paar gute Häuser zu haben sind, wie du mir erzählt hast. Auch welche, die nicht jahrelang leer gestanden haben. Warum sollte jemand unbesehen ein derart heruntergekommenes Cottage anmieten wollen?“

„Gute Frage, aber mich interessiert nur der Scheck“, antwortete Marge. Sie stand auf und zupfte ein Blatt von ihrer Twillhose. „Weißt du was? Ich werde mal ein paar Erkundigungen über ihn einholen. Eigentlich ist er mir zu jung, aber von Lappalien wie ein oder zwei Jahrzehnten Altersunterschied lasse ich mich nicht abschrecken, und ich habe allmählich keine Lust mehr, alleine zu schlafen. Es sei denn, du hast ein Auge auf ihn geworfen.“

„Nein“, gab Sophie schroff zurück.

„Du hast ihn dir doch noch gar nicht richtig angeschaut.“

„Bin nicht interessiert. Ich habe genug damit zu tun, mein eigenes Leben in den Griff zu kriegen, und kann weitere Komplikationen ebenso wenig gebrauchen wie Marty.“

Die Missbilligung, die in Marges Blick aufblitzte, entging ihr nicht. Ihre Freundin machte keinen Hehl daraus, was sie von Marty beziehungsweise von Sophies Verhalten ihrer kleinen Schwester gegenüber hielt.

„Marty kann gut auf sich selbst aufpassen, wenn du sie nur lässt“, erklärte Marge.

„Na, bisher hat sie eine ziemlich erbärmliche Vorstellung gegeben.“ Sie wartete darauf, dass Marge ihr mitteilte, ihre eigene Bilanz sei ebenfalls ziemlich erbärmlich, aber Marge äußerte nichts dergleichen. Sie wusste wahrscheinlich, dass das nicht nötig war.

„Ich muss zurück an die Arbeit“, verkündete Marge. „Doc will wohl später einmal vorbeischauen. Möchte wetten, er ist neugierig auf deinen Nachbarn – wenn du es schon nicht bist.“

Sophie lächelte zögerlich. „Doc ist ein altes Klatschmaul. Wenn der Mann irgendwelche Geheimnisse hat, wird Doc sie ihm entlocken.“

Marge warf einen letzten, sehnsüchtigen Blick in Richtung Cottage. „Er ist ein Bild von einem Mann, so viel verrate ich dir“, sagte sie und schmatzte mit den Lippen. „Lass es mich wissen, wenn ich dir irgendwie helfen kann.“

„Außer ihm zu kündigen, meinst du?“

„Solange du Marty von ihm fern hältst, dürfte es keinen Ärger geben“, entgegnete Marge. „In ein paar Wochen werdet ihr viel zu beschäftigt sein, um euch über einen unerwünschten Nachbarn den Kopf zu zerbrechen.“

„Ich finde immer Zeit, mir den Kopf zu zerbrechen.“

„Dann hör jetzt damit auf“, befahl ihr Marge.

„Yes, Ma’am. Ich sollte Mr. Smith ein paar Muffins bringen und ihn hier willkommen heißen. So kann ich vielleicht herausfinden, wie lang er wirklich bleiben möchte.“

„Wenn du ihm einige von deinen Muffins bringst, wird er nie wieder weggehen wollen“, schmeichelte Marge. „Meine Kochkünste hingegen würden ihn nach … wohin auch immer zurücktreiben.“

„Ich könnte sie ja vergiften“, überlegte Sophie. „Das wäre ein Weg, ihn loszuwerden.“

„Mach keine Witze über Morde, Sophie. Nicht hier.“ Der Ernst in Marges Stimme war nicht zu überhören. „Die Leute haben ein gutes Gedächtnis.“

„Ach ja?“ Sie warf noch einen Blick zum Whitten-Haus hinüber, um ihren unerwünschten Nachbarn in Augenschein zu nehmen.

Er war nirgends zu sehen.

