Das Verlangen der Piratenlady

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Lady Katherine Kinloch gibt es nicht mehr! Nachdem sie sich aus jahrelanger Gefangenschaft befreien konnte, hat die schöne Adelige ihrem früheren prunkvollen Leben entsagt. Als gnadenlose Freibeuterin Kate macht sie nun mit ihrem Schiff das Mittelmeer unsicher. Als sie einen unverschämt attraktiven Schiffbrüchigen aus dem Meer fischt, gerät ihr Herz in Gefahr. Zwar ahnt die Piratenlady, dass ihr geheimnisvoller Passagier etwas vor ihr verbirgt. Gleichzeitig jagt sein aufreizender Blick ihr heiße Schauder über den Körper. Zum ersten Mal ist Kate bereit, ihren Gefühlen das Ruder zu überlassen - da erfährt sie, wer ihr verführerischer Fremder wirklich ist …


  • Erscheinungstag 25.09.2015
  • Bandnummer 80
  • ISBN / Artikelnummer 9783733761042
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Östlich der Straße von Gibraltar, April 1767

Eine Welle schwoll an und brach über seinem Kopf. Einen Moment lang konnte Captain James Warre nicht atmen. Seine Finger gruben sich in das nasse Holz unter ihm, doch da war nichts, wonach er greifen konnte. Das aufgewühlte Wasser nahm ihm die Luft, stieß ihn umher und drohte ihn zu ersticken.

Mit unglaublicher Mühe drehte er sich herum und ließ hustend den Kopf sinken. Sein Mund war vom Meerwasser salzig und trocken. Er schloss die Augen und glitt davon.

Guten Abend, gut’ Nacht! Mit Rosen bedacht. Mit Näglein besteckt. Schlüpf unter die Deck. Schlafenszeit, kleiner Master Warre, und ich möchte keine Widerrede hören.

Schlafenszeit. Die Sonne wärmte seinen Rücken, während die Wellen ihn hin und her warfen.

Plötzlich ein Schatten.

Es gab einen Knall, Holz schrammte über Holz. Er öffnete die Augen und wappnete sich innerlich gegen das Geräusch abgefeuerter Kanonen. Als es ausblieb, schloss er die Augen wieder.

Eine weibliche Stimme drang an seine Ohren. „… lebt, oder?“

Der sanfte, trällernde Klang erschien ihm wie ein Lied.

Das Gewummer setzte wieder ein.

„… genauso gut tot, oder jedenfalls nicht weit davon entfernt.“ Eine männliche Stimme.

Wumm, wumm, rumms.

„… hochziehen?“ Erneut weiblich.

Wumm, wumm

Er schlug die Augen auf und schaute geradewegs auf den nassen Rumpf eines Schiffes. Eine neue Welle überrollte ihn und ließ ihn keuchend zurück. In einem Augenblick der Klarheit versuchte er, das Deck zu erkennen, doch ihm fehlte die Kraft dazu. Sein Blick schweifte über das Floß, das ihn über Wasser hielt. Nein, kein Floß. Zerborstene Deckplanken. Eine ferne Erinnerung wollte ihn nach unten ziehen, doch er kämpfte darum, bei Bewusstsein zu bleiben, und sah nach oben.

Eine Brigg.

„… jede Art von Krankheit. Wir können das Risiko nicht eingehen.“

Durch den Dunstschleier in seinem Kopf sickerte die Erkenntnis, dass dort oben Englisch gesprochen wurde. Dann hörte er laute Rufe. Dieses Mal unverständlich, doch der Klang war ihm nicht gänzlich fremd.

Eine Mischung aus Englisch und Maurisch, auf einer Brigg im Mittelmeer.

Deserteure. Sie würden den Captain eines englischen Linienschiffes nicht besonders freundlich behandeln.

Das gedämpfte Geräusch von Tuch, das in der Brise schlug, brachte ihn dazu, sich auf das Heck der Brigg zu konzentrieren. Wenn er nur ihre Farben sehen könnte … Der gebogene Rumpf versperrte ihm die Sicht. Er sah nur eine leuchtend rote Ecke, die im Wind wehte.

Also richtete er den Blick auf diese Ecke, wartete und wehrte sich mit aller Macht gegen den inneren Sog.

Schlafenszeit, kleiner Master Warre.

Nein! Er musste die Flagge sehen!

Eine Welle schlug über ihm zusammen, sein Mund füllte sich mit Salzwasser. Er würgte und hustete, als er die Augen wieder auf die Stelle am Heck richtete. Ein Windstoß schob den größten Teil der Flagge in sein Gesichtsfeld.

Ein schlanker gelber Arm auf rotem Untergrund, in der Faust ein Entermesser.

Zur Hölle!

Er musste den Rest der Flagge nicht sehen, um zu wissen, dass zu dem wohlgeformten Arm auch Schultern und Oberkörper einer Frau gehörten. Er ließ den Kopf aufs nasse Holz sinken.

Mit Näglein besteckt …

Wumm, wumm, wumm.

Die nächste Welle nahm ihm das Bewusstsein.

2. KAPITEL

Es war ein jämmerlicher Anblick, ebenso jämmerlich wie damals, als sie Mr Bogles aus dem Hafenbecken in Malta gefischt hatten. Doch Mr Bogles war ein Kater. Ein Mann hatte keine von dessen nützlichen Eigenschaften, sondern war ein Quell möglicher Gefahren. Captain Katherine Kinloch trat von der Reling zurück.

„Er könnte jede erdenkliche Krankheit haben“, stellte sie fest. „Wir können das Risiko nicht eingehen.“

„Aye, Captain.“ Ihr algerischer Bootsmann ging in Richtung Vorschiff und erteilte den drei Seeleuten, die über die Bordwand glotzten, einen scharfen Verweis. Trotz der brennenden Sonne fror sie.

Lasst das Netz herunter! Der Befehl lag ihr auf den Lippen, doch sie biss die Zähne fest zusammen und richtete das Fernrohr auf die Meerenge. Niemand an Bord wäre noch am Leben, wenn sie ihren Gefühlen freien Lauf ließ, sobald der Wind aus einer anderen Richtung wehte.

„Schreckliche Art zu sterben“, sagte ihr erster Maat. Er lungerte an der Reling und sah aufs Wasser hinab. Ein leiser Vorwurf lag in seiner Stimme – wie bittere Medizin in süßem Sirup.

„Jede Art zu sterben ist schrecklich, William.“ Die Erwiderung klang kalt. Schrecklich. Ihr war fast ein bisschen übel. „Ich bezweifle, ob wir mehr tun können, als seine letzten Augenblicke zur Qual zu machen, indem wir ihn hochholen.“

„Angenommen, er ist völlig gesund? Und ist nur dabei, zu verdursten?“

„Angenommen, er hat die Pest?“, gab sie scharf zurück. Ein Deck unter ihr brachte Anne dem neugierigen Mr Bogles gut gelaunt bei, wie man Perlen auffädelte. Manche Gefahren waren für Anne unvermeidbar, doch die, die sie hier vor sich hatten, war das gewiss nicht.

Ein Zittern ließ den Horizont vor ihren Augen tanzen, doch sie verstärkte einfach ihren Griff. Sobald die Meerenge hinter ihnen lag, würde sie mit einer Rumpfcrew in unbekannten Gewässern segeln müssen. Vor ihr lag eine Heimat, die sie seit mehr als zehn Jahren nicht mehr gesehen hatte. Die Zweifel über die Richtigkeit ihrer Entscheidung ließen sie schon jetzt unruhig auf Deck umherstreifen, während andere Nachtwachen hielten. Es war nicht der richtige Zeitpunkt für unbedachte Handlungen. Cousin Holliswell sollte verdammt sein, samt seiner Gier. Und ebenso dieser Nicholas Warre, der ihm half!

Andererseits konnte man stets auf die Erbarmungslosigkeit eines Warre zählen.

Eine tiefschwarze Haarsträhne flatterte vor die Linse des Fernrohrs. Sie wischte sie weg. „Sehr wahrscheinlich ist er ein tunesischer Korsar“, fügte sie hinzu.

„Oder ein Mann des Königs“, konterte William im Plauderton, bevor er stichelte: „Ich kann mich nicht daran erinnern, dass du solche Bedenken hattest, als wir Phil und Indy an Bord genommen haben.“

„Natürlich nicht, und du kennst auch den Grund dafür.“

Er lehnte sich über die Reling und rief der leblosen Gestalt dort unten zu: „Wenn du Brüste hast, alter Junge, wäre jetzt der richtige Zeitpunkt, sie zu zeigen.“

„Genug.“ Sie senkte das Fernrohr. In der Sonne wirkte Williams blonder Bart, als wäre er aus purem Gold gesponnen. Er schimmerte im selben Farbton wie die Ohrreifen, die unter seinem scharlachroten Turban glänzten. Seine weite weiße Tunika flatterte über schwarzen Hosen und nackten Füßen im Wind. „Ich hätte dich schon vor Jahren über Bord werfen sollen. Dein Sinn für Humor lässt einiges zu wünschen übrig.“

Er hob eine Braue. „Deiner ebenfalls. Ist verschwunden, genau wie dein Mitgefühl.“

Der Vorwurf traf sie hart. „Komm schon, das ist ungerecht. Wir wissen nichts über ihn“, maulte sie. „Wir kennen weder seine Nationalität noch seinen Beruf, noch wissen wir irgendwas über seine Moral oder darüber, wem er die Treue hält …“

„Unwichtig.“

„Und auch nichts über seine Vergangenheit. Alles ziemlich wichtig für die paar, die noch mit uns an Bord sind.“ Sie fing den Blick auf, den der Bootsmann ihr vom unteren Deck aus zuwarf. Um Gottes willen, sie konnte nicht einmal ihren eigenen Leuten trauen. Trotzig reckte sie das Kinn und starrte Rafik so lange an, bis er sich abwandte.

Sie spürte die vertraute Anspannung in ihrem Körper, eine untrügliche Warnung dafür, dass es keine Fehlentscheidungen geben durfte. „Ich werde mich nicht dazu bringen lassen, mich schuldig zu fühlen, nur weil ich den Schaden zu begrenzen versuche“, fügte sie hinzu. Dennoch fühlte sie sich schuldig, und nicht nur wegen des Unglücksraben da unten im Wasser. Diese Reise war schon jetzt ein enormes Risiko. Sollte sich herausstellen, dass es ein Fehler gewesen war, aufzubrechen, würde Anne am meisten darunter zu leiden haben.

