Die Herren der Unterwelt 3: Schwarze Lust

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Sie wollen Gutes und sind doch zum Bösen verdammt: Die Herren der Unterwelt. Dritter Teil der preisgekrönten "Die Herren der Unterwelt"-Trilogie von New York Times Bestsellerautorin Gina Showalter.

Reyes’ Leben ist vom Schmerz bestimmt. So will es sein Dämon. Seit Jahrhunderten schon kann der Herr der Unterwelt Lust nur empfinden, wenn sie mit mörderischen Qualen verbunden ist. Aber Reyes begehrt etwas, das ihm helfen könnte, seinen Dämon zu besiegen: Danika Ford, eine Sterbliche. Danika ist auf der Flucht. Seit Monaten versucht sie den Herren der Unterwelt zu entkommen, die geschworen haben, sie und ihre Familie zu zerstören. Doch in ihren Träumen wird sie von Reyes heimgesucht, einem jener Krieger, dessen sehnsuchtsvolle Berührung sie nicht vergessen kann.


  • Erscheinungstag 01.07.2010
  • Bandnummer 3
  • ISBN / Artikelnummer 9783862782208
  • Seitenanzahl 464
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Reyes stand schwankend auf der Dachkante der Budapester Burg, fünf Stockwerke oberhalb der Erde, und versuchte das Gleichgewicht zu halten. Über ihm tropfte rötlich gelbes Mondlicht aus dem Himmel, Blut mit funkelnd goldenen Einsprengseln, Dunkelheit durchsetzt von Lichtpunkten, frische Wunden in der endlosen Ausdehnung des samtig schwarzen Universums.

Er starrte in die finstere Leere, die sich unter ihm ausbreitete, auf den Boden, der spöttisch seine Arme nach ihm ausstreckte, als könne er es nicht erwarten, ihn zu umarmen.

Nach Tausenden von Jahren muss ich mir das hier immer noch antun.

Ein eisiger Wind zauste in seinem Haar und prickelte auf seiner nackten Brust, dort, wo der verhasste Schmetterling bis hoch zum Hals eintätowiert war und an das vergossene Lebensblut erinnerte. Es war nicht sein Blut gewesen, sondern das seines Freundes. Und jedes Mal, wenn seine Haare über dieses gespenstische Sinnbild von Leben und Tod strichen, war es, als würde jemand Öl ins lodernde Feuer seiner Schuld gießen.

Wie oft war er schon hierhergekommen und hatte Sehnsüchten nachgehangen, die sich niemals erfüllen würden. Wie oft schon hatte er hier um Sündenerlass gefleht, um Erlösung von seinen täglichen Qualen und seinem inneren Dämon, der für all das verantwortlich war … um Erlösung von seinem unbezwingbaren Drang zur Selbstverstümmelung.

Doch sein Flehen war nicht erhört worden. Und würde nie erhört werden. Er lebte in dem Zustand, in dem er zu leben verdammt war – und so würde es auf ewig bleiben. Das Einzige, was sich ändern würde, waren seine Höllenqualen – die würden immer stärker werden. War er früher ein unsterblicher Krieger der Götter gewesen, so war er jetzt ein Herr der Unterwelt – besessen von einem der vielen Dämonen, die früher einmal in dimOuniak eingesperrt waren. Was für ein Absturz –aus der Gunst in die Schmach, aus dem Glück in die fortwährende Qual. Die Verwandlung eines Lieblings in einen Geächteten.

Er knirschte mit den Zähnen. Die Sterblichen kannten dimOuniak als Büchse der Pandora. Für ihn hingegen war dimOuniak die Ursache für seinen Untergang. Seine Freunde und er hatten die Büchse vor Jahrhunderten geöffnet, forsch und aufmüpfig – und seitdem waren sie selbst zu einem Teil von ihr geworden, denn seitdem beherbergte jeder von ihnen einen Dämon in seinem Innern.

Spring, flehte ihn sein Dämon an.

Sein Dämon: Schmerz. Sein ständiger Begleiter. Ein drängendes Wispern in der hintersten Ecke seines Verstandes und seiner Seele; die dunkle Seite in ihm, die sich nach unaussprechlichem Bösen sehnte; die übernatürliche Kraft, gegen die er Tag für Tag, Minute für Minute ankämpfte.

Spring.

„Jetzt noch nicht.“ Noch ein paar Sekunden der Vorfreude – Vorfreude auf den Aufprall, bei dem seine Knochen zerschmettern würden. Er musste lächeln bei dem Gedanken. Die messerscharfen Knochensplitter würden seine geschwollenen Organe zerschneiden, würden sie zum Platzen bringen wie kleine Wasserbomben. Seine Haut würde bersten unter dem Druck all der Flüssigkeit – und diesmal würde das vergossene Lebensblut sein eigenes sein. In Todesqualen, in wonnigen Todesqualen würde er sich verzehren.

Zumindest für kurze Zeit.

Sein Lächeln erstarb. Innerhalb weniger Tage – vielleicht, wenn es ihm nicht gelang, sich schwer genug zu verletzen, sogar innerhalb weniger Stunden – würde sich sein Körper selbst heilen, würde komplett regenerieren. Völlig intakt und unversehrt würde er dann aufstehen, und in seinem Innern würde sich Schmerz erneut zu Wort melden, zu laut und gebieterisch, um ignoriert zu werden. Aber in diesen wenigen Augenblicken, die seine Knochen bräuchten, um sich wieder zu richten, seine Organe, um wieder an ihren angestammten Platz zurückzuwandern, und seine Haut, um zu verschorfen, in diesen wenigen Augenblicken würde er im Nirwana sein. Im Paradies. Würde er in süßer Ekstase leben, sich vor Wonne in den Schmerzen aalen – waren sie doch seine einzige Quelle der Freude! Und sein Dämon würde vor Zufriedenheit schnurren; sprechen würde er nicht, denn der Schmerz würde ihn viel zu sehr berauschen. Und Reyes könnte endlich einen Zustand glückseliger Ruhe genießen.

Jedenfalls für einen kurzen Moment. Immer dauerte alles nur einen kurzen Moment.

