Die Herren der Unterwelt 1: Schwarze Nacht

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Einst dienten die tapferen Lords der Unterwelt dem Gottkönig. Ein Zwist aber führte dazu, dass die zwölf Ritter mit einem Dämon bestraft wurden, den sie jeden Tag aufs Neue zu bezwingen haben ...

Die junge Wissenschaftlerin Ashlyn Darrow ist verzweifelt: An jedem Ort hört sie alle Gespräche, die je dort stattgefunden haben. Und sie weiß: wenn, dann können ihr nun die Lords der Unterwelt helfen. Auch auf die Gefahr hin, von den Unsterblichen getötet zu werden, wagt sie die Reise zum Haus der Verdammten - und trifft in den Wäldern vor den Toren Budapests auf Maddox, den Hüter des Dämons der Gewalt. Zum ersten Mal verstummen alle Stimmen in ihr.

Auch Maddox spürt sofort den unwiderstehlichen Reiz der jungen Amerikanerin. Doch er darf seinen Gefühlen nicht nachgeben, denn das Böse in ihm ist unberechenbar. Ein jahrtausende alter Kampf entflammt von Neuem: gegen den inneren Feind, und gegen den äußeren, der Ashlyns Spur verfolgt hat. Beide wollen nur eins: töten! Maddox' und Ashlyns Schicksal scheint besiegelt.


  • Erscheinungstag 15.12.2010
  • Bandnummer 1
  • ISBN / Artikelnummer 9783899419252
  • Seitenanzahl 408
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Jede Nacht kam der Tod – langsam und qualvoll. Und jeden Morgen erwachte Maddox im Bett, wissend, dass er später wieder sterben müsste. Das war sein Fluch, seine ewige Bestrafung.

Er fuhr sich mit der Zunge über die Zähne und wünschte sich, seinem Feind mit einer Klinge die Kehle durchschneiden zu können. Der Tag war schon fast vorüber. Er hörte, wie die Zeit verstrich, ein giftiges Ticktack in seinem Kopf. Jeder Stundenschlag der Uhr erinnerte ihn voller Hohn an den Tod und den Schmerz.

In weniger als einer Stunde würde sich der erste Stich in seinen Bauch bohren, und was er auch tat oder sagte – es würde nichts daran ändern. Der Tod käme ihn holen.

„Verfluchte Götter“, murmelte er und stemmte die Gewichte schneller.

„Hurensöhne, jeder einzelne von ihnen“, ertönte hinter ihm eine vertraute Stimme.

Obwohl es ihm nicht passte, dass Torin sich einmischte, verlangsamte Maddox das Tempo nicht. Hoch. Runter. Hoch. Runter. In den vergangenen zwei Stunden hatte er seine Wut schon an dem Sandsack, dem Laufband und den Geräten ausgelassen. Der Schweiß rann ihm in kleinen Bächen die nackte Brust und die Arme hinab, was seine Muskeln nur noch mehr betonte. Eigentlich hätte seine Seele genauso erschöpft sein müssen wie sein Körper, doch seine Gefühle wurden immer düsterer und intensiver.

„Was willst du hier?“, fragte er schroff.

Torin seufzte. „Hör zu, eigentlich wollte ich dich nicht stören, aber es ist etwas passiert.“

„Dann kümmere dich darum.“

„Ich kann nicht.“

„Egal, was es ist, versuch es. Ich bin nicht in der Verfassung zu helfen.“ Seit einigen Wochen brachte ihn schon die kleinste Kleinigkeit in Rage – ein Zustand, in dem niemand sicher vor ihm war. Selbst seine Freunde nicht. Besonders seine Freunde nicht. Er wollte es nicht, hatte es nie gewollt, doch manchmal war er machtlos gegen den Drang, andere zu schlagen und zu verletzen.

„Maddox …“

„Es geht nicht, Torin“, krächzte er. „Ich würde mehr Schaden anrichten als euch nutzen.“

Maddox kannte seine Grenzen – schon seit Tausenden von Jahren. Seit dem verdammten Tag, als die Götter eine Frau auserkoren hatten, um eine Aufgabe auszuführen, die eigentlich ihm zugestanden hätte.

Pandora war stark, ja, die stärkste Soldatin jener Zeit. Doch er war stärker. Fähiger. Trotzdem befand man ihn als zu schwach, um dimOuniak zu bewachen – eine heilige Büchse, in der Dämonen eingesperrt waren, die so abscheulich und zerstörerisch waren, dass die Außenwelt selbst dann nicht sicher vor ihnen gewesen wäre, wenn sie in der Hölle geschmort hätten.

Als wenn Maddox es zugelassen hätte, dass die Büchse zerstört würde. Bei dem Angriff war er blind vor Wut gewesen. So wie all die anderen Krieger, die nun hier lebten. Sie hatten gewissenhaft für den Götterkönig gearbeitet, hatten fachmännisch getötet und ihn sorgsam beschützt; sie hätten als Wächter auserwählt werden müssen. Dass es nicht geschah, war eine nicht zu tolerierende Schmach.

Sie wollten den Göttern in jener Nacht nur eine Lektion erteilen, als sie Pandora dimOuniak entwendeten und die Dämonen in die nichts ahnende Umwelt entließen. Wie dumm sie doch waren. Sie wollten ihre Macht demonstrieren und scheiterten kläglich: Die Büchse ging in dem Tumult verloren, und die Krieger konnten nicht einen der bösen Geister wieder einfangen.

Bald herrschten Chaos und Verwüstung, die die Welt in Dunkelheit stürzten, bis schließlich der Götterkönig einschritt und jeden Krieger dazu verdammte, einen der Dämonen in sich aufzunehmen.

Eine passende Strafe. Die Krieger hatten das Böse entfesselt, um ihren verletzten Stolz zu rächen und mussten fortan damit leben.

Damit waren die Herren der Unterwelt geboren.

Maddox wurde der Dämon der Gewalt zugeteilt, der genauso zum Teil seines Körpers wurde wie seine Lunge oder sein Herz. Der Krieger Maddox konnte nicht mehr ohne den Dämon leben, und der Dämon konnte nicht mehr ohne den Krieger existieren. Sie waren untrennbar miteinander verbunden. Zwei Hälften, die zusammen ein Ganzes ergaben.

Von Beginn an hatte ihn die Kreatur in seinem Innern dazu verführt, bösartige und verhasste Dinge zu tun, und er war gezwungen zu gehorchen. So auch, als er dazu verleitet worden war, eine Frau zu töten – Pandora. Er umklammerte die Gewichtstange so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Mit den Jahren hatte er gelernt, besonders abscheuliche Züge seines Dämons zu unterdrücken. Doch es war ein ständiger Kampf, den er jederzeit wieder verlieren konnte.

Was hätte er doch für einen einzigen friedlichen Tag gegeben. Ohne das überwältigende Verlangen zu verspüren, jemandem wehzutun. Ohne gegen sich selbst zu kämpfen. Ohne Sorgen. Ohne Tod. Einfach nur … Frieden.

„Du bist hier nicht sicher“, warnte er seinen Freund, der immer noch in der Tür stand. „Geh lieber.“ Er legte die silberne Stange in die Halterung und setzte sich auf. „Nur Lucien und Reyes dürfen in meiner Nähe sein, wenn ich sterbe.“ Und das auch nur, weil sie dabei – wenn auch unfreiwillig – eine zentrale Rolle spielten. Sie waren ihren Dämonen genauso hilflos ausgeliefert wie Maddox.

„Bis dahin ist noch knapp eine Stunde Zeit“, Torin warf ihm ein Tuch zu, „also lass ich’s drauf ankommen.“

Maddox griff hinter sich, fing das weiße Tuch auf und drehte sich um. Er wischte sich das Gesicht ab. „Was …“

Eine eiskalte Flasche Wasser sauste durch die Luft, noch bevor er die zweite Silbe ausgesprochen hatte. Er fing sie geschickt auf, wobei etwas Flüssigkeit auf seine Brust spritzte. Während er trank, musterte er seinen Freund.

Wie gewöhnlich war Torin ganz in Schwarz gekleidet und trug Handschuhe. Das blonde Haar lockte sich auf seinen Schultern und rahmte ein Gesicht ein, das sterbliche Frauen als Festschmaus für die Sinne bezeichneten. Sie wussten nicht, dass dieser Mann der Teufel im Gewand eines Engels war. Doch sie hätten es wissen sollen. Er strahlte eine unübersehbare Geringschätzung aus, und das gottlose Glänzen, das in seinen grünen Augen lag, verkündete, dass er seinem Gegenüber ins Gesicht lachen würde, während er ihm das Herz herausriss. Oder dass er seinem Gegenüber ins Gesicht lachen würde, während dieser ihm das Herz herausriss.

Um zu überleben, musste er so viel lachen wie möglich. So erging es ihnen allen.

Wie alle Bewohner der Budapester Burg war auch Torin verflucht. Er starb vielleicht nicht jede Nacht, so wie Maddox, aber er konnte kein Lebewesen berühren, ohne es mit einer Krankheit zu infizieren.

Torin war vom Dämon des Siechtums besessen.

Seit mehr als vierhundert Jahren war er von keiner Frau mehr berührt worden. Er hatte seine Lektion gelernt, als er seinem Verlangen ein Mal nachgab und das Gesicht seiner angehenden Geliebten streichelte. Er löste damit eine Seuche aus, die in unzähligen Dörfern Mensch für Mensch dahinraffte.

„Nur fünf Minuten“, verlangte Torin. „Um mehr bitte ich dich gar nicht.“

„Glaubst du, wir werden heute dafür bestraft, dass wir die Götter beleidigt haben?“, erwiderte Maddox. Er ignorierte die Bitte. Wenn er es gar nicht erst zuließ, dass man ihn um einen Gefallen bat, brauchte er auch nicht abzulehnen und sich später schuldig zu fühlen.

Sein Freund seufzte. „Jeder unserer Atemzüge soll eine Bestrafung sein.“

Er hatte recht. Maddox’ Lippen verzogen sich langsam zu einem messerscharfen Grinsen, als er an die Decke starrte. Ihr Bastarde. Na los, bestraft mich weiter. Vielleicht würde er sich dann endlich in Nichts auflösen.

