Der Duft der Rosen

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Bitte helfen Sie mir! Elizabeth Conners reagiert höchst misstrauisch, als eine Klientin ihr erzählt, dass sie von dem Geist eines kleinen Mädchens heimgesucht wird. Nacht für Nacht rät es ihr, so schnell wie möglich zu fliehen. Bevor noch ein Mord geschieht. Zögerlich beschließt Elisabeth, sich das Phänomen aus der Nähe anzuschauen. Und tatsächlich, seltsame Dinge geschehen auf Harcourt Farm: Der Fußboden knarrt, trotz sommerlicher Hitze wird es plötzlich eiskalt, und in der Luft liegt der tödliche Duft von Rosen. Sollten die Warnungen des kleinen Mädchens wirklich ernst zu nehmen sein? Was für ein fürchterliches Verbrechen geschah vor vielen Jahren hier, in diesen Wänden? Der einzige, der Elizabeth darüber Auskunft geben kann, ist Zach Harcourt. Und während die beiden sich immer tiefer in die Geschichte des Hauses und ihre wachsenden Gefühle füreinander verstricken, ist ihnen der Mörder schon längst auf der Spur.


  • Erscheinungstag 10.12.2012
  • ISBN / Artikelnummer 9783955762278
  • Seitenanzahl 192
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Kat Martin

Der Duft der Rosen

Roman

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MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2012 by MIRA Taschenbuch
in der Harlequin Enterprises GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

Scent Of Roses

Copyright © 2006 by Kat Martin

erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto

Published by arrangement with

HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Stefanie Kruschandl

Titelabbildung: pecher und soiron, Köln

Autorenfoto: © by Harlequin Enterprise S.A., Schweiz

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN eBook 978-3-95576-227-8

www.mira-taschenbuch.de

eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

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PROLOG

Sie schreckte hoch. Ihre Augen mussten sich erst an die Dunkelheit gewöhnen. Sie horchte dem merkwürdigen Geräusch nach, das sie aus ihrem tiefen, aber ruhelosen Schlaf geweckt hatte.

Da. Da war es wieder. Ein fernes, seltsames Knarren, wie das einer Diele. Sie hob den Oberkörper leicht an und lauschte angestrengt. Das Geräusch hatte sich verändert, war zu einem eigenartigen Stöhnen geworden. Es klang ein bisschen wie der Wind, aber es konnte nicht der Wind sein. Denn draußen war die Luft ruhig und warm, die Sommernacht stockdunkel und still. Sie lauschte auf das Zirpen der Grillen im nahe gelegenen Feld, doch die gaben merkwürdigerweise keinen Laut von sich.

Es begann erneut. Ein merkwürdiges Knarren, dann ein Stöhnen. Es ähnelte keinem Geräusch, das sie jemals in diesem Haus gehört hatte. Mit klopfendem Herzen setzte sie sich auf und lehnte sich an das Kopfteil des Bettes. Während sie unverwandt auf die Tür starrte, überlegte sie, ob sie ihren Mann wecken sollte. Doch Miguel musste früh raus. Seine Tage waren lang und anstrengend. Was auch immer sie gehört hatte, es entsprang sicher ihrer Einbildung.

Ihre Ohren lauschten angestrengt in die Stille, lauschten und lauschten, doch das Geräusch kam nicht wieder. Sie musste sich fast zwingen zu atmen. Es war plötzlich fürchterlich stickig im Schlafzimmer geworden. Sie konnte kaum noch Luft holen, es war als ob ein schweres Gewicht auf ihrer Brust läge. Ihr Herz schlug nun noch schneller und härter, sodass sie jeden einzelnen Schlag hinter dem Brustbein spürte.

Madre de Dios, was ist los?

Sie atmete erneut tief ein, sog die stickige Luft in ihre Lungen und stieß sie langsam wieder aus. Sie ermahnte sich selbst, ruhig zu bleiben. Es ist nichts … nur eine Sinnestäuschung. Nichts außer der warmen mondlosen Nacht und der Stille. Sie atmete wieder ein. Wieder aus und wieder ein, tiefe, angestrengte Atemzüge, die sie beruhigen sollten. Ihre wachsende Furcht konnten sie jedoch nicht lindern.

Und dann roch sie es. Den schwachen Duft von Rosen. Der Duft zog immer mehr auf sie zu, schien sich um sie zu legen und sie zu erdrücken. Seine Intensität steigerte sich, bis er zu einem widerlichen und unerträglich süßen Gestank wurde. Auf den Feldern um das Haus blühten das halbe Jahr über Rosen, doch ihr Duft war sanft und leicht und angenehm. Ganz und gar nicht wie dieser stickige Geruch, der in der Luft hing: der Gestank von verfaulenden Blumen.

Ein bitterer Geschmack breitete sich in ihrem Mund aus. Maria wimmerte. Ihre Hand zitterte, als sie nach ihrem Mann tastete, der seelenruhig neben ihr schlief. Doch sie hielt inne. Sie wusste, dass er schlecht wieder einschlafen könnte, und sie wusste, wie nötig er seinen Schlaf hatte. Reglos hoffte sie, ihn allein durch die Kraft ihrer Gedanken wecken zu können.

Ihr Blick huschte ruhelos durch den Raum, immer auf der Suche nach dem Ursprung der Geräusche und des Gestanks und zugleich voller Angst, was sie finden mochte. Doch es war nichts zu sehen. Nichts, das die Panik erklären konnte, die in ihr aufstieg und mit jedem angsterfüllten Herzschlag größer wurde.

Der Hals war ihr wie zugeschnürt. Sie schluckte und streckte die Hand nach Miguel aus. Genau in diesem Moment wurde der Geruch schwächer. Der Druck auf ihrer Brust ließ nach. Allmählich wurde auch die Luft wieder leicht. Sie nahm einen tiefen, reinigenden Atemzug und dann noch einen und noch einen. Draußen vor dem Fenster hörte sie das Zirpen der Grillen. Erleichtert ließ sie sich gegen das Kopfteil des Bettes sinken.

Es war also doch nichts. Nur die heiße trockene Nacht und ihre Einbildung. Miguel wäre ärgerlich gewesen. Er hätte ihr vorgeworfen, sich wie ein Kind aufzuführen.

Unwillkürlich legte sie die Hand auf ihren Bauch. Sie war kein Kind mehr. Sie war neunzehn Jahre alt und trug selbst ein Kind in sich.

Sie blickte hinüber zu ihrem Mann und wünschte, dass sie ebenso tief schlafen könnte wie er. Doch ihre Augen blieben offen, ihre Ohren alarmbereit. Sie redete sich zu, dass sie keine Angst mehr zu haben bräuchte.

Doch sie wusste, dass sie für den Rest der Nacht keinen Schlaf mehr finden würde.

EINS

Elizabeth Conners saß hinter ihrem Schreibtisch. Ihr Büro in der psychologischen Gemeinschaftspraxis für Familienberatung war gemütlich eingerichtet mit dem Eichenschreibtisch und dem dazugehörigen Stuhl, den beiden Aktenschränken aus Eiche, zwei weiteren Stühlen und dem dunkelgrün bezogenen Sofa an der einen Wand.

Eichenholzgerahmte Stadtansichten aus dem neunzehnten Jahrhundert schmückten die Wände, und auf dem Schreibtisch stand eine grüne Glaslampe. Der Raum wirkte zwanglos und ein wenig altmodisch. Das Büro war aufgeräumt und ordentlich. Bei den zahlreichen Patienten, die sie betreute, musste sie einfach gut organisiert sein.

Elizabeth blickte auf den Stapel Akten auf ihrem Schreibtisch. Jede von ihnen war ein Fall, den sie derzeit betreute. Sie arbeitete seit zwei Jahren in der kleinen Gemeinschaftspraxis in San Pico, Kalifornien. Sie war hier geboren und aufgewachsen. San Pico lag nahe dem südwestlichen Ende des San Joaquin Valley und war stark landwirtschaftlich geprägt.

Elizabeth hatte ihren Abschluss an der San-Pico-Highschool gemacht. Sie erhielt ein Teilstipendium, das ihr half, ihren Lebensunterhalt während des Colleges zu bestreiten. Sie studierte Psychologie im Hauptfach an der University of California in Los Angeles und machte ihr Diplom in Sozialpädagogik. Wie schon zu Highschool-Zeiten verdiente sie sich als Kellnerin etwas dazu.

Vor zwei Jahren war sie in ihre Heimatstadt zurückgekehrt, einen ruhigen Ort, in dem ihr Vater und ihre Schwester lebten. Doch inzwischen war ihr Dad gestorben, und ihre Schwester hatte geheiratet und war fortgezogen. Elizabeth war nach Hause gekommen, um sich von einer schmutzigen Scheidung zu erholen. Das ruhige Leben weit weg von der Großstadt hatte ihr geholfen, die Depressionen zu überwinden, unter denen sie seit dem Ende ihrer Ehe mit Brian Logan litt.

Anders als das hektische und betriebsame Santa Ana, wo sie vorher gearbeitet hatte, war San Pico ein Städtchen mit ungefähr dreißigtausend Einwohnern, etwa die Hälfte davon Latinos. Elizabeths Familie hatte 1907 zu den Gründern der Stadt gehört; damals waren sie noch Farmer und Milchbauern gewesen. Elizabeths Eltern besaßen einen kleinen Lebensmittelladen namens Conners' Grocery, doch nach dem Tod ihrer Mutter verkaufte ihr Vater das Geschäft. Er setzte sich zur Ruhe, als Elizabeth die Schule beendet hatte.

Sie griff nach der obersten Akte, um sich auf die für den Abend geplante Sitzung bei den Mendozas vorzubereiten. Die Akte erzählte eine Geschichte von Alkoholmissbrauch und Gewalt in der Familie, eingeschlossen einen Fall von Kindesmisshandlung. Doch seit die Mendozas regelmäßig an der Familienberatung teilnahmen, schien die Gewalttätigkeit abgenommen zu haben.

Elizabeth glaubte inbrünstig daran, dass die Sitzungen Familien dabei halfen, sich auf andere Art und Weise auseinanderzusetzen als durch körperliche Gewalt.