„Nicht nötig, mich daran zu erinnern, wie flüchtig die Momente der Ruhe sind“, murmelte Reyes, um den niederschmetternden Gedanken zu verdrängen. Er wusste nur zu gut, wie flüchtig die Zeit war. Ein Jahr fühlte sich für ihn manchmal an wie ein einziger Tag und ein Tag manchmal nur wie eine Minute.

Und manchmal wiederum kamen ihm Minuten und Tage fast endlos vor. Das war nur einer der vielen Widersprüche, die das Leben eines Herren der Unterwelt ausmachten.

Spring, forderte Schmerz. Und dann noch einmal, drängender: Spring! Spring!

„Ich sagte doch bereits, dass ich noch ein paar Sekunden für mich haben will.“

Abermals blickte Reyes nach unten zum Boden. Zerklüftete Felsen lockten im blutroten Mondlicht, der Wind kräuselte das Wasser in den Pfützen. Nebelschwaden fingerten empor, forderten ihn auf, näher zu kommen, herrlich nahe zu kommen. „Wenn man seinem Feind eine Klinge in den Hals rammt, tötet ihn das, ja“, sagte Reyes zu seinem Dämon. „Aber dann ist es vorbei und erledigt, und du hast weiter nichts mehr damit zu tun.“

Spring! Diesmal war es ein wütender, ungeduldiger, quengeliger Befehl, wie die trotzige Aufforderung eines Kindes.

„Gleich.“

Springspringspringspring!

Ja, manchmal konnten Dämonen tatsächlich wie nörgelnde Kleinkinder sein. Reyes fuhr sich mit der Hand durch das zerzauste Haar und riss sich dabei einige Strähnen heraus. Er wusste, dass es nur ein Mittel gab, um seine andere Hälfte zum Schweigen zu bringen. Gehorsam. Warum er es jetzt wagte, sich zu widersetzen und den Augenblick auszukosten – er wusste es nicht.

Spring!

„Vielleicht wirst du dieses Mal zur Hölle zurückgeschickt“, murmelte er. Man durfte doch wohl wenigstens noch träumen. Schließlich aber breitete er seine Arme aus, schloss die Augen, beugte sich vor …

„Komm da runter“, hörte er eine Stimme hinter sich.

Die ungebetene Einmischung ließ Reyes in der Bewegung erstarren. Er riss die Augen auf und brachte seinen Körper wieder ins Gleichgewicht, drehte sich aber nicht um. Er wusste, warum Lucien hier war, und er schämte sich so, dass er seinem Freund nicht ins Gesicht sehen mochte. Zwar konnte Lucien garantiert nachvollziehen, wie sehr Reyes an seinem Dämon litt, aber er würde niemals Verständnis für das haben, was er getan hatte.

„Genau das ist mein Plan: runterkommen. Geh weg, dann kann ich’s schnell erledigen.“

„Du weißt, was ich meine.“ Lucien war anzuhören, dass er das Ganze kein bisschen komisch fand. „Ich muss mit dir reden.“

Plötzlich lag der Duft taufrischer Rosen in der Luft, so üppig und intensiv in der spätwinterlichen Nacht, dass Reyes hätte schwören können, sich mitten auf einer Frühlingswiese zu befinden. Ein Mensch hätte den Duft so hypnotisierend und betörend gefunden, dass er dem Krieger blind und willenlos alle Wünsche erfüllt hätte. Reyes hingegen fand ihn bestenfalls lästig. Nachdem sie nun schon Tausende von Jahren zusammen verbracht hatten, hätte Lucien eigentlich wissen müssen, dass der Duft bei ihm keine Wirkung mehr zeigte.

„Wir sprechen morgen“, sagte er knapp.

Spring!

„Nein, wir reden jetzt. Danach kannst du tun, was du willst.“

Nachdem Reyes seine jüngste Untat gestanden hätte? Nein, danke. Schuld, Scham und Trauer mochten emotionalen Schmerz mit sich bringen, aber der besänftigte seinen Dämon nicht. Nur körperliche Qualen brachten Erleichterung, was auch der Grund dafür war, dass Reyes so sorgsam über sein emotionales Wohlbefinden wachte.

Ja, und das hast du wieder großartig hingekriegt!

Er fuhr sich mit der Zunge über die Zähne, nicht sicher, wer ihm diese kleine sarkastische Botschaft eingeflüstert hatte. Er selbst oder Schmerz. „Ich bin gerade in schlechter Verfassung, Lucien.“

„Da geht es dir so wie den anderen. Und wie mir.“

„Du hast wenigstens eine Frau zum Trost.“

„Und du hast Freunde. Du hast mich.“ Lucien, Träger des Dämons des Todes, hatte die Aufgabe, menschliche Seelen ins Jenseits zu begleiten, egal ob in den Himmel oder in die hinterste Ecke der Hölle. Er war meistens stoisch gelassen. Und er war ihr Führer, derjenige, dem alle Krieger in der Budapester Burg folgten und den sie um Rat fragten. „Sprich mit mir.“

Reyes verweigerte Lucien das Gespräch nur ungern, redete sich aber ein, dass es für Lucien besser wäre, wenn er nichts von seiner schrecklichen Tat erführe. Doch er brauchte diese Erklärung gar nicht zu Ende zu spinnen, um zu wissen, dass sie nur eine faule Ausrede war – ein beschämender Mangel an Mut. „Lucien“, begann er, hielt aber sogleich inne und verfiel in ein unverständliches Brummeln.

„Das Kontrastmittel zum Verfolgen der Spur ist weggespült, und niemand weiß, wo Aeron sich aufhält“, sagte Lucien. „Keiner weiß, was er treibt und ob er womöglich derjenige ist, der diese Leute in den USA abgeschlachtet hat. Maddox sagt, er hätte dich unmittelbar nach Aerons Ausbruch aus dem Kerker angerufen. Und dann hat mir Sabin erzählt, dass du Rom und den Tempel der Unaussprechlichen überstürzt verlassen hast. Möchtest du mir vielleicht erzählen, wohin du so eilig verschwunden bist?“

„Nein.“ Das war die Wahrheit: Er wollte es nicht erzählen. „Aber du kannst sicher sein, dass Aeron nicht länger in der Lage ist, Menschen abzuschlachten.“

Eine Pause entstand. Der Rosenduft wurde immer intensiver.