Doch eigentlich glaubte er nicht, dass die Götter sich mit seinem Anliegen befassen würden. Seit sie ihn mit dem Todesfluch belegt hatten, ignorierten sie ihn und taten, als hörten sie sein Flehen um Vergebung und Absolution nicht. Als hörten sie seine Schwüre und seine verzweifelten Verhandlungen nicht.

Aber konnten sie ihm überhaupt noch etwas Schlimmeres antun?

Nichts konnte grausamer sein, als wieder und wieder zu sterben. Oder des Guten und der Rechtschaffenheit beraubt zu werden … oder den Gewaltdämon in der eigenen Seele und dem eigenen Körper zu beherbergen.

Maddox sprang auf und feuerte den mittlerweile nassen Lappen und die leere Flasche in den nächsten Mülleimer. Er schlenderte zum anderen Ende des Raumes, verschränkte die Hände über dem Kopf, lehnte sich gegen den halbrunden Erker aus Buntglas und starrte durch den einzig durchsichtigen Spalt in die Nacht.

Er sah das Paradies.

Er sah die Hölle.

Er sah die Freiheit, ein Gefängnis, alles und nichts.

Er sah … sein Zuhause.

Da die Burg auf einem Hügel stand, hatte er einen guten Blick über die gesamte Stadt. Helle Lichter blinkten – pink, blau und lila –, erhellten den düsteren, samtenen Himmel, glitzerten in der Donau und rahmten die schneebedeckten Bäume ein, von denen es in dieser Gegend so viele gab. Ein Wind wehte und Schneeflocken tanzten durch die Luft.

Hier oben hatten er und die anderen ein Mindestmaß an Privatsphäre und Schutz vor dem Rest der Welt gefunden. Hierher konnten sie kommen, von hier konnten sie weggehen, ohne mit Fragen bombardiert zu werden. Warum werdet ihr nicht älter? Warum hallen jede Nacht Schreie durch den Wald? Warum seht ihr manchmal wie Ungeheuer aus?

Von hier oben hielten sich die Einheimischen fern – aus Angst und aus Respekt. Bei einer seiner seltenen Begegnungen mit einem Sterblichen hatte er ihn sogar „Engel“ flüstern hören.

Wenn sie nur wüssten …

Maddox’ Nägel wurden länger und krallten sich in die Steinwand. Budapest war ein Ort von majestätischer Schönheit, der vom Charme der alten Welt umweht wurde und der dennoch nicht auf die Annehmlichkeiten der Moderne verzichtete. Doch Maddox hatte sich seit jeher ausgeschlossen gefühlt. Von allem. Von dem Burgviertel genauso wie von den Nachtclubs. Vom Obst und Gemüse, das in der einen Passage verkauft wurde, genauso wie von dem lebendigen Fleisch, das in der nächsten Gasse feilgeboten wurde.

Vielleicht verginge das Gefühl der Unverbundenheit, wenn er die Stadt einmal erkunden würde, doch im Gegensatz zu den anderen, die nach Belieben umherstreiften, war er in der Burg und den umliegenden Ländereien genauso gefangen wie der Dämon der Gewalt vor Tausenden von Jahren in der Büchse der Pandora.

Seine Fingernägel wuchsen weiter, jetzt waren es schon fast Krallen. Der Gedanke an die Büchse versetzte ihn immer in eine düstere Stimmung. Schlag gegen die Wand, stachelte sein Dämon ihn auf. Zerstör irgendetwas. Verletze jemanden, töte jemanden. Am liebsten hätte er die Götter ausgelöscht. Einen nach dem anderen. Sie vielleicht geköpft. Ihnen aber auf jeden Fall ihre schwarzen, verfaulten Herzen herausgerissen.

Der Dämon schnurrte zustimmend.

Klar, dass ihm das gefällt, dachte Maddox angewidert. Hauptsache es ist blutrünstig, egal wer die Opfer sind. Er schickte noch einen erzürnten Blick gen Himmel. Er und der Dämon waren schon seit langer Zeit vereint, doch er konnte sich noch immer deutlich an den Tag erinnern, als alles begann. An die Schreie der Unschuldigen. An die Menschen um ihn herum, die bluteten und starben. An die Dämonen, die das Fleisch dieser Menschen in Ekstase verschlangen.

Nur als der Dämon der Gewalt in seinen Körper eingedrungen war, hatte er den Bezug zur Realität verloren. Er hatte nichts gehört und nichts gesehen. Ihn umgab nichts als Dunkelheit. Erst als Pandoras Blut auf seine Brust spritzte, erwachte er. Ihr letzter Atemzug hallte in seinen Ohren wider.

Sie war nicht sein erstes Opfer – oder sein letztes. Aber sie war die erste und einzige Frau, die er mit seinem Schwert traf. Der furchtbare Anblick dieser leblosen weiblichen Gestalt, in deren Adern kurz zuvor noch das Leben pulsiert hatte, und das Wissen darum, dass er für ihren Tod verantwortlich war … Bis zum heutigen Tag hatte nichts seine Schuld und Reue lindern können. Die Schande und die Trauer.

Er hatte geschworen, alles zu tun, um den Dämon in Zukunft zu kontrollieren, doch es war zu spät gewesen. Zeus war verärgerter als je zuvor und belegte ihn mit einem zweiten Fluch: Er sollte jede Nacht um Mitternacht denselben Tod sterben wie Pandora – durch eine Klinge, die sich sechsmal unter höllischen Schmerzen in seinen Unterleib bohrte. Der einzige Unterschied war, dass ihre Qual nach Minuten vorüber gewesen war.

Seine Qualen würden bis in alle Ewigkeit fortdauern.

Er knackte mit dem Kiefer und versuchte, sich zu entspannen, als er den nächsten Ansturm der Gewalt kommen spürte. Er sagte sich, dass er nicht der Einzige war, der leiden musste. Die anderen Krieger hatten auch mit Dämonen zu kämpfen – sowohl buchstäblich als auch bildlich. In Torin wohnte der Dämon der Krankheit. In Lucien der Dämon des Todes. In Reyes der des Schmerzes. In Aeron der des Zorns. In Paris der der Promiskuität.

Warum hatte man ihm nicht den letzten zugeteilt? Er hätte jederzeit in die Stadt gehen, sich eine Frau nehmen und jeden Laut, jede Berührung genießen können.

Doch so konnte er sich weder weit von der Burg weg wagen, noch über längere Zeit mit Frauen umgeben. Wenn sein Dämon die Kontrolle übernähme oder wenn er vor Mitternacht nicht zu Hause wäre und jemand seine blutverschmierte Leiche fände und begrübe – oder schlimmer: verbrannte …

Aber ein Teil von ihm wünschte sich, dass ein solcher Zwischenfall seine klägliche Existenz beenden würde. Am liebsten hätte er sich schon vor langer Zeit von einem Feuer verzehren lassen oder wäre aus dem höchsten Fenster der Burg gesprungen, damit sein Schädel samt Gehirn zerschmetterte. Aber nein. Was er auch tat, er wachte einfach wieder auf – egal ob verkohlt oder erstochen. Ob mit gebrochenen Knochen oder mit tausend Schnitten.

„Du starrst jetzt schon seit geraumer Zeit aus dem Fenster“, bemerkte Torin. „Willst du denn gar nicht wissen, was passiert ist?“

Maddox blinzelte, als er aus den Gedanken gerissen wurde. „Du bist ja immer noch da.“

Sein Freund zog eine schwarze Augenbraue hoch, die einen unheimlichen Kontrast zu den silbrig-blonden Haaren bildete. „Das heißt wohl so viel wie ‚Nein‘. Hast du dich wenigstens wieder beruhigt?“

Konnte er sich überhaupt richtig beruhigen? „Ich bin so ruhig, wie ein Wesen meiner Art es nun mal sein kann.“

„Hör auf zu jammern. Ich muss dir etwas zeigen, und wag es bloß nicht, mir noch einen Korb zu geben. Wir können ja auf dem Weg darüber reden, warum ich dich gestört habe.“ Ohne ein weiteres Wort machte Torin auf dem Absatz kehrt und verließ entschlossen den Raum.

Maddox blieb noch ein paar Sekunden stehen und blickte seinem Freund nach, der gerade um eine Ecke verschwand. Hör auf zu jammern, hatte Torin gesagt, und er hatte vollkommen recht damit. Jetzt bahnten sich die Neugierde und eine ironische Heiterkeit den Weg durch seine düstere Stimmung, und Maddox trat vom Trainingsraum auf den Flur. Er spürte einen kalten Luftzug. Die Luft war feucht und roch nach Winter. Er erspähte Torin wenige Meter vor ihm und schloss zu ihm auf.

„Worum geht’s denn?“

„Na endlich. Interesse“, bekam er zur Antwort.

„Wenn das einer deiner Tricks ist …“ Wie damals, als Torin Hunderte aufblasbare Puppen bestellt hatte und sie überall in der Burg aufstellte, nur weil Paris sich darüber beschwert hatte, dass es in der Stadt zu wenig Frauen gab. Aus allen Ecken starrten die Plastik-Ladys jeden, der vorbeiging, aus großen Augen und mit weit geöffneten „Ich will dir einen blasen Mündern“ an.

So etwas geschah immer dann, wenn Torin sich langweilte.

„Ich würde doch nicht meine Zeit damit verschwenden, dir einen Streich zu spielen“, erwiderte Torin ohne ihn anzusehen. „Du, mein Freund, hast keinen Sinn für Humor.“

Wie wahr.

Maddox hielt weiter mit Torin Schritt. Links und rechts erstreckten sich Steinmauern; in den Wandleuchtern züngelten die Flammen, ihr goldenes Licht verschmolz mit dem Schatten. Das Haus der Verdammten, wie Torin die Burg getauft hatte, war vor vielen Hundert Jahren gebaut worden. Zwar hatten sie es so gut wie möglich renoviert. Doch das Alter zeigte sich in bröckelnden Felsen und abgewetzten Fußböden.

„Wo sind die anderen?“, erkundigte sich Maddox, als ihm auffiel, dass ihnen auf dem ganzen Weg niemand begegnet war.