Über die Akte gebeugt, schob sie sich eine widerspenstige Strähne ihres kastanienbraunen Haars hinter das Ohr. Wie alle Conners war sie von schlankem Wuchs, etwas größer als der Durchschnitt. Doch anders als ihre Schwester hatte sie die leuchtend blauen Augen ihrer Mutter – was bedeutete, dass sie bei jedem Blick in den Spiegel an Grace Conners dachte und sie vermisste.

Ihre Mutter war einen elenden Krebstod gestorben, als Elizabeth gerade fünfzehn Jahre alt gewesen war. Beide hatten sich sehr nahegestanden. Die schweren Monate, in denen sie ihre Mutter erst gepflegt und dann verloren hatte, hatten ihr Großes abverlangt.

Elizabeth seufzte, als sie den letzten Eintrag in den Unterlagen las. Sie schloss die Augen und lehnte sich zurück. Sie hatte niemals vorgehabt, in ihre Heimatstadt zurückzukehren, in der es so flach und staubig und die meiste Zeit des Jahres zu heiß war.

Doch manchmal hatte das Schicksal andere Pläne, und so war sie also hier gelandet. Sie wohnte in einem gemieteten Apartment in der Cherry Street und arbeitete als Familienberaterin. Und auch wenn ihr das Leben in dem kleinen Städtchen nicht sonderlich gefiel, fühlte sie sich mit ihrer Arbeit doch sehr wohl.

Sie dachte an die bevorstehende Sitzung, als sacht an die Tür geklopft wurde. Sie schaute auf. Einer der Jungs, die sie beriet, kam herein. Raul Perez war siebzehn Jahre alt und freigestellt vom Jugendarrest, zu dem man ihn bereits zum zweiten Mal verurteilt hatte. Streitlustig, mürrisch und schwierig, war er doch auch klug und mitfühlend und loyal gegenüber seinen Freunden und den Menschen, die er liebte. Und besonders gegenüber seiner geliebten Schwester Maria.

Seine Besorgnis um andere war der Grund, warum Elizabeth zugestimmt hatte, ihn ohne Honorar zu beraten. Raul hatte Potenzial. Er konnte etwas aus sich machen, wenn man ihn richtig motivierte … und wenn sie ihn davon überzeugen könnte, dass sein Leben niemals besser werden würde, solange er Alkohol und Drogen zu sich nahm.

Die Folge waren Einbrüche gewesen, wie das so oft bei Jugendlichen wie Raul vorkam. Sie brauchten Geld, um Drogen zu kaufen, und sie taten alles, um es zu bekommen.

Doch Raul war seit über einem Jahr clean, und er hatte ihr versichert, dass das so bleiben sollte. In seinen tiefen dunklen Augen lag etwas, das Elizabeth glauben ließ, dass er die Wahrheit sagte.

“Raul. Komm rein.” Ihr Lächeln war warm. “Schön, dich zu sehen.”

“Gut sehen Sie aus”, sagte er, höflich wie immer.

“Danke.” Sie fand, dass sie heute tatsächlich gut aussah in ihrer beigen Baumwollhose und der türkisfarbenen kurzärmeligen Seidenbluse. Ihr Haar, das sie offen trug, umrahmte in weichen Wellen ihr Gesicht.

Raul setzte sich auf einen der beiden Stühle, während Elizabeth ihn nach seinem Teilzeitjob bei Sam Goodie fragte. Dort verrichtete er Hausmeister- und Botendienste, bis Ritchie Jenkins wieder auf dem Damm war, der am Ende der Main Street einen Motorradunfall gehabt hatte. In einer Woche war der Job vorbei, und wenn Raul bis dahin nicht etwas anderes fand, musste er auch tagsüber wieder in den Arrest.

“Wie gefällt dir denn bislang die Arbeit?”

Er zuckte die Achseln. “Ich mag die Musik, außer wenn sie Country und Western spielen.” Raul war nur etwa eins fünfundsiebzig groß, doch er war stämmig und muskulös. Schon in seiner Kindheit war er immer kräftig gewesen für sein Alter. Er hatte glänzendes glattes Haar und dunkle Haut, die nur von einem Totenkopf-Tattoo auf seiner rechten Hand und seinen blau tätowierten Initialen unter seinem linken Ohr verunstaltet wurde. Die Initialen waren eine Amateurarbeit, vermutlich aus der Schulzeit. Sie nahm an, dass der Totenkopf während seines letzten Arrests entstanden war.

Elizabeth lächelte Raul ermutigend zu. “Ich habe aufregende Neuigkeiten für dich.”

Er musterte sie argwöhnisch. “Was für welche denn?”

“Du bist bei Teen Vision angenommen worden.”

“Teen Vision?”

“Ich erwähnte es vor einigen Wochen. Erinnerst du dich?”

Er nickte und blickte sie unverwandt an.

“Da die Farm eine ziemlich neue Einrichtung ist, haben sie nur Platz für fünfundzwanzig Jugendliche. Doch es haben sich ein paar Lücken ergeben, und deine Bewerbung gehörte zu denen, die akzeptiert wurden.”

“Ich habe keine Bewerbung eingereicht”, sagte er finster.

Sie lächelte. “Ich weiß, dass du das nicht getan hast. Ich habe es getan.”

Er runzelte die Stirn. Kein gutes Zeichen. Die Jugendlichen, die am Resozialisierungsprojekt von Teen Vision teilnahmen, waren aus freien Stücken dort. Wenn er nicht bereit war, sich darauf einzulassen, würde ihm der Aufenthalt nichts bringen.

“Das Programm dauert ein Jahr. Man muss zwischen vierzehn und achtzehn Jahren alt sein, und man muss sich einverstanden erklären, die ganzen zwölf Monate zu bleiben. Andernfalls nehmen sie einen nicht auf.”

“Ich komme in sechs Monaten auf Bewährung frei.”

“Du musst dein Leben ändern, damit du nicht wieder im Gefängnis landest.”

Raul schwieg.

“Du würdest nächste Woche anfangen. Während deines Aufenthalts werden Unterkunft und Verpflegung vollständig übernommen. Sie zahlen dir sogar ein kleines Gehalt für die Arbeit auf der Farm.”

Raul grunzte. “Ich weiß, wie viel Farmarbeiter verdienen. Meine Familie hat so ihren Lebensunterhalt bestritten.”

“Dies ist etwas anderes, als ein Wanderarbeiter zu sein, Raul. Du hast mir selbst gesagt, dass du die Farmarbeit liebst. Du könntest einen Beruf erlernen, während du dort bist, und du könntest deinen Schulabschluss machen. Wenn das Jahr vorüber ist, kannst du einen Vollzeitjob in der Landwirtschaft übernehmen, oder was du auch immer tun willst. Etwas, das dir mit der Zeit dein eigenes Auskommen sichert.”

Er runzelte die Stirn. “Ich muss darüber nachdenken.”

“In Ordnung. Aber ich denke, dass du einen Blick auf die Einrichtung werfen solltest, bevor du eine Entscheidung triffst. Wärst du bereit, das zu tun, Raul?”

Er straffte die Schultern und blickte sie noch immer unverwandt an. “Ich würde es mir gern anschauen.”

“Das ist großartig. Denk daran, ein Ort wie dieser erfordert ein besonderes Engagement. Dort geht man hin, um sein Leben zu ändern. Du musst das wirklich wollen. Du musst noch einmal von vorn anfangen wollen.”

Raul sagte eine Weile gar nichts. Ebenso wenig wie Elizabeth, die ihm Zeit zum Nachdenken geben wollte.

“Wann würden wir es uns ansehen?”

Sie erhob sich von ihrem Stuhl. “Musst du heute Nachmittag arbeiten?”

Er schüttelte den Kopf. “Erst morgen wieder.”

“Gut.” Elizabeth umrundete den Schreibtisch und ging an ihm vorbei zur Tür, die sie lächelnd öffnete. “Warum dann nicht gleich?”

Die Teen-Vision-Farm befand sich auf einem 60.000 Quadratmeter großen flachen und trockenen Gelände direkt am Highway 51, ein paar Meilen zur Stadt hinaus. Das fruchtbare Stück Boden war von Harcourt Farms gespendet worden, dem größten Landwirtschaftsunternehmen im San Pico County.

Bis vor vier Jahren hatte Fletcher Harcourt die Farm geleitet. Nach einem beinahe tödlichen Unfall, der das Gehirn des Familienpatriarchen in Mitleidenschaft gezogen und ihn im Rollstuhl zurückgelassen hatte, hatte sein ältester Sohn Carson das Unternehmen übernommen. Er leitete nicht nur den Betrieb, sondern hatte auch die einst einflussreiche Position seines Vaters in der Gemeinde inne. Carson war beliebt und großzügig. Das hübsche weiß verputzte Haus mit den Schlafräumen und die anderen Gebäude von Teen Vision waren zweifellos zu einem großen Teil Carsons Spenden zu verdanken.

Elizabeth war Carson Harcourt seit ihrer Rückkehr nach San Pico mehrere Male begegnet. Er war groß, blond und attraktiv. Nach mehreren kurzen Beziehungen blieb er mit siebenunddreißig unverheiratet, auch wenn er sich mit seinem bedeutenden Vermögen und seiner sozialen Position sicher jede Frau in der Stadt hätte aussuchen können.

Als sie ihren neuen perlweißen Acura durch das Tor von Teen Vision steuerte, war Elizabeth kaum überrascht, als sie Carsons silbernen Mercedes Sedan vom Parkplatz fahren sah. Er bremste, als er an ihr vorbeifuhr, wobei er jede Menge Staub aufwirbelte. Als ob er davon nichts bemerkt hätte, ließ Carson das Fenster herunter und schenkte ihr das berühmte Harcourt-Lächeln.

“Hallo, Elizabeth! Was für eine nette Überraschung. Sieht so aus, als ob ich genau zur falschen Zeit wegfahre.”

“Nett, dich zu sehen, Carson.” Sie deutete mit einer Kopfbewegung auf ihren Passagier. “Das ist Raul Perez. Ich hoffe, er nimmt bald am Programm teil.”