„Woher weißt du das so genau?“ In der Frage lag eine gewisse Schärfe.

Reyes zuckte die Schultern.

„Warum erzähle ich dir nicht einfach, was ich glaube, was passiert ist?“ Wenn Luciens Stimme vorher scharf gewesen war, so klang sie jetzt fast erwartungsvoll. Vielleicht sogar ein bisschen ängstlich. „Du hast Aeron verfolgt, in der Hoffnung, das Mädchen damit zu schützen.“

Das Mädchen. Aeron hatte das Mädchen entführt. Aeron hatte von den neuen Göttern, den Titanen, den Befehl erhalten, das Mädchen umzubringen. Reyes hatte das Mädchen nur einmal kurz angeschaut und hilflos miterleben müssen, wie sie seine intimsten Gedanken gelesen, seine Handlungen beeinflusst und ihn in einen liebeskranken Idioten verwandelt hatte.

Mit nur einem einzigen Blick hatte sie sein Leben verändert – nicht unbedingt zum Guten. Und doch ging es ihm unglaublich auf die Nerven, dass Lucien sie jetzt nicht bei ihrem Namen nannte. Reyes begehrte das Mädchen mehr, als er sich nach einem Hammerschlag vor die Stirn sehnte. Und das hieß –mit Blick auf Schmerz – einiges.

„Nun?“, drängte Lucien.

„Du hast recht“, stieß Reyes zwischen zusammengepressten Lippen hervor. Warum sollte er es nicht zugeben?, dachte er plötzlich. Seine Gefühle waren völlig außer Kontrolle – und sie totzuschweigen hatte ihn nur noch mehr aufgewühlt. Außerdem konnten seine Freunde ihn nicht mehr hassen, als er sich selbst hasste. „Ich bin Aeron gefolgt.“

Das Geständnis hing in der Luft, schwer wie eine Fußfessel. Reyes schwieg.

„Du hast ihn also gefunden.“

„Ich hab ihn gefunden.“ Reyes straffte die Schultern. „Ich hab … ich hab ihn auch unschädlich gemacht.“

Steine knirschten unter Luciens Stiefeln, als er näher trat. „Du hast ihn getötet?“

„Schlimmer.“ Noch immer drehte Reyes sich nicht um. Sehnsüchtig schielte er nach unten, wo der Abgrund unvermindert lockte. „Ich habe ihn unter die Erde gebracht.“

Das Geräusch von Luciens Schritten verstummte augenblicklich. „Du hast ihn unter die Erde gebracht, aber nicht getötet?“ Verwirrung lag in Luciens Stimme. „Das verstehe ich nicht.“

„Er war im Begriff, Danika umzubringen. Ich habe in seinen Augen gesehen, wie es ihn innerlich zerrissen hat, und da wusste ich, dass er es eigentlich nicht tun wollte. Also bin ich eingeschritten und habe ihn daran gehindert, und er hat mir gedankt, Lucien. Er hat mir gedankt. Er hat mich sogar angefleht, ihn ein für alle Mal auszuschalten. Aber das konnte ich nicht. Er hat mich angefleht, ihm den Kopf abzuschlagen. Ich hab tatsächlich mein Schwert erhoben, aber ich konnte es einfach nicht. Also bat ich Kane, mir Maddox’ Ketten zu bringen, weil der sie ja nun nicht mehr braucht. Und damit habe ich Aeron angebunden, tief unter der Erde.“

Reyes war früher einmal dazu verdammt gewesen, seinen Freund Maddox jede Nacht an ein Bett zu fesseln und ihn sechs verfluchte Male in den Bauch zu stechen, wohl wissend, dass der Krieger am Morgen unversehrt erwachen würde und Reyes ihn immer wieder aufs Neue würde töten müssen. Ein toller Freund bin ich.

Nach Hunderten von Jahren hatte sich Maddox dann schließlich mit seinem Fluch arrangiert. Trotzdem war es auch weiterhin nötig gewesen, ihn ans Bett zu fesseln, denn als Hüter des Dämons der Gewalt neigte Maddox dazu, ohne Vorwarnung anzugreifen. Sogar seine Freunde. Und da Maddox so stark war, dass er von Menschenhand gefertigtes Metall in Sekundenschnelle verbog, hatten sie sich von den Göttern höchstpersönlich Ketten schmieden lassen – Ketten, die niemand, nicht einmal ein Unsterblicher, ohne passenden Schlüssel öffnen konnte.

Genau wie Maddox war auch Aeron machtlos gegen diese Fesseln. Anfangs hatte sich Reyes noch dagegen gesträubt, sie seinem Freund anzulegen und dessen Freiheit damit noch mehr zu beschneiden, doch leider hatten sich die Ketten dann – genau wie bei Maddox – als unumgänglich erwiesen.

„Wo ist Aeron, Reyes?“ In der Frage schwang ein unterschwelliger Befehl mit, vorgebracht mit der Autorität eines Mannes, der es gewohnt war, dass man ihm gehorchte.

Doch das schüchterte Reyes nicht ein. Eher machte es ihm zu schaffen, dass er Lucien, den er wie seinen Bruder liebte, gerade enttäuschte. „Das werde ich dir nicht sagen. Aeron möchte nicht befreit werden.“ Und selbst wenn er es wollte, würde ich ihm den Gefallen nicht tun.

Das war der Knackpunkt von Reyes’ Schuld.

Wieder machte sich Schweigen breit, diesmal war es angespannt und beladen mit Erwartungen. „Ich finde ihn notfalls auch allein, das weißt du genau.“

„Du hast es doch bereits vergeblich versucht, sonst wärst du nicht hier.“ Reyes wusste, dass Lucien sich in die weite Welt der Gedanken und Gefühle einschleusen und dort die Spuren einer anderen Psyche nachverfolgen konnte. Manchmal verwischten, verblassten oder verwandelten sich die Spuren jedoch.