2. KAPITEL

Griffin hatte den Eindruck, dass sich hier in diesen zwanzig Jahren wenig verändert hatte. Im Gemischtwarenladen trieben sich etwas mehr Touristen herum, dafür gab es weniger öffentliche Parkplätze. In der ehemaligen Mühle war jetzt ein Geschenkartikelladen, und in der Stadtmitte gab es ein neues Geschäft für schottische Wollsachen, das von den wohlhabenden Sommerfrischlern lebte. Und die Stonegate-Farm hatte eine neue Besitzerin, die hier im September – rechtzeitig zur spektakulären Verfärbung der Wälder – wieder ein Gasthaus eröffnen wollte.

Nein, Colby hatte sich kaum verändert: immer noch dieselbe überzüchtete, verbildete Harvard-, Yale- und Princeton-Brut, immer noch dieselben Einheimischen, die lächelnd um sie herumscharwenzelten und sie hinter ihrem Rücken verachteten. Es waren nur mehr geworden.

Warum, zum Teufel, war er zurückgekehrt? Er hasste diesen Ort mit seinem ländlich-idyllischen Charme und seiner Kleinstadtgeschäftigkeit. Vor zwanzig Jahren hatte er sich hier zum ersten Mal in seinem rastlosen Leben ansatzweise heimisch gefühlt. Wie gastfreundlich der Ort wirklich war, hatte er erst herausgefunden, als man ihm einen Mord anhängte, von dem er nicht glaubte, dass er ihn begangen hatte.

Nein, er scherte sich einen Dreck um Colby, Vermont, oder die Menschen, die hier lebten. Ihn interessierte nur die Wahrheit.

Er wollte möglichst keinen alten Bekannten in die Arme laufen, die ihn womöglich wiedererkennen würden. Als er im Ort ein paar Lebensmittel besorgt und sich dann in Richtung Whitten-Cottage abgesetzt hatte, war er den Leuten so gut wie möglich aus dem Weg gegangen. Das hatte sich in der Tat geändert: Vor zwei Jahrzehnten konnte man Audleys Gemischtwarenladen nicht verlassen, ohne vorher ausgefragt zu werden, wo man sich eingemietet und was einen nach Colby geführt hatte, wie lang man bleiben wollte und mit wem man verwandt war. Die Sommerfrischler pflegten den Katalog um die Frage zu ergänzen, welches College man besucht habe, und er hatte sich für alles eine Antwort zurechtgelegt. Aber diesmal hatten ihm die Leute, die sein Geld nahmen, nicht einmal ins Gesicht geschaut, und er hatte das altmodische Geschäft mit seinem Sixpack Coke und einem Stück Cabot-Käse verlassen, ohne auch nur die geringste Aufmerksamkeit erweckt zu haben. Fast war er enttäuscht.

Die Frau vom Maklerbüro hatte bei der Schlüsselübergabe nervös gewirkt, und es war ihm so vorgekommen, als sei sie über diese Vermietung nicht gerade glücklich. Scheiß drauf: Er wusste genau, was er tat, und es war ihm völlig egal, ob das Haus sauber war, das Wasser lief oder im Kamin Eichhörnchen wohnten. Er wollte nur hinein und die Türen hinter sich abschließen, um sich endlich wieder sicher zu fühlen.

Diese Schwäche war ihm lästig und sehr unangenehm, aber selbst unter Aufbietung all seiner Willenskraft konnte er sie nicht überwinden. Immer wenn er an einen neuen Ort kam, überwältigte ihn diese Unsicherheit. Vielleicht würde er sie eines Tages besiegen, aber vorerst blieb ihm nichts anderes übrig, als die Türen und Fenster zu schließen und die Welt auszusperren. Dann fühlte er sich besser.

Er brauchte nicht lang, um sich einzugewöhnen. Der Weg zum Whitten-Haus war ausgefahren und überwuchert genug, um Neugierige abzuschrecken. Außerdem wirkte das Haus verlassen. Er klappte die Fensterläden auf, öffnete die Fenster und ließ die frische Bergluft herein. Wenn man den Hahn aufdrehte, kam tatsächlich Wasser heraus, und mit den Mäusespuren an und in den Kissen der Wohnzimmercouch konnte er leben. Er fegte den Boden, wischte einen staubigen Holztisch ab und baute darauf seinen Laptop auf, bevor er sich um seine Koffer und die Einkäufe kümmerte. Zumindest hatte er in diesen zwanzig Jahren gelernt, klare Prioritäten zu setzen.