„Man sollte meinen, Paris kauft etwas zu essen, da unsere Schränke leer sind und er sonst keine Pflichten zu erfüllen hat, aber nein: Er ist auf der Suche nach Frischfleisch.“

So ein Glückspilz. Paris war derart von Sex besessen, dass er mit derselben Frau nicht zweimal ins Bett steigen konnte. Also verführte er jeden Tag eine – oder zwei oder drei – neue. Der einzige Nachteil: Wenn er keine Frau fand, musste er Dinge anstellen, die Maddox sich nicht näher ausmalen wollte. Dinge, nach deren Anblick jeder normale Mensch über der Toilette hängen und sich die Seele aus dem Leib kotzen würde. Obwohl Maddox’ Neid in solchen Momenten abebbte, flammte er immer wieder auf, wenn Paris von seinen Geliebten sprach. Von der flüchtigen Berührung eines Oberschenkels … von heißer Haut auf heißer Haut … von ekstatischem Stöhnen …

„Aeron ist … Mach dich auf was gefasst“, begann Torin, „denn das ist der Hauptgrund, weswegen ich so hartnäckig bin.“

„Ist ihm etwas zugestoßen?“, erkundigte sich Maddox, während sich seine Gedanken verfinsterten und allmählich die Wut Besitz von ihm ergriff. Zerstören, töten, knurrte sein Dämon gierig. „Ist er verletzt?“

Zwar galt Aeron als unsterblich. Aber man konnte einem Unsterblichen dennoch Leid zufügen und ihn sogar töten, wie sie alle auf grausame Art und Weise hatten erfahren müssen.

„Weder noch“, versicherte Torin.

Langsam entspannte er sich und der Dämon der Gewalt wich zurück. „Was denn dann? Hat er unseren Saustall aufgeräumt und dabei einen Wutanfall bekommen?“ Jeder Krieger hatte bestimmte Aufgabengebiete. So stellten sie wenigstens eine äußere Ordnung sicher, wenn schon in ihrem Innern ein Krieg tobte. Aeron gab das Zimmermädchen, worüber er sich täglich beschwerte. Maddox kümmerte sich um Reparaturarbeiten in der Burg. Torin war der Vermögensverwalter. Lucien erledigte den Papierkram, und Reyes versorgte sie mit Waffen.

„Die Götter … haben ihn zu sich gerufen.“

Der Schreck brachte Maddox einen Augenblick lang völlig aus dem Konzept, und er stolperte. „Was?“ Bestimmt hatte er sich nur verhört.

„Die Götter haben ihn zu sich gerufen“, wiederholte Torin geduldig.

Aber die Griechen hatten doch seit Pandoras Todestag nicht mehr mit ihnen gesprochen. „Was wollten sie von ihm? Und warum erfahre ich erst jetzt davon?“

„Erste Frage: Das weiß keiner. Wir haben uns gerade einen Film angesehen, als er sich plötzlich mit ausdrucksloser Miene aufsetzte. Es war, als wäre bei ihm niemand mehr zu Hause. Ein paar Sekunden später sagte er uns, sie hätten ihn gerufen. Keiner von uns hatte Zeit zu reagieren – in dem einen Moment saß Aeron noch bei uns, im nächsten war er weg.

Und zur zweiten Frage“, fügte Torin fast nahtlos hinzu, „ich habe ja versucht, es dir zu sagen. Aber du meintest, es sei dir egal, erinnerst du dich?“

Unter Maddox’ Lid zuckte ein Muskel. „Du hättest es mir trotzdem sagen müssen.“

„Während du die Langhantel in der Hand hattest? Ich bitte dich. In mir wohnt die Krankheit, nicht die Dummheit.“

Das war … das war … Maddox wollte eigentlich gar nicht darüber nachdenken, was es zu bedeuten hatte, aber er konnte die Gedanken nicht abschalten. Manchmal verlor Aeron – auch einfach nur Zorn genannt – vollkommen die Kontrolle über seinen Dämon und fing an, Amok zu laufen. Dann bestrafte er die Sterblichen für ihre Sünden. Wollten die Götter Aeron nun einen zweiten Fluch auferlegen, so wie ihm vor vielen Jahrhunderten?

„Wenn er nicht in derselben Gestalt zurückkehrt, in der er uns verlassen hat, werde ich irgendwie den Himmel stürmen und jeden Gott umbringen, der mir über den Weg läuft.“

„Deine Augen leuchten hellrot“, stellte Torin fest. „Sieh mal, wir sind alle durcheinander, aber Aeron wird bald zurückkommen und uns erzählen, was da vor sich geht.“

Na schön! Maddox zwang sich, sich zu entspannen. Mal wieder. „Wurde sonst noch jemand gerufen?“

„Nein. Lucien ist draußen und sammelt Seelen. Reyes ist Gott-weiß-wo, wahrscheinlich ritzt er sich gerade.“

Der Ärmste. Obwohl Maddox jede Nacht unerträgliche Qualen erlitt, bemitleidete er Reyes, der nicht eine Stunde überstand, ohne sich selbst Schmerzen zuzufügen.

„Gibt es sonst noch was?“ Maddox fuhr mit den Fingerspitzen an den beiden gewaltigen Säulen entlang, die die Treppe flankierten, bevor er die erste Stufe nahm.

„Ich glaube, es ist besser, wenn du es dir ansiehst.“

Ob es noch schlimmer ist als die Nachricht von Aeron?, grübelte Maddox, als er am Freizeitsalon vorbeiging. Das war ihr Heiligtum. Bei der Ausstattung des Raumes hatten sie keine Kosten gescheut. Überall standen vornehme Möbel und jeglicher Luxus, den ein Krieger sich nur wünschen konnte. Ein Kühlschrank voller guter Weine und Bier. Ein Billardtisch. Ein Basketballkorb. Ein riesiger Flachbildfernseher, auf dem selbst jetzt die Bilder von drei nackten Frauen zu sehen waren, die sich mitten in einer Orgie befanden.

„Wie ich sehe, war Paris hier“, kommentierte er.

Torin erwiderte nichts, beschleunigte jedoch seine Schritte, ohne einen Blick auf den Bildschirm zu werfen.

„Ist ja auch egal“, murmelte Maddox. Torins Aufmerksamkeit absichtlich auf Wesen aus Fleisch und Blut zu lenken, war grausam. Der unfreiwillig im Zölibat lebende Mann musste sich mit jeder Faser seines Körpers nach Sex – nach Berührungen – sehnen, doch er würde diesem Verlangen niemals nachgeben dürfen.

Selbst Maddox gönnte sich hin und wieder eine Frau.

In der Regel waren es Paris’ abgelegte Liebhaberinnen, die so dumm waren, ihm in der Hoffnung nach Hause zu folgen, noch einmal das Bett mit ihm teilen zu dürfen, und nicht wussten, wie aussichtslos dieses Unterfangen war. Sie waren immer so erregt – eine Folge ihres Liebesabenteuers mit dem Dämon der Promiskuität –, dass es ihnen meist egal war, wer am Ende ihre Schenkel spreizte. In der Regel nahmen sie Maddox nur zu gerne als Ersatz. Denn selbst wenn der Akt von emotionaler Kälte bestimmt war, so war er doch körperlich befriedigend.

Aber es musste so sein. Um ihre Geheimnisse zu hüten, erlaubten die Krieger es den Menschen nicht, ihre Burg zu betreten, und so musste Maddox mit den Frauen draußen im Wald schlafen. Am liebsten nahm er sie von hinten, auf allen Vieren, das Gesicht von ihm abgewandt. Ein schneller Paarungsakt, der seinen Dämon nicht wecken und ihn nicht dazu zwingen würde, Dinge zu tun, die ihn bis in alle Ewigkeit verfolgen würden.

Danach schickte Maddox die Frauen stets mit einer Warnung nach Hause: Komm nie zurück, sonst musst du sterben. So einfach war das. Es wäre dumm gewesen, sich auf eine längere Liaison einzulassen. Womöglich würden die Frauen ihm am Ende noch etwas bedeuten. Auf jeden Fall jedoch würde er ihnen früher oder später etwas antun und damit noch mehr Schuld und Schande auf seine Schultern laden.

Nur ein Mal, dachte er, hätte er eine Frau gern so geliebt wie Paris. Sie küssen und ihren Körper schmecken; in ihr ertrinken, sich ganz und gar in ihr verlieren, ohne Angst haben zu müssen, die Kontrolle zu verlieren und ihr wehzutun.

Als sie Torins Gemächer erreichten, verbannte er diese Gedanken aus seinem Kopf. Solche Wünsche waren vergeudete Zeit, das wusste er nur zu gut.

Er sah sich aufmerksam um. Er war schon zuvor in diesem Zimmer gewesen, erinnerte sich aber nicht daran, dass es mit Computern, Monitoren, Telefonen und anderem elektronischen Zubehör vollgestopft war. Im Gegensatz zu Torin mied Maddox die Technik weitestgehend. Er hatte sich noch nie an den schnellen Wandel der Zeit anpassen können. Außerdem hatte er das Gefühl, sich durch jeden technischen Fortschritt ein Stückchen weiter von dem sorglosen Kriegerdasein zu entfernen, das er einst gefristet hatte. Aber es wäre auch eine Lüge gewesen, wenn er behauptet hätte, dass er die Vorzüge der technischen Spielereien nicht genoss.

Nachdem er alles in Augenschein genommen hatte, wandte er sich an seinen Freund. „Übernimmst du das Kommando über die Welt?“

„Nö. Ich beobachte nur. Das ist der beste Weg, uns zu beschützen und ein bisschen Geld zu machen.“ Torin ließ sich in einen gepolsterten Drehstuhl vor dem größten Bildschirm fallen und begann, auf der Tastatur herumzutippen. Ein anderer Monitor schaltete sich ein, und auf dem Bild wurde ein ineinandergreifendes schwarzweißes Muster sichtbar. „Also, ich möchte, dass du dir das hier mal ansiehst.“

Darauf bedacht, seinen Freund nicht zu berühren, kam Maddox näher. Die undefinierbaren Kleckse auf dem Bildschirm verformten sich allmählich zu dicken, undurchsichtigen Linien. Bäume, wie ihm klar wurde. „Hübsch, aber nichts, was ich nun unbedingt hätte sehen müssen.“

„Geduld.“

„Beeilung“, konterte er.

Torin warf ihm einen ironischen Blick zu. „Wenn du mich so nett bittest … Ich habe Wärmesensoren und Infrarotkameras auf unserem Gelände versteckt, damit ich immer weiß, wann wir Besuch zu erwarten haben.“ Ein paar Eingaben später schwenkte die Kamera nach rechts. Etwas Rotes blitzte auf und verschwand im nächsten Moment wieder.