Reyes vermutete, dass Aerons Spur sich verwandelt hatte, denn er war einfach nicht mehr derselbe Krieger wie früher.

„Du hast recht. Seine Spur endet in New York“, gab Lucien mit düsterer Miene zu. „Ich könnte meine Suche fortsetzen, aber das würde dauern. Und Zeitverschwendung kann sich momentan keiner von uns leisten. Zwei Wochen sind ohnehin schon verstrichen.“

Das wusste auch Reyes nur zu gut, denn er hatte jeden einzelnen dieser vierzehn entsetzlich sorgenvollen Tage wie eine Schlinge empfunden, die sich immer enger um seinen Hals zog. Ihre größten Feinde, die Jäger, suchten wahrscheinlich jetzt gerade, in diesem Augenblick, nach Pandoras Büchse, um mit ihrer Hilfe die Dämonen aus den Kriegern herauszulocken. Für Letztere wäre das unweigerlich das Todesurteil, die Jäger hingegen müssten nur noch die Dämonen in die Büchse sperren und den Deckel verschließen.

Wenn die Krieger überleben wollten, mussten sie also den Jägern zuvorkommen und die Büchse zuerst finden.

Diese Notwendigkeit sah auch Reyes, denn selbst wenn er sein Leben chaotisch und schmerzhaft fand, so wollte er es doch nicht vorzeitig und dauerhaft beenden.

„Sag mir, wo Aeron ist“, drängte Lucien, „dann bringe ich ihn auf die Burg zurück und sperre ihn hier in den Kerker.“

Reyes schnaubte. „Er ist schon einmal ausgebrochen. Wer sagt, dass er es nicht wieder tut? Vermutlich würden ihn nicht einmal Maddox’ Ketten daran hindern. Sein Blutrausch verleiht ihm Kräfte, die ich so noch nie erlebt habe. Besser, er bleibt, wo er ist.“

„Aber er ist dein Freund. Er ist einer von uns.“

„Er ist nicht mehr er selbst, er ist nur noch ein Zerrbild des alten Aeron, und das weißt du. Die meiste Zeit ist er sich über sein Tun gar nicht bewusst. Er würde sogar dich töten, wenn sich die Gelegenheit böte.“

„Reyes …“

„Er wird sie umbringen, Lucien.“

Sie. Danika Ford. Das Mädchen. Reyes hatte sie nur ein paarmal gesehen, hatte sich kaum mehr als einmal mit ihr unterhalten, und doch sehnte er sich mit jeder Faser seines Körpers nach ihr. Das war etwas, was er nicht verstand. Er war dunkel, sie war hell. Er war der personifizierte Schmerz, sie die Unschuld schlechthin. Er war in jeder Hinsicht schlecht für sie, und trotzdem: Wenn sie ihn ansah, fühlte sich sein Leben durch und durch gut an.

Reyes hatte nicht den geringsten Zweifel daran, dass Aeron sie, wenn er sie noch einmal in die Finger bekäme, bestialisch abschlachten würde. Unmöglich, ihn dann noch zu stoppen. Nicht ein zweites Mal. Aeron hatte den Auftrag erhalten, Danika umzubringen – ebenso wie ihre Mutter, ihre Schwester und ihre Großmutter. Und da er den Befehlen der Götter ebenso hilflos ausgeliefert war wie jeder von ihnen, würde er es tun.

Erneut flackerte Zorn in Reyes auf, und er musste seinen Blick auf die Felsen unter sich richten, um sich zu beruhigen. Zunächst hatte Aeron sich dem finsteren Auftrag der Götter noch widersetzt. Er war ein guter Mensch … nein, er war ein guter Mensch gewesen. Aber mit jedem Tag, der verstrich, war sein Dämon mächtiger geworden, hatte lauter in seinem Kopf gewütet, bis er seinen Geist schließlich ganz beherrschte. Jetzt bildeten Aeron und der Dämon in seinem Körper eine Einheit. Aeron war Zorn. Er gehorchte ihm. Er hatte sich verwandelt. Er würde nicht eher ruhen, bis er die vier Frauen aufgespürt und getötet hatte.

Doch vor besagten vierzehn Tagen – vor vierzehn Tagen, vier Stunden und sechsundfünfzig Minuten, um genau zu sein –war Aeron sich in Danikas provisorischer Bleibe seiner Verbrechen offenbar noch einmal bewusst geworden. Ein kleiner Teil von ihm, ein Überbleibsel des alten Aeron, hatte sich für das, was aus ihm geworden war, verflucht und sich selbst den Tod gewünscht, um der ewigen Tortur ein Ende zu bereiten. Warum sonst hätte Aeron Reyes bitten sollen, ihn umzubringen?

Und ich habe ihm seinen Wunsch abgeschlagen. Reyes brachte es einfach nicht über sich, einem anderen Krieger wehzutun. Nicht noch einmal. Trotzdem. Was für ein Monster war er, dass er seinen Freund leiden ließ? Einen Freund, der für ihn gekämpft und getötet hatte? Der ihn liebte?

Es muss eine Möglichkeit geben, beide, Aeron und Danika, zu retten, dachte er wohl schon zum tausendsten Mal. Unzählige Stunden hatte er bereits über der Frage gebrütet, doch noch immer war ihm keine Lösung eingefallen.

„Weißt du, wo das Mädchen ist?“, unterbrach Lucien seine Grübelei.

„Nein, keine Ahnung.“ Das war die Wahrheit. „Aeron hat sie gefunden, ich habe Aeron gefunden, und so ist es zu dem Kampf zwischen uns gekommen. Sie ist geflüchtet, aber ich bin ihr nicht hinterhergerannt. Inzwischen kann sie überall und nirgends sein.“ Das wäre für sie am besten, das war ihm klar. Und trotzdem: Wie gern hätte er gewusst, wo sie sich aufhielt, was sie machte … ob sie überhaupt noch lebte.

„Lucien, verdammt, warum dauert das so lange?“

Jetzt, wo der nächste Störenfried auftauchte, drehte sich Reyes endlich um. Paris, Träger des Dämons der Promiskuität, stand neben Lucien. Beide Männer blickten ihn mit zusammengekniffenen Augen an. Das Mondlicht überzog alles mit einem blutroten Schimmer, alles bis auf Lucien und Paris, als ob der Mond davor zurückschreckte, das Böse zu berühren – das Böse, das nicht einmal die Hölle selbst unter Kontrolle zu haben schien.