Sie fühlte, dass William sie ansah. „Es ist noch nicht zu spät, zurückzukehren“, sagte er leise.

„Hüte deine Zunge!“

Der Klang energischer Schritte kündigte Millicent an. Sie betrat das Oberdeck mit demselben finsteren Blick, den sie aufgesetzt hatte, nachdem sie erfahren hatte, dass sie nach England segelten. Mit ihrem schlanken Körper, in Hemd und Hosen und mit diesem seltsam geformten Hut konnte man sie für einen jungen Mann halten, wenn man nicht aufmerksam genug hinsah. „Philomena ist außer sich“, verkündete sie, „und India ist bereit, über Bord zu gehen! Der Besatzung gefällt das ganz und gar nicht.“ Mit dünnen Lippen wartete sie auf Katherines Reaktion.

„Wir segeln mit den Gezeiten los“, teilte Katherine ihr mit.

„Und überlassen ihn seinem Schicksal?“ Millicents Stimme klang ungläubig.

„Katherine Kidd“, scherzte William und trat von der Reling zurück, „ich werd mal nachsehen, was ich tun kann, um den Aufstand niederzuschlagen.“

Katherine warf einen Blick nach unten. Sie hoffte auf die Bestätigung, dass es zu spät war und sie nichts mehr tun konnten. Während sie zusah, überrollte eine Welle den Mann dort unten. Er bewegte eine Hand, griff nach etwas und blieb dann unbeweglich liegen. Zum Teufel, sie konnte doch nicht zusehen, wie er starb!

Sie reichte Millicent das Fernrohr. „Komm, sieh ihn dir an! Erkennst du irgendwelche Anzeichen einer Krankheit?“

Millicent, die älteste Tochter eines Landarztes und selbst eine hervorragende Wundärztin, setzte das Instrument an die Augen und schaute nach unten. „Auf seinem Gesicht kann ich keine Wunden erkennen“, sagte sie nach einer Weile. „Aber bei all den Bartstoppeln ist das schwer zu sagen. Keine Anzeichen von Gelbsucht. Auf seinen Händen ist die Haut nur von der Sonne verbrannt.“ Nach einer weiteren Weile gab sie Katherine das Fernrohr zurück. „Angenommen, er war frisch rasiert, als ihn das Unglück ereilte, treibt er seit mindestens drei Tagen auf dem Meer. Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass er noch am Leben wäre, hätte er eine Krankheit. Ich bin natürlich nicht sicher. Nicht, ohne ihn untersucht zu haben. Aber ich denke, er stellt ebenso wenig eine Gefahr dar wie alle anderen an Bord.“

Gefahr war das richtige Wort. Ihre Vernunft sagte zwar, ein einzelner Mann konnte nur eine geringe Bedrohung sein, doch die Erfahrung hatte sie schon ganz anderes gelehrt. Katherine musterte den Mann. Der Überlebende eines Schiffsunglücks? Dafür gab es keinen Beweis, und das Wetter war – bis auf einige hohe Wolken – recht gut gewesen. Ein Gefangener, der den Mauren entflohen war? Diese Möglichkeit ließ sofort ein gewisses Mitgefühl in ihr aufsteigen.

„Ich sage das nicht leicht dahin“, fügte Millicent steif hinzu. „Ich würde die Sicherheit der Besatzung nie gefährden – schon gar nicht Annes.“

„Daran zweifle ich nicht im Geringsten.“ Wieder bedeckte der Seegang die regungslose Gestalt auf dem Floß. Auf dem Hauptdeck hatten sich inzwischen so viele Leute versammelt, dass es ein Wunder war, dass das Schiff nicht nach Steuerbord krängte. Die junge, gefühlsduselige India stand mit William zusammen und gestikulierte wild. Philomena – die niemals wegsah, wenn sie einen Mann erblickte – schaute Katherine an, als wolle sie sagen: „Und, was nun?“

Katherines Magen zog sich so stark zusammen, dass sie glaubte, sie müsse sich übergeben. Der Tumult auf dem Hauptdeck brummte ihr in den Ohren, während die Zeit verstrich, die dem Mann dort unten womöglich das Leben retten konnte. Manche Fehler waren leicht vermeidbar. Wenn sie ihn an Bord bringen ließ und er sich als die Gefahr entpuppte, die sie fürchtete …

Andererseits, wenn sie ihn sterben ließe …

„Na gut.“ Die Worte platzten aus ihr heraus, ohne dass sie es wollte. Wahrscheinlich hatte ihr Magen sie ausgespuckt. „Zieht ihn hoch! Wenn es nur das geringste Zeichen einer Krankheit gibt, wenn es überhaupt …“ Doch Millicent hatte sich schon umgedreht und flog beinahe die Stufen herab, um Katherines Anweisung weiterzugeben.

Katherine Kidd, allerdings. Sie atmete tief ein und versuchte, die zitternden Hände ruhig zu halten. Ihr Magen fühlte sich schon besser an, doch das sollte er eigentlich nicht. Auch wenn der Mann gesund war, konnte er ihnen Schwierigkeiten bereiten.

In dem Fall würde er die Reise in Ketten verbringen.

Allein auf dem Oberdeck, hielt sie sich das Fernrohr ans Auge und richtete es vorsichtig nach unten. Ein eindrucksvolles Gesicht rückte in ihr Blickfeld, zum Greifen nah vor der Linse. Ihr Unterleib zog sich plötzlich zusammen. Die Haut des Mannes musste früher dunkel gewesen sein, doch nun ließ ihn die Blässe nahezu geisterhaft erscheinen. Eine starke, perfekt geformte Nase erhob sich aus einem kantigen Gesicht mit scharfen Wangenknochen. Nasse schwarze Wimpern lagen über dunklen Augenringen. Sein Kiefer hing schlaff herunter. Dunkle Bartstoppeln verbargen beinahe einen schmalen Oberlippenbart über den geschlossenen Lippen. Die nassen Haare – schwarz, wellig und mit einigen silbrigen Strähnen durchzogen – klebten ihm eng am Kopf.

Einen langen, hypnotischen Moment lang bestand die Welt nur aus ihm.

Dann hob sich das Schiff unter einer Welle und entzog ihn ihrem Blick. Sie atmete scharf ein und senkte das Glas. Es war bestimmt zu spät. Er lag regungslos auf den Brettern, die ihn trugen. Durchs Fernrohr hatte sie keine Bewegung mehr gesehen.

Rafiks kurze Rufe klangen von unten herauf, während die Besatzung die Netze auswarf und hinunterkraxelte. Katherine hielt den Atem an, als mehrere Männer der Besatzung den Mann von seinem Floß hochzuheben versuchten, doch nichts weiter bewirkten, als es beinahe zum Kentern zu bringen. Sie riefen nach einer Spiere, und bald hatte die Besatzung an Deck eine Schlinge gemacht und ließ sie herunter. Nach wenigen Minuten zogen sie die reglose, nasse Gestalt hoch.

Rasch ging Kat zum Achterdeck, dann zum Hauptdeck und erreichte es in dem Moment, als sie den Unbekannten an Bord hievten. Einige Besatzungsmitglieder versammelten sich um seine Retter. „Macht ihnen Platz!“, befahl sie, und die Zuschauer traten sofort zurück. „Lebt er noch?“

„Jedenfalls hat er vor einer halben Stunde noch gelebt“, sagte India frech und drückte sich an ihr vorbei, um die Schlinge zu entfernen. Der blonde Zopf hing ihr wie ein Tau über die Schulter, als sie geschickt die Knoten löste. Rafik schnitt Hemd und Hose des Mannes auf, während zwei Seeleute ihn mit frischem Süßwasser aus ihren Putzeimern begossen. Jetzt gab Millicent die Befehle. Sie scheuchte jeden weg, der nicht damit beschäftigt war, den Fremden abzuspülen.

„Phil ist losgegangen, um Tücher zu holen.“ William stellte sich neben Katherine.

Nach einigen Minuten rief Millicent über die Schulter hinweg: „Er lebt!“

Katherine atmete aus.

Der Mann lag nackt mit dem Gesicht nach unten auf dem Deck, während sie fortfuhren, ihn abzuduschen, bis Millicent sicher war, dass kein Salz mehr übrig war. Phil kehrte mit zwei Bahnen Leinen zurück und kniete sich an seine Seite.

Was für lange Beine. Muskulös. Katherine ließ den Blick über sein strammes Hinterteil und den breiten Rücken bis zu seinen Schultern wandern.

„Ein Bild von einem Mann“, schnurrte Phil und trocknete ihn vorsichtig ab.

India schnaubte und riss ihr eins der Handtücher aus der Hand. „Tantchen Phil, er ist fast ein Greis!“

Phil lachte über die Nichte. „In deinen Augen ist jeder Mann über fünfundzwanzig ein Greis.“

„So ist es.“ Die achtzehnjährige India lächelte spitzbübisch unter der Krempe ihres Dreispitzes hervor.

Millicent drehte den Mann herum, enthüllte ein kleines Büschel dunkler Brusthaare, einen muskulösen Bauch und …

Katherine sah weg, direkt in Williams lachende Augen.

„Ich wette, du schlägst dich dieses Mal auf Phils Seite“, sagte er.

„Er wird Kleidung brauchen“, sagte sie scharf. „Etwas von dir sollte genügen.“

William beugte sich vor und senkte die Stimme zu einem spottenden Flüstern: „Bist du sicher? Weil ich gerade den Eindruck hatte, er wäre dir ohne lieber.“

„Der Teufel soll dich holen! Du bist genauso schlimm wie Phil!“

„Das habe ich gehört“, rief diese. „Und ich nehme es dir außerordentlich übel.“

Doch mit einem hatte Phil absolut recht. Der Mann war alles andere als ein Greis. Was er durchgemacht haben musste, hatte ihn fast umgebracht, doch er wirkte stark, und er war groß. Eindrucksvoll. „Ich will nicht, dass er auf die Krankenstation kommt“, sagte sie leise zu William. „Das ist zu nah bei der Besatzung. Wir können Andrés Kabine ausräumen und ihn dort unterbringen. Aber in der Zwischenzeit …“, sie zögerte kurz, „… stecken wir ihn in meine Kabine.“

Wie erwartet schossen Williams Augenbrauen in die Höhe.