„Geh zurück.“ Maddox war angespannt. Er war kein Überwachungsexperte. Nein, seine Spezialität war das Töten. Doch selbst er wusste, was der rote Blitz bedeutete: Körperwärme.

Tipp, tipp, tipp und der rote Blitz erschien wieder auf dem Monitor.

„Ein Mensch?“, erkundigte er sich. Die Gestalt war klein, fast zierlich.

„Ohne Zweifel.“

„Mann oder Frau?“

Torin zuckte mit den Schultern. „Wahrscheinlich eine Frau. Zu groß für ein Kind und zu klein für einen erwachsenen Mann.“

Zu dieser späten Stunde verirrte sich so gut wie nie jemand auf den düsteren Hügel. Und tagsüber eigentlich auch nicht. Ob es daran lag, dass diese Gegend zu unheimlich und finster war, oder ob es ein Zeichen des Respekts war, den die Stadteinwohner ihnen entgegenbrachten – Maddox wusste es nicht. Aber er konnte die Lieferanten, die neugierigen Kinder und die lüsternen Frauen, die den Ausflug im vergangenen Jahr gewagt hatten, an einer Hand abzählen.

„Eine von Paris’ Liebhaberinnen?“, hakte er nach.

„Möglich. Oder …“

„Oder?“, drängte er, als sein Freund nicht weitersprach.

„Eine Jägerin“, bemerkte Torin grimmig. „Oder besser gesagt: ein Köder.“

Maddox presste die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen. „Du willst mich doch verarschen.“

„Denk mal nach. Lieferanten haben immer eine Kiste dabei, und Paris’ Mädchen rennen immer direkt zur Eingangstür. Die hier ist mit leeren Händen gekommen, und bewegt sich im Zick-Zack-Kurs. Alle paar Minuten bleibt sie stehen und fummelt an den Bäumen herum. Vielleicht deponiert sie Dynamit, um uns in die Luft zu jagen. Oder Kameras, um uns auszuspionieren.“

„Aber wenn sie mit leeren Händen gekommen ist …“

„Dynamit und Kameras sind so klein, dass man sie verstecken kann.“

Maddox massierte seinen Nacken. „Die Jäger haben uns seit Griechenland nicht mehr verfolgt oder gequält.“

„Vielleicht haben ihre Kinder und Kindeskinder uns seitdem gesucht und nun endlich gefunden.“

Maddox spürte, wie ihm die Angst den Rücken hinaufkroch. Zuerst Aerons Berufung und jetzt der ungeladene Besucher. Reiner Zufall? In Gedanken wanderte er zu den schwarzen Tagen in Griechenland zurück, zu den Tagen des Krieges und des Chaos’, der Schreie und des Todes. Zu den Tagen, in denen die Krieger mehr Dämonen als alles andere gewesen waren. Zu den Tagen, in denen der Hunger nach Zerstörung ihre Handlungen bestimmte und menschliche Leichen die Straßen gepflastert hatten.

Bald waren die Jäger aus der Masse der Gequälten hervorgetreten – sie bildeten ein Bündnis aus sterblichen Menschen, die fest entschlossen waren, jene zu vernichten, die das Böse entfesselt hatten. Eine Blutfehde entbrannte. Bald fand Maddox sich inmitten blutiger Kämpfe wieder, bei denen Schwerter klapperten, Flammen züngelten und Fleisch verbrannte. Sie wurden zur Legende.

Die stärkste Waffe der Jäger war ihre List. Sie bildeten weibliche Köder aus, die den Feind verführten und ablenkten, sodass sie ihn problemlos töten konnten. Auf diese Weise ermordeten sie Baden, den Träger des Dämons des Argwohns. Es gelang ihnen jedoch nicht, den Dämon selbst umzubringen, und so war er aus dem geschwächten Körper gefahren – völlig verwirrt, verrückt und verzweifelt, weil er seinen Wirt verloren hatte.

Maddox wusste nicht, wo der Dämon jetzt lebte.

„Die Götter hassen uns“, sagte Torin. „Und wie könnten sie uns mehr verletzen, als uns genau dann die Jäger auf den Hals zu hetzen, wenn wir uns endlich ein einigermaßen friedliches Leben eingerichtet haben?“

Seine Angst wurde größer. „Aber sie würden doch nicht wollen, dass die Dämonen, die ohne uns verrückt würden, frei in der Welt herumschwirren. Oder?“

„Wer kennt schon die Motive für ihr Handeln.“ Diese Aussage traf den Nagel auf den Kopf. Keiner von ihnen verstand die Götter, selbst nach all den Jahrhunderten nicht. „Wir müssen etwas unternehmen, Maddox.“

Sein Blick wanderte zur Uhr, und er verkrampfte sich. „Ruf Paris an.“

„Hab ich schon. Er geht nicht ans Handy.“

„Ruf …“

„Glaubst du wirklich, ich hätte dich so kurz vor Mitternacht gestört, wenn ich irgendjemanden sonst erreicht hätte?“ Torin drehte sich auf dem Stuhl um und sah ihn mit bedrohlicher Bestimmtheit an. „Es liegt an dir.“

Maddox schüttelte den Kopf. „Ich werde bald sterben. Dann kann ich unmöglich da draußen rumlaufen.“

„Ich ja wohl auch nicht.“ In Torins Blick lag etwas Düsteres und Gefährliches, etwas Verbittertes, das seinen Augen einen giftigen, smaragdgrünen Schimmer verlieh. „Wenigstens würdest du nicht die gesamte Menschheit ausradieren, wenn du rausgehst.“

„Torin …“

„Vergiss es, Maddox, diese Diskussion wirst du eh nicht gewinnen, also hör auf, Zeit zu verschwenden.“

Er fuhr sich mit der Hand durch die kinnlangen Haare, während sein Frust wuchs. Wir sollten es da draußen sterben lassen, verkündete der Gewaltdämon. Das kleine Menschlein.

„Wenn sie wirklich zu den Jägern gehört“, meinte Torin, als hätte er seine Gedanken gelesen, „wenn sie ein Köder ist, dann dürfen wir sie nicht am Leben lassen. Wir müssen sie vernichten.“

„Und wenn sie unschuldig ist und mein Todesfluch zu wirken beginnt?“, konterte Maddox, während er seinen Dämon so gut wie möglich in Schach zu halten versuchte.

In Torins Gesicht blitzte die Schuld auf, als schrie jedes Leben, das er auf dem Gewissen hatte, in seiner Seele auf und flehte ihn an, die Menschen zu retten, die er retten konnte. „Dann müssen wir sie beschützen. Wir sind nicht die Ungeheuer, zu denen uns die Dämonen gern machen würden.“

Maddox biss die Zähne zusammen. Er war kein grausamer Mann; er war keine Bestie. War nicht herzlos. Er hasste die Wellen der Unsterblichkeit, die ihn andauernd zu überrollen drohten. Er hasste, was er tat und wer er war – und wozu er werden würde, wenn er jemals aufhörte, gegen diese dunklen Sehnsüchte und bösen Träume anzukämpfen.

„Wo ist der Mensch jetzt?“, fragte er. Er würde in die Nacht hinausgehen, auch wenn es ihm eine Menge abverlangte.

„Am Donau-Ufer.“

Das war ein Weg von fünfzehn Minuten, wenn er schnell lief. Es bliebe gerade genug Zeit, um sich eine Waffe zu schnappen, den Menschen zu finden, ihn in Sicherheit zu bringen, falls er unschuldig war, oder ihn zu töten, falls es die Umstände verlangten, und zur Burg zurückzukehren. Wenn ihn irgendetwas aufhielt, würde er im Freien sterben. Jeder, der so dumm wäre, den Hügel zu erkunden, wäre in Gefahr. Denn sobald er den ersten Schmerz verspürte, nahm der Gewaltdämon vollständig von ihm Besitz, und die schwarze Begierde fraß ihn auf.

Dann war es sein einziges Ziel, andere zu vernichten.

„Wenn ich bis Mitternacht nicht zurück bin, sorg dafür, dass die anderen nach meiner Leiche suchen. Und auch nach Luciens und Reyes’.“ Tod und Schmerz suchten ihn jede Nacht pünktlich um Mitternacht heim, ganz egal, wo Maddox sich aufhielt. Schmerz versetzte ihm die Stiche, und Tod begleitete seine Seele in die Hölle, wo sie bis zum nächsten Morgen in den Flammen schmorte und von Dämonen gequält wurde, die fast genauso abscheulich waren wie sein eigener.

Leider konnte Maddox unter freiem Himmel nicht für die Sicherheit seiner Freunde garantieren. Er könnte sie verletzen, ehe sie ihre Aufgabe erledigt hatten. Und wenn er sie verletzte, wäre der Schmerz darüber nicht schwächer als die Qualen, die er jede Nacht um Mitternacht erfuhr.

„Versprich es mir“, verlangte er.

Torin nickte. Sein Blick war finster. „Sei vorsichtig, mein Freund.“

Mit eiligen Schritten verließ Maddox das Zimmer. Als er den Flur zur Hälfte durchquert hatte, hörte er Torin rufen: „Maddox! Vielleicht möchtest du dir das hier noch ansehen.“

Er machte kehrt und wieder packte ihn die Furcht. Was jetzt? Konnte es noch schlimmer kommen? Als er vor dem Monitor stand, wandte er sich Torin zu und zog eine Augenbraue hoch, ein stummer Hinweis, sich zu beeilen.

Torin machte mit dem Kinn eine kurze Bewegung zum Bildschirm. „Sieht so aus, als wären noch vier weitere dort. Alles Männer … oder Amazonen. Die waren aber vorhin noch nicht da.“

„Verflucht.“ Maddox betrachtete die vier neuen roten Blitze, von denen einer größer war als der andere. Sie kreisten den kleinen Blitz ein. Es konnte also in der Tat noch schlimmer kommen. „Ich kümmere mich um sie“, versprach er. „Um alle.“ Er setzte sich von Neuem in Bewegung, wenn auch verhaltener als zuvor.

In seinem Schlafzimmer angekommen, ging er direkt zu seinem Schrank. Dabei kam er an dem Bett vorbei, dem einzigen Möbelstück im Raum. In verschiedenen Gewaltausbrüchen hatte er Kommode, Spiegel und Stühle zerstört.