Als Unsterblicher, dessen Blick die schwärzeste Dunkelheit zu durchdringen vermochte, sah Reyes die beiden trotzdem scharf und deutlich vor sich.

Paris war groß, er war der Größte von ihnen allen. Er hatte bunte Haare, eine Haut, die übernatürlich blass wirkte, und Augen, die von einem so intensiven Blau waren, dass selbst der fantasievollste Lyriker ihre Farbe nicht hätte beschreiben können. Menschenfrauen waren wie hypnotisiert von ihm, fanden ihn unwiderstehlich, warfen sich ihm zu Füßen und bettelten darum, ihn berühren und küssen zu dürfen.

Lucien hatte optisch weniger Glück: Sein Gesicht war scheußlich vernarbt, fast wie eine groteske Fratze oder das Antlitz eines Monsters aus einem Gruselmärchen. Hinzu kamen seine verschiedenfarbigen Augen – ein braunes, das die reale Welt sah, und ein blaues für die spirituelle Welt. Zwei Augen, die unabhängig voneinander dasselbe verkündeten: dass der Tod bald anklopfen würde. Obwohl sich Frauen im Allgemeinen von ihm fernhielten, hatte Lucien vor einiger Zeit eine Partnerin gefunden.

Beide Männer waren so muskelbepackt, wie man es nur nach regelmäßigem intensivem Bodybuilding sein konnte. Dazu waren sie schwer bewaffnet und jederzeit kampfbereit – eine absolute Notwendigkeit.

„Ich erinnere mich nicht, zu einer Party hier oben eingeladen zu haben“, meinte Reyes.

„Nun, dann wirst du vielleicht langsam alt und vergesslich“, erwiderte Paris. „Weißt du nicht mehr, dass wir unser weiteres Vorgehen abstimmen wollten? Unter anderem.“

Reyes seufzte. Die Krieger machten, was sie wollten, überall und jederzeit. Und keine noch so scharfe Bemerkung würde sie je davon abhalten. Er wusste das nur zu gut, schließlich war er einer von ihnen und selbst nicht einen Deut besser. „Warum seid ihr nicht unterwegs und sucht nach Hydras Versteck?“

Störrisch kniff Paris seine vollen Lippen, die eigentlich viel besser zu einer Frau gepasst hätten, zu einer dünnen Linie zusammen. In seinen Augen erkannte Reyes kurz dieselben Höllenqualen, die er von seinem eigenen Spiegelbild her kannte, doch dann lag auch schon wieder die übliche Respektlosigkeit auf Paris’ Gesicht.

„Und?“, drängte Reyes, als er keine Antwort bekam.

Schließlich sagte sein Freund: „Selbst Unsterbliche brauchen hin und wieder mal eine Kaffeepause.“

Der Wunsch nach einer Verschnaufpause war garantiert nicht der einzige Grund, aber Reyes hakte nicht weiter nach. Ich bin nicht der Einzige, der Geheimnisse hat. Vor einigen Wochen waren die Krieger ausgeschwärmt, um Hydra zu suchen, ein verrücktes Wesen, halb Schlange, halb Frau, das einige der „Lieblingsspielzeuge“ des Titanenkönigs in seinem Besitz hatte. Diese Spielzeuge – die nichts anderes waren als Waffen –würden sie, so vermuteten sie, zu Pandoras Büchse führen. Bislang hatten sie jedoch nur eines dieser Spielzeuge erhaschen können: den Zwangskäfig. Wo sich die anderen Artefakte befanden, darüber konnten sie allenfalls nur spekulieren.

„Ja, aber im Angesicht des eigenen Untergangs sollten Kaffeepausen vielleicht nicht ganz oben auf der Prioritätenliste stehen. Und, ja, mir ist klar, dass ich mich mehr für unsere gemeinsame Sache engagieren müsste. Das werde ich auch. Danach.“

Paris zuckte die Achseln. „Ich tue, was ich kann. Die USA sind ein verdammt großes Land, und es von Ferne zu durchleuchten ist fast genauso schwierig, wie es auf dem Landwege zu durchkämmen, bei der riesigen Einwohnerzahl.“ Jeder der Krieger war in unterschiedliche Länder gereist, um nach Hinweisen auf die Büchse zu suchen. Aber alle waren sie gleichermaßen erfolglos zurückgekehrt und hatten versucht, von hier aus weiterzuforschen. Ohne Reyes aus den Augen zu lassen, fragte Paris Lucien: „Hat er dir nun verraten, wo Aeron ist, oder nicht?“

Eine von Luciens schwarzen Augenbrauen schnellte fast bis zum Haaransatz hoch. „Nein, hat er nicht.“

„Ich hab dir doch gesagt, dass es schwierig wird mit ihm.“ Paris runzelte die Stirn. „Er ist schon seit Wochen wie ausgewechselt, überhaupt nicht mehr er selbst.“

Dasselbe könnte man auch von Paris sagen, dachte Reyes und musterte die kleinen Müdigkeits- und Sorgenfältchen um dessen Augen, die sonst immer so optimistisch dreinschauten. Vielleicht sollte er Paris mal ins Verhör nehmen, denn ganz offensichtlich war irgendetwas mit seinem Freund passiert. Etwas Schwerwiegendes.

„Die Zeit läuft uns davon, Reyes.“ Paris’ Stimme klang vorwurfsvoll. „Arbeite mit uns zusammen. Hilf uns!“

„Die Jäger sind entschlossener denn je, uns auszurotten“, fügte Lucien hinzu. „Und die Menschen haben den Tempel der Unaussprechlichen entdeckt, was unsere Zugangschancen mindert und die der Jäger vergrößert. Wir haben bislang nur eines von vier Artefakten gefunden, doch wahrscheinlich braucht man alle, um die Büchse ausfindig machen zu können.“

Reyes äffte Lucien nach, indem er seine Augenbrauen übertrieben weit hochzog.