“Tatsächlich?” Carson beugte den Kopf, um einen Blick auf Elizabeths Schützling zu werfen. “Die machen ihre Sache hier gut, mein Junge. Du solltest die Chance ergreifen.”

Raul sagte nichts. Elizabeth hatte nichts anderes erwartet.

“Dieser Ort …” Sie ließ den Blick schweifen und betrachtete die Gruppe von Jungs, die das Feld umgruben, und die beiden lachenden Teenager, die Korn in einen Trog schütteten, um die vier Hereford-Rinder zu füttern. “Das war sehr großzügig von dir, Carson.”

Er zuckte mit den Schultern. “Harcourt Farms gibt der Gemeinde gern etwas zurück.”

“Jemand anderes hätte ein solches Projekt vielleicht nicht unterstützt.”

Er lächelte und blickte hinüber zu den Feldern, bevor er sie wieder ansah. “Ich muss los. Ich habe einen Termin mit ein paar Gewerkschaftlern in der Stadt.” Er beugte wieder den Kopf, um den Jungen neben ihr anzusehen. “Viel Glück, mein Junge.”

Raul starrte nur vor sich hin, und innerlich seufzte Elizabeth über die scheinbare Teilnahmslosigkeit.

“Ach, eins noch”, sagte Carson. “Ich hatte sowieso vor, dich anzurufen. Ich wollte mit dir über die Teen-Vision-Benefizgala am Samstagabend sprechen. Ich hoffte, du würdest mich begleiten.”

Sie war überrascht. Carson war immer freundlich zu ihr gewesen, aber auch nicht mehr. Vielleicht hatte er ihr Interesse an Teen Vision bemerkt? Auch wenn sie bislang noch niemals auf der Farm gewesen war, wusste sie um die wunderbare Arbeit, die dort geleistet wurde, und glaubte fest an das Projekt.

Sie taxierte ihn. Seit ihrer Scheidung hatte sie sich kaum verabredet; Brians Untreue hatte sie argwöhnisch werden lassen. Dennoch: Mit einem intelligenten, attraktiven Mann einen Abend zu verbringen, könnte Spaß machen.

“Das tue ich gern, Carson. Danke für die Einladung. Soweit ich mich erinnere, wird um Abendgarderobe gebeten?”

Er nickte. “Ich rufe dich an. Dann kannst du mir sagen, wie ich zu dir nach Hause komme, damit ich dich abholen kann.”

“Wunderbar, das klingt gut.”

Er lächelte und winkte, ließ das Fenster hochfahren und fuhr fort. Elizabeth sah ihm einen Moment im Rückspiegel nach, trat dann aufs Gas und fuhr durch das Tor auf einen der Parkplätze im staubigen Parkbereich.

“Wir sind da.” Sie lächelte Raul an, der aus dem Fenster zu der Gruppe junger Männer schaute, die auf dem Feld arbeiteten. In der Ferne wirbelte ein Traktor eine Staubwolke auf, und auf einem Hügel standen Milchkühe, die auf das Abendmelken warteten.

Raul wirkte nervös und jünger als seine siebzehn Jahre, als er die Beifahrertür öffnete und in die Nachmittagshitze hinauskletterte. Sam Marston, der Direktor von Teen Vision, kam vom Haus aus auf sie zu.

Sam war durchschnittlich groß und normal gebaut. Ein Mann in den frühen Vierzigern, der rasch eine Glatze bekommen hatte. Die spärlichen Resthaare trug er rasiert. Er sprach leise, strahlte aber dennoch eine gewisse Autorität aus. Er winkte zur Begrüßung, während er auf sie zukam.

“Willkommen bei Teen Vision.”

“Danke.” Sie war Sam Marston bereits begegnet, seit sie in die Stadt zurückgezogen war, und kannte seine bemerkenswerte Arbeit mit straffälligen Jugendlichen. “Ich weiß, dass Ihre Zeit begrenzt ist. Für einen offiziellen Rundgang kann ich ja später noch einmal kommen.”

Er verstand, was sie sagen wollte. Dass er nämlich die Zeit mit Raul verbringen sollte. “Sie sind jederzeit willkommen”, erwiderte er lächelnd und wandte seine Aufmerksamkeit dem Jungen zu. “Du musst Raul Perez sein.”

“Ja, Sir.”

“Ich bin Sam Marston. Lass mich dich ein wenig herumführen, und ich erzähle dir dabei ein bisschen über Teen Vision.” Ohne Rauls alarmierten Gesichtsausdruck zu beachten, legte Sam ihm eine Hand auf den Rücken und schob ihn leicht vorwärts.

Elizabeth beobachtete, wie die beiden sich entfernten, und lächelte. Sie betete darum, dass Raul dem Ort eine Chance geben und die Farm seine Rettung würde, so wie sie das schon für viele andere Jungen gewesen war.

Als sie in den Schatten eines Obstbaumes wechselte, von wo aus sie die Jungen auf dem Feld beobachten und auf Sam warten wollte, erblickte sie einen weiteren Wagen, einen dunkelbraunen Jeep Cherokee, der durch das Tor fuhr und direkt neben ihrem Wagen hielt.

Ein großer schlanker Mann in ausgeblichenen Jeans und einem dunkelblauen T-Shirt stieg aus. Sein Haar war sehr dunkel und seine Haut tief gebräunt. Er hatte breite Schultern, schmale Hüften und einen flachen Bauch. Als er auf sie zukam, erkannte sie den Teen-Vision-Slogan, der in weißen Buchstaben auf seinem T-Shirt prangte: Nur du kannst deine Träume wahr werden lassen. Die kurzen Ärmel gaben den Blick auf seinen kräftigen Bizeps frei.

Dennoch konnte sie sich nicht vorstellen, dass er als Berater auf der Farm arbeitete. Sein Haarschnitt wirkte zu teuer, sein ausgreifender Schritte zu entschieden, wenn nicht gar aggressiv. Sogar der Schnitt seiner Jeans kündete von Stil und Geld. Elizabeth musterte ihn von ihrem Platz unter dem Baum aus. Obwohl er eine Sonnenbrille trug und sie sein Gesicht nicht erkennen konnte, kam er ihr doch irgendwie bekannt vor.

Sie fragte sich, wo sie ihm schon begegnet sein könnte. Wenn es so war, würde sie sich mit Sicherheit an ihn erinnern. Er ging an ihr vorbei, als ob sie gar nicht da wäre, den Blick unverwandt nach vorn gerichtet. Sein Ziel war die halb fertige Scheune, wo mehrere ältere Jungen eifrig herumhämmerten. Der dunkelhaarige Mann ging zu ihnen und begann ein Gespräch. Wenige Minuten später streifte er einen Werkzeuggürtel über und machte sich an die Arbeit.

Elizabeth sah ihm eine Weile zu. Offensichtlich verstand er etwas von dem, was er da tat. Sie fragte sich noch immer, wer er war. Sie wollte sich nach ihm erkundigen, doch als Sam und Raul wieder zurückkamen, glühte das Gesicht des Jungen, und er lächelte so strahlend, dass sie ihr Vorhaben vergaß.

“Du wirst es also tun?”, fragte sie und strahlte ihn an.

Er nickte. “Sam sagt, dass er mir dabei helfen wird, herauszufinden, welche Arbeit mir am meisten liegt. Er sagt, ich darf das tun, was mich am meisten interessiert.”

“Oh Raul, das ist ja wunderbar!” Sie hätte ihn gern umarmt, doch sie musste professionell bleiben, und außerdem wäre es ihm vermutlich nur peinlich gewesen. “Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr mich das freut.”

“Er kann am Samstag hier einziehen”, sagte Sam. “Wir helfen ihm mit dem ganzen Papierkram, der notwendig ist.” Formell gesehen stand Raul noch bis zum nächsten Jahr unter Vormundschaft des Jugendamtes, und die Papiere würden die entsprechenden Stellen durchlaufen müssen.

“Das klingt großartig.” Elizabeth wandte sich an Raul. “Ich kann dich mit zurücknehmen, wenn du möchtest.”

“Sí, das wäre gut.” Raul verfiel selten in seine Muttersprache, eigentlich nur wenn er nervös oder verärgert war. Doch er lächelte. Nervosität konnte also manchmal auch etwas Gutes sein.

“Deine Schwester wird sich so freuen.”

Sein Lächeln wurde breiter. “Maria wird glücklich sein. Und Miguel vermutlich auch.”

“Ja, sie werden sich beide über deine Entscheidung freuen.”

Sie verabschiedeten sich von Sam, der ihr jederzeit eine persönliche Führung über die Farm versprach, und gingen in Richtung des Wagens.

Sie war sehr zufrieden mit dem Verlauf des Nachmittags. Doch als ihr Blick auf Raul fiel, bemerkte sie, dass sein Lächeln verschwunden war.

“Was ist los, Raul?”

“Ich bin nervös. Ich möchte das hier richtig machen.”

“Das wirst du. Du hast viele Menschen, die dir helfen werden.”

Dennoch entspannte er sich nicht. Sie wusste, er machte sich Sorgen, dass er irgendwie versagen würde. Es waren die Misserfolge, hatte sie gelernt, an die sich die meisten dieser jungen Latinos erinnerten, und diese Misserfolge prägten ihr Leben. Doch Raul hatte auch viele Fähigkeiten. Er war seit einem Jahr drogenfrei geblieben, und nun wollte er sich für ein Jahr dem Teen-Vision-Programm verpflichten.

“Wirst du deine Schwester heute Abend sehen? Ich kann mir vorstellen, wie aufgeregt sie sein wird.”

Statt zu lächeln, runzelte Raul die Stirn. “Ich werde vorbeigehen und ihr die Neuigkeiten erzählen.” Er blickte Elizabeth von der Seite an. “Ich mache mir Sorgen um sie.”

“Warum? Ich hoffe, es gibt keine Probleme mit ihrer Schwangerschaft?” Obwohl Maria erst neunzehn war, war es bereits ihre zweite Schwangerschaft. Letztes Jahr hatte sie eine Fehlgeburt erlitten. Elizabeth wusste, wie viel ihr und Miguel dieses Baby bedeutete.