Er legte die Coke und den Käse in den warmen Kühlschrank, steckte den Stecker in die Steckdose und ging auf die vordere Veranda. Die Stühle waren in einer Ecke verstaut, also setzte er sich auf die Brüstung und schaute auf den unkrautdurchsetzten Rasen und den See: das Letzte, was er von Colby, Vermont, gesehen hatte.

Er warf einen Blick auf die Stonegate-Farm am anderen Ende der Bucht. Sie sah gepflegt aus: Die neuen Eigentümer hatten offenbar eine Menge Geld und Energie hineingesteckt. Jetzt musste er noch einen Weg finden, dort hineinzugelangen, ohne Verdacht zu erregen.

Das wäre ihm erheblich leichter gefallen, wenn er geahnt hätte, wonach er eigentlich suchte. Er hatte schon damals kaum Erinnerungen an diese Nacht besessen, und die verstrichenen zwanzig Jahre hatten es nicht besser gemacht.

Aber er war oben bei diesem Haus gewesen, so viel wusste er. Hinten in dem abgesperrten Flügel, in dem einst das Krankenhaus von Colby untergebracht war. Und er war nicht allein gewesen.

Vielleicht hatte er Lorelei dort zum letzten Mal lebend gesehen. Oder er hatte ihr – falls er doch ihr Mörder war – dort die Kehle durchgeschnitten und sie dann zum Wasser hinuntergetragen.

Wenn dem so war, mussten noch irgendwo Blutspuren sein. Blut oder irgendetwas anderes, das ihm verriet, was sich damals abgespielt hatte. Vielleicht würde schon das Betreten des Trakts seinem widerspenstigen Gedächtnis auf die Sprünge helfen.

Wieder in Colby zu sein hatte bisher absolut nichts bewirkt – außer ihn in Unruhe zu versetzen. Falls sich ihm keine Gelegenheit bieten sollte, sich in das alte Gasthaus zu schleichen, musste er versuchen, sich hineinzuschmeicheln. Und wenn alle Stricke rissen, würde er eben einbrechen.

Wenn das nichts brachte, würde er sich den ganzen Ort vorknöpfen. Wie viele Leute von damals lebten noch hier? Wie viele erinnerten sich an die Morde?

Früher oder später würde er die Antworten finden, nach denen er suchte. Mochten die guten Leute von Colby auch glauben, die Sache sei aus und vorbei, das Kapitel abgeschlossen.

Es war nicht abgeschlossen, und er wusste das besser als jeder andere. Wenn er diesen Ort verließ, würde er Bescheid wissen. Erst dann war es zu Ende. Alle Fragen würden beantwortet sein, die Toten begraben, die Geister zur Ruhe gekommen.

Wenn er ging, würde er die Wahrheit kennen. Er würde wissen, wer Alice Calderwood, Lorelei Johnson und Valette King getötet hatte. Er würde wissen, ob er es war.

Es war früher Abend, als er die Frau bemerkte, die über die Wiese neben seinem Haus kam, und einen Augenblick lang befürchtete er, Gespenster zu sehen. Er hatte den restlichen Nachmittag damit verbracht, das alte Gebäude gründlich zu lüften, mäusezerfressene Kissen und alte Zeitungen in den Müll zu werfen und den Spinnweben zu Leibe zu rücken. Er hatte zwei Stühle gefunden, an denen der Zahn der Zeit noch nicht zu sehr genagt hatte, und sie auf die vordere Veranda gestellt. Auf einem saß er nun, die Füße auf die Brüstung gelegt, eine Dose Coke in der Hand, als die Frau aus dem Wald auftauchte.