„Ein Wort, und du machst Bekanntschaft mit der Spitze meines Entermessers“, presste sie hervor. Doch die Drohung hatte keine Wirkung, wie Williams amüsierte Miene zeigte. „Sobald er untersucht worden ist, gehen alle wieder ihren Pflichten nach, oder ich werde sie züchtigen lassen.“

„Captain Neunschwänzige Katze.“

„Wenn die Lage es erfordert.“ Doch sie wussten beide, dass sie keines der Instrumente besaß, mit denen sich solcherlei Strafen vollziehen ließen. Wenn es um gutes Benehmen ging, so waren vernünftiges Essen, eine anständige Heuer und Lob entschieden wirkungsvoller. „Das Glück war ihm heute hold“, sagte sie ein wenig zu scharf. „Wir werden sehen, ob sich das ändert, wenn er wieder zu sich kommt.“ Sie blickte noch einmal auf den Unbekannten – noch jemand, für den sie nun verantwortlich war. Der Mann war attraktiv, zu attraktiv – mit nahezu aristokratischen Zügen und dem eckigen Kinn eines Sturkopfs.

„Wir könnten ein weiteres Besatzungsmitglied brauchen“, meinte Phil.

„Nur allzu wahr“, stimmte William ihr zu. „Doch bisher wissen wir nicht, ob er seinen Schwanz von einem Bugspriet unterscheiden kann.“

In diesem Moment öffnete der Mann die Augen und sah geradewegs Katherine an. Sein bohrender Blick war so grün wie eine Welle im Mittelmeer, durch die Sonnenstrahlen hindurchschimmerten. Etwas Heißes und Flüssiges und Unerwartetes brandete durch ihren Körper, und ein Schauder lief über ihren Rücken.

Er kannte den Unterschied. Darauf würde sie wetten.

3. KAPITEL

James wälzte sich unruhig unter dem kühlen Leinen.

Er ertrank, wurde unter das schwarze Wasser gezerrt, von einer kalten Taubheit eingesogen. Holz splitterte. Krachte. Ein Balken schoss aus dem Wasser, James machte einen verzweifelten Sprung, suchte Halt.

Das Holz verwandelte sich unter seinen Händen zu Fleisch. Aus Kälte wurde Hitze, aus dem Wasser wurde eine Frau. Die Wellen kräuselten und glätteten sich, brachen und wurden zu einer schwarzbraunen Haarmähne, die sich in seinen Händen wie Seide anfühlte. Sie schlang ihren Körper um den seinen, verschlang ihn. Er keuchte und schmeckte die unbändige See auf ihrer Haut.

Von irgendwo weit weg drang eine sinnlich klingende Stimme in seine Träume.

„… und hast du versucht, mit ihm zu schlafen, während er bewusstlos ist? Natürlich nicht.“

„Du hast mich schwer beleidigt, Katherine. Ich habe keine Lust mehr auf Affären. Langweilig. Außerdem könnte er weiß Gott wer sein.“

Die Stimmen drohten ihn mit sich zu reißen. Er bemühte sich, die Frau in seinem Traum am Leben zu erhalten. Doch sie begann zu verschwinden, entschlüpfte ihm.

Die Stimmen drangen nun lauter zu ihm durch. „Im Moment ist er unser Gefangener, Philomena.“

„Ehrlich gesagt, rechtfertigt er einen solchen Status kaum.“

Eine Tür wurde geschlossen. Schritte auf Holz. Er erwachte, als kämpfe er noch immer gegen die brodelnde See.

„Ebenso wenig rechtfertigt er einen anderen. Hilf mir, ihm das Hemd anzuziehen, bevor er aufwacht.“

Er schlug die Augen auf und sah eine himmelblaue, mit goldenen Schnörkeln verzierte Decke. Seidig glänzendes walnussbraunes Haar quoll unter einem ockerfarbenen Tuch mit schimmernden Fäden darin hervor, das sie sich als provisorischen Turban um den Kopf gewickelt hatte, und fiel ihr hinab bis zu den Hüften. Hohe Wangenknochen. Eine gerade, schön geformte Nase. Das Profil einer Statue, vom Licht, das aus einer kleinen Reihe Fenster fiel, perfekt ausgeleuchtet. Die Fenster – das erkannte er jetzt – gehörten zu einem Schiff.

Er war an Bord eines Schiffes. In der Kabine des Captains.

„Katherine, sieh!“

Sie wandte ihm das Gesicht zu. Sein Blick traf topasblaue Augen. Sein Puls ging schneller, er versuchte, nachzudenken. Sich zu erinnern. Er versuchte, sich über die Lippen zu lecken, doch sein Mund war staubtrocken.

Jemand anders schob sich in sein Blickfeld, eine andere Schönheit mit braunen Locken und großen blauen Augen. Er spürte eine Hand unter dem Kopf, die ihn etwas hochhob, und ein Glas, das gegen seine Lippen gedrückt wurde. Kaltes Wasser ergoss sich auf seine Zunge, und er bemühte sich, zu schlucken, doch die vermaledeite Frau zog das Glas weg.

„Nicht so schnell“, gurrte sie, und das Glas kehrte zurück. „Vorsichtig jetzt. Nur ein wenig.“

Er schluckte und schluckte noch einmal, bevor sie das Glas wegzog.

„Mehr.“ Seine Stimme krächzte. Das Schiff rollte und knarrte, wälzte sich in den Wellen. Und plötzlich erinnerte er sich. Ein Sturm. Ein Wrack. Tagelang auf den Meereswellen treibend.

Eine rote Flagge mit einem gelben Arm.

„Sie sprechen Englisch“, stellte die Betörendere der beiden fest. Er sah, dass sie den Mund bewegte, konnte fast die üppigen Lippen schmecken, als sei sie die Frau aus seinem Traum.

„Aye.“ Er wendete den Blick ab, um ihn dann doch zu ihren Brüsten schweifen zu lassen, die mit maurischen Stoffen in leuchtenden Farben bedeckt waren. Eine blaue, mit silbernen Fäden durchwirkte Jacke reichte bis zu den Hüften, darunter trug sie ein Hemd und fließende Hosen in einem helleren Blau. In einer roten Schärpe, die um ihre Taille geschlungen war, schimmerte ein Entermesser.

Das Bild ihres Körpers brannte in seiner Fantasie, als sei sie nackt.

„Sind Sie ein Mann der Krone?“, wollte sie wissen.

„Aye.“ Unter den Leintüchern hielt der Trottel zwischen seinen Beinen stur an seinem Traum fest. Er war nackt. Und angekettet, wie er bemerkte, als er nach dem Glas greifen wollte. Schwere Kettenglieder klirrten gegen das Bett, eiserne Fesseln hielten seine Gelenke an Ort und Stelle. „Ist das notwendig?“, fragte er mit rauer Stimme.

„Ich möchte wissen, wer Sie sind“, gab sie zurück. „Ihren Namen. Woher Sie kommen. Waren Sie an Bord eines Schiffes?“

„Lass ihn erst trinken“, riet die andere und bot ihm noch einmal das Glas an. Sie betrachtete ihn neugierig, als er einen Schluck nahm. „Später gibt es Brühe, und wenn Sie so weit sind, etwas Brot zum Eintunken.“

Die Neuigkeit ließ seinen Magen knurren. Wenn die Aussicht auf eine so einfache Mahlzeit ihn hungrig machte, dann musste er sehr lange auf See getrieben sein. Schon die Hoffnung auf Essen bändigte das Verlangen, das ihn immer noch im Griff hatte.

Sein Name. Seine Herkunft. Natürlich. Sein Gehirn brannte, als bewege es sich durch zähen Matsch, während er nach einer falschen Identität suchte. „Thomas Barclay.“ Die Lüge glitt ihm rau von der Zunge. „Ich war an Bord des Kriegsschiffes Henry’s Cross. Es ging unter …“ Er schluckte. Sein Mund war schon wieder trocken. „Nordwestlich von Gibraltar. Bei Cadiz.“ Letzteres war immerhin wahr.

„Wann?“

„Am zehnten April.“

„Vor vier Tagen“, sagte sie zu ihrer Begleiterin. „Die Strömung muss ihn durch die Meerenge gezogen haben.“

„Wo sind wir?“, brachte er heraus.

„Wir ankern östlich von Gibraltar und warten darauf, dass die Bedingungen eine Durchfahrt durch die Meerenge zulassen. Sie sind an Bord der Brigg Possession, und ich bin …“

„Die Korsarin Katherine.“ Die Ironie der Situation bahnte sich ihren Weg durch den Nebel in seinem Kopf. Drei Jahre lang ständige nervenaufreibende Befehle, um dem ein Ende zu machen, was die Admiralität „ihre fragwürdigen Aktivitäten auf See“ nannte, und nun landete er ausgerechnet hier. Er musste sie nur noch darüber informieren, dass ihr Schiff jetzt der Krone gehörte, und den Sieg feiern.

Sie kniff die topasblauen Augen zusammen und setzte die Andeutung eines Lächelns auf. „Sie dürfen mich Captain Kinloch nennen“, sagte sie mit einer verführerischen, schmeichelnden Stimme.

Ihn packte erneut das Verlangen.

Diese Begierde war nicht hinnehmbar. Er musste die Kontrolle über seinen Körper zurückerlangen, doch er war so schwach, dass er nicht einmal den Kopf selbst heben konnte. Jedenfalls nicht den, der genau wusste, dass mit Korsarin Katherine, seit dem Tode ihres Vaters vor sechs Monaten auch Gräfin des schottischen Adelssitzes Dunscore, nicht zu scherzen war.

Die Dame neben ihr lachte. „Sehr eindrucksvoll, sich einen solch schlechten Ruf erworben zu haben, Katherine. Ich finde, du solltest den Gebrauch dieser Bezeichnung bestrafen.“ Die schöne Begleiterin war gewiss die skandalumwitterte junge Witwe Philomena, Gräfin von Pennington. Und irgendwo an Bord befand sich die Nichte der Gräfin, Lady India, die Tochter des Earls of Cantwell. Die Geschichte ihrer Rettung war legendär: während einer unglücklichen Reise nach Ägypten von maurischen Korsaren gefangen genommen und unmittelbar darauf befreit, nachdem die Possession das räuberische Schiff erobert hatte.

Captain Kinloch kreuzte die Arme vor der Brust und betrachtete ihn abwägend. „Die Henry’s Cross“, sagte sie nachdenklich. „Unter dem Kommando von Captain James Warre?“

Dass sie seinen Namen aussprach, überraschte ihn. „Aye.“

Ihre Lippen kräuselten sich. „Dann haben Sie es wahrhaftig mit außerordentlichen Umständen zu tun gehabt. Was war Ihr Rang?“

Außerordentlichen Umständen? „Fähnrich.“

„Fähnrich? Dafür sind Sie zu alt.“

Zur Hölle! Der wirkliche Thomas Barclay war natürlich im richtigen Alter gewesen. „Ich wurde … degradiert. Probleme mit dem Captain.“ Es kostete ihn seine ganze Kraft, ihrem Blick standzuhalten.