„Und ihr glaubt, Aeron kann uns da weiterhelfen?“

„Nein, aber wir können es uns nicht leisten, zerstritten zu sein. Und wir können auch keine Energie darauf verschwenden, uns ständig Sorgen um ihn zu machen.“

„Du brauchst dich nicht um ihn zu sorgen“, sagte Reyes. „Er will ganz einfach nicht gefunden werden. Er hasst, was aus ihm geworden ist, und er hasst es, dass wir ihn in diesem Zustand sehen. Da, wo er jetzt ist, ist er zufrieden, ich schwör’s euch. Sonst hätte ich ihn niemals dort zurückgelassen.“

Die Tür zum Dach wurde aufgestoßen, und Sabin, Träger des Dämons des Zweifels, trat heraus. Der Wind ließ seine dunklen Haare wild umhertanzen.

„Verdammt noch mal“, sagte er und fuchtelte mit den Armen. „Was ist denn hier los?“ Als er Reyes entdeckte, begann es ihm zu dämmern, und er rollte mit den Augen. „Verdammt, Schmerz, du hast es echt raus, wie man eine Krisensitzung platzen lässt.“

„Warum seid ihr nicht in Rom und durchsucht die Stadt?“, fragte Reyes ihn. Hatten sie tatsächlich alle in der kurzen halben Stunde, die er nun schon auf dem Dach war, ihre eigentlichen Aufgaben aus den Augen verloren?

Sabin hatte eine harsche Antwort schon auf der Zunge, doch Gideon, Träger des Dämons der Lüge, der ihm auf den Fersen gefolgt war, kam ihm zuvor: „Mannomann, das geht ja ganz schön ab hier oben“, bemerkte er trocken.

„Abgehen“ bedeutete in Gideons Sprache „langweilig sein“. Der Mann konnte nicht die banalste Wahrheit aussprechen, ohne furchtbare Qualen zu erleiden. Deswegen war jeder seiner Sätze eine Lüge. Qualen, genau das, was ich brauche. Wenn Reyes bloß ein paar Lügen auszusprechen bräuchte, um Schmerz zu empfinden, wäre sein Leben der reinste Spaziergang.

„Solltest du nicht Paris dabei helfen, die USA zu durchkämmen?“, fragte Reyes und fügte, ohne eine Antwort abzuwarten, hinzu: „Ich fühle mich hier langsam wie im Zirkus. Darf man sich nicht mal ein bisschen zum Schmollen und Selbstverstümmeln zurückziehen?“

„Nein“, konterte Paris, „darf man nicht. Hör auf, Zeit zu schinden und ständig vom Thema abzuschweifen. Gib uns die Antwort, die wir hören wollen, sonst komme ich zu dir rüber und gebe dir einen dicken feuchten Kuss direkt auf den Mund, das schwör ich bei den Göttern. Mein Zauberstab ist lange nicht zum Einsatz gekommen und sehnt sich danach, mal wieder tätig zu werden. Der wird sich schon mit dir zufriedengeben.“

Reyes zweifelte keine Sekunde daran, dass Promiskuität es zur Not auch mit ihm treiben würde, aber er kannte Paris und wusste, dass der nur auf Frauen stand.

Werde sie los. Reyes musterte die beiden Neuankömmlinge. Gideon war ganz in Schwarz gekleidet, sein Haar war metallisch blau gefärbt, seine Augen mit schwarzem Kajal umrandet und seine Augenbrauen so stark gepierct, dass sie vor lauter Ringen und Steckern im Mondlicht nur so funkelten. Menschen fanden ihn einfach nur furchterregend.

Sabin trug ebenfalls schwarze Kleidung, aber seine braunen Haare, die braunen Augen und sein eckiges, arglos wirkendes Gesicht gaben ihm fast den Anschein, als könne er keiner Fliege etwas zuleide tun. Nichts an diesem harmlosen Aussehen deutete jedenfalls darauf hin, dass Sabin zu lachen pflegte, während er tötete – und zwar jeden, der ihm zu nahekam.

Beide Männer waren störrisch wie Maulesel.

„Ich brauche Zeit zum Nachdenken“, sagte Reyes, auf etwas Mitgefühl hoffend.

„Es gibt nichts, worüber du nachdenken müsstest“, antwortete Sabin. „Du wirst das tun, was richtig ist, weil du ein aufrechter Krieger bist.“

Bist du das etwa nicht? Vielleicht bist du ja genauso schwach wie die Menschenfrau, die du begehrst? Warum sonst würdest du denjenigen schaden wollen, die dich lieben?

Aua, dachte er und zuckte zusammen. Er war schwach. Er war … „Sabin“, brummte Reyes, als ihm klar wurde, was da gerade passierte, „hör auf, mich mit deinen Zweifeln zu traktieren. Ich zweifle selbst schon genug.“

Der Krieger versuchte gar nicht erst, sein kleines Manöver abzustreiten, sondern zuckte nur verlegen mit den Schultern. „Sorry.“

„Da unser Meeting ganz eindeutig nicht gecancelt ist“, sagte Gideon, „eile ich nicht in die Stadt, suche nicht den Club Destiny auf und versuche auch nicht, irgendeiner Menschenfrau Lustschreie zu entlocken.“ Eine Sekunde später war er mit einem frustrierten Kopfschütteln verschwunden.

„Sagt das Meeting nicht ab“, wandte sich Reyes an die anderen. „Fangt … fangt einfach ohne mich an.“ Er blickte über die Schulter und ließ seine Augen langsam vom Himmel hinunter zum Abgrund wandern. Die dunkle Leinwand der Nacht wartete immer noch auf ihn, lud ihn ein, sich endlich fallen zu lassen. „Ich komme gleich runter.“

Paris’ Lippen zuckten. „Runter. Haha, sehr komisch. Vielleicht treffe ich dich unten und wir können mal wieder Verstecken mit deiner Bauchspeicheldrüse spielen. Ich find’s ja immer ganz amüsant, wenn du dich zwischendurch mal von Grund auf erneuern musst, anstatt immer nur zu heilen.“

Selbst Lucien musste jetzt grinsen.