“Es geht nicht um das Baby. Es ist etwas anderes. Maria will mir nicht sagen, was.” Seine dunklen Augen ruhten auf ihrem Gesicht. “Vielleicht können Sie mit ihr sprechen. Vielleicht würde sie Ihnen dann sagen, was los ist.”

Das hörte sich nicht gut an. Obwohl Marias Mann der typische Latino-Macho war, der den Mann als unbestrittenes Familienoberhaupt betrachtete, schien das Paar doch glücklich zu sein. Hoffentlich hatten die beiden keine Eheprobleme.

“Ich spreche gern mit ihr, Raul. Sag ihr, sie soll mich im Büro anrufen, und wir vereinbaren einen Termin.”

“Das werde ich ihr sagen. Aber warten Sie nicht darauf, dass sie anruft.” Mehr sagte Raul nicht.

Elizabeth setzte sich hinter das Steuer und zuckte zusammen, als die Hitze des roten Ledersitzes an ihre Haut drang. Sie warf einen letzten Blick auf die Scheune. Zwar standen erst zwei Seiten des Gebäudes, doch sie machten gute Fortschritte. Sie musterte die Gruppe, die noch immer fleißig hämmerte. Der dunkelhaarige Mann war fort.

Raul schnallte sich auf dem Beifahrersitz an, und Elizabeth fuhr los. Auf der Rückfahrt schien der Junge meilenweit fort zu sein, und sie fragte sich, ob ihn die Gedanken an seine neue Zukunft beschäftigten oder die Sorge um seine Schwester.

Elizabeth nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit bei dem kleinen gelben Haus zu halten, in dem Miguel Santiago und seine hübsche Frau wohnten. Sie würde mit Maria reden, sich erkundigen, was los war, und herausfinden, ob sie etwas tun konnte.

ZWEI

Es war spät und die Nacht schwarz wie Tinte. Nur die schmale Mondsichel erhellte die Dunkelheit mit ihrem dünnen Lichtstrahl. Der Geruch frisch gemähten Heus und umgegrabener Erde hing in der Luft. Im Haus schaltete Maria Santiago den Fernseher aus, der auf einem kleinen Holztisch an der Wand ihres spärlich möblierten Wohnzimmers stand.

Das Haus war nicht groß. Es hatte nur zwei Zimmer und ein Bad. Es war erst vier Jahre alt. Es war solide gebaut, gelb verputzt und mit einfachen Dachschindeln versehen. Vor ihrem Einzug waren alle Zimmer frisch gestrichen worden. Der beige Teppichboden sah noch fast wie neu aus.

Maria hatte das Haus vom ersten Moment an geliebt. Mit dem Garten und den Zinnienbeeten vor der Veranda schien es ihr der hübscheste Ort zu sein, an dem sie jemals gelebt hatte. Miguel mochte es ebenfalls und war stolz, dass er seiner Frau und ihrem Kind solch ein Heim bieten konnte.

Miguel wünschte sich sogar noch mehr als Maria ein Kind. Abgesehen von Maria und Raul hatte er kaum Familie, jedenfalls nicht in der Nähe. Die meisten seiner Verwandten lebten weiter nördlich im San Joaquin Valley bei Modesto.

Marias Mutter war gestorben, als sie vierzehn war, und ihren Vater hatte sie niemals kennengelernt. Als ihre Mutter noch lebte, hatte sie ihr erzählt, dass er sie verlassen hätte, als Raul geboren wurde, und dass ihn seitdem niemand mehr gesehen hätte.

Ohne ihre Eltern oder irgendjemand anders, der für sie sorgte, hatten sich Maria und Raul einem Paar namens Hernandez angeschlossen, Wanderarbeitern, die von Farm zu Farm übers Land zogen. Zu einem ihrer Jobs gehörte die Mandelernte auf der Harcourt-Farm, und dort hatten Maria und Miguel sich kennengelernt. Maria war noch keine fünfzehn gewesen und ihr Bruder erst dreizehn. Miguel Santiago wurde ihre Rettung.

Sie heirateten einen Tag nach ihrem fünfzehnten Geburtstag, und als die Wanderarbeiter weiterzogen, blieben sie und Raul bei Miguel auf der Farm. Obwohl er kaum genug zum Leben verdiente, gab es genug zu essen, und Raul konnte zur Schule gehen. Das erste Jahr nahm er gewissenhaft am Unterricht teil, doch weil ihm die anderen Kinder weit voraus waren, rebellierte er bald und weigerte sich, weiter den Unterricht zu besuchen.

Er fing an, lange wegzubleiben und sich mit zwielichtigen Typen herumzutreiben. Schließlich brachte er sich in Schwierigkeiten und wurde in ein Pflegeheim gesteckt. Am Ende landete er in einer Jugendstrafanstalt. Doch jetzt würde er bald bei Teen Vision dabei sein.

Es schien, als ob ein Wunder geschehen wäre.

Ein Weiteres war vor zwei Monaten geschehen, als Marias Mann zu einem der vier Vorarbeiter auf der Farm befördert worden war. Er hatte eine Gehaltserhöhung bekommen, und ihm wurde das Haus zur Verfügung gestellt.

Ein sehr hübsches Haus, dachte Maria erneut, als sie den Gürtel ihres Bademantels löste und ihn über einen Stuhl warf. In ihrem kurzen weißen Nylon-Nachthemd, das sich über ihrem immer größer werdenden Bauch spannte, ging sie zu Bett und wünschte, dass Miguel nach Hause käme. Doch er arbeitete oft spät in den Feldern, und sie hatte sich eigentlich daran gewöhnt.

Nur in letzter Zeit wurde sie ängstlich, wenn er nicht nach Hause kam und es immer später wurde.

Sie warf einen Blick auf das Bett mit seiner komfortablen Matratze in Übergröße. Es war größer als alles, worin sie vorher geschlafen hatte.

Sie sehnte sich danach, unter die Decke zu schlüpfen, ihren Kopf auf das Kissen zu legen und langsam in den Schlaf zu gleiten. Sie war so müde. Ihr Rücken schmerzte, und die Füße brannten. Bestimmt würde sie heute Nacht schlafen und nicht wieder aufwachen, bis Miguel nach Hause kam. Bestimmt würde das, was ihr letzte Woche und vorletzte Wochen widerfahren war, heute Nacht nicht passieren.

Es war nach Mitternacht und das Haus völlig still, als sie den hübschen gelben Überwurf zurückzog, sich hinlegte und die dünne Bettdecke bis unters Kinn zog.

Sie konnte die Grillen im Feld hören, und das rhythmische Zirpen beruhigte sie. Das Kissen unter ihrem Kopf fühlte sich weich an. Ihr offenes schwarzes Haar kitzelte ihre Wange, als sie ihre Lage veränderte, und die Augen fielen ihr zu.

Eine Zeit lang döste sie friedlich, ohne das merkwürdige Knirschen und Stöhnen oder die leichte Veränderung der Atmosphäre zu bemerken. Dann wurde die Luft dichter, stickiger, und das beruhigende Zirpen der Grillen hörte abrupt auf.

Maria riss die Augen auf. Sie starrte zur Decke hinauf. Ein schweres Gewicht auf ihrer Brust schien sie niederzudrücken. Sie hörte das merkwürdige Stöhnen und das Knarren, das nicht vom Wind stammen konnte. In der Dunkelheit des Schlafzimmers stieg ihr der erstickende Geruch von Rosen in die Nase, und ihr wurde übel.

Der Verwesungsgestank hüllte sie geradezu ein, schien sie auf die Matratze zu drücken und ihr die Luft aus den Lungen zu pressen. Sie wollte sich aufsetzen, konnte sich aber nicht bewegen. Sie versuchte zu schreien, doch kein Laut entwich ihrer Kehle.

Oh Madre de Dios! Muttergottes, beschütze mich!

Sie hatte solche Angst! Sie verstand nicht, was hier vor sich ging. Sie wusste nicht, ob das, was sie fühlte, real war, oder ob sie ihren Verstand verlor. Ihre Mutter hatte an einem Tumor gelitten, der letztlich zu ihrem Tode führte. Kurz vor ihrem Ende hatte sie fantasiert, wirres Zeug geredet und sich Dinge eingebildet.

Was geschah nur mit ihr?

Sie drehte sich im Bett herum und versuchte sich aufzusetzen, doch ihr Körper blieb wie festgefroren auf dem Bett liegen. Etwas schien in ihren Geist einzudringen und ihre Gedanken zu besetzen, bis sie an nichts anderes mehr denken konnte als an die Worte, die ihn ihrem Kopf kreisten.

Sie wollen dein Baby, flüsterte eine leise Stimme in ihrem verängstigten Gehirn. Sie nehmen dir dein Baby, wenn du nicht fortgehst.

Maria schluchzte auf. Panik erfüllte sie. Sie sehnte sich nach Miguel, betete, dass er nach Hause käme und sie rettete. Leise betete sie zu Gott, dass er ihn ihr zurückbrächte, bevor es zu spät wäre.

Doch Miguel kam nicht.

Stattdessen verebbte die leise Stimme allmählich in der Stille, als ob sie niemals da gewesen wäre, und der betäubende Rosenduft verflog in der Dunkelheit. Lange noch lag sie da und hatte Angst, sich zu bewegen, Angst vor dem, was womöglich passieren würde.

Maria schluckte. Sie versuchte die Arme anzuheben, und stellte fest, dass ihre Glieder ihr wieder gehorchten. Mit zur Decke gerichtetem Blick lag sie da und atmete tief durch, während ihre Hände zitterten. Sie bebte am ganzen Körper. Ihr Herz schlug wie nach einem kilometerlangen Dauerlauf. Zögernd streckte sie die Beine aus. Sie bewegte die Arme und kreuzte sie über der Brust, um das Zittern zu unterdrücken. Unsicher setzte sie sich auf. Das lange schwarze Haar fiel ihr über die Schultern bis fast zur Taille. Sie zog die Beine an den Körper, strich das Nachthemd darüber und ließ ihr Kinn auf die Knie sinken.