„Mit Captain Warre? Was für Probleme?“, wollte sie wissen.

„Alle möglichen.“ Der Teufel sollte sie holen, er konnte kaum denken.

„Ich will Einzelheiten wissen.“

Verdammtes Weib! „Es war … ein Missverständnis“, krächzte er.

Im Handumdrehen hatte sie ihr Entermesser gezogen und hielt es ihm an den Hals, während sie sich über ihn beugte. „Welche Sorte Missverständnis?“ Die topasblauen Augen funkelten, und ihre Haarspitzen berührten seine Brust.

Sein Körper reagierte, als habe sie seine Hüften gestreichelt.

„Katherine“, sagte Lady Pennington warnend.

„Befehlsverweigerung“, brachte James zwischen zusammengepressten Zähnen heraus. Er kannte Männer, die für diese Art Behandlung Geld zahlten, doch – verdammt! – er war nicht diese Sorte Mann. „Ich bin dafür bekannt, Schwierigkeiten mit Autoritäten zu haben.“ Ein weiteres Körnchen Wahrheit.

„Und Captain Warre hat Sie dennoch an seiner Seite dienen lassen? Der gute Captain muss Sie sehr gemocht haben.“ Der Druck der Klinge verstärkte sich ein wenig. „Hören Sie mir gut zu, Mr Barclay. Wenn Sie lebend am Ziel unserer Reise ankommen möchten, werden Sie gehorchen.“

„Sie würden einen Engländer nicht umbringen“, sagte er leise. Gott, er brauchte mehr Wasser.

Ihre Lippen verzogen sich zu einem drohenden und doch verführerischen Lächeln. „Einen Engländer, der allem Anschein nach auf See verschollen ist.“

Mit Blicken fochten sie einen stillen Kampf aus. Doch ihre Klinge lag kalt auf seinem Hals, und ihre Ketten fesselten seine Hände. „Ich versichere Sie meines allergrößten Respekts“, sagte er und zwang sich zu einem halben Lächeln. „Captain.“

Wenn Thomas Barclays allergrößter Respekt ein ständiges Strammstehen seines männlichen Organs bedeutete, würde ihm die Reise vermutlich äußerst lang vorkommen. „Das ist nicht akzeptabel“, schnaubte Katherine, stürmte in die große Kabine und ahnte schon, was Philomena sagen würde.

„Ich würde meinen, die Situation gefällt ihm.“ Phils Stimme klang amüsiert. „Ich nehme nicht an, dass dir aufgefallen ist …“

„Es ist mir aufgefallen!“

„Was genau ist dir aufgefallen?“ William schaute von den Karten auf, die vor ihm auf dem Tisch ausgebreitet waren. Anne saß im Licht eines Sonnenstrahls auf dem Boden und wedelte mit einem Stück Schnur herum, nach dem Mr Bogles schnappen sollte.

„Nicht so wichtig“, beeilte sich Katherine zu sagen. „Es war nichts.“ Der Druck, den sie vorhin im Unterleib gespürt hatte, war inzwischen in ihren Kopf gewandert. Sie brauchte einen Schluck Wein! Diese verfluchten Morgenstunden! Mürrisch ging sie hinüber zum Schrank und goss sich einen kleinen Schuss ein. Er war dem Tode nicht so nahe gewesen, wie sie geglaubt hatten.

Sie hob das Glas an die Lippen und schmeckte eine Mischung aus Schuld und Zorn. Zwar hatte sie sich geirrt, was seine körperliche Verfassung anging, aber nicht hinsichtlich seines Temperamentes.

Phil setzte sich auf einen der gedrungenen Stühle am Tisch. „Oh, ich würde es nicht ‚nichts‘ nennen. Es reicht, zu sagen, dass unser Gast sehr … erfreut zu sein schien, Katherine zu begegnen.“

William zog amüsiert die Brauen hoch. „Oh.“

Das war also der Lohn für ihr Mitgefühl, dachte Katherine. Barclay war ebenso wenig ein Fähnrich auf der Henry’s Cross gewesen wie sie ein Schiffsjunge auf der Possession war. Sehr viel wahrscheinlicher ein Offizier, ein ranghoher dazu. Die Lüge stand ihm ins Gesicht geschrieben. In einer besseren körperlichen Verfassung wäre es ihm sicher gelungen, die Wahrheit vor ihr zu verbergen.

Sein allergrößter Respekt! Sogar mit der Klinge am Hals hatte er sie herausfordernd angesehen.

„Hat er sich erholt, Mama?“, fragte Anne.

„Noch nicht ganz, Liebes“, erwiderte Katherine. „Er ist immer noch sehr schwach. Er hat lange weder gegessen noch getrunken.“ Er schien schwach, und dennoch strahlte jede Faser seines Wesens Autorität aus, ihr Blut summte immer noch davon. So ein Mann tat sich allerdings mit Vorgesetzten schwer. Selbst ein so skrupelloser Captain wie James Warre musste um seine Autorität gefürchtet haben.

Und das war der Grund, warum sie Thomas Barclay besser dem Meer hätte überlassen sollen.

Sorgenfalten furchten Annes runde Stirn. „Darf ich hingehen und seine Hand halten?“ Das Garnknäuel fiel ihr aus der Hand und rollte davon, als das Schiff schwankte.

Katherine setzte rasch ihr Glas ab, um es zu holen. Dieses Mal ignorierte sie, dass sie Anne in solchen Fällen besser nicht helfen sollte.

„Mein kleiner Mitleidsengel“, sagte sie und drückte das Knäuel in Annes kleine Hände, während das Kind, das seit einem Fieberanfall vor drei Jahren blind war, die Augen auf eine Stelle in der Nähe von Katherines Schulter richtete. „Jetzt noch nicht. Wir wissen zu wenig von ihm.“ Niemals würde sie das zulassen. Wahrlich, sie wussten genug. Sie würde es Anne nie im Leben erlauben, sich in einem Raum mit diesem Monster aufzuhalten. Katherines Schläfen schmerzten, als sie Annes Haar aus dem kleinen Gesicht strich.

„Aber er leidet, Mama.“

Leiden war vielleicht das falsche Wort. „Es geht ihm jetzt schon viel besser. Du musst dir keine Sorgen machen.“ Anne würde nicht den Preis für Katherines Fehleinschätzung zahlen, nicht noch einmal. „Sei ein gutes Mädchen und bring Mr Bogles für eine Weile in Williams Kabine. Du kannst ihm ein Lied auf deinem Glockenspiel vorspielen. Bist du hungrig? Ich kann den Koch mit etwas kesra zu dir schicken.“ Anne liebte das warme, weiche Fladenbrot.

„Ja, bitte, Mama.“ Anne stand mit dem Garnknäuel in der Hand auf und suchte sich auf die oft geübte Weise ihren Weg aus der Kabine: indem sie erst an den einen, dann an den anderen Stuhl griff, den Tisch an der Seite und schließlich den Türpfosten berührte, während Mr Bogles ihr in den Gang folgte. Katherine widerstand dem Drang, ihrer Tochter zu helfen. Der Druck auf ihren Schläfen verstärkte sich.

Hol’s der Teufel, für Kopfschmerzen war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt! Sie musste sich überlegen, was sie mit dem aufsässigen Kerl in ihrem Bett tun sollte.

„Muss ich ihn erstechen?“, fragte William, als Anne gegangen war.

Phil lachte. „Katherine hätte das beinahe schon selbst erledigt. Ich habe befürchtet, sie schneidet ihm die Kehle durch.“

„Er muss lernen, seine Vorgesetzten zu achten“, sagte Katherine und ging zum Kartentisch, um selbst einen Blick darauf zu werfen, „oder er wird sehen, was er davon hat.“

„Nun, du hattest immerhin Achtung vor einem Teil von ihm.“

„Aha.“ William lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Ein Mann hat diese Dinge nicht immer unter Kontrolle, weißt du? Armer Kerl! Angesicht zu Angesicht mit den beiden schönsten und mächtigsten Frauen auf dem Meer … Er konnte gar nicht anders, als sich zu blamieren. Hast du etwas herausgefunden?“

Thomas Barclay würde diese Reise auf keinen Fall gefährden. Vorher würde sie ihn umbringen. „Er hat den Untergang der Henry’s Cross vor Cadiz überlebt“, sagte Katherine. „Ein Fähnrich, von Captain Warre wegen Befehlsverweigerung degradiert. Jedenfalls hat er das gesagt. Scheint so, als habe dein Freund ihn glimpflich davonkommen lassen.“

„Auf dem benachbarten Grundbesitz aufzuwachsen macht aus James Warre noch lange keinen Freund. Die Henry’s Cross ist gesunken? Gott, unvorstellbar!“

„Wie es aussieht, haben Warres Kanonen gegen die Natur weniger ausrichten können als gegen Holz und Segel.“ Sie erinnerte sich: Als die Korsaren vor zehn Jahren die Merry Sea kaperten und Katherine gefangen nahmen, hatte sie geglaubt, Captain Warre würde sie befreien. Doch der hatte sich nicht die Bohne dafür interessiert, jemanden zu retten. Seine Kanonen hatten die Merry Sea und eine der Schebecken der Korsaren versenkt, während die andere Schebecke mit Katherine – gefesselt und geknebelt im Laderaum – entkommen war. Zweifelsohne hätte er auch dieses Schiff versenkt, hätte er gekonnt. „Wie schade, dass nicht der gute Captain selbst gegen unser Schiff geschwemmt wurde“, fügte sie hinzu. „Ich hätte es ausgesprochen reizvoll gefunden, ihm endlich zu begegnen.“

„Ha!“ Phil beugte sich vor. „Sehr wahrscheinlich hättest du ihm die Kehle durchgeschnitten, und was wäre dann nach deiner Rückkehr passiert? Du würdest mit einem Seil um den Hals irgendwo baumeln.“

Nach ihrer Rückkehr würde sie gewiss irgendwo baumeln – und zwar an Nicholas Warres Gesetz der Schmerzen und Strafmaßnahmen. Das Oberhaus konnte ihr Dunscore entziehen, bevor sie auch nur einen Fuß in das alte Gemäuer setzen konnte. Cousin Holliswell würde mit Vergnügen den Titel übernehmen, und sie hätte ein weiteres Mal gegenüber Anne versagt.