„Oh ja, ich will auch mitspielen! Darf ich diesmal die Leber verstecken?“

Beim Klang von Anyas sinnlicher Stimme entfuhr Reyes ein Seufzer.

Die silberhaarige Göttin der Anarchie rauschte durch die Türöffnung und warf sich in Luciens blitzschnell geöffnete Arme. Der mittlerweile ziemliche steife Wind wehte ihren Erdbeerduft herüber. Eine halbe Ewigkeit verbrachten die beiden eng umschlungen – zwei liebesblöde Idioten, die die Welt um sich herum völlig vergessen hatten.

Reyes hatte eine Weile gebraucht, um mit Anya warm zu werden. Erstens, weil sie zum Olymp gehörte, zur Heimat der Wesen, die Reyes schmähte, und zweitens, weil sie überall ein riesen Chaos hinterließ, denn Chaos war ihre Natur. Aber letztlich hatte sie jedem der hier versammelten Krieger irgendwie geholfen – und sie hatte Lucien in einem Maße glücklich gemacht, das Reyes nur erahnen konnte.

Sabin hustete.

Paris pfiff vor sich hin, doch es klang etwas angestrengt.

Spitze Pfeile der Eifersucht bohrten sich in Reyes’ Herz – das Herz, das ohnehin bald aufhören würde zu schlagen, das Herz, das er am liebsten gar nicht besäße. Denn ohne Herz könnte er sich nicht so vergebens nach Danika sehnen.

Aber was spielte das letztlich schon für eine Rolle? Sie würde ihn sowieso nicht wollen. Die wenigsten Frauen standen auf seine Art des Lustgewinns, und die süße, engelsgleiche Danika gehörte ganz sicher nicht dazu. Schon seine bloße Gegenwart hatte sie ja in Angst und Schrecken versetzt.

Aber wer weiß, ob es nicht doch eine Chance gegeben hätte? Vielleicht hätte er sie am Ende ja doch für sich gewinnen, sie verführen, ihr die Angst nehmen können? Vielleicht … aber er hatte es ja nicht mal versucht. Denn die Frauen, mit denen er ins Bett stieg, verfielen alle nach und nach seinem Dämon, ließen sich von ihm berauschen, entwickelten dieselben Gelüste wie er. Auch sie sehnten sich irgendwann nach Schmerz, wurden selbst gewalttätig und verletzten ihre Mitmenschen.

„Die anderen sollen raufkommen“, sagte Reyes mit einem Anflug von Sarkasmus, der seine inneren Qualen verbergen sollte. „Wir halten unser Meeting einfach hier und jetzt ab.“ Was Danika wohl gerade tat? Mit wem war sie zusammen? Einem Mann? Schmiegte sie sich an ihn, so wie Anya an Lucien? Oder war sie tot? Und unter der Erde, so wie Aeron? Seine Hände ballten sich zu Fäusten und seine Fingernägel verlängerten sich zu Klauen und schnitten ihm herrlich in die Haut.

„Hey, Schmerz, halt einfach die Klappe“, sagte Anya und sah ihm direkt ins Gesicht. Dann vergrub sie ihren Kopf in Luciens Halsbeuge, und man sah nur noch ihre blauen Augen, die durch ihre silbernen Haarsträhnen hindurchblickten. „Du vergeudest Luciens Zeit, und das ärgert mich gewaltig.“

Und wenn Anya sich ärgerte, passierten schlimme Dinge. Kriege brachen aus. Naturkatastrophen wüteten, Reyes’ Waffen blieben im Regen liegen und rosteten. „Er und ich, wir haben bereits gesprochen. Er hat die Informationen, die er wollte.“

„Nicht alle“, wandte Lucien ein.

„Also gib sie ihm, oder ich schubse dich“, drohte Anya. „Und während du dich erholst und mich nicht aufhalten kannst, werde ich deine kleine Freundin finden und dir per Post einen ihrer Finger schicken. Das schwöre ich bei den Göttern, so verhasst sie mir sind!“

Allein bei dem Gedanken sah Reyes rot. Danika … verletzt … Reagier einfach nicht. Lass dich nicht auffressen von deiner Wut. „Du rührst sie nicht an!“

„Hey, überprüfe mal deinen Ton“, wies ihn Lucien zurecht und zog Anya noch fester an sich.

„Du weißt ja nicht mal, wo sie sich aufhält“, sagte Reyes, nun schon etwas ruhiger – und verblüfft über den neuen Beschützerinstinkt des früher so phlegmatischen Lucien.

Anya lächelte verstohlen.

„Anya“, warnte er.

„Was ist los?“, gab sie in aller Unschuld zurück.

„Für Aeron ist es wichtig, bei uns zu sein“, sagte Lucien.

„Aeron steht nicht länger zur Debatte“, knurrte Reyes. „Ihr wart nicht dort. Ihr habt die Qual in seinen Augen nicht gesehen. Ihr habt sein Flehen nicht gehört. Ich habe getan, was ich tun musste, und würde es jederzeit wieder tun.“ Er wandte sich von seinen Freunden ab und blickte wieder in den Abgrund. Das Wasser zwischen den Felsen war jetzt aufgewühlt vom Wind. Und die Felsen winkten ihn immer noch zu sich herunter.

Erlösung, flüsterten sie.

Wenigstens für kurze Zeit …

„Reyes“, rief Lucien.

Und Reyes sprang.

2. KAPITEL

Die Bestellung ist fertig.“

Danika Ford griff nach den zwei dampfenden Tellern, die auf die Warmhalteplatte rutschten. Auf dem einen lag ein fettiger Hamburger, reichlich bestückt mit Zwiebeln, auf dem anderen ein Chili-Hotdog mit einer Extraportion Käse. Auf beiden Tellern türmten sich deftige Pommes, deren herrlicher Duft ihr in die Nase stieg. Das Wasser lief ihr im Mund zusammen, ihr Magen knurrte.

Das Letzte, was sie gegessen hatte, war ein Bologna-Sandwich gestern Nacht vor dem Schlafengehen gewesen. Mit schön knusprigem Brot und gut durchgebratenem Fleisch. Was hätte sie jetzt für so ein Sandwich gegeben – wenn sie denn etwas zu geben hätte. Geld, zum Beispiel.