Ihm war nicht ganz wohl bei ihrem Anblick. Einerseits wollte er auf keinen Fall, dass hier unangekündigt irgendwelche Leute erschienen, schon gar Frauen wie diese. Sie war auf ihre rosig-goldige Weise ganz hübsch und trug so ein blumiges Schlabberding, das für seinen Geschmack zu lang war und zu locker saß. Fehlten nur noch ein riesiger Hut und weiße Handschuhe, und sie hätte zu einer verdammten Gartenparty gehören können.

Nur dass sie statt einer Teetasse ein Tablett voller Objekte trug, die verdächtig nach Muffins ausschauten. Das gab den Ausschlag: Zwar war er ein Mann, der grundsätzlich nichts und niemanden brauchte, aber er hatte seine Prioritäten, und Essen stand ganz oben auf der Liste. Also würde er sie nicht gleich wieder vertreiben.

Außerdem kam sie vom alten Gasthaus. Vielleicht würde es ganz einfach werden, sich dort Zugang zu verschaffen. Vielleicht würden ihm die ersehnten Antworten wie diese Muffins auf einem Tablett bis vor die Haustür gebracht.

Griffin wusste sehr wohl, dass er zur Begrüßung aufstehen sollte, statt sich weiter auf dem Stuhl herumzulümmeln. Er hatte keine strenge Mutter gehabt, die ihm hätte Manieren beibringen können; er war allein mit seinem Vater gewesen und mit ihm von Ort zu Ort gezogen, bis er fünfzehn war und sein Vater starb. Seitdem war er allein, aber er wusste trotzdem, was sich gehörte. Dennoch verharrte er regungslos, während sie die kleine Treppe zur Veranda hinaufstieg.

Er mochte keine hübschen Frauen, er mochte Frauen mit Charakter. Elegant und clever sollten sie sein – wie seine ehemalige Verlobte Annelise. Kein Schnickschnack, keine Gefühlsduselei. Diese hier schien einem Wohn- und Gartenmagazin entsprungen zu sein, sie duftete bestimmt nach Blumen und frischem Brot, süß und weich und warm. Er blickte sie abschätzig an.

„Ich bin Sophie Davis“, sagte sie mit einer Stimme, die zum Kleid passte: leicht, melodisch, unangenehm bezaubernd. „Meine Familie führt das alte Gasthaus – ich fürchte, wir sind Ihre einzigen Nachbarn, bis im Herbst die ersten Gäste kommen. Ich habe Ihnen Muffins mitgebracht, um Sie in Colby willkommen zu heißen.“

Er nahm ihr den Teller ab und stellte ihn vor sich auf die Brüstung. Er musste sich jetzt schnell etwas Nettes einfallen lassen, aber irgendetwas hielt ihn zurück. Vielleicht war es die selbstzufriedene Normalität der jungen Frau, die da vor ihm stand. Sie gehörte zu einer anderen Welt als er mit seiner lebenslangen Entwurzelung: Sie lebte in einem Land voller gepflegter Häuschen und stabiler Familien. Er war groß und struppig und verschwitzt vom Hausputz. Sie war kleiner und irritierend makellos.

Er wollte ihr auch nicht den Eindruck vermitteln, als könne sie jederzeit hier hereinplatzen. Er schätzte seine Abgeschiedenheit und konnte vor allem jetzt keine übermäßige Neugier bezüglich seiner Person und seiner Absichten gebrauchen.

„Danke.“ Er bemerkte, dass er alles andere als dankbar geklungen hatte, und wies mit dem Kopf in Richtung des alten Niles-Anwesens. „Scheint mir ’ne seltsame Zeit zu sein, um ein Gasthaus aufzumachen.“

„Es hat uns viel Kraft gekostet, das so schnell zu schaffen. Das Haus hat jahrelang leer gestanden, und da dauert es eine Weile, bis alles wieder in Schuss ist.“

Also hat hier jahrelang niemand gewohnt, dachte er. Es hatte Dutzende von Gelegenheiten gegeben, zurückzukehren und die Lösung des Rätsels zu suchen. Aber er war zu sehr mit dem Versuch beschäftigt gewesen, das alles hinter sich zu lassen.