Nein, das würde nicht geschehen. Nicht, wenn Katherine in dieser Angelegenheit ein Wörtchen mitzureden hatte.

„Der arme Kerl muss Höllenqualen erlitten haben.“ William stand auf. „Ich gehe mal rüber und rede mit ihm. Wahrscheinlich fragt er sich inzwischen, ob er vielleicht der einzige Mann an Bord ist.“

„Versichere ihm, dass wir ab jetzt für sein Wohlergehen sorgen werden“, warf Phil ein.

William lachte. „Ich warte immer noch darauf, dass du dich um mein Wohlergehen sorgst, Philomena.“

„Wenn der Moment gekommen ist, an dem ich so verzweifelt bin, dass ich es nicht länger ertrage, werde ich es dich wissen lassen.“

Zwischen den beiden war nichts, doch William fand Vergnügen daran, so zu tun, als sei es anders.

„Ich möchte nicht, dass du dich mit dem Gefangenen anfreundest“, rief ihm Katherine nach.

„Natürlich nicht.“ Er grinste sie von der Türschwelle aus an. „Ich will nur seine Fesseln enger schnallen, um den Blutkreislauf herabzusetzen und so. Das könnte das Problem für die nächste Zeit lösen.“

Für die nächste Zeit. Um Gottes willen! „Mein Bett, ein Himmel für Perverse“, murmelte sie und rief William nach: „Sieh zu, was du tun kannst!“

„Fesseln sind nicht wirklich pervers“, meinte Phil, nachdem William gegangen war. „Wenn du nicht willst, dass er an dein Bett gefesselt ist, gestatte ich mit Vergnügen, dass du ihn an meins ketten kannst. Selbst in seinem bedauernswürdigen Zustand hat er mehr Männlichkeit in seinem kleinen Finger als die meisten Männer in ihrem …“

„Es reicht! Sobald wir die Meerenge passiert haben, wird er an niemandes Bett gekettet sein.“

In diesem Moment stürmte India in die Kabine. „Millicent sagt, sie hofft, wir werden in der Meerenge von Piraten aufgebracht.“

„Millicent hat sie nicht mehr alle“, Phil schnaufte. „Glaubt sie etwa, die würden sie nach Malta zurückbringen?“

„Sie ist nur wütend.“ India ließ sich am Tisch nieder. Der dunkle Mantel, den sie so sehr mochte, klaffte an den Hüften auseinander und offenbarte eine schimmernde Pistole, ihren liebsten Besitz.

„Eines Tages wird sie Katherine dankbar sein“, sagte Phil.

Katherine bezweifelte das; nicht, nachdem sie sich eines Tricks bedient hatte, um Millicent dazu zu bringen, mit ihnen nach England zurückzukehren. Millicent hatte gerade ihren Plan in die Tat umgesetzt, in der Maltesischen Schule für Anatomie und Chirurgie aufgenommen zu werden, indem sie sich als junger Mann ausgab. Sehr wahrscheinlich wäre die Wahrheit ans Licht gekommen. Sie wäre aus der Schule geworfen worden und hätte sich auf Malta allein durchschlagen müssen. Katherine wollte dafür nicht verantwortlich sein.

„Wir lichten heute Nacht die Anker“, meinte Katherine.

Auf Indias Gesicht erschien ein Lächeln. „Stell dir bloß vor, wie berüchtigt wir in London sein werden.“

„Stell dir bloß vor, wie ruiniert dein Ruf sein wird“, erwiderte Katherine. Der Gedanke an ihre Rückkehr nach England ließ jeden Nerv in ihrem Körper rebellisch werden. Die Gesellschaft würde weder sie noch Anne aufnehmen. Alle Gründe, weswegen sie ihre Heimat nach der Flucht aus Algier gemieden hatte, existierten weiterhin. Alle, außer einem.

Wenn du erst einmal Gräfin von Dunscore bist, Katie …

Innerlich schlug sie die Tür hinter den alten, vertrauten Worten ihres Vaters zu. Dunscore bedeutete ihr nichts – abgesehen von der finanziellen Sicherheit, die es Anne bot.

India schüttelte hochmütig den Kopf und schaffte es irgendwie, trotz des albernen Dreispitzes majestätisch auszusehen. „Ich bin die Tochter eines Earls, immer in Begleitung gereist und immer noch Jungfrau“, sagte sie. „Ich bin nicht ruiniert, nur weit herumgekommen.“

Katherine sah Phil an. Das Leben an Bord der Possession würde kaum als Reise betrachtet werden.

„Wie geht es dem Schiffbrüchigen?“, wollte India wissen.

„Keine Jungfrau mehr, würde ich sagen“, antwortete Phil anzüglich.

„Igitt!“ India verzog das Gesicht und hielt sich die Ohren zu. „Tantchen Phil, du bist unmöglich! Ich wette, er ist mindestens fünfzig!“

„Bestimmt nicht.“ Phils blaue Augen blitzten wie die See an einem klaren Tag. „Was meinst du, Katherine? Fünfzig?“

„Dieses Urteil überlasse ich dir. Du bist die Expertin.“ Eher fünfunddreißig oder vierzig, würde sie sagen. Das schien auch Phil anzunehmen, ihrem Lächeln nach zu urteilen. Von allen Gefahren, über die sie nachgedacht hatte, war diese hier am leichtesten zu umschiffen. Sobald sich Mr Barclay erholt hatte, würde sie ihn entweder wegsperren lassen oder unter den Befehl des Bootsmannes stellen.

So oder so würden Mr Barclay und seine Männlichkeit bald verschwunden sein. Aus den Augen, aus dem Sinn.

4. KAPITEL

Mannomann, James.“ Das Geräusch der Tür und der vertrauten Stimme weckten James aus seinem leichten Schlaf. „Klingt, als könntest du es vertragen, noch einmal untergetaucht zu werden, am besten in arktischen Gewässern. Du hast die Damen in helle Aufregung versetzt.“

Ein blonder, blauäugiger Korsar grinste auf ihn hinab. James betrachtete den Turban, die goldenen Ohrringe und die gebauschten Hosen. „Grundgütiger, Jaxbury?“ Er war erleichtert. „Ich hab dich nicht mehr gesehen, seit …“ Sein Gehirn arbeitete fieberhaft, um sich zu erinnern. „Herrje, seit damals in Marseille.“ Und davor nicht mehr seit ihrer Kindheit.

„Ah, Marseille. Guter Wein, noch bessere Frauen.“ Jaxbury zog einen kleinen Stuhl näher ans Bett, drehte ihn um und setzte sich rittlings darauf. „Wir hatten verdammt viel Spaß. Ich muss eine Menge … Ich kann mich kaum erinnern.“

„Ich hatte keine Ahnung, dass du …“, James atmete tief ein, „… dich mit Korsarin Kate zusammengetan hast.“

„Du solltest sie in ihrer Gegenwart besser nicht so nennen.“ Jaxbury lachte. „Es würde nicht gut enden. Natürlich hast du nichts davon gehört. Diejenigen unter uns an Bord, die dem männlichen Geschlecht angehören, sind nicht die Hauptfiguren wilder Geschichten. Über uns gibt es nichts Interessantes zu berichten.“

James versuchte, die Hand zu heben, wurde aber von seinen Fesseln gebremst. „Ich nehme an, du bist nicht gekommen, um mir diese Dinger abzunehmen.“

Jaxbury schüttelte den Kopf. „Sei froh, wenn du nicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag darin verbringst – nach der Schau, die du vor den Damen abgezogen hast.“

Verdammt!

„Du musst dir keine Sorgen machen“, versicherte Jaxbury. „Schlechter Zustand, da hat man nun mal einige Dinge kaum unter Kontrolle. Mir musst du’s nicht erklären, alter Junge. Ich warne dich trotzdem … Phil hatte seit zwei Jahren keine Liebesaffäre mehr, und sie ist inzwischen verdammt ruhelos.“

James sah zur himmelblauen Decke hinauf. „Das ist ein beschissener Albtraum!“

„Wirklich? Ich kann mir jede Menge Männer vorstellen, die die Situation zu ihrem Vorteil nutzen würden. Bei Katherine wird das natürlich nicht klappen, und ich müsste dich umbringen, wenn du’s bei ihr versuchst, versteht sich“, sagte Jaxbury im Plauderton. „Aber, Phil … du würdest allen einen Riesengefallen tun.“

„Bist du mit ihr …“

„Um Gottes willen, nein! Sie ist für mich wie eine Schwester.“

Eine Schwester. Nur ein Toter oder ein Blutsverwandter konnte Captain Kinloch ansehen und brüderlich für sie empfinden. Seine Zweifel standen James wohl ins Gesicht geschrieben, denn Jaxbury lachte. „Du würdest dasselbe empfinden, wenn du ihr bei der Geburt ihres Kindes geholfen hättest.“

Ihres Kindes?

Jaxbury verzog das Gesicht. „Extrem unappetitlich! Und gleichzeitig ein verdammtes Wunder! Seitdem sehe ich sie mit anderen Augen. Sie könnte ebenso gut die Jungfrau Maria sein.“

„Also hast du ihr nicht gesagt, wer ich bin?“ Doch noch immer spukte ihm Jaxburys Enthüllung im Kopf herum. Captain Kinloch hatte ein Kind. Wessen Kind?

„Ich wollte nicht, dass dein Blut an meinen Händen klebt. Ich warne dich einfach: Sie hegt keinerlei Zuneigung für dich.“

Und James wusste auch, warum. Selbst zehn Jahre später war das Bild der Schebecken der Piraten, die das britische Handelsschiff aufbrachten, so lebendig, als sei es gestern gewesen. Er hätte alles in seiner Macht Stehende getan, um es zu retten, wohl wissend, was im Fall eines Piratensieges mit denjenigen an Bord geschehen würde. Hätte er gewonnen, hätte er auch Katherine Kinloch retten können.

„Tut mir sehr leid wegen der Henry’s Cross“, sagte Jaxbury ernst. „Tragisch.“

Die Trauer schnürte James die Brust zusammen. Der Gedanke an das sinkende Schiff umschwirrte ihn wie eine Fliege; er erinnerte sich an den grauenhaften Moment: riesige nächtliche Wellen, berstendes Holz, und die unbesiegbare Henry’s Cross war untergegangen wie zu schweres Treibgut. Hatte auch nur einer seiner Männer überlebt? Er wusste es nicht. „Wir waren auf dem Weg zurück nach England“, schaffte er zu sagen. Und es wäre seine letzte Reise geworden. Sobald seine Füße Land berührten, hatte er unverzüglich zur Admiralität zu gehen und seinen Rücktritt anbieten wollen.