Einmal war er so dumm gewesen, einen Zimmerspringbrunnen, Pflanzen, Kreuze und andere Dinge aufzustellen, die für eine friedliche Atmosphäre sorgen und die Nerven beruhigen sollten. Doch nichts von alledem hatte geholfen, und er hatte alles innerhalb weniger Minuten entzweigeschlagen, als sein Dämon mal wieder Besitz von ihm ergriffen hatte. Seitdem beschränkte er sich auf einen, wie Paris es nannte, minimalistischen Stil.

Er hatte nur deshalb noch ein Bett, weil es aus robustem Metall war und weil Reyes irgendetwas brauchte, woran er ihn festketten konnte, wenn die Geisterstunde näher rückte. In einem Nebenzimmer lagen reichlich Matratzen, Bettlaken, Ketten und Kopfteile aus Metall bereit. Nur für den Fall der Fälle.

Beeil dich! In Windeseile zog er sich ein schwarzes T-Shirt und Stiefel an und befestigte Dolche an Handgelenken, Hüfte und Knöcheln. Keine Schusswaffen. In einer Sache waren er und der Dämon der Gewalt sich einig – der Feind musste im Nahkampf sterben.

Wenn sich einer der Menschen da draußen als Jäger oder Köder entpuppen sollte, konnte ihn jetzt nichts mehr retten.

2. KAPITEL

Ashlyn Darrow fröstelte in dem kalten Wind. Die hellbraunen Haarsträhnen peitschten ihr in die Augen, und sie strich sie mit zitternden Händen hinter ihre Ohren. Nicht, dass sie dadurch mehr gesehen hätte. Die Nacht war pechschwarz und nebelig, und es schneite. Nur das manchmal zwischen den Wolken aufblitzende silberne Mondlicht schenkte ihr ein wenig Orientierung.

Wie konnte eine so schöne Landschaft dem menschlichen Körper so sehr schaden?

Sie seufzte und stieß dabei ein Wölkchen aus warmer Atemluft aus. Eigentlich hätte sie sich jetzt im Flieger, zurück in die Vereinigten Staaten, entspannen sollen, doch am Vortag hatte sie etwas in Erfahrung gebracht, das zu verlockend klang, um zu widerstehen. Am frühen Abend hatte sie die erstbeste Gelegenheit ergriffen und sich ohne nachzudenken oder zu zögern zu dem Hügel aufgemacht. Sie musste unbedingt herausfinden, ob es stimmte.

Irgendwo in der Weite dieses Waldes lebten angeblich Männer mit geheimnisvollen Fähigkeiten, die offenbar niemand erklären konnte. Worin genau sie bestanden, wusste sie nicht. Sie wusste nur, dass sie Hilfe brauchte. Dringend. Und sie würde alles riskieren, um mit diesen mächtigen Wesen sprechen zu können.

Sie konnte nicht länger mit den Stimmen leben.

Ashlyn brauchte nur irgendwo stehen zu bleiben, und schon hörte sie alle Gespräche, die jemals an diesem Ort geführt worden waren – ganz gleich, wie viel Zeit seitdem vergangen war. Gegenwart, Vergangenheit, Sprache – das alles spielte keine Rolle. Sie konnte die Worte in ihrem Kopf hören und sogar übersetzen. Einige hielten das für ein Geschenk. Aber für sie selbst war es nichts als ein Albtraum.

Bei der nächsten kalten Brise suchte sie Schutz hinter einem Baum. Als sie gestern mit einigen Kollegen vom Internationalen Institut für Parapsychologie in Budapest angekommen war, hatte sie in der Innenstadt einige Konversationsleckerbissen aufgeschnappt. Das war nichts Neues für sie, doch dann entzifferte sie die Bedeutung der Wörter.

Sie können dich mit einem Blick zum Sklaven machen.

Einer von ihnen hat Flügel und fliegt bei Vollmond.

Der Vernarbte kann sich unsichtbar machen.

Als hätten die Flüsterstimmen in ihrem Kopf eine Tür geöffnet, brach das Geschnatter mehrerer Jahrhunderte über sie herein. Neues und Altes vermischte sich. Die Stimmen waren so intensiv, dass sie sich krümmte, während sie versuchte, das profane Geplapper von den wichtigen Informationen zu trennen.

Sie werden nicht älter.

Das müssen Engel sein.

Sogar ihr Zuhause ist unheimlich – wie in einem Horrorfilm. Es liegt auf einem Hügel versteckt und hat düstere Winkel. Selbst die Vögel wagen sich nicht heran.

Vielleicht sollten wir sie umbringen.

Sie haben Zauberkräfte. Sie haben meine Qualen gelindert.

So viele Menschen, in der Vergangenheit wie in der Gegenwart, glaubten ganz offensichtlich daran, dass diese Männer über Begabungen verfügten, die jenseits der menschlichen Fähigkeiten lagen. Konnten diese Wesen womöglich auch ihr helfen? Sie haben meine Qualen gelindert, hatte jemand gesagt.

„Vielleicht können sie mir ja wirklich helfen“, murmelte Ashlyn. All die Jahre hatte sie in jedem noch so entlegenen Winkel der Welt die Geschichten über Vampire und Werwölfe, Kobolde und Hexen, Götter und Göttinnen, Dämonen und Engel, Monster und Feen gehört. Sie hatte die Forscher des Instituts sogar zu den Wohnungstüren dieser Wesen gelotst, um zu beweisen, dass sie tatsächlich existierten.

Das Institut hatte es sich zur Aufgabe gemacht, übernatürliche Geschöpfe zu beobachten und zu studieren, um herauszufinden, wie die Welt von ihrer Existenz profitieren konnte. Und nun sollte sich womöglich herausstellen, dass ihr Job als Para-Audiologin auch ihre Rettung war.

Anders als gewöhnlich hatte sie das Institut dieses Mal nicht an einen bestimmten Ort geführt. In den Unterhaltungen, die sie in letzter Zeit mit angehört hatte, war nicht ein Mal das Wort Budapest gefallen. Dennoch hatte man sie hergebracht und gebeten, sich nach Gesprächen über die Dämonen umzuhören.

Sie fragte gar nicht erst nach dem Grund. Die Antwort war ohnehin immer dieselbe: streng geheim.

Im Rahmen ihres Auftrags erfuhr sie, dass einige Einheimische die Männer auf dem Hügel für böse, gefährliche Dämonen hielten. Die meisten glaubten jedoch, es seien Engel. Engel, die unter sich blieben – bis auf einen, der angeblich jede Frau flachlegte und von einem kichernden Trio, das „eine einzige fantastische Nacht“ mit ihm verbracht hatte, auf den Namen „Orgasmusgott“ getauft wurde. Engel, die allein durch ihre Anwesenheit die Verbrechenszahlen niedrig hielten. Engel, die Geld in die Gemeinde fließen ließen und dafür sorgten, dass die Obdachlosen zu essen bekamen.

Ashlyn für ihren Teil zweifelte daran, dass solche Wohltäter vom Bösen besessen waren. Denn Dämonen waren durch und durch böse. Andere Lebewesen waren ihnen gleichgültig. Doch ob die Männer nun Engel auf Erden oder einfach nur Menschen mit außergewöhnlichen Fähigkeiten waren – sie betete, dass sie ihr helfen konnten. Sie betete, sie könnten ihr beibringen, wie sie die Stimmen ausblendete, oder ihr sogar dabei helfen, ihr „Talent“ gänzlich abzulegen.

Der Gedanke war so berauschend, dass sich ihre Mundwinkel hoben. Doch das Lächeln verging ihr schnell wieder, als der nächste eisige Windstoß durch ihre Jacke und den Pullover fuhr und scharf in ihre Haut schnitt. Sie war jetzt schon seit über einer Stunde hier draußen und völlig durchgefroren. Es war nicht gerade gescheit gewesen, noch ein Päuschen einzulegen.

Sie blickte zum Hügel empor. Plötzlich ergoss sich das silberne Mondlicht durch eine Lücke in den Wolken auf die massive, kohlrabenschwarze Burg. Von ihrem Fuße stieg Nebel auf, der sie mit Geisterfingern heranzuwinken schien. Der Ort sieht genauso aus, wie die Stimmen ihn beschrieben haben, dachte sie, düster und am oberen Rand mit Spitzen versehen. Eine wahre Horrorfilmkulisse.

Doch das schreckte sie nicht ab. Im Gegenteil. Ich bin fast da, dachte sie glücklich, als sie weiter hügelaufwärts trottete. Die Oberschenkel schmerzten bereits, da sie die ganze Zeit Ästen ausweichen und über aufragende Wurzeln springen musste, aber das alles war ihr egal. Sie ging weiter.

Zehn Minuten später blieb sie zum tausendsten Mal stehen, unfähig, auch nur einen Schritt weiterzugehen, so erstarrt vor Kälte waren ihre müden Beine. „Nein“, stöhnte sie. Warum ausgerechnet jetzt? Sie rubbelte sich die Schenkel, um sie zu wärmen, und schaute wieder in die Ferne. Erstaunt stellte sie fest, dass sie sich der Burg kein Stück genähert hatte. Sie schien sogar weiter weg gerückt zu sein.

Ashlyn schüttelte verzweifelt den Kopf. Verflixt noch mal! Was musste sie tun, um dort anzukommen? Sich Flügel wachsen lassen?

Auch wenn ich es nicht schaffe, ich bereue es nicht, hergekommen zu sein. Dass sie ohne Proviant und vollkommen planlos aufgebrochen war, ja, das bereute sie, aber sie hatte es versuchen müssen. So dumm es auch sein mochte, sie hatte es einfach versuchen müssen. Wenn nötig, hätte sie den Weg auch nackt und barfuß angetreten. Für die Chance auf ein normales Leben hätte sie einfach alles getan.

Es freute sie, dass sie und ihre „Gabe“ dazu beitrugen, die Welt sicherer zu machen, aber die Qualen, die sie erlitt, waren zu viel. Es gab mit Sicherheit auch noch andere Möglichkeiten zu helfen. Und hätte in ihrem Kopf auch nur einen Moment lang Ruhe geherrscht, hätte sie sich vielleicht sogar eine Alternative überlegen können. Immerhin gelang es ihr mithilfe von Atemübungen und Meditation, sich ab und an ein wenig zu entspannen.

Sie rubbelte ihre Beine immer noch, und allmählich zeigte die Maßnahme Wirkung. Das Eis schmolz und sie konnte weitergehen. Ö kitt. Tudom ök, vernahm sie, als sie einen knorrigen Baum passierte. Sie sind hier, übersetzte ihr Kopf automatisch. Ich weiß, dass sie hier sind.