„Außerdem“, fügte sie hinzu, „ist der Herbst hier die schönste Jahreszeit. Es kommen noch mehr Leute als im Sommer oder zum Wintersport. Für September und die erste Oktoberhälfte sind wir schon komplett ausgebucht.“

„Wann wollten Sie noch mal öffnen?“

„In zwei Wochen.“

Zwei Wochen. Zwei Wochen, um in das alte Haus zu gelangen, bevor die Touristenhorden einfielen. Zwei Wochen, um herauszufinden, ob es hier noch etwas zu entdecken gab.

Sie starrte ihn so seltsam an. Kein Wunder, vermutlich war sie an Männer gewöhnt, die sie hofierten. Nun erhob er sich doch. Wenn ihm nur zwei Wochen blieben, wollte er das Beste aus jeder Gelegenheit machen, die sich bot, ob er nun in der richtigen Stimmung war oder nicht, anstatt von vorneherein ihr Misstrauen zu wecken.

„Kann ich Ihnen etwas zu trinken bringen, Mrs. Davis?“ fragte er höflich, sobald er stand. Er überragte sie um einiges. Kleine Frauen mochte er nicht, aber so klein war sie nun auch wieder nicht. Sie verströmte nur dieses verdammte weibliche Flair, das ihm den Nerv raubte. Sie war wahrscheinlich nicht einmal dreißig, hatte aber etwas verstörend Altmodisches an sich. Er wollte sie nicht um sich haben, solange er noch dabei war, sich hier einzugewöhnen. Andererseits kam sie vom Gasthaus, und es wäre dumm gewesen, sie gleich wieder zu vertreiben.

Sie schien sich in ihrer Haut ebenfalls nicht wohl zu fühlen und suchte offenbar nach einer Gelegenheit, sich abzusetzen. „Sophie“, erwiderte sie. „Ich bin nicht verheiratet. Und ich muss jetzt wirklich zurück. Ich wollte Sie nur kurz in der Nachbarschaft willkommen heißen. Sobald wir geöffnet haben, sollten Sie mal zum Abendessen vorbeikommen.“

Sie sah aus, als würde sie lieber Würmer verspeisen, als ihn zu bewirten. Es war ihm nicht gelungen, sie für sich einzunehmen, was kein Wunder war. Sie guckte ihn an wie Rotkäppchen den großen bösen Wolf. Und damit lag sie gar nicht so falsch.

„Gerne“, antwortete er. Tatsächlich würde er in zwei Wochen schon über alle Berge sein – mit oder ohne die gesuchten Antworten. „Danke für die Muffins.“ Er fertigte sie so schroff ab, dass es ihr gar nicht entgehen konnte.

Sie lächelte spröde. „Keine Ursache.“ Dann wandte sie ihm den Rücken zu, eilte die Stufen hinab und verschwand aus seinem Leben. Eine Brise verfing sich in ihrem weiten Blumenrock.

Er ließ sich wieder in den Stuhl sinken und blickte ihr mit zusammengekniffenen Augen nach. Er traute ihr nicht. Allerdings traute er grundsätzlich niemandem. Kein Mensch konnte so geleckt sauber sein. Sie hatte erwähnt, dass sie seit Monaten an dem Haus arbeiteten. Welche Geheimnisse hatte sie dabei aufgedeckt, welche Spuren vernichtet? Verdammt, er hatte sich zu lange davor gedrückt, der Vergangenheit ins Auge zu schauen. Er konnte nicht noch länger warten, und kein rosig-niedliches Frauchen würde ihm in die Quere kommen. Ganz gleich, wie groß die Versuchung war.

„Dreckskerl“, murmelte Sophie, während sie sich auf dem überwucherten Pfad zum Gasthaus vorankämpfte. Schlimmer noch: ein gut aussehender Dreckskerl. Sophie musste Marge in diesem Punkt Recht geben. Er war groß, und hoch aufgeschossene Männer hatten ihr immer schon besonders gut gefallen. Seine Züge waren eher interessant als hübsch: Seine geschwungene Nase, die hohen Wangenknochen und das stark ausgeprägte Kinn verliehen ihm das Aussehen einer römischen Büste – und er war auch ungefähr so lebhaft. Die Brille mit dem Drahtgestell ließ seine Augen noch dunkler erscheinen, und sein Mund hätte sexy wirken können, wenn er nicht permanent Missbilligung zum Ausdruck gebracht hätte. Sein Haar – ein Gewirr aus dunklen Locken mit grauen Strähnen – war zu lang, und er hatte das Wesen einer Python.