Es war ein Albtraum, sagte sie zu sich selbst. Der gleiche Traum, den du schon zuvor hattest.

Marias Augen füllten sich mit Tränen. Sie schlug eine Hand vor den Mund, um das Schluchzen zu unterdrücken, und versuchte sich selbst davon zu überzeugen, dass sie recht hatte.

Zachary Harcourt öffnete die Vordertür jenes Hauses, das einst sein Zuhause gewesen war. Es war ein großes weißes zweigeschossiges Holzhaus mit je einer Veranda vorn und hinten, ein eindrucksvolles Haus, das in den Vierzigerjahren gebaut und über die Jahre umgestaltet und verbessert worden war.

Die stuckverzierten Decken waren hoch, damit sich die Hitze nicht staute, und teure Damastvorhänge rahmten die Fenster ein. Die Böden waren aus Eiche und immer glänzend poliert. Zach ignorierte das scharfe Klirren seiner Arbeitsschuhe, als er den Flur entlang zu jenem Raum schritt, der einst das Arbeitszimmer seines Vaters gewesen war. Es war ein durch und durch herrschaftlicher Raum in dunklem Holz und mit Regalen an den Wänden, in denen ledergebundene Bücher mit Goldprägung standen.

Der große Eichenschreibtisch, an dem sein Vater immer gesessen hatte, dominierte noch immer den Raum. Doch nun saß sein älterer Bruder Carson in einem teuren Ledersessel dahinter.

“Ich sehe, du hältst noch immer nichts vom Anklopfen.” Carson wandte sich ihm zu, wobei eine Hand auf den Papieren auf dem Schreibtisch ruhte. Die Feindseligkeit in seinem Blick war nicht zu übersehen. Zacharys Augen zeigten die gleiche Abneigung.

Die Männer waren etwa gleich groß, fast eins neunzig, doch der zwei Jahre ältere Carson war in Schultern und Brust breiter gebaut, mehr wie sein Vater. Er war blond und hatte blaue Augen wie seine Mutter, wohingegen Zach, sein unehelicher Halbbruder, schlanker war und das fast schwarze leicht wellige Haar von Teresa Burgess geerbt hatte, der langjährigen Geliebten seines Vaters.

Es ging das Gerücht, dass Teresa eine spanische Großmutter gehabt hatte, doch dem hatte sie immer widersprochen. Und auch wenn Zachs Haut dunkler war als Carsons und seine Wangenknochen höher und ausgeprägter, hatte er dennoch keine Ahnung, ob er nun Latino-Blut in sich hatte oder nicht.

Eines aber war gewiss: Zach hatte die gleichen goldgesprenkelten braunen Augen, aus denen ihn auch sein Vater ansah und die ihn eindeutig als Sohn Fletcher Harcourts und damit als Carsons Bruder auswiesen – sehr zum Verdruss von Carson.

“Ich brauche nicht anzuklopfen”, sagte Zach. “Falls du es vergessen haben solltest, was du ja gern tust, dieses Haus gehört noch immer unserem Vater, was bedeutet, dass es ebenso sehr meines ist wie deines.”

Carson gab keine Antwort. Nach dem Unfall, der Fletcher Harcourt in den Rollstuhl gebracht und sein Gedächtnis zerrüttet hatte, war sein ältester Sohn zum Verwalter der Farm und aller Angelegenheiten des Vaters bestimmt, eingeschlossen seiner gesundheitlichen Belange. Dem Richter war die Entscheidung leichtgefallen, da Zach jünger und vorbestraft war.

Mit einundzwanzig hatte Zach wegen fahrlässiger Tötung zwei Jahre in der Justizvollzugsanstalt Avenal absitzen müssen. Er war verurteilt worden, weil er betrunken Auto gefahren und dadurch ein Mann zu Tode gekommen war.

“Was willst du?”, fragte Carson.

“Ich möchte wissen, wie es mit der Benefizgala steht. So wie ich deine zupackende Art kenne, nehme ich an, dass alles bereit ist.”

“Alles unter Kontrolle. Ich habe gesagt, dass ich dabei helfe, Geld für dein kleines Projekt zu sammeln, und das tue ich auch.”

Vor zwei Jahren hatte Zach seinen Stolz heruntergeschluckt und sich an Carson gewandt mit der Idee, ein Camp für Teenager mit Drogen- und Alkoholproblemen zu eröffnen. Als Jugendlicher war er einer dieser Teenager gewesen, die immer Ärger hatten, die immer im Clinch lagen mit ihren Eltern und dem Gesetz.

Doch die zwei Jahre im Gefängnis hatten sein Leben verändert. Und er wollte den Jungs, die nicht so viel Glück gehabt hatten wie er, ebenfalls eine Chance geben.

Nicht dass er sich damals für glücklich gehalten hätte.

Trotzig und wütend war er gewesen. Er hatte allen außer sich selbst die Schuld daran gegeben, was mit ihm geschehen und was aus seinem Leben geworden war. Aus Langeweile hatte er begonnen, sich mit Jura zu beschäftigen – und weil er hoffte, so seine Strafe zu verkürzen. Es schien ihm zu liegen. Er holte seinen Highschool- und den College-Abschluss nach. Dann ging er nach Berkeley und schrieb sich an der Juristischen Fakultät ein.

Beeindruckt von seinem Veränderungswillen, half ihm sein Vater mit dem Schulgeld, sodass Zach mit dem Geld aus einem Teilzeitjob auskam. Zach hatte es auf diese Weise geschafft, die Schule als einer der Besten seines Jahrgangs abzuschließen. Die Zulassungsprüfung als Anwalt bestand er mit Bravour, und Fletcher Harcourt ließ seine Beziehungen spielen, damit Zach trotz seiner Strafakte als Anwalt arbeiten konnte.

Zach war inzwischen ein erfolgreicher Anwalt geworden. Er war Partner in einer Kanzlei in Westwood, besaß ein Apartment mit Meerblick in Pacific Palisades und fuhr ein brandneues BMW-Cabrio und den Jeep, mit dem er immer ins Tal kam.

Er führte ein privilegiertes Leben und wollte etwas von dem Erfolg zurückgeben, den er errungen hatte. Bis zu jenem Tag vor zwei Jahren hatte er seinen Bruder niemals um etwas gebeten – und er hatte sich geschworen, das auch niemals wieder zu tun. Carson und seine Mutter hatten Zach das Leben schwer gemacht, seit sein Vater ihn mit nach Hause gebracht und angekündigt hatte, ihn adoptieren zu wollen.

Das böse Blut zwischen ihnen würde immer bestehen, doch Harcourt Farms gehörte Zach ebenso sehr wie Carson. Und auch wenn sein Bruder das Unternehmen führte, gab es dennoch jede Menge Land. Das Gelände, das er für das Camp gewählt hatte, war der perfekte Ort.

Zach erinnerte sich an den Tag, als er zu seinem Bruder gekommen war, erinnerte sich an sein Erstaunen, als Carson so bereitwillig auf seinen Vorschlag einging.

“Nun, da hattest du ja tatsächlich mal eine gute Idee”, hatte Carson gesagt.

“Soll das heißen, dass Harcourt Farms das Gelände stiften wird?”

“Genau. Ich werde dir sogar helfen, das Geld aufzubringen, um das Projekt zu verwirklichen.”

Zach hatte mehrere Monate gebraucht, bis er begriff, dass sein Bruder wieder einmal den Spieß umgedreht hatte. Das Projekt wurde Carsons Projekt, obwohl vor allem Zachs Geld in der Stiftung steckte, und die ganze Stadt befand sich nun in Carsons Schuld.

Zach war das inzwischen egal. Mit Carson als Wortführer kam laufend Geld herein. Genug, um das Projekt am Laufen zu halten, und sogar genug, um zu expandieren. Je mehr Jungen geholfen werden konnte, desto besser, dachte Zach. Er hielt sich gern im Hintergrund. Und unter Carsons statt unter seinem Namen würde die Benefizveranstaltung am Sonnabend vermutlich ein ganzer Erfolg werden.

“Ich wollte mich nur vergewissern”, sagte Zach und dachte an die Abendgesellschaft, an der er nicht teilnehmen würde. “Lass es mich wissen, wenn du mich brauchst.” Stattdessen würde er am Wochenende mit den Jungs von Teen Vision die Scheune weiterbauen, eine Beschäftigung, die ihm viel Freude bereitete.

“Bist du sicher, dass du nicht kommen möchtest?”, fragte Carson, obwohl Zach davon ausging, dass er das schwarze Schaf der Familie wohl als Allerletztes dabei haben wollte.

“Nein, danke. Ich will dir nicht in die Quere kommen.”

“Du könntest Lisa mitbringen. Ich komme mit Elizabeth Conners.”

Liz Conners. Sie war vier Jahre jünger als er. Er hatte sie einmal ziemlich heftig angebaggert, in dem Coffeeshop, in dem sie damals gearbeitet hatte. Das war noch, bevor er ins Gefängnis kam. Er war betrunken und high gewesen. Liz hatte ihn geohrfeigt – etwas, das keine andere Frau je getan hatte. Er hatte sie nie vergessen.

“Ich dachte, sie ist verheiratet und lebt irgendwo in Orange County.”

“Inzwischen ist sie geschieden und vor ein paar Jahren zurück in die Stadt gezogen.”

“Tatsächlich?” San Pico war der letzte Ort, an dem Zach wohnen wollte. Er kam nur, um seinen Vater zu besuchen und auf der immer größer werdenden Farm zu helfen. “Grüß sie von mir.”

Innerlich lächelte er bei dem Gedanken, dass er wohl der Allerletzte war, von dem Liz Conners gern hören würde. Irgendwie hatte er angenommen, dass Liz der Typ Frau war, die einen Mann wie seinen Bruder durchschauen würde. Auf der anderen Seite konnte man über den Geschmack anderer Menschen nicht streiten.