Dann eine andere Stimme: „Du bist vielleicht ein hübsches Ding.“

„Danke, ich weiß“, erwiderte sie in der Hoffnung, ihre eigene Stimme würde die anderen übertönen. Doch es half nichts. Tief einatmen, langsam ausatmen.

Während sie weiterging, drangen verschiedene Gespräche aus verschiedenen Epochen in ihr Bewusstsein vor, wo sie sich förmlich übereinanderstapelten. Das meiste war Ungarisch, einiges Englisch, was das Ganze noch chaotischer machte.

Ja. Ja! Berühr mich. Ja, genau da.

Bárhol as én kardom? En nem tudom holvan.

Wenn ich noch ein Mal seine Lippen schmecken darf, verspreche ich, ihn zu vergessen. Ich muss sie nur noch ein Mal schmecken.

Ashlyn stolperte über Zweige und Felsen. Die Worte vermischten sich miteinander und wurden lauter. Immer lauter. Das Herz hämmerte in ihrer Brust, und sie konnte sich gerade noch davon abhalten, nicht vor lauter Frust loszuschreien. Tief einatmen, langsam ausatmen …

Wenn du an die Tür klopfst, werde ich dich wie ein Tier ficken, und ich verspreche dir, du wirst jede Sekunde genießen.

Sie hielt sich die Ohren zu, obwohl sie wusste, dass es nicht helfen würde. „Geh weiter. Du musst sie finden.“ Noch mehr Wind. Noch mehr Stimmen. „Geh weiter“, wiederholte sie, pro Schritt ein Wort. Sie war nun schon so weit gekommen; sie würde es auch noch ein bisschen weiter schaffen. „Du musst sie finden.“

Als sie Dr. McIntosh, dem Leiter des Instituts und ihrem Vorgesetzten und Mentor, erzählt hatte, was sie über die Männer in Erfahrung gebracht hatte, nickte er nur kurz und sagte: „Gut gemacht.“ Ein größeres Lob bekam man nie von ihm.

Dann bat sie ihn, sie zur Burg auf dem imposanten Hügel bringen zu lassen.

„Auf keinen Fall“, antwortete er und wandte sich von ihr ab. „Es könnten Dämonen sein, so wie einige Einheimische vermuten.“

„Es könnten aber auch sehr gut Engel sein, so wie die meisten Einheimischen glauben.“

„Sie werden kein Risiko eingehen, Darrow.“ Er bat sie, die Koffer zu packen, und ließ einen Wagen bereitstellen, der sie zum Flughafen fahren sollte, so wie jedes Mal, wenn sie ihren Teil des Jobs – nämlich ihre Ohren zur Verfügung zu stellen – erledigt hatte.

Das war das „Standardvorgehen des Instituts“, wie er zu sagen pflegte, auch wenn er die anderen Mitarbeiter nie nach Hause schickte. Nur sie. McIntosh sorgte sich um sie und wollte sie beschützen, das wusste sie genau. Schließlich kümmerte er sich schon seit mehr als fünfzehn Jahren um sie. Er hatte sich damals dem verängstigten Mädchen angenommen, dessen Eltern nicht wussten, wie sie die Qualen lindern sollten, die ihre „talentierte“ Tochter durchlitt. Er las ihr sogar Märchen vor, um ihr zu zeigen, dass die Welt ein Ort voller Magie und endloser Möglichkeiten war, ein Ort, an dem niemand – selbst jemand wie sie – sich sonderbar vorzukommen brauchte.

Sie wusste jedoch auch, dass ihre Gabe – bei aller Sorge – wichtig für seine Karriere war; dass das Institut ohne sie nur halb so erfolgreich wäre und sie in seinen Augen deshalb so etwas wie ein Pfand war. Nur aus diesem Grund fühlte sie sich nicht allzu schuldig, als sie hinter seinem Rücken den Hügel hinaufkraxelte.

Mit tauben Fingern strich Ashlyn sich wieder die Haare aus dem Gesicht. Vielleicht hätte sie sich die Zeit nehmen und die Einheimischen nach dem besten Weg fragen sollen, doch im Stadtkern waren die Stimmen zu laut und störend gewesen. Außerdem hatte sie gefürchtet, ein Angestellter des Instituts könnte sie sehen und mitnehmen.

Trotzdem hätte sie es darauf ankommen lassen können, allein schon, um sich nicht länger als nötig dieser klirrenden Kälte auszusetzen.

Es gibt nur einen Weg, die Wahrheit herauszufinden. Stich jemandem ins Herz und warte ab, ob er stirbt, sagte eine Stimme und zog ihre Aufmerksamkeit auf sich.

Oh, das ist gut. Mehr, bitte!

Ashlyn war abgelenkt und stolperte über einen heruntergefallenen Ast. Sie taumelte zu Boden und keuchte vor Schmerz. Scharfe Steine bohrten sich in ihre Handflächen und schabten an ihrer Jeans. Eine ganze Weile lag sie reglos da. Sie konnte sich nicht bewegen. Zu kalt, dachte sie. Zu laut.

Sie spürte, wie ihre Kräfte sie verließen, während es hinter ihren Schläfen unaufhaltsam pochte. Die Stimmen gaben einfach keine Ruhe. Sie schloss die Augen, zog die Jacke fester um sich, kroch zu einem Baum und kauerte sich dagegen.

Wir sollten nicht hier sein. Sie sehen alles.

Bist du verletzt?

Sieh mal, was ich gefunden habe! Schön, oder?

„Seid still, seid still, seid still!“, schrie sie. Natürlich gehorchten die Stimmen ihr nicht. Das taten sie nie.

Lauf bloß nicht nackt durch den Wald.

Éhes vagyok. Kaphatok volamit eni?

Plötzlich vernahm sie ein Zischen und riss die Augen auf. Sie hörte einen gequälten Schrei neben sich. Er kam von einem Mann. In kurzen Abständen folgten drei weitere Schreie.

Gegenwart. Nicht Vergangenheit. Nach vierundzwanzig Jahren kannte sie den Unterschied.

Die Angst legte sich wie eine Eisenkralle um ihre Brust und quetschte die Luft aus ihr heraus. Durch das Geschnatter der Stimmen hörte sie einen dumpfen Knall, der ihr durch Mark und Bein fuhr. Sie versuchte aufzustehen und wegzulaufen, doch ein jäher Luftzug hinderte sie daran. Nein, kein Luftzug, wurde ihr fast augenblicklich klar, sondern eine Klinge. Sie zuckte zusammen, als sie den Griff eines blutbesudelten Messers knapp über ihrer rechten Schulter aus dem Baumstamm ragen sah.

Ehe sie wegrennen oder schreien konnte, hörte sie noch ein Zischen. Wieder zuckte sie. Ashlyn sah nach links. Über ihrer anderen Schulter steckte noch ein Messer im Baum.

Wie … Was … Noch bevor sie einen klaren Gedanken fassen konnte, sprang auch schon etwas aus dem Dickicht hervor. Die trockenen Blätter schlugen in einem seltsamen Tanz gegeneinander. Der Schnee, der sie bedeckte, fiel zu Boden. Dann schnellte dieses Etwas auf sie zu. Im Mondlicht erkannte sie schwarze Haare und glänzende, violette Augen. Ein Mann. Ein großer, muskulöser Mann kam mit hoher Geschwindigkeit auf sie zu gerannt. Sein Gesicht spiegelte nichts als Brutalität.

„Oh mein Gott“, keuchte sie. „Halt. Halt!“

In der nächsten Sekunde war sein Gesicht direkt vor ihrem. Wie ein Tier beschnüffelte er ihren Hals. „Es waren Jäger“, sagte er in nicht ganz akzentfreiem Englisch. Seine Stimme war genauso scharf und grob wie seine Gesichtszüge. „Bist du auch eine von ihnen?“ Er packte sie am rechten Handgelenk, schob ihren Ärmel hoch und fuhr mit dem Daumen über ihren Unterarm. „Keine Tätowierung. Nicht so wie die anderen.“

Die anderen? Jäger? Tätowierung? Ein Schauder lief ihr über den Rücken. Der Angreifer war riesig und monströs, seine muskulöse Gestalt wirkte bedrohlich. Ein metallischer Geruch umgab ihn, vermischt mit dem Duft nach Mann und Wärme und noch etwas anderem, das sie nicht identifizieren konnte.

Aus der Nähe sah sie rote Spritzer in seinem rauen Gesicht. Blut? Es war, als würde der beißende Wind durch ihre Haut bis ins Mark ihrer Knochen dringen.

In seinen Augen stand: wild und Raubtier.

Vielleicht hätte ich auf McIntosh hören sollen. Vielleicht sind diese Männer tatsächlich Dämonen.

„Bist du auch eine von ihnen?“, wiederholte der Mann eindringlich.

Bei all dem Schrecken und der Angst dauerte es einen Augenblick, bis sie bemerkte, dass irgendetwas … anders war. Die Luft, die Temperatur, die …

Die Stimmen schwiegen.

Sie riss erstaunt die Augen auf.

Die Stimmen schwiegen, als wären sie der Gegenwart des Mannes gewahr und fürchteten sich genauso vor ihm wie sie. Stille umhüllte sie.

Nein. Es war nicht vollkommen still, aber ziemlich ruhig. Wunderbar, herrlich ruhig. Wann hatte sie zuletzt einen Moment der Ruhe genießen dürfen, der nicht von Stimmengewirr gestört wurde? Überhaupt jemals?

Der Wind raschelte in den Blättern. Der Schnee summte eine leise, beruhigende Melodie, während er durch die Luft flog. Die Bäume atmeten Leben und Lebendigkeit, die Zweige wiegten sich leicht im Wind.

Hatte sie je so etwas Herrliches gehört wie die Symphonie der Natur?

In diesem Moment vergaß sie ihre Angst. Wie konnte dieser Mann von einem Dämon besessen sein, wenn er ihr doch solch liebliche Stille schenkte? Dämonen waren eine Quelle des Schmerzes, nicht des Friedens.

War er womöglich ein gnädiger Engel, ganz so wie die Einheimischen vermuteten?

Glücklich schloss sie die Augen, trank die Ruhe, versank darin. Umarmte sie.

„Frau?“ Der Engel klang verwirrt.