Noch drei Stunden bis zum Ende der Schicht – und zu ihrer nächsten Mahlzeit. Drei zermürbende Stunden noch, in denen sie sich die Füße wund laufen und das Kreuz verbiegen würde. Das packte sie einfach nicht. Sei keine Prinzessin. Kopf hoch, Brust raus, weitermachen. Du bist eine Ford, kein Weichei.

Doch sie konnte sich noch so energisch rüffeln, ihr Blick schweifte sehnsüchtig über die Teller. Unbewusst leckte sie sich die Lippen. Nur ein kleines Stück. Wem würde das schaden? Würde ja keiner merken.

Unwillkürlich hob sie den Arm und streckte die Finger aus …

„Ich hab das Gefühl, dass die sich da gerade meine Fritten klaut“, hörte sie einen Mann tuscheln.

Eine andere Flüsterstimme erwiderte: „Was erwartest du auch von einer wie der?“

Danika erstarrte. Augenblicklich war ihr Appetit verdrängt von einer ganzen Flut von Gefühlen – Traurigkeit, Frust und Verlegenheit. Das ist also aus meinem Leben geworden. Von einer behüteten Tochter zu einer Getriebenen, die sich trostlose Nächte um die Ohren schlägt. Von einer angesehenen Künstlerin zu einer Kellnerin in einem drittklassigen Diner.

„Na, ich bin nicht gerade überrascht, aber …“

„Schau auf jeden Fall nach deinem Portemonnaie, wenn wir aufbrechen.“

Die Worte erfüllten Danika mit Scham. Sie musste die Männer nicht sehen, um zu wissen, dass sie sie mit hartem, abschätzigem Blick musterten. Dreimal waren sie schon ins Enrique’s gekommen, und jedes Mal hatten sie Danikas Selbstachtung einen harten Schlag versetzt. Dabei waren sie nicht einmal unfreundlich, im Gegenteil, sie lächelten immer und bedankten sich höflich, wenn sie ihnen das Essen brachte – aber den angewiderten Ausdruck in ihren Augen konnten sie eben doch nicht ganz verbergen.

Danika nannte sie die Bird Brothers, so sehr hatte sie die beiden gefressen.

Zieh bloß nicht ihre Aufmerksamkeit auf dich, meldete sich ihre Vernunft zu Wort. Der einzige Satz, nach dem sie im Moment lebte.

„Wenn ich dich noch ein Mal beim Essenklauen erwische …“, bellte Enrique, ihr Boss, der nebenbei auch der Koch für die schnellen Gerichte war. „Und jetzt zack, zack! Das Essen wird kalt.“

„Im Gegenteil, es ist noch viel zu heiß. Die werden sich noch verbrennen und dann womöglich prozessieren.“

Die Teller wirkten über die Maßen warm auf ihrer Haut, die schon seit Wochen durchgefroren war. Sogar hier, in der Hitze des Diners, trug sie einen Sweater, den sie für 3,99 $ im Secondhandshop am Ende der Straße erstanden hatte. Doch zu ihrem Erstaunen drang die Wärme der Teller nie bis in ihr Inneres vor.

Irgendwann musste ihr doch mal wieder etwas Gutes widerfahren! Hielten sich nicht Gut und Böse immer irgendwie die Waage? Früher hatte sie das zumindest geglaubt. Da hatte sie sogar gemeint, dass hinter jeder Ecke das Glück lauern würde. Leider hatte sie seitdem einiges dazugelernt.

Hinter ihr, hinter der Fensterfront, die fast spöttisch den Blick freigab auf das nächtliche Treiben von Los Angeles, flitzten Autos und schlenderten Leute vorbei, sorglos und lachend. Vor nicht allzu langer Zeit wäre ich genauso hier entlangspaziert.

Danika hatte den Job bei Enrique angenommen, weil der sie schwarz bezahlte und keine Sozialversicherungsnummer hatte sehen wollen. Sie arbeitete so viel wie möglich und wurde bar auf die Hand bezahlt, ohne Abzug von Steuern. Und: Sie konnte jederzeit verschwinden, von jetzt auf gleich.

Ob ihre Mutter und ihre Schwester wohl auch so ein Leben führten? Und ihre Großmutter, falls sie überhaupt noch am Leben war?

Vor zwei Monaten hatten sie alle vier beschlossen, eine ausgedehnte Reise nach Budapest, der Lieblingsstadt ihres Großvaters, zu machen. Magisch hatte er sie immer genannt. Nach seinem Tod wollten sie ihm mit der Reise ein Andenken setzen und sich so endgültig von ihm verabschieden.

Der größte Fehler! Aller Zeiten!

Denn schon kurz nach ihrer Ankunft waren sie entführt und gefangen gehalten worden. Von Unmenschen, im wahrsten Sinne des Wortes. Von richtigen, wahrhaftigen Monstern. Monstern, nach denen der Schwarze Mann wahrscheinlich ängstlich die dunklen Ecken seines Hauses absuchte, bevor er sich zu Bett legte. Kreaturen, die manchmal menschlich aussahen und manchmal nicht ansatzweise – zum Beispiel wenn ihnen Reißzähne und Klauen wuchsen und Totenschädel unter ihrem menschlichen Antlitz hervorleuchteten.

In einem glücklichen Moment war Danika mit ihrer Familie gerettet worden. Doch man hatte sie erneut eingefangen, nur um sie kurz darauf unversehrt wieder freizulassen. Unversehrt, aber gewarnt: Lauf, renn, versteck dich. Schon bald werden sie dich jagen. Und wenn sie dich finden, bist du tot. Genauso wie deine Familie.

Und so waren sie alle vier um ihr Leben gerannt und hatten sich getrennt, in der Hoffnung, dass sie so weniger leicht aufzuspüren wären. Danika war zunächst nach New York gereist, in die Stadt, die niemals schlief, und hatte dort versucht, in der Menschenmenge unterzutauchen. Aber irgendwie hatten die Monster sie aufgespürt. Schon wieder. Wie durch ein Wunder war es