Carson erwiderte nichts, sondern wandte sich wieder seinen Papieren auf dem Schreibtisch zu. Zach verließ das Arbeitszimmer ohne Abschiedsgruß und ging zu seinem Wagen. Er war überrascht, dass Carson von Lisa Doyle wusste, und es gefiel ihm nicht besonders. Er wollte nicht, dass Carson überhaupt irgendetwas von ihm wusste. Er traute seinem Halbbruder nicht, hatte ihm nie getraut.

Was auch immer Carson glauben mochte – Lisa war wirklich nicht sein Typ. Doch sie mochte scharfen und zügellosen Sex ebenso wie Zach, und so schliefen sie seit Jahren hin und wieder miteinander.

Er musste sich nicht erst ein Hotelzimmer nehmen, wenn er in der Stadt war, und Lisa musste sich keinen Wildfremden aus der Bar mit nach Hause nehmen, wenn sie Sex haben wollte.

Es war ein gutes Abkommen, von dem sie beide profitierten.

Elizabeth sah auf, als es klopfte. Die Tür ging auf, und ihr Chef Dr. Michael James steckte seinen Kopf herein. Michael, knapp einen Meter achtzig groß und mit sandfarbenem Haar und haselnussbraunen Augen, war Doktor der Psychologie. Vor fünf Jahren hatte er die Praxis eröffnet. Elizabeth arbeitete seit zwei Jahren für ihn. Michael war verlobt und wollte eigentlich heiraten, doch seit Kurzem schien er Bedenken zu haben, und Elizabeth war sich nicht sicher, ob er die Hochzeit durchziehen würde.

“Wie ist es mit Raul gelaufen?”, fragte er, denn auch er war ein Unterstützer des Jungen. Raul hatte so eine Art, sich beliebt zu machen, auch wenn man auf den ersten Blick den Eindruck hatte, dass er das Gegenteil versuchte.

“Er hat sich entschieden, an dem Programm teilzunehmen.”

“Das ist großartig. Wenn er dann auch nur dabei bleibt.”

“Er war ziemlich aufgeregt, glaube ich. Natürlich könnte Sam selbst einer Kuh noch Milch verkaufen.”

“Dann waren Sie also beeindruckt von der Farm. Das dachte ich mir.”

“Das Projekt ist wirklich weit gediehen. Carson hat wunderbare Arbeit geleistet.”

“Ja, das hat er. Auch wenn ich den Eindruck habe, dass er das alles nicht ohne Eigennutz tut. Kürzlich hörte ich das Gerücht, dass er für einen Sitz im Repräsentantenhaus kandidieren will.”

“Ich kenne ihn nicht sehr gut, doch er scheint sich um die Gemeinde zu kümmern. Vielleicht wäre er ganz gut für den Job geeignet.”

“Vielleicht.” Doch Michael schien nicht ganz überzeugt.

Sie sprachen noch über dieses und jenes, bis Dr. James das Büro verließ und das Telefon klingelte. Als Elizabeth sich meldete, erkannte sie Raul Perez' Stimme.

“Ich rufe wegen meiner Schwester an”, sagte er ohne weitere Erklärung. “Ich sah sie heute Morgen, nachdem Miguel zur Arbeit gegangen war. Sie war sehr verstört. Sie versucht es zu verbergen, doch ich kenne sie zu gut. Irgendetwas stimmt nicht. Könnten Sie vielleicht irgendwann heute dort haltmachen?”

“Tatsächlich wollte ich sowieso nach ihr sehen. Ich fahre heute Nachmittag vorbei. Ist deine Schwester zu Hause?”

“Ich denke schon. Ich wünschte, ich wüsste, was los ist.”

“Ich werde versuchen, es herauszufinden”, versprach Elizabeth und fragte sich beim Auflegen, worum es sich handeln mochte.

Bei ihrem Beruf, in dem sie mit Gewalt in der Familie, Drogen, Raub und sogar Mord zu tun hatte, brauchte es schon einiges, um sie zu überraschen.

DREI

Es war nach fünf. Elizabeth schloss die Praxis und bahnte sich ihren Weg durch den Feierabendverkehr. Der war zwar nicht zu vergleichen mit der endlosen Schlange von dicht an dicht fahrenden Fahrzeugen auf den Freeways von L.A., mit denen sie in ihrer Zeit in Santa Ana zu kämpfen gehabt hatte, doch es war genug los, dass sie an der Hauptstraße zwei rote Ampelphasen abwarten musste.

Downtown war San Pico nur zehn Blocks lang, und einige der Läden trugen spanische Namen. Miller's Trockenreinigung an der Ecke hatte zusätzlich einen Waschsalon. Es gab eine JC-Penney-Filiale, mehrere Bekleidungsgeschäfte und ein paar Restaurants, darunter auch Marge's, wo sie während der Highschool gejobbt hatte.

Als sie daran vorbeifuhr, erblickte sie den Tresen und die pinkfarbenen Vinylmöbel. Auch nach zwanzig Jahren machte der Laden noch ein gutes Geschäft. Abgesehen vom Ranch House, einem Steakrestaurant am Rande der Stadt, war es der einzige Ort, an dem man anständig essen konnte.

Ein paar struppige Ahornbäume sprossen an den Seitenstreifen, die die Downtown-Straßen säumten. Es gab ein paar Tankstellen, einen Burger King, einen McDonald's und eine schäbige Bar namens The Roadhouse, dort wo der Highway 51 die Hauptstraße kreuzte. Als größter Segen für die Gegend hatte sich vor zwei Jahren der neue Wal-Mart entpuppt, der die Städter und einige angrenzende Gemeinden versorgte.

Elizabeth fuhr weiter die Hauptstraße hinunter und dann auf den Highway, der zu Harcourt Farms führte. Das kleine gelbe Haus, in dem Maria und Miguel Santiago lebten, lag etwas zurückgesetzt von der Straße in einem Bereich der Farm, wo sich drei weitere Vorarbeiterhäuser und ein halbes Dutzend Arbeiterhütten befanden sowie in einiger Entfernung das große weiße Herrenhaus.

Elizabeths Wagen rumpelte über ein paar stillgelegte Bahngleise. Sie parkte dicht an der Auffahrt und stieg aus ihrem Acura.

Sie hatte zwei Jahre gespart, um die Anzahlung für den Wagen leisten zu können, und er lag ihr am Herzen. Mit den roten Ledersitzen und dem holzverkleideten Armaturenbrett ließ er sie sich einfach jünger fühlen, sobald sie hinterm Steuer saß. Sie hatte den Wagen gekauft, weil sie fand, dass sie sich mit dreißig nicht so alt fühlen sollte, wie sie es oft tat.

Sie ging den gepflasterten Weg entlang. Im Blumenbeet blühten rote und gelbe Zinnien. Elizabeth klopfte an die Haustür, und kurze Zeit später öffnete ihr Maria Santiago.

“Miss Conners”, lächelte sie. “Was für eine nette Überraschung. Es ist schön, Sie zu sehen. Kommen Sie rein.” Maria war bis auf ihren sich vorwölbenden Bauch und die immer größer werdenden Brüste eine schlanke junge Frau. Ihr langes schwarzes Haar war wie üblich zu einem Zopf geflochten, der ihr bis über den Rücken reichte.

“Danke.” Elizabeth ging ins Haus, das Maria tadellos sauber hielt. Die junge Frau, die sich ebenso herausputzte wie das Haus, trug weiße knöchellange Hosen und eine weite blau geblümte Bluse.

“Miguel und ich wollten Ihnen danken für das, was Sie für Raul getan haben. Ich habe ihn noch nie so aufgeregt erlebt, auch wenn er sich natürlich bemüht, sich nichts anmerken zu lassen.” Sie runzelte plötzlich die Stirn. “Er ist doch nicht in Schwierigkeiten? Das ist doch nicht der Grund, warum Sie hier sind?”

“Nein, natürlich nicht. Das hat gar nichts mit Raul zu tun. Außer dass Ihr Bruder sich Sorgen um Sie macht. Er hat mich gebeten vorbeizukommen.”

“Warum sollte er das tun?”

“Er glaubt, dass Ihnen etwas zu schaffen macht. Er weiß nicht, was es ist. Er hofft, dass Sie vielleicht mir davon erzählen.”

Maria blickte zur Seite. “Mein Bruder bildet sich was ein. Mir geht es gut, das sehen Sie ja.”

Mit ihren großen dunklen Augen, den klassischen Gesichtszügen und im sechsten Monat schwanger sah sie sehr hübsch aus. Elizabeth hatte Maria und Miguel über ihre Zuständigkeit für Raul kennengelernt und mochte sie beide, auch wenn Miguels Macho-Attitüde ihr manchmal auf die Nerven ging.

“Es ist heiß draußen”, sagte Maria. “Möchten Sie vielleicht ein Glas Eistee?”

“Das klingt wunderbar.”

Sie setzten sich an den hölzernen Küchentisch. Maria holte eine Plastikkanne aus dem Kühlschrank, warf ein paar Eiswürfel in zwei hohe Gläser und füllte sie mit dem kühlen Tee.

Sie stellte die Gläser auf den Tisch. “Möchten Sie Zucker?”

“Nein, er ist köstlich so.” Elizabeth nahm einen Schluck von ihrem Tee.

Maria rührte mit mehr Aufmerksamkeit als nötig in ihrem Glas herum. Elizabeth fragte sich, welches Problem sie beschäftigen mochte. Raul war ein kluger junger Mann. Ohne guten Grund hätte er sie nicht angerufen.

“Es muss schwer sein, den ganzen Tag so allein auf der Farm und so weit weg von der Stadt zu sein”, begann Elizabeth vorsichtig.

“Es gibt immer etwas zu tun. Bevor es so warm wurde, habe ich im Garten gearbeitet. Doch nun, da das Baby wächst, kann ich nicht mehr so lange in der Sonne bleiben. Doch es gibt Kleidung zu flicken, und ich muss Essen vorbereiten für Miguel. Seit wir in das Haus gezogen sind, kommt er zum Mittagessen nach Hause. Er arbeitet sehr hart.”

“Dann kommen Sie beide gut zurecht?”