„Shhh.“ Sie spürte tiefe Zufriedenheit. Selbst in ihrem Haus in North Carolina, das von Bauarbeitern errichtet worden war, die nur das Nötigste hatten sagen dürfen, hörte sie immer ein tiefes Flüstern. „Nicht sprechen. Nur genießen.“

Einen Augenblick lang schwieg er. „Du wagst es, mir zu sagen, dass ich still sein soll?“, brachte er schließlich hervor und konnte die Wut und Überraschung in seiner Stimme nicht verbergen.

„Du redest ja immer noch“, rügte Ashlyn ihn und presste dann schnell die Lippen aufeinander. Engel oder nicht – das war wohl kaum jemand, den sie schelten sollte. Außerdem wollte sie ihn auf gar keinen Fall verärgern. Seine Gegenwart bescherte ihr Ruhe. Und wohlige Wärme. Sie merkte, wie die Kälte ihren Körper auf einmal verließ.

Langsam öffnete sie die Augen.

Ihre Nasenspitzen berührten sich fast, und sie spürte seinen heilenden Atem auf den Lippen. Im Mondlicht glühte seine Haut wie glatter Kupfer, beinahe überirdisch. Er hatte eine markante Nase und Augenbrauen, so dunkel wie das Herz des Teufels.

Seine violetten Raubtieraugen bohrten sich in sie hinein. Durch die langen Wimpern, die sie umrahmten, wirkte sein Blick noch bedrohlicher. Ich töte jeden, ganz egal wo, schien er zu sagen.

Dämon. Nein, kein Dämon, rief sie sich in Erinnerung. Die Ruhe war zu köstlich, zu rein und zu richtig. Aber er war auch kein Engel. Er hatte ihr zwar die Stille geschenkt, doch er war ohne Zweifel genauso gefährlich wie schön. Jeder, der so mit Messern umgehen konnte …

Was also war er?

Ashlyn schluckte und musterte ihn. Ihr Herz hätte in dem Augenblick nicht höher schlagen und ihre Brüste hätten sich nicht sehnsüchtig zusammenziehen dürfen. Aber es schlug höher. Und sie zogen sich zusammen. Er war wie die Drachen in den Märchen, die McIntosh ihr immer vorgelesen hatte: zu tödlich, um ihn zu zähmen, und zu hypnotisierend, um sich von ihm zu lösen.

Und trotzdem verspürte sie ganz unvermittelt das Verlangen, den Kopf in der Kuhle seines Halses zu vergraben. Sie wollte die Arme um ihn schlingen. Wollte ihn festhalten und nie mehr gehen lassen. Sie ertappte sich sogar dabei, wie sie sich zu ihm hinüberbeugte und kurz davor war, ihren Sehnsüchten nachzugeben.

Halt. Tu es nicht.

Sie hatte in ihrem Leben nicht viel Zuneigung erfahren. Mit fünf Jahren kam sie ins Institut, wo sich die meisten Mitarbeiter fast ausschließlich mit ihrer außergewöhnlichen Begabung befasst hatten. McIntosh war derjenige, der am nächsten an das herankam, was man gemeinhin als Freund bezeichnete, doch selbst er hatte sie nicht oft in den Arm genommen oder berührt, als fürchtete er sich genauso sehr vor ihr wie er sich um sie sorgte.

Auch mit Verabredungen war es nicht einfach. Die Männer flippten förmlich aus, wenn sie von ihrer Gabe erfuhren. Und früher oder später erfuhren sie davon. Sie konnte sie nicht verstecken. Aber …

Wenn dieser Mann das war, wofür sie ihn hielt, würde er sich an ihrem ausgefallenen Talent nicht stören. Er ließe es zu, dass sie ihn berührte. Ihn zu berühren und seine Wärme zu spüren, wäre eine genauso große Sensation wie die Stille, wenn nicht eine noch größere …

„Frau?“, wiederholte er mit heiserer Stimme und unterbrach ihre Gedanken.

Sie erstarrte. Schluckte wieder. Löschte das … Verlangen, das in seinen eiskalten, violetten Augen loderte, den Ausdruck des Tötenwollens vollständig aus? Oder war es ein Verlangen nach Schmerz und Gewalt? War es ihr Todesurteil? Sie war in einem Strudel der Gefühle gefangen, der aus Angst, Ehrfurcht und, ja, weiblicher Neugier bestand. Sie hatte kaum Erfahrung mit Männern und noch weniger mit sexueller Lust.

Was hatte sie sich nur dabei gedacht, sich einfach zu ihm hinüberzubeugen? Er hätte ihre Berührung als Einladung betrachten und sie ebenfalls berühren können.

Und warum löste der bloße Gedanke daran keine Panik in ihr aus?

Vielleicht weil sie sich irrte. Vielleicht war er am Ende gar kein Drachen, sondern der Prinz, der den Drachen getötet hatte, um die Prinzessin zu retten. „Wie heißt du?“, hörte sie sich fragen.

Eine spannungsgeladene Sekunde nach der anderen verstrich, und sie dachte schon, er würde nicht antworten. Sein Gesicht war verzerrt, als wäre es ihm schon lästig, nur in ihrer Nähe zu sein. Dann antwortete er schließlich: „Maddox. Ich heiße Maddox.“

Maddox … Der Name schlüpfte durch sämtliche Windungen ihres Gehirns, wie ein verführerischer Gesang, der unvorstellbare Befriedigung versprach. Sie zwang sich zu lächeln, als sie sich vorstellte. „Ich bin Ashlyn Darrow.“

Sein Blick glitt zu ihren Lippen. Trotz der Kälte glitzerten Schweißperlen auf seiner Stirn. „Du hättest nicht herkommen sollen, Ashlyn Darrow“, knurrte er, wobei seine Augen den begehrlichen Ausdruck verloren, der ihr so sehr gefallen und vor dem sie sich so sehr gefürchtet hatte. Mit den Händen fuhr er – überraschend sanft – an ihren Armen hoch und hielt inne, als er ihren Hals erreicht hatte. Behutsam strich er ihr mit dem Daumen über die Kehle und spürte ihren schnellen Puls.

Sie schnappte nach Luft und schluckte. Seine Finger folgten der Bewegung. Eine unbeabsichtigt hocherotische Berührung, die sie dahinschmelzen ließ. Im nächsten Moment wurde sein Griff fester, fast schmerzhaft.

„Bitte“, krächzte sie, und er ließ von ihr ab.

Ashlyn blinzelte überrascht. Jetzt, da er sie nicht mehr berührte, fühlte sie sich … nackt?

„Gefährlich“, knurrte er, diesmal auf Ungarisch.

Sie wusste nicht, ob er sich selbst meinte … oder sie. „Bist du einer von ihnen?“, flüsterte sie, ohne die Sprache zu wechseln. Er brauchte nicht zu wissen, dass sie auch das Ungarische beherrschte.

Vor Erstaunen verdunkelte sich sein Blick, und in seinem Kiefer zuckte ein Muskel. „Was meinst du? Einer von wem?“ Jetzt sprach auch er wieder englisch.

„Ich … ich …“ Die Worte wollten ihr einfach nicht über die Lippen kommen. Sein Gesicht spiegelte Wut wider, unermessliche Wut, wie sie es noch bei keinem anderen Menschen gesehen hatte. Jede Pore seines Körpers strahlte Wut aus. Nein, doch kein Prinz. Definitiv ein Drache, so wie sie zuerst vermutet hatte.

Er blieb in der Hocke, rutschte jedoch einige Zentimeter von ihr weg. Er atmete tief ein und langsam wieder aus, wobei sie eine kleine Wolke um seinen Kopf bildete. Mit der einen Hand fuhr er sich über den Stiefelschacht, als könnte er sich nicht entscheiden, ob er hineingreifen sollte oder nicht. Endlich sagte er: „Was machst du in diesem Wald, Frau? Und lüg mich nicht an. Ich würde es merken, und meine Reaktion würde dir nicht gefallen.“

Irgendwie fand Ashlyn die Stimme wieder. „Ich suche nach den Männern, die auf diesem Hügel leben.“

„Warum?“ Er spie das Wort geradezu aus.

Wie viel sollte sie ihm verraten? Er musste einfach einer der Männer mit den seltsamen Fähigkeiten sein. Für einen normalen Menschen strahlte er viel zu viel Kraft und Energie aus. Doch was noch viel wichtiger war: Er hatte mit seiner bloßen Anwesenheit die Stimmen vertrieben. Das hatte sie noch nie erlebt. „Ich brauche Hilfe“, gestand sie.

„Ach, wirklich?“ In seinem Ausdruck lagen Misstrauen und Nachsicht. „Und wobei?“

Sie öffnete den Mund um … was zu sagen? Sie wusste es nicht. Und eigentlich spielte es auch keine Rolle. Mit einem kurzen Kopfschütteln hielt er sie vom Reden ab. „Egal. Du bist hier nicht willkommen, also ist jegliche Erklärung unnötig. Geh in die Stadt zurück. Weshalb du auch gekommen bist, du wirst es nicht kriegen.“

„Aber, aber …“ Sie durfte nicht zulassen, dass er sie wegschickte. Sie brauchte ihn. Ja – sie hatte ihn eben erst getroffen. Und ja – das Einzige, was sie von ihm wusste, waren sein Name und dass er sehr präzise mit Messern umgehen konnte. Aber trotzdem versetzte sie der Gedanke an die wiederkehrenden Stimmen in Angst und Schrecken. „Ich will bei dir bleiben.“ Sie wusste, wie verzweifelt sie klang, doch es war ihr egal. „Bitte. Nur ein bisschen. Bis ich gelernt habe, wie ich die Stimmen alleine kontrollieren kann.“

Ihre Bitte schien ihn nicht im Geringsten zu besänftigen, sondern nur noch zorniger zu machen. Seine Nasenlöcher blähten sich auf, und die Kiefermuskeln zuckten stärker. „Du wirst mich mit deinem Gequatsche nicht einlullen. Du bist ein Köder. Ansonsten würdest du panisch vor mir davonlaufen.“

„Ich bin kein Köder.“ Was auch immer das sein mochte. „Das schwöre ich bei Gott.“ Sie streckte die Hand aus und packte seinen Unterarm. Er war fest und unglaublich heiß und wirkte wie elektrisch aufgeladen. In ihrem Arm prickelte es. „Ich weiß ja noch nicht mal, wovon du überhaupt redest.“

Blitzschnell schoss seine Hand hervor. Er packte sie am Hinterkopf und zerrte sie ins Mondlicht. Sie verspürte keinen Schmerz. Im Gegenteil: nur einen weiteren kleinen Stromschlag. Ihr Magen flatterte.