Diese aufmerksame Regungslosigkeit, in der er verharrt hatte, machte sie nervös, obwohl sie nie zur Paranoia geneigt hatte. Sie wurde einfach das Gefühl nicht los, dass John Smith Ärger suchte.

Andererseits war es nur gut, dass er sich so unfreundlich verhielt, denn wenn es um gut aussehende Männer ging, sah Marty über Altersunterschiede schon mal gerne hinweg. Ein Blick in Mr. Smiths elegantes, klassisches Gesicht würde Marty womöglich ausreichen, um sich hoffnungslos in ihn zu verknallen. Sophie konnte nur hoffen, dass er sich Marty gegenüber ebenso abweisend benehmen würde.

In der besten aller möglichen Welten würde er Marty genügend ablenken, um sie etwas aufzumuntern. Sie litt noch immer unter dem Verlust ihres letzten Freundes, eines unangenehmen, tätowierten jungen Mannes, der „Schlange“ genannt wurde, und bis jetzt hatte die Einsamkeit des nördlichen Seeufers verhindert, dass sie sich einen Ersatzmann anlachte. Sophie war allerdings nicht so naiv zu glauben, die Jungs vom Lande wären per se harmloser als die in der Stadt. Wenn Marty eine aussichts- und folgenlose Schwärmerei für ihren neuen Nachbarn entwickeln würde, könnte ihr das zu neuem Elan verhelfen und sie von anderen Gefahren fern halten.

Immer vorausgesetzt, dass Mr. Smith einem knackigen jungen Ding ebenso ablehnend begegnen würde wie ihr.

Sophie machte sich nichts vor, was ihre Reize anging. Sie war nichts Außergewöhnliches: durchschnittlich groß, durchschnittlich schwer (mit einer gefährlichen Tendenz zur Fülligkeit), normales Haar. Sie hatte nie zu den Frauen gehört, nach denen sich die Männer reihenweise verzehrten, und so wie Mr. Smith auf sie reagiert hatte, würde sich das so bald auch nicht ändern. Was ihr nur recht sein konnte, denn im Augenblick hatte sie mit dem Gasthaus und ihrer verrückten kleinen Familie viel zu viel zu tun, um sich von einem unfreundlichen Fremden mit dem Antlitz eines Renaissanceengels ablenken zu lassen. Sie hatte ihre Pflicht erfüllt, ihm Muffins gebacken, und mit etwas Glück würde sie ihm nie wieder begegnen. Die Einsamkeit des Whitten-Hauses und die Geschichten über die Morde würden ihn schnell genug vertreiben.

Zurück im Gasthaus, konnte sie Marty nirgends finden, hörte aber das gedämpfte Stampfen jener Musikrichtung, die Marty neuerdings bevorzugte. Wenigstens übertrieb sie es nicht mit der Lautstärke, so dass die zarte Poesie von Limp Bizkit und Konsorten die friedliche Atmosphäre des Sees nicht weiter beeinträchtigte.

Grace saß in ihrem Zimmer im Korbstuhl und wiegte sich mit diesem allzu vertrauten, leeren Ausdruck im Gesicht vor und zurück, und Sophie wurde wieder einmal von Schuldgefühlen überwältigt. Seit sie in Vermont waren, ging es mit ihrer Mutter steil bergab: Sie las nicht einmal mehr ihre geliebten True-Crime-Bücher. Sie lagen stapelweise in der Ecke und türmten sich auf den Tischen, und nicht einmal die blutigsten, schaurigsten Neuerscheinungen vermochten Grace’ einstige Begeisterungsfähigkeit wiederzuerwecken. Sie saß einfach da, wiegte sich und lächelte sanft, wodurch sie um Jahrzehnte älter wirkte, als sie tatsächlich war.

„Du hast nicht viel gegessen“, rügte Sophie ihre Mutter und nahm neben ihr Platz.