“Sí. Wir kommen sehr gut zurecht. Miguel ist ein guter Mann. Er sorgt gut für mich.”

“Ich bin sicher, dass er das tut. Trotzdem, ich nehme an, dass er oft lange arbeitet, sodass Sie allein zu Hause sind. Ist das der Grund, warum Sie nicht gut schlafen?” Es war ein Risiko. Sie riet ins Blaue hinein, und falls sie falsch riet, konnte das die junge Frau noch vorsichtiger machen.

“Warum … warum glauben Sie, dass ich nicht gut schlafe?”

“Sie sehen müde aus, Maria.” Elizabeth umfasste ihre Hand, die auf dem Küchentisch lag. “Was ist los? Sagen Sie mir, was nicht in Ordnung ist.”

Die junge Frau schüttelte den Kopf, und Elizabeth sah, dass sie mit den Tränen kämpfte. “Ich bin mir nicht sicher. Irgendetwas geht hier vor sich, aber ich weiß nicht, was.”

“Irgendetwas? Was meinen Sie?”

“Etwas sehr Böses. Ich habe Angst, Miguel davon zu erzählen.” Sie entzog Elizabeth ihre Hand. “Ich glaube … ich glaube, ich werde vielleicht so krank wie meine Mutter.”

Elizabeth runzelte die Stirn. “Ihre Mutter hatte einen Tumor, oder? Meinen Sie das?”

“Sí, einen Tumor, ja. In ihrem Gehirn. Bevor sie starb, fing sie an, Dinge zu sehen, die nicht da waren, und Stimmen zu hören, die nach ihr riefen. Vielleicht passiert mir das gerade auch.” Sie beugte sich vor, legte die Hände um ihren gewölbten Bauch und brach in Tränen aus.

Elizabeth setzte sich auf ihrem Stuhl zurück. Es wäre möglich, vermutete sie, doch es konnte jede Menge anderer Erklärungen geben. “Es ist alles in Ordnung, Maria. Sie wissen, dass ich Ihnen helfe, soweit es in meiner Macht steht. Sagen Sie mir, warum Sie glauben, dass Sie ebenso wie Ihre Mutter einen Tumor haben.”

Maria sah auf. Ihre Hände bebten, als sie sich die Tränen von den Wangen wischte. “In der Nacht … wenn Miguel arbeitet, höre ich manchmal Geräusche. Es sind schreckliche Geräusche, ein Knarren und Seufzen und ein Stöhnen, das klingt wie der Wind, doch die Nacht ist ganz ruhig. Die Luft im Schlafzimmer wird ganz stickig und so schwer, dass ich kaum atmen kann.” Sie schluckte. “Und dann ist da der Geruch.”

“Der Geruch?”

“Sí. Es riecht nach Rosen, aber so intensiv, dass ich Angst habe zu ersticken.”

“San Pico ist berühmt für seine Rosen. Sie züchten sie hier seit mehr als vierzig Jahren. Gelegentlich müssen Sie sie riechen.” Sie griff erneut nach der Hand der jungen Frau und fühlte, wie kalt sie war und wie sie zitterte. “Sie sind schwanger, Maria. Wenn eine Frau ein Kind erwartet, geraten ihre Gefühle manchmal ziemlich durcheinander.”

“Ist das so?”

“Ja, manchmal ist das so.”

Maria blickte verlegen zur Seite. “Ich bin nicht sicher, was da passiert. Manchmal … manchmal scheint es so real. Manchmal glaube ich …”

“Glauben Sie was, Maria?”

“Dass … en mi casa andan duendes.”

Elizabeth sprach einigermaßen Spanisch; sie musste die Sprache wegen ihrer Arbeit beherrschen. “Sie denken, in Ihrem Haus spukt es? Das können Sie nicht glauben.”

Maria schüttelte den Kopf, erneut stiegen ihr die Tränen in die Augen. “Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Ich weiß nur, dass ich nachts sehr viel Angst habe.”

Genug Angst, dass sie nicht schlafen konnte.

“Aber Sie haben nicht tatsächlich einen Geist gesehen.”

Maria schüttelte den Kopf. “Ich habe ihn nicht gesehen. Ich habe nur seine Stimme gehört in meinem Kopf.”

“Hören Sie, Maria. In Ihrem Haus spukt es nicht. Es gibt keine Geister.”

“Was ist mit Jesus? Jesus ist zurückgekommen von den Toten. Man nennt ihn den Heiligen Geist.”

Elizabeth lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. Sie hatte es schon mit Hunderten von ungewöhnlichen Problemen zu tun gehabt, doch dies war etwas Neues.

“Jesus ist was anderes. Er ist Gottes Sohn, und er spukt nicht in Ihrem Haus. Glauben Sie wirklich, dass da ein Geist in Ihrem Schlafzimmer ist?”

“Da ist ein Geist … oder ich sterbe wie meine Mutter.” Maria fing wieder an zu weinen.

Elizabeth erhob sich. “Nein, das werden Sie nicht”, sagte sie fest und konnte damit Marias Tränen für den Moment stillen. “Sie werden nicht sterben. Doch um sicherzugehen, dass Sie keinen Tumor haben, werde ich einen Termin in der Klinik für Sie ausmachen. Dr. Zumwalt kann eine Computertomografie vornehmen lassen. Falls irgendwas nicht in Ordnung sein sollte, wird er das daraus ersehen können.”

“Wir haben nicht das Geld, um das zu bezahlen.”

“Die Gemeinde wird das übernehmen, wenn Dr. Zumwalt die Untersuchung für nötig hält.”

“Wird es wehtun?”

“Nein. Sie machen nur eine Aufnahme vom Inneren Ihres Kopfes.”

Maria erhob sich. “Sie müssen mir versprechen, es nicht Miguel zu sagen.”

“Ich werde es Ihrem Mann nicht sagen. Das hier bleibt zwischen Ihnen und mir.” Sie konnte sich nur zu gut vorstellen, was Miguel Santiago sagen würde, wenn er davon hörte, dass seine junge Frau glaubte, in ihrem Haus spuke es.

“Werden wir morgen zu der Klinik fahren?”

“Ich rufe Sie an, sobald ich einen Termin habe. Dann hole ich Sie ab und bringe Sie höchstpersönlich dorthin.”

Maria gelang ein klägliches Lächeln. “Danke.”

“Raul wird mich fragen, ob es Ihnen gut geht.”

“Sagen Sie ihm, ich wäre okay.”

Elizabeth seufzte. “Ich sage ihm, dass ich Sie zu einem Check-up bringe. Nur um sicherzugehen, dass alles in Ordnung ist mit Ihnen.”

Sie nickte und warf einen Seitenblick in Richtung Schlafzimmer. “Bitten Sie ihn, es nicht Miguel zu sagen.”

Carson Harcourt hielt vor dem zweigeschossigen Apartmentgebäude, stieg aus dem Mercedes und ging zu Apartment B. Die Gegend war ruhig, die Nachbarschaft eine der sichersten in der Stadt. Er war nur wenige Minuten zu spät dran und nahm an, dass Elizabeth sowieso noch nicht fertig war.

Das waren Frauen nie.

Er klopfte kurz an die Tür und wunderte sich, als eine ausgehbereite Elizabeth Conners ihm öffnete.

Carsons Blick wanderte über ihr bodenlanges dunkelblaues paillettenbesetztes Kleid, und er ertappte sich dabei, wie er lächelte. Seine spontane Einladung zu der Benefizveranstaltung entpuppte sich als genialer Einfall. Natürlich hatte er bemerkt, dass sie hübsch war. Er hatte geahnt, dass sie in etwas anderem als diesen langweiligen, wenn auch professionellen Kostümen weitaus mehr hermachen würde.

“Du siehst hinreißend aus”, sagte er und meinte es auch so. Sie war ein bisschen größer als der Durchschnitt und schmal gebaut. Während er ihr figurbetontes Kleid bewunderte, bemerkte er, dass sie schöne volle Brüste hatte, seidige Schultern, eine schmale Taille und schön geschwungene Hüften.

Ich hätte das schon früher tun sollen, schalt er sich selbst.

“Danke für das Kompliment. Du siehst selber ganz flott aus, Carson.”

Er lächelte. Er sah immer gut aus im Smoking. Das Schwarz betonte seine blonden Haare und blauen Augen, und mit dem einen geschlossenen Knopf kamen seine breiten Schultern gut zur Geltung. Er war erst seit wenigen Minuten an der Luft, doch schon schwitzte er unter dem weißen Hemd.

“Lass uns gehen. Im Wagen ist es kühler.”

Elizabeth nickte und hakte sich bei ihm ein. Carson führte sie zu seinem Wagen und half ihr beim Einsteigen. Die Klimaanlage arbeitete auf vollen Touren, sobald er den Schlüssel in der Zündung umdrehte. Es war lange her, dass er Zeit gehabt hatte für weibliche Gesellschaft. Er blickte kurz hinüber zu Elizabeth und dachte, dass es vielleicht an der Zeit wäre, das zu ändern.

Die Benefizveranstaltung war in vollem Gange, als sie ankamen. Carson führte Elizabeth durch die wogende Menge, während er hier und da lächelnden Gesichtern zuwinkte. Er hielt an einer Bar und orderte ein Glas Champagner für Elizabeth und einen Scotch mit Soda für sich selbst. Sie hielten Small Talk mit einigen Gästen, darunter Sam Marston, dem Leiter von Teen Vision, sowie Dr. und Mrs. Lionel Fox, zwei der größten Förderer der Organisation, beide Highschool-Betreuer.

“Elizabeth! Ich wusste nicht, dass du auch hier sein würdest!” Das war Gwen Petersen. Sie war mit ihrem Mann Jim da, Bereichsleiter der Wells Fargo Bank. Offenbar war sie eine gute Freundin von Elizabeth.

“Ich hatte auch nicht vor zu kommen, bis Carson so nett war, mich einzuladen. Ich wollte dich anrufen. Aber ich hatte einfach so viel zu tun.”

Gwens Blick wanderte von Elizabeth zu Carson und blieb an ihm haften, als ob sie die beiden als Paar abschätzen wollte. Dann lächelte sie.