Er sagte kein Wort, sondern sah sie so intensiv an, dass es an Grausamkeit grenzte. Sie erwiderte seinen Blick und erschrak, als es unter seiner Haut blitzte … als sich etwas bewegte … als etwas anderes Gestalt annahm. Ein Gesicht, stellte sie mit makaberer Faszination fest. Noch ein zweites Gesicht. Ihr Herz schlug schneller. Er kann kein Dämon sein, er kann kein Dämon sein. Er hat die Stimmen zum Schweigen gebracht. Er und die anderen haben wunderbare Dinge für die Stadt getan. Es ist nur eine optische Täuschung. Es liegt bestimmt am Licht.

Während sie Maddox’ Gesichtszüge noch erkannte, sah sie auch den Schatten von jemand – etwas – anderem. Rote, glühende Augen. Skelettartige Wangenknochen. Messerscharfe Zähne.

Bitte lass es eine optische Täuschung sein.

Doch je deutlicher die skelettartigen Gesichtszüge hervortraten, desto weniger konnte sie sich einreden, dass es eine Illusion war.

„Willst du sterben?“, drohte Maddox – oder war es der Totenschädel? Die Worte kamen so tief aus seiner Kehle, dass sie kaum mehr waren als ein animalisches Knurren.

„Nein.“ Doch falls er sie umbrachte, würde sie mit einem Lächeln sterben. Zwei Minuten Stille bedeuteten ihr mehr als ein ganzes Leben voller Stimmen. Verängstigt, aber entschlossen und immer noch von seiner heißen Berührung elektrisiert, hob sie das Kinn. „Ich brauche deine Hilfe. Sag mir, wie ich meine Fähigkeit kontrollieren kann, und ich gehe auf der Stelle. Oder lass mich bei dir bleiben, damit ich lernen kann, wie man es macht.“

Er ließ sie los, packte sie dann aufs Neue, hielt inne und ballte die Hand zu einer Faust. „Ich weiß nicht, warum ich zögere“, bemerkte er, während er ihren Mund fast schon sehnsüchtig betrachtete. „Es ist gleich Mitternacht, und dann musst du so weit weg von mir sein wie nur möglich.“

Beim letzten Wort zog er die Augenbrauen hoch. In der nächsten Sekunde bellte er: „Zu spät! Schmerz sucht bereits nach mir.“ Er kroch wieder von ihr weg. Die skelettartige Maske flackerte immer noch unter seiner Haut. „Lauf. Geh zurück in die Stadt. Sofort!“

„Nein“, erwiderte sie mit erstaunlich fester Stimme. Nur ein Dummkopf verließ freiwillig den Himmel – selbst wenn ein Stück des Himmels ein durchsichtiges Gesicht hatte, das direkt aus der Hölle zu kommen schien.

Maddox fluchte leise, zog die Messer aus dem Baumstamm und sprang auf die Füße. Er blickte gen Himmel, vorbei an dem Schnee und den Baumwipfeln zum Halbmond. Sein Stirnrunzeln wurde grimmig, zornig. Ein Schritt, zwei Schritte – er entfernte sich langsam.

Ashlyn lehnte sich gegen den Baum und stand auf. Ihre Beine hätten fast unter ihrem Gewicht nachgegeben. Auf einmal spürte sie den eisigen Wind wieder und hörte die Stimmen auf sich zukommen. Ein Schrei der Verzweiflung steckte ihr in der Kehle.

Drei Schritte, vier.

„Wohin gehst du?“, fragte sie. „Lass mich hier nicht einfach zurück.“

„Ich habe keine Zeit mehr, dich in Sicherheit zu bringen. Du musst deinen Weg alleine finden.“ Er wirbelte herum und wandte ihr sein breites Kreuz zu. Aber dann drehte er sich noch einmal halb zu ihr um. „Komm nie wieder zu diesem Hügel zurück, Frau. Nächstes Mal werde ich nicht so gnädig sein.“

„Ich gehe nicht weg. Egal, wo du hingehst, ich folge dir.“ Das war eine klare Drohung und ihr voller Ernst.

Maddox blieb stehen, drehte sich um und sah sie an, wobei er Furcht erregend die Zähne fletschte. „Ich könnte dich auf der Stelle töten, Köder, und das sollte ich wohl auch tun. Wie willst du mir dann noch folgen?“

Köder, schon wieder. Ihr Herz hämmerte hart in ihrer Brust, doch sie hielt seinem zornigen Blick stand und hoffte, trotzig und entschlossen und nicht einfach nur versteinert zu wirken. „Glaub mir, ich lasse mich lieber umbringen, als alleine mit den Stimmen hier zu bleiben.“

Ein Fluchen, ein qualvolles Zischen. Er krümmte sich.

Die Sorge war größer als die Angst, und Ashlyn lief zu ihm. Sie fuhr ihm mit der Hand über den Rücken und suchte nach einer Verletzung. Wenn etwas ein so bulliges Wesen wie ihn schier umhaute, musste es sehr schmerzhaft sein. Er stieß sie kräftig weg, und sie stolperte.

„Nein“, wies er sie zurück, und sie hätte schwören können, dass er mit zwei verschiedenen Stimmen sprach. „Keine Berührungen.“

„Bist du verletzt?“ Sie stand wieder auf und versuchte, nicht zu zeigen, wie sehr seine Reaktion sie gekränkt hatte. „Vielleicht kann ich dir helfen. Ich …“

„Verschwinde oder stirb.“ Er drehte sich ruckartig um, rannte los und verschwand in der Nacht.

Das Stimmengewirr brach über sie herein, als hätte es nur auf seinen Abgang gewartet. Es erschien ihr lauter als je zuvor, ein schreckliches Plärren nach der süßen Stille.

Langnak ithon kel moradni.

Während sie Maddox hinterherstolperte, hielt Ashlyn sich die Ohren zu. „Warte.“ Sie stöhnte. Seid still, seid still, seid still.

„Warte. Bitte!“

Ihr Fuß verfing sich in einem heruntergefallenen Ast, und sie fiel abermals hin. Sie spürte einen stechenden Schmerz im Knöchel. Wimmernd hievte sie sich auf Hände und Knie und krabbelte weiter.

Ate ìtéleted let minket veszeijbe.

Nicht anhalten. Sie musste ihn finden. Der Wind, der genauso scharf war wie die Dolche, die Maddox bei sich trug, schlug ihr entgegen.

Die Stimmen zeterten unaufhörlich.

„Bitte“, weinte sie. „Bitte!“

Ein wütendes Getöse teilte die Nacht und ließ Boden und Bäume erzittern.

Plötzlich war Maddox wieder an ihrer Seite und ertränkte die Stimmen. „Dummer Köder“, zischte er. Dann fügte er – mehr zu sich selbst sprechend – hinzu: „Dummer Krieger.“

Sie schrie erleichtert auf und schlang die Arme um ihn. Hielt ihn fest. Sie würde ihn nie mehr gehen lassen – auch wenn er noch so todbringend ausschauen sollte. Tränen liefen ihr die Wangen hinab und kristallisierten auf ihrer Haut. „Danke. Danke, dass du zurückgekommen bist. Danke.“ Sie vergrub das Gesicht in der Kuhle seines Halses, so wie sie es schon zuvor hatte tun wollen. Als ihre Wange seine nackte Haut streifte, erzitterte sie, und wieder durchfuhr sie dieses warme Prickeln.

„Du wirst es noch bereuen“, meinte er, als er sie hochhob und wie einen Kartoffelsack über die Schulter legte.

Das war ihr egal. Sie war bei ihm, die Stimmen waren fort, und das war alles, was zählte.

Maddox setzte sich in Bewegung und wich geschickt den geisterhaften Bäumen aus. Immer wieder stöhnte er gequält und knurrte, als sei er wütend. Ashlyn bat ihn, sie abzusetzen, damit er nicht auch noch ihr Gewicht tragen musste, doch er verstärkte nur den Druck auf ihre Oberschenkel und gab ihr damit wortlos zu verstehen, dass sie verdammt noch mal die Klappe halten sollte. Schließlich entspannte sie sich und genoss einfach nur den Weg.

Er hätte ewig dauern können.

3. KAPITEL

Geh nach Hause, geh nach Hause, geh nach Hause. Maddox sagte die drei Worte wie ein Mantra auf, um sich von dem Schmerz abzulenken und um dem Drang zu widerstehen, jemandem Gewalt anzutun – einem Drang, der immer stärker wurde. Die Frau – Ashlyn – wippte auf seiner Schulter, was ihn unbarmherzig daran erinnerte, dass sein Wille jeden Moment nachgeben und er alles um sich herum töten konnte. Ganz besonders sie.

Du willst in einer Frau ertrinken?, stichelte der Dämon. Das ist deine Chance. Ertränk dich in ihrem Blut.

Er ballte die Hände zu Fäusten. Er musste nachdenken, doch die Schmerzen hinderten ihn daran. Sie hatte irgendeine Fähigkeit erwähnt und ihn um Hilfe gebeten. Oder? Einige ihrer Worte verloren sich in dem Gebrüll in seinem Kopf. Er wusste nur eines: Er hätte sie zurücklassen sollen.

Doch er hatte sie gequält schreien gehört, hatte ein verrücktes Stöhnen gehört, das auch Maddox so oft schon hatte ausstoßen wollen. Irgendetwas in ihm reagierte sofort, und er verspürte das intensive Bedürfnis, ihr zu helfen und ihre weiche Haut noch einmal zu berühren. Ein Bedürfnis, das erstaunlicherweise stärker war als sein Dämon.

Also war er zu ihr zurückgekehrt, obwohl er wusste, dass sie bei ihm in größerer Gefahr war als allein im Wald. Obwohl er wusste, dass sie höchstwahrscheinlich geschickt worden war, um ihn abzulenken und den Jägern Zutritt zur Burg zu verschaffen.

Idiot. Jetzt lag sie auf seiner Schulter, ihr weiblicher Duft reizte seine Sinne, und ihre weichen Kurven schmiegten sich an seinen gestählten Körper.

Erstich sie, heizte der Dämon ihn an.

Autor