„Du hast in dieser Beziehung echt Glück“, meinte Jaxbury. „Wir segeln auch nach England.“

„England!“ Er stieß das Wort zu kraftvoll hervor und musste husten.

Jaxbury füllte den Becher, den er ihm hinhielt. Unter seiner Tunika lugte eine zweireihige Kette aus nicht zusammenpassenden Perlen hervor. „Aye. Der Captain hat in Schottland Geschäfte zu erledigen. Du weißt sicher, dass sich ihre gesellschaftliche Position verändert hat.“

James schaffte es, einen Schluck Wasser zu trinken, und nickte knapp. „Nichts bringt einen Menschen so rasch dazu, nach Hause zurückzukehren …“ Er hustete wieder und atmete tief ein. „… wie ein Titel.“ Bei ihm hatte das allerdings nicht funktioniert.

Jaxbury beugte sich vor, er sah nun ausgesprochen ernst aus.

James hätte nie geglaubt, dass sein unbekümmerter Freund aus Kindertagen dazu in der Lage wäre.

„Versuch gar nicht erst, sie zu verstehen.“

„Ich werde mich hüten.“ Gott, sie konnten England gar nicht früh genug erreichen. Vielleicht würde er keine Nacht in London verbringen, sondern sich direkt nach Croston Hall wenden. Je früher er sich mit allen Flaschen Cognac, die in Croston lagerten, in der Bibliothek einschloss, desto früher konnte er vergessen, wie sehr er das Meer einst geliebt hatte und dass sein Leben irgendwann im vergangenen Jahr – oder in den vergangenen zwei oder drei Jahren – grau und eintönig geworden war.

Vielleicht sollte er sich einen Monat lang hemmungslos betrinken.

„Katherine ist als Erstes und vor allem Captain“, fuhr Jaxbury fort, „und das solltest du am besten auch nicht vergessen, bis wir in London angekommen sind.“

„Ich weiß nicht einmal, wie ich das vergessen könnte.“ Er stellte sich eine Reise in Ketten vor und malte sich aus, was wohl passieren würde, wenn er Captain Kinloch seine Identität verriete. Doch seine Identität war die einzige Waffe, die er besaß, und es wäre nicht schlau, diese Karte zu früh auszuspielen.

„Und täusche dich nicht, sie ist ein verdammt guter. Ich hab ihr alles beigebracht, was ich wusste. Aber manches kann man niemandem beibringen, wie du sehr wohl weißt. Sie hat den siebten Sinn für die See, und die See hält sie an ihrem Busen, als sei Katherine ihr Säugling.“

Das Bild, das Jaxbury da ausmalte, war nicht besonders hilfreich. „Dann gehe ich davon aus, dass ich in den fähigsten Händen bin.“

Jaxbury lehnte sich zurück und lächelte wieder. „Genau.“

Stunden später öffnete James in einer rabenschwarzen Kabine die Augen und bemerkte zwei Dinge: Eine Sturmböe peitschte gegen das Schiff, und jemand weinte. Weinte und drückte seine Hand.

„Wer ist da?“, krächzte er in die Dunkelheit hinein.

Es gab ein Schluchzen und ein Schniefen. „Ich bin Anne“, ließ sich eine dünne, undeutliche Stimme hören, die von einer Gestalt kam, die sich gegen das Bett gekauert hatte. Beim Heben und Senken des Schiffes ächzten und knarrten die Holzbohlen. In der Kabine hallte das Echo der Wellen, die gegen den Rumpf schlugen. „Ich ka-kann Mr Bo-ogles nicht finden!“, wimmerte sie. „Die großen Wellen sind gekommen, und ich habe mich gefürchtet, also bin ich in Williams Kabine gegangen und dachte, er würde mitkommen, aber dann … aber dann …“ Die Verzweiflung schüttelte den kleinen Körper und machte es dem Mädchen unmöglich, weiterzusprechen. Das Schiff hob sich. Fiel herab.

Das musste das Kind sein, dessen Geburt Lady Katherine in Williams Augen zur Heiligen gemacht hatte. Und es war äußerst wahrscheinlich, dass Mr Bogles vier Beine hatte statt zweien.

„Wo ist deine Mutter?“

„Auf Deck mit den anderen“, sagte Anne mit zitternder Stimme. „Normalerweise bleibt jemand bei mir, wenn die großen Wellen kommen, aber Mama hat gesagt, dass oben alle Hände gebraucht werden, um durch die Meerenge zu segeln.“

Die Meerenge – nachts, bei Sturm? Verdammt, er hatte nicht einen Schiffsuntergang überlebt, um beim nächsten zu sterben! Das Schiff krachte dieses Mal härter auf die Wogen, und Captain Kinlochs Tochter presste den Kopf gegen das Bett.

„Ich mag es nicht, wenn die großen Wellen kommen“, jammerte sie ins Laken. Sie schloss die Hand um seine.

Die Kleine tat ihm leid. Er wollte mit der anderen Hand tröstend über ihren Kopf streichen, doch die Ketten hinderten ihn daran.

„Bitte, helfen Sie mir, ihn zu finden“, sagte die dünne Stimme.

„Das kann ich nicht, Kleine. Die Ketten.“ Selbst wenn er frei wäre, war er sich nicht sicher, ob er überhaupt gehen konnte.

„Ich werde sie aufschließen!“, rief sie. „Und dann finen Sie mein Kätzchen!“

Aufschließen, herrje! „Anne, deine Mutter …“ … würde mich lieber kastrieren.

„Bitte“, bat sie herzzerreißend. „Bitte! Ich weiß, dass es Ihnen nicht gut geht, aber wenn ich Sie frei mache, wollen Sie ihn dann für mich suchen?“ Erneut hob und senkte sich das Schiff. Krachen folgte. Ein tränennasses Gesichtchen wurde gegen seinen Handrücken gepresst.

Seine Eier für eine Katze. Ein großartiger Tausch. „Ich werde es versuchen“, sagte er leise und hoffte, dass sie nicht wusste, wo die Schlüssel versteckt waren. Doch sofort erhob sie sich und taumelte zur anderen Seite der Kabine. Im schwachen Licht, das durch die Fenster drang, sah er, wie sie sich zum Frisiertisch vortastete. Holz schrammte auf Holz – eine Kommode. Und dann das Klirren von Schlüsseln.

Niemals hatte die Freiheit so sehr nach drohendem Unheil geklungen.

Sie kehrte zurück – immer noch schniefend. Sie tastete nach seinem Arm, ließ die Hände zu seinen Handgelenken gleiten, bewegte die Finger suchend über die Fesseln. Als sie das Schlüsselloch ertastet hatte, ließ sie ihn los und suchte nach dem passenden Schlüssel. Schniefend. Sie war so klein, dass das Bett ihr gerade bis zum Bauch reichte.

Heben. Krachen.

Sie griff wieder nach ihm und hätte beinahe das Gleichgewicht verloren. Fummelte mit den Schlüsseln herum, probierte sie mit kindlicher Ungeschicklichkeit aus. Und dann … Es klickte, die Fessel sprang auf.

„Ich hab es geschafft!“, rief sie. „Beeilen Sie sich! Bitte!“

Er zog den Schlüssel heraus und öffnete die andere Fessel. Als er beide Arme frei hatte und sich aufzusetzen versuchte, wich das Blut aus seinem Kopf. Er lehnte sich, den Kopf in die Hände gestützt, nach vorne, spürte, dass sie ihn berührte und ihm auf Arm und Schulter klopfte.

„Oh nein, es geht Ihnen nicht gut, oder?“ Die Verzweiflung kehrte in ihre Stimme zurück.

„Hab mich zu schnell aufgesetzt“, brachte er heraus. Vorsichtig schwang er die Beine zur Seite. Die Tunika und die Hosen, die sie ihm mittlerweile angezogen hatten, waren leicht und saßen locker. Seine Füße waren nackt.

„Es tut mir furchtbar leid. Ich weiß, dass ich Sie nicht belästigen sollte … Mama sagt, ich soll nicht … aber …“ Wieder begann sie zu weinen.

James stand auf und wäre bei der Bewegung des Schiffes fast vornübergekippt. „Sag mir, wo ich suchen soll.“

„Sie werden eine Laterne brauchen.“

Natürlich. Eine Laterne. Er hatte eine an der Wand hängen sehen und schaffte es in der Dunkelheit, sie zu finden und anzuzünden. Seine kleine Befreierin, das sah er nun, war eine Miniatur-Sultanin. Das dunkle Haar hing ihr in einem Zopf über den Rücken, und kleine Juwelen blitzten an ihren olivbraunen Ohren. Sie war von Kopf bis zu den Zehen in leuchtend blaue Stoffe gehüllt und hatte sehr dunkle Augen, die sie eigenartig auf seine Brust gerichtet hatte, während ihr tränenüberströmtes Gesicht zitterte.

„Tut mir leid, könnte sein, dass er in den Laderaum gelaufen ist“, schluchzte sie herzzerreißend.

Der Laderaum. Verdammt, das war vergebliche Mühe! Das Schiff neigte sich wieder, trotzdem gelang es ihm, durch die Tür und in den Durchgang zu taumeln. „Wohin?“

„Links!“, rief sie.

Er kannte dieses Schiff nicht, aber er kannte eine Menge anderer, und so fand er die Stufen rasch. Er begann herabzusteigen, sie folgte ihm und hielt sich dabei am Handlauf fest.

„Mr Bogles!“, rief sie. Ihre Stimme zitterte. „Mama sagt, ich darf nicht in den Laderaum gehen.“

Ausgezeichnet. Er konnte sich genauso gut gleich selbst kastrieren und Captain Kinloch die Mühe ersparen. Als er den Boden erreicht hatte, sah er sich um. Es war der obere Laderaum, vollgestopft mit allem Möglichen, von Weinfässern bis zu Stoffballen. Ob das alles legal erworben worden war, konnte erraten, wer wollte.

„Mr Bogles?“ Anne stand am unteren Ende der Stufen.

„Bleib hier“, befahl James, hielt sich an einem Stapel Kisten fest, der mit einem hölzernen Rahmen zusammengehalten wurde, und stolperte weiter ins Innere des Laderaums hinein, wobei er das Licht der Laterne hierhin und dorthin richtete.

„Warten Sie“, rief Anne. „Ich hab etwas Trockenfisch dabei. Das mag er mehr als alles andere.“

Eine Bestechung konnte seine Chancen erhöhen, die – so, wie die Dinge momentan lagen – verschwindend gering waren. Benommen hängte James die Laterne an einen Balken über seinem Kopf und ging zurück. Das Schiff hob und senkte sich, ein Teil der Ladung an Steuerbord verrutschte lautstark, während Warre damit beschäftigt war, wieder auf die seetüchtigen Beine zu kommen.

Anne hielt ihm schon den Trockenfisch hin, als er sie erreichte. Doch etwas war merkwürdig. Sie sah zur Seite, statt ihn anzublicken. „Er wird kommen, wenn er das riecht“, sagte sie, als spreche sie mit einem unsichtbaren Dritten. „Ich weiß, dass er das tut.“

„Ich werde es versuchen“, gab er atemlos zurück. Sofort drehte sie sich mit ausgestreckter Hand in seine Richtung, die Augen auf seinen Bauch gerichtet. Er schwieg. „Anne?“

„Ja?“

Er streckte eine Hand aus, das Mädchen schien sie nicht zu sehen. In seinem Magen war plötzlich ein großes Loch. „Anne“, sagte er scharf. „Kannst du sehen?“ Es war nicht der richtige Zeitpunkt für Nettigkeiten.

„Ich höre ihn!“ Sie strahlte plötzlich und deutete auf etwas hinter ihm. „Mr Bogles! Oh, beeilen Sie sich!“

Blind. Anne war blind.

Himmel und Hölle, er hatte ein blindes Kind in den Laderaum gebracht! Jaxbury sollte in der Hölle schmoren, weil er es nicht erwähnt hatte. James torkelte vorwärts und fasste sie am Arm. „Wir gehen nach oben.“ Mr Bogles konnte für sich selbst sorgen.

„Nein!“, schrie Anne und wand sich. „Wir können ihn nicht hierlassen!“

„Du solltest nicht hier unten sein.“

„Bitte. Bitte!

Ihre Verzweiflung schnitt ihm in die Seele. Sie wehrte sich, und er war nicht stark genug, um sich gegen sie durchzusetzen. Er führte ihre Hand auf den Treppenlauf. „Warte hier. Und beweg dich nicht.

„Das werde ich nicht. Ich verspreche es.“

„Gibt mir den Fisch.“ Er nahm ihn.

„Ich höre ihn wieder. Bitte – beeilen Sie sich!“

James hörte rein gar nichts, doch er ging in die Richtung, in die sie zeigte. Er nahm die Laterne vom Haken und hörte schließlich ein schwaches Miauen zwischen den Kisten. Eine Ratte flitzte vorbei. Was immer Mr Bogles hier unten tat, seine Arbeit machte er jedenfalls nicht.

„Mr Bogles!“, rief Anne.

Ein leises Miauen als Antwort kam aus der Richtung, in der ein Stapel Taue lag, der von der Bewegung des Schiffes ins Rutschen geraten war. James zwang sich, mit erhobener Laterne vorwärtszugehen. Da war es wieder, das klagende Geräusch aus dem Tauhaufen. Durch eine Lücke nahm er zwei glühende Augen wahr und den Teil eines weißen, schnurrbärtigen Gesichtes.

Das Schiff hob sich und kippte. Irgendwie schaffte er es, die Laterne aufzuhängen und nach der oberen Taurolle zu greifen. Seine Arme rebellierten und fühlten sich wie nasses Stroh an, doch er versuchte es noch einmal, hob eine der Taurollen hoch, dann die nächste. Der raue Boden schürfte seine Fußsohlen auf, als er mit nackten Füßen Halt suchte. Die Beine brannten und drohten ihm den Dienst zu versagen.

„Haben Sie ihn?“ Es klang nicht so, als stünde Anne noch am Ende der Treppe.

Ein Blick über die Schulter bestätigte ihm, dass sie sich durch die Ladung tastete.

„Anne, bleib stehen!“ Er hatte kaum die Kraft, sich Gehör zu verschaffen. „Geh zurück!“ Beinahe lag er nun auf den Taurollen, reckte sich und hob eine weitere Rolle hoch. Über ihm türmten sich noch mehr Taue. Mit aller Kraft hob er die Rolle an, die den Kater offensichtlich gefangen hielt, doch Mr Bogles hatte sich in eine Nische gekauert. Verdammt, dachte James. Er hatte den Fisch fallen lassen.

„Komm raus, verdammter Kater“, presste er zwischen den Zähnen hervor.

Das Schiff hob sich erneut.

„Anne!“ Captain Kinlochs Stimme klang durch den Laderaum.

Das Schiff krachte herunter. James ließ das eine Tau los, und ein weißer Blitz schoss an seiner Schulter vorbei.

„Mr Bogles!“, hörte er Annes freudigen Aufschrei.

James sackte nach vorn; die Taurollen, die er verschoben hatte, fielen auf ihn. Er stöhnte vor Schmerz und krümmte sich unter dem Gewicht zusammen. Er fühlte etwas Ledriges in seiner Hand. Der Trockenfisch.

„Anne! Was zum Teufel machst du hier unten?“

James verabschiedete sich in Gedanken bereits von seiner Männlichkeit.

Durchnässt vom Regen und dem Wellengang oben rannte Katherine – den Blick unverändert auf Anne gerichtet – die Stufen hinunter, umarmte ihre Tochter und beachtete Mr Bogles nicht, der zwischen ihnen beiden herumstrich. „Anne Kinloch, habe ich dir nicht gesagt, dass du niemals in den Laderaum gehen sollst!“ Sie fuhr über das Gesichtchen, Annes Haare, die Schultern. Keine Verletzungen. Sie stellte sich ein halbes Dutzend Arten vor, wie sie Thomas Barclay umbringen würde, wenn sie ihn gefunden hatte.

Weiter hinten im Laderaum schwang die Laterne aus ihrer Kabine wild an einem Balken hin und her. Verdammt noch mal, das war also der Lohn dafür, dass sie Mitleid gezeigt und den Halunken an Bord hatte holen lassen. „Lauf, schnell“, sagte sie und erhob sich. „Nach oben.“

„Aber der Mann, Mama – ich glaube, ich habe gehört, dass er hingefallen ist.“

„Pst … wir werden ihn finden. Er wird dir nicht noch einmal wehtun, das verspreche ich dir.“ Bei Gott, sie würde ihn langsam töten und ihn Stück für Stück an die Fische verfüttern.

„Mama, du darfst nicht böse sein!“ Anne schüttelte verzweifelt den Kopf. „Ich bin schuld. Ich konnte Mr Bogles nicht finden und habe den Mann gebeten, mir zu helfen! Ich weiß, dass ich ihn nicht hätte befreien sollen, aber …“

„Befreien?“

„Es tut mir leid, Mama. Es war niemand da, der mir helfen konnte.“ Sie versuchte, sich aus Katherines Griff zu winden. „Oh, warum höre ich ihn nicht? Gerade war er noch da.“

Genau in diesem Augenblick sah Katherine ein Paar nackter Füße, das zwischen der Ladung hervorschaute.

Annes Oberlippe zitterte. „Ich weiß, dass ich die Schlüssel nicht aus der Kommode hätte nehmen dürfen. Ich hatte solche Angst.“

Katherine nahm sie fest in die Arme. „Mein Herz, es tut mir so leid.“ Sie ließ die Kleine bei hohem Wellengang sonst nie allein. Nie. Aber sie hatte alle Mann an Deck gebraucht, sich gesagt, es sei ja nur dieses eine Mal, und sie würde hinuntergehen, um nachzusehen … Aber sie hätte früher nachsehen sollen. Vor allem hätte sie Anne nicht sich selbst überlassen dürfen. Was für ein gottloser Kerl, der die Angst eines kleinen Mädchens ausnutzte.

„Kannst du ihn sehen, Mama?“ Eine Träne lief über Annes Wange.

Katherine starrte seine Füße an. „Pst, ich werde ihn finden. Schnell jetzt, nach oben, in Sicherheit! Gib mir Mr Bogles.“ Die süße Anne war zu unschuldig, um zu wissen, dass ein Mann in Mr Barclays Verfassung nicht wegen einer Katze aufstand. Sie straffte die Schultern. Wenn sie Glück hatte, hatte das Schicksal ihn schon für seinen Ungehorsam bestraft und sie musste sich nicht länger mit ihm herumschlagen.

Nachdem Anne und Mr Bogles sicher in Philomenas Kabine untergebracht waren, eilte Katherine in den Laderaum zurück. Das Schiff hob sich und rollte, als sie rasch durch die Ladung ging. Da war er, ein Stoß Taurollen hatte ihn unter sich begraben. Wenn er noch lebte, würde sie ihn jetzt fester anketten. Und die Schlüssel besser verbergen.

Sie pflanzte einen Stiefel auf den Haufen und riss die Taurollen über ihm weg. „Mr Barclay“, rief sie scharf. Vielleicht hatte er geglaubt, Munition hier unten im Laderaum zu finden. Die Besatzung durch sein Verschwinden abzulenken und die Oberhand zu gewinnen, indem er Annes Leben bedrohte.

Es hatte nicht funktioniert.

Er lag ausgebreitet auf den Taurollen und trug eine von Williams Tuniken, die ihm an den Schultern ein bisschen zu eng war. Sein zerzaustes schwarzes Haar mit den silbernen Strähnen fiel ihm über Augen und Wangen. „Mr Barclay.“ Sie beugte sich vor, um seinen Puls zu kontrollieren.

Bei ihrer Berührung stöhnte er und versuchte, sich aufzurichten. „Verdammt noch mal“, knurrte er und brach wieder auf den Tauen zusammen.

Immerhin würde sie Anne nicht erklären müssen, dass er tot war. „Stehen Sie auf! Ihr Plan wurde vereitelt, und ich habe keine Zeit, um Kindermädchen zu spielen.“ Sie wurde auf Deck gebraucht. Ihn für seine Dummheit zu bestrafen musste warten.

„Um Gottes willen, schneidet sie rasch los“, murmelte er in seinen Ärmel. Er fantasierte wieder, kein Wunder. Langsam öffnete er die Augen. „Anne?“, krächzte er.

„Ist oben und nicht Ihre Angelegenheit. Und jetzt stehen Sie auf! Ich möchte, dass diese Laterne aus meinem Laderaum verschwindet, bevor sie zerbricht und mein Schiff in Brand steckt.“ Forsch ergriff sie ihn am Arm und zog. Das Schiff rollte, und er torkelte auf die Füße. Beinahe wäre er auf sie gestürzt. Er war größer, als sie in Erinnerung hatte. Breitschultriger. Sie lehnte sich an die Wasserfässer; das Gewicht seines Körpers drückte sie fest dagegen, als eine abrupte Bewegung des Schiffes sie beinahe beide umwarf. Sein Atem streifte ihr Ohr; er griff nach dem Rand des Fasses über ihr.

„Dummer Kerl! Sie sind nicht stark genug, um so einen Plan in die Tat umzusetzen.“

„Sie können einen Mann nicht beleidigen …“ Er keuchte, als er schließlich wieder auf die Füße kam. „… indem Sie die Wahrheit sagen.“ Er löste sich von ihr und lehnte sich gegen die Fässer. „Der kleine Scheißkerl hat’s also geschafft.“ Er atmete schwer, als koste es ihn alle Kraft, sich aufrecht zu halten. „Die Bestechung“, er setzte kurz aus, um Luft zu holen, „hat er aber trotzdem nicht angenommen.“ Er streckte ihr die Hand entgegen.

Darin lag ein Stück von Mr Bogles’ Trockenfisch.

Es war unmöglich. Ihre Kabine zu verlassen grenzte in seiner Verfassung an Selbstmord. Er hätte das nicht für einen Kater getan. Sie wollte nicht darüber nachdenken, dass er es für Anne … Hastig versuchte sie, den getrockneten Fisch in die Tasche zu stecken. Doch ihre Kleidung war durchnässt, also warf sie ihn weg.

Der Schiffbrüchige sah ihr in die Augen und dann an ihr hinunter. Seine Augen wurden dunkel, er blickte weg, während er einatmete.

Sie sah nach unten. Ihre nassen Kleider umgaben sie wie eine zweite Haut, die Brustknospen drückten sich durch den feuchten Stoff. Herrje, nicht einmal die Nähe des Todes kühlte die Begierde dieses Mannes. Sie gestattete sich ein Lächeln. „Für Lüsternheit ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, Mr Barclay. Sie sollten sich besser kontrollieren. Können Sie gehen?“ Er versuchte es, doch das Heben und Rollen des Schiffes warf ihn sofort aus dem Gleichgewicht. Sie nahm ihn am Arm und versuchte, ihm zu helfen.

„Geht schon“, sagte er scharf und versuchte, sich auf den Beinen zu halten, während die Laterne quietschend am Haken über ihnen hin und her schwang. „Ich möchte mich nur an den Fässern … festhalten.“

Sie ließ ihn los. „Haben Sie geglaubt, Sie könnten sich hier vor uns verstecken und damit irgendetwas erreichen?“

Er ging langsam voran, atemlos und damit beschäftigt, nicht zu fallen. „Mein Plan, Sie in den Laderaum zu locken und mich an Ihnen zu vergreifen, ist enttäuschenderweise fehlgeschlagen.“

„Unverschämter Kerl!“ Ihre klamme Haut fühlte sich plötzlich ganz heiß an. „Kein Wunder, dass Sie Schwierigkeiten mit Captain Warre hatten.“

Er stöhnte. „Langweiliger alter Kauz …“

Sie schafften das letzte Stück zwischen den Fässern, dann torkelte er in Richtung Treppe. „Wollte mich nie …“ Er atmete tief ein. „An Ihnen vergreifen.“ Er griff nach dem Handlauf und ruhte sich mit aschfahlem Gesicht aus.

„Schaffen Sie die Stufen allein?“

Er musterte die Treppe und nickte.

„Dann nach oben und ins Bett!“, befahl sie in einem Tonfall, den sie sonst nur Anne gegenüber gebrauchte. Dieser Mann hatte nicht nur seine körperlichen Kräfte, sondern auch den Verstand verloren.

Er zog sich die erste Stufe hinauf und sah sie dann über die Schulter hinweg an. „Verführerisches Angebot … Captain.“

Verführerisch … „Nach oben!“

Das war kein degradierter Fähnrich. Er war Offizier, dafür würde sie ihr Entermesser verwetten. Oder es selbst verschlucken. Sobald sie sicher durch die Meerenge gesegelt waren, würde sie William bitten, Barclay in Andrés Kabine unterzubringen und anzuketten. Und dann würde sie die Wahrheit aus ihm herausholen.

5. KAPITEL

Die Wahrheit musste zwei Tage warten, während der lüsterne Mr Barclay, der inzwischen ein neues Quartier bezogen hatte, schlief und schlief. Millicent fütterte ihn viermal am Tag mit Brühe und scheuchte jeden rücksichtslos weg, der sich ihnen auch nur näherte.

Die Meerenge und der Sturm lagen nun hinter ihnen, doch die Geschichte von Mr Barclays Heldentat machte noch immer die Runde. Anne bestand darauf, sie jedem immer wieder zu erzählen. Unzählige Male.

„Mama, können wir jetzt nach ihm sehen? Bitte? Millicent sagt, er sei wach.“ Drängend zupfte sie an Katherines Ärmel. „Bitte, Mama. Es geht ihm doch jetzt besser.“

Offensichtlich sollten das gute Nachrichten sein. „Gleich, Liebes.“ Katherine tunkte die Feder ein und wollte eine weitere Koordinate in das dicke Logbuch eintragen, änderte dann aber im letzten Moment ihre Meinung und fügte der kurzen Liste derjenigen Leute in England, die in der Lage sein konnten, ihr zu helfen, einen weiteren Namen hinzu. Lord De Lille. War er nicht mit Papa befreundet gewesen?

Die Stimme des Vaters erklang wieder in ihrem Kopf: Verdammt, Katie, in England oder Schottland gibt es keine lebende Seele, die es mit De Lille aufnehmen kann.

Sie rieb sich die Stirn und versuchte, sich an Namen und Verbindungen zu erinnern, an die sie seit mehr als zehn Jahren nicht mehr gedacht hatte. Aber Vater hatte so viele Freunde gehabt. Der einzige, an den sie sich wirklich erinnern konnte, war Lord Deal, und laut dem Brief des Anwalts kämpfte er schon gegen das Gesetz, das ihr Erbe bedrohte.

Ihre Finger krampften sich um die Feder. Was wäre, wenn Mr Allens Brief sie nicht erreicht hätte? Es war sehr unwahrscheinlich, dass das Gesetz durchkam, hatte er geschrieben. Dass es schon einmal im Unterhaus verlesen worden war, bedeutete nichts. Dass die zweite Lesung vor zwei Monaten ausgesetzt worden war, sprach eine deutlichere Sprache.

„Mama, bitte. Was ist, wenn er wieder einschläft?“

Dann würde sich das Unausweichliche für einige angenehme Stunden verzögern. Vielleicht waren Mr Barclays Taten – in einem gewissen Sinn – löblich gewesen. Und auch wenn es bitter war, so konnte sie doch nicht länger abstreiten, dass seine Torheit im Laderaum nur um Annes willen geschehen war. Fähnrich oder Offizier –‒ er wusste, dass der Aufstand eines einzigen Mannes fehlschlagen musste.

Katherine wäre froh gewesen, wenn sie sein Opfer für Mr Bogles ignorieren könnte. Doch das ging nicht.

Annes schürzte unzufrieden die dunklen Lippen und zog frustriert die Brauen zusammen. Manchmal sah sie Mejdans Mutter so ähnlich, dass Katherine nicht wusste, ob sie lachen oder weinen sollte.

„Na gut“, sagte Katherine und legte schließlich die Feder beiseite. „Komm mit.“ Mit derselben Begeisterung, mit der ein Sträfling seinen Weg zum Galgen antritt, führte sie Anne in den Durchgang.

„Ich darf ihm die Rolle geben, oder?“, flüsterte Anne vor der Tür von Andrés ehemaliger Kabine.

„Natürlich, Süße.“

„Aber du sagst es ihm.“

„Ich sage es ihm.“ Es gab sogar eine ganze Menge, was sie ihm mitteilen wollte, aber erst, nachdem Anne gegangen war. Mr Barclay mochte es bisher nicht gut gehen – sie klopfte kurz an und drehte den Schlüssel –, doch sie war fest entschlossen, Antworten auf ihre Fragen zu erhalten. „Mr Barclay …“

Das Bett war leer. Das Geräusch plätschernden Wassers lenkte ihre Aufmerksamkeit zur Kommode. Er stand da, über das Becken gebeugt, mit zurückgestrichenem Haar und nassem Gesicht. Williams Hosen waren das Einzige, was er am Leib trug.

„Mama, aua!“ Anne zog an Katherines Hand.

Katherine lockerte ihren Griff. „Vielleicht sollten wir …“

„Mr Barclay!“, rief Anne in die Kabine. „Wir sind gekommen, um Ihnen einen besonderen Besuch abzustatten.“

Sie sollten später wiederkommen. „Anne …“

Er griff nach einem Handtuch und – der Teufel sollte ihn dafür holen – sah im Spiegel, dass Katherine ihn beobachtete. Sie bemerkte, wie er eine Augenbraue hochzog.

„Eine Ehre, allerdings“, sagte er. Sein Blick ging zu Anne. „Wie ich sehe, lassen Sie den verirrten Kater nicht mehr außer Reichweite, Miss Anne“, wandte er sich an ihre Tochter.

Katherine spürte, wie etwas gegen ihr Bein stieß, und sah, dass Mr Bogles ihnen in die Kabine gefolgt war. Mr Barclay trocknete sich Gesicht, Hals und Schultern ab. Bei jeder seiner Bewegungen spannten sich seine Muskeln deutlich an.

„Es geht ihm besser, seit die großen Wellen nicht mehr da sind“, erzählte ihm Anne.

„Ich würde sagen, dass es nicht ihm allein so geht.“

Anne staunte. „Mögen Sie die großen Wellen auch nicht?“

„Niemand mag sie.“ Er griff nach dem Hemd – eine von Williams Tuniken, dunkelblau mit langen Ärmeln – und zog es über, während er zu ihnen trat. Er war einen Kopf größer als Katherine und offenbar bei klarem Verstand.

Autor

Alison De Laine
<p>Alison DeLaine lebt im ländlichen Arizona, wo sie oft mit ihrem verbeulten alten Pick-up in die Wüste hinaus fährt, wo sie eine Mine besitzt. Wenn sie nicht damit beschäftigt ist, nach Reichtümern zu graben, ihre Haustiere zu verwöhnen oder ihren Mann im Zaum zu halten, dann bereitet sie am liebsten...
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