“Oh, was für eine nette Idee.” Sie war klein und grazil, mit roten Haaren und einem attraktiven Gesicht. Sie und ihr Mann hatten zwei kleine Jungs, wenn er sich richtig erinnerte, und das tat er meistens.

Carson erwiderte das Lächeln. “Ja, das war eine sehr gute Idee.”

Gwens Blick richtete sich wieder auf ihre Freundin. “Ich rufe dich Anfang der Woche an. Wir müssen unbedingt zusammen Mittag essen.”

Elizabeth nickte. “Okay, das machen wir.”

Der offizielle Teil sollte gleich beginnen. Carson geleitete Elizabeth an den weiß gedeckten Haupttisch und setzte sich neben sie.

Der Trubel verebbte allmählich, als auch die letzten Gäste Platz genommen hatten. Die Benefizveranstaltung wurde im Bankettraum des Holiday Inn abgehalten, wo fast alle örtlichen Großveranstaltungen stattfanden.

Carson stellte Elizabeth den anderen Gästen am Tisch vor. Einige von ihnen kannte sie schon, und sie machten freundlich Konversation, während das Dinner serviert wurde. Es bestand aus dem üblichen Gummihuhn in einer mattbraunen Bratensoße, gestampften Kartoffeln und viel zu lange gekochtem Brokkoli. Es folgte das Dessert, eine annehmbare Mousse au Chocolat, die seinen Appetit stillen konnte, den er nach dem unbefriedigenden Mahl noch verspürte.

Dann begannen die Reden. Sam Marston sprach über den Fortschritt, den sie mit der Jugendfarm machten. John Dillon, einer der Highschool-Betreuer, schloss an mit einer Erörterung der Chancen, die die Farm für Jugendliche in Schwierigkeiten bot. Carson wurde als Letzter aufgerufen und erhielt viel Applaus.

Er strich seine Smokingjacke glatt, als er hinter das Sprechpult trat. “Guten Abend, meine Damen und Herren. Es ist sehr erfreulich, solch eine fantastische Beteiligung für so ein wertvolles Projekt zu sehen.” Mehr Applaus. Er hatte schon allein das Geräusch immer gemocht. “Sam hat Ihnen einiges über die Farm erzählt. Lassen Sie mich etwas über die Jungen bei Teen Vision erzählen.”

Er begann mit einer kurzen Geschichte über einige der Jugendlichen, die an Teen Vision teilgenommen hatten. Als er fertig war mit den Tragödien, die einige der jungen Männer erlebt hatten, und der Beschreibung, wie Teen Vision ihr Leben veränderte, blieb es völlig still im Saal.

“Sie waren in der Vergangenheit alle sehr großzügig. Ich hoffe, dass Sie die Farm auch weiterhin unterstützen. Heute Abend nehmen wir Spenden entgegen. Geben Sie Ihren Scheck einfach nur am Tisch neben der Tür ab, und Mrs. Grayson wird Ihnen eine Quittung für die Steuer ausstellen.”

Alle applaudierten heftig, und Carson setzte sich wieder neben Elizabeth.

“Du warst wunderbar”, sagte sie, und ihre schönen blauen Augen leuchteten. “Du hast sehr treffend geschildert, was diese Jungen durchgemacht haben.”

Er zuckte die Achseln. “Es ist ein sehr lohnenswertes Projekt. Ich bin froh, wenn ich irgendwie helfen kann.”

Lächelnd sah sie zu ihm auf. Er mochte das an einer Frau, wenn sie einen Mann schätzte und ihn das auch wissen ließ. Und er mochte es, wie sie in diesem Kleid aussah – sexy und dennoch elegant, nicht zu bombastisch. Wenn sie ein wenig mehr Geld für ihre üblichen Kostüme ausgab, würde sie auch darin gut aussehen.

“Die Band fängt an”, sagte er. “Warum tanzen wir nicht?”

Elizabeth lächelte. “Mit Vergnügen.” Sie erhob sich und ging voraus zur Tanzfläche. Carson beobachtete ihren Gang und lächelte anerkennend. Sexy, aber nicht zu aufreizend, außerdem hatte sie ein gutes Namensgedächtnis, wie er bemerkt hatte, und war auch angenehm in der Konversation.

Interessant.

Ein langsames Lied begann. Er zog sie in seine Arme, und ihre Hände schlangen sich um seinen Nacken. Sie bewegten sich zu der Musik, als ob sie schon ein Dutzend Mal zusammen getanzt hätten, und er mochte die Art, wie ihre Körper zueinanderpassten.

“Du bist ein sehr guter Tänzer”, sagte sie.

“Ich tue mein Bestes.” Er dachte an die Tanzstunden, zu denen ihn seine Mutter als Junge geschickt hatte. Wie sie es ihm versprochen hatte, zahlte sich die Mühe jetzt aus, auch wenn er damals jede Minute gehasst hatte. “Ich habe schon immer gern getanzt.”

“Ich ebenfalls.” Elizabeth ließ sich leicht führen und sorgte auf diese Weise dafür, dass er besser aussah, als er es normalerweise tat. Ihre Taille war schmal und ihr Körper fest unter seinen Händen. Er hatte sie schon immer attraktiv gefunden. Es überraschte ihn selbst, dass er ihr vorher nicht mehr Beachtung geschenkt hatte.

Auf der anderen Seite hatten seine politischen Ambitionen bislang der fernen Zukunft gegolten. Das hatte sich kürzlich verändert.

Das Lied endete. Carson folgte Elizabeth, die die Tanzfläche verließ. Beide stoppten unvermittelt, als ihnen einen dunkelhaariger Mann in den Weg trat.

“Ach. Sieh mal einer an, wer da ist”, sagte Carson gedehnt, als er seinem Bruder in die goldgesprenkelten braunen Augen sah. Die Zeiten änderten sich, doch einige Dinge änderten sich nie. Dazu gehörten auch seine Gefühle für Zach oder besser gesagt, deren Abwesenheit.

Elizabeth blickte von Carson zu dem Mann, der dicht an dicht vor ihm stand, mit dunklen Haaren und ebensolchen Augen. Er war unglaublich attraktiv. Und plötzlich traf sie die Erkenntnis, dass sie diesen Mann schon einmal gesehen hatte. Auch wenn sein Gesicht hinter der dunklen Sonnenbrille nicht zu erkennen gewesen war, handelte es sich doch um denselben Mann, den sie bei Teen Vision an der Scheune hatte arbeiten sehen. Und nun wusste sie auch, warum er ihr so bekannt vorgekommen war.

“Ich dachte, du würdest nicht kommen”, sagte Carson mit einer Schärfe in der Stimme, die vorher nicht da gewesen war. Elizabeth wusste, warum. Der Mann, der vor ihr stand, war Carsons Halbbruder.

“Ich habe meine Meinung geändert.” Zachary Harcourts Blick wanderte zu ihr, und er zeigt ein strahlendes Lächeln, bei dem sich seine weißen Zähne gegen seine dunkle Haut abhoben. “Hallo, Liz.”

Ihr ganzer Körper versteifte sich. “Hallo, Zach. Es ist lange her.” Aber nicht lange genug, dachte sie, als sie sich daran erinnerte, wann sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Sich erinnerte, wie betrunken und aufdringlich er gewesen war, seine Pupillen unnormal groß von irgendwelchen Drogen, die er genommen hatte. Sie war damals in der Highschool gewesen und hatte im Marge's gearbeitet. “Ich wusste nicht, dass du wieder in San Pico bist.”

“Bin ich nicht. Nicht offiziell. Obwohl ich gehört habe, dass du hier jetzt lebst.”

“Ich bin seit einigen Jahren wieder zurück.” Sie sagte nicht, dass sie ihn draußen bei Teen Vision gesehen hatte, doch insgeheim zweifelte sie an Carsons Urteilsvermögen. Warum ließ er einen Mann wie seinen Bruder in die Nähe dieser leicht zu beeindruckenden Jungendlichen?

“Nette Party”, sagte Zach, während er die Frauen in ihren Abendkleidern und die Männer in den Smokings betrachtete. “Jedenfalls, wenn man Gummihuhn mag und eine Band, die normalerweise an Veteranen-Abenden spielt.”

“Dies ist San Pico, nicht L.A.”, sagte Carson steif und rückte seine Fliege zurecht. “Wir sind hier, um Geld zusammenzubekommen, falls du das vergessen hast.”

“Nach dieser ergreifenden kleinen Rede, die du gehalten hast – wie könnte ich das vergessen? Gute Arbeit, übrigens.” Zachs Smoking sah teuer aus, Stoff und Schnitt wirkten italienisch. Armani oder vielleicht Valentino, Designer, die Kleidung für Männer machten, die ebenso schmal und athletisch gebaut waren wie Models.

Sie fragte sich, woher er das Geld hatte, um sich solche Kleidung zu kaufen. Vielleicht war er zum Drogendealer aufgestiegen. Immerhin hatte er nicht mehr diesen benommenen Blick eines Abhängigen.

“Mrs. Grayson wird deinen Scheck gern entgegennehmen”, stichelte Carson.

Zach zog eine seiner schmalen, fast schwarzen Brauen hoch. “Ich bin sicher, sie würde auch deinen nehmen.”

Carson warf ihm einen warnenden Blick zu. Die beiden Brüder hatten nie viel füreinander übrig gehabt, und das schien sich nicht geändert zu haben. “Du hattest doch vor, nicht zu kommen. Warum hast du deine Meinung geändert?”

Die dunklen Augen wanderten zu Elizabeth. “Ich wollte ein paar alte Freunde begrüßen.”

Autor

Kat Martin
<p>Ihre Arbeit im Immobiliengeschäft führte die New York Times Bestseller- Autorin Kat Martin auf den Weg ins Glück. Durch ihre Tätigkeit als Maklerin lernte sie den perfekten Partner kennen – ihren Ehemann, den Western-Autor Jay Martin. „Wir standen uns als potenzielle Verkäufer und Käufer gegenüber“, erinnert sie sich. Kurz nachdem...
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