Grace wandte sich ihr zu. „Ich hatte keinen Hunger, Liebes. Du solltest dir nicht so viele Sorgen um mich machen – mir geht es gut.“

„Hast du deine Medizin genommen? Ich habe dir Ginkgo-biloba-Kapseln mitgebracht; die sind gut fürs Gedächtnis.“

„Stimmt was nicht mit meinem Gedächtnis?“ fragte Grace.

Sophie biss sich frustriert auf die Lippe. „Du bist in letzter Zeit einfach vergesslicher geworden.“

„An manche Dinge erinnert man sich vielleicht besser nicht“, murmelte Grace. „Also, mach dir keine Gedanken um mich, Sophie. Wie ich höre, wohnt drüben im Whitten-Haus jetzt ein toller junger Typ. Um den solltest du dir Gedanken machen.“

Ihre Mutter schaffte es immer wieder, sie zu überraschen. „Woher hast du von ihm erfahren?“

„Oh, ich weiß so gut wie alles über diesen Ort, auch wenn es den Anschein hat, dass ich nichts mitbekomme“, erwiderte Grace. „Also, warum machst du dich nicht ein bisschen sexy zurecht und heißt ihn in der Nachbarschaft willkommen?“

„Schon passiert. Ich war gerade bei ihm. Ich muss leider einräumen, dass er nicht gerade erpicht darauf war, mich kennen zu lernen.“

Grace musterte sie kritisch. „Findest du das, was du da anhast, sexy?“

Sophie betrachtete ihren geblümten Rock. „Ich habe nicht gesagt, dass ich mich für ihn in Schale geworfen habe – das war deine Idee. Das wäre auch nicht mein Stil. Ich mag nun mal weite Sachen mit Blumenmustern.“

Grace schüttelte verzweifelt den Kopf. „Auf die Weise wirst du nie einen Ehemann finden.“

„Wie kommst du darauf, dass ich einen Ehemann will?“ entgegnete Sophie. „Du hattest einen, und die Ehe scheint dir nicht besonders zugesagt zu haben.“

„Du und ich, wir sind sehr verschieden, Sophie. Du brauchst einen gut aussehenden Kerl, der dich davon abbringt, ständig so furchtbar verantwortungsbewusst zu sein. Du musst dich so sehr verknallen, dass du deinen ganzen Anstand vergisst und endlich mal ein bisschen ausflippst. Und du brauchst Kinder, damit du aufhörst, um Marty und mich so einen Wirbel zu machen. Das ist nämlich gar nicht nötig.“

„Ich hab es nicht eilig.“ Sophie versuchte, nicht zu defensiv zu klingen.

„Herzchen“, gurrte Grace sanft und freundlich, „du musst endlich mal flachgelegt werden.“

Sophie bemühte sich, nicht schockiert aufzulachen. Nicht, dass Grace beim Thema Leidenschaft je besonders zurückhaltend gewesen wäre. Sie war von jeher ein freier Geist, und während ihrer Reisejahre hatte es immer den einen oder anderen Gefährten gegeben. Aber jetzt, da Gracey nur noch ein Schatten ihrer selbst war, wirkte ihr derber Rat haarsträubend deplatziert.

„Wie du schon erwähnt hast, Mama, sind wir beide sehr verschieden. Mir liegt daran, meine … Libido unter Kontrolle zu halten.“

„Indem du sie in eine Zwangsjacke steckst, ja“, erkundigte sich Grace naserümpfend. „Bist du dir sicher, dass du das Richtige tust?“ Sie schien jetzt überhaupt nicht mehr verwirrt zu sein.

Autor

Anne Stuart
Anne Stuart liebt Japanische Rockmusik, tragbare Kunst, ihre beiden Kinder, Clairefontaine – Papier, ihren Hund Rosie, ihren Ehemann, mit dem sie schon über 30 Jahre verheiratet ist, befreundete Autoren, ihre beiden Katzen, Geschichten zu erzählen und in Vermont zu leben. Sie ist nicht sehr politisch, mag Diäten nicht gern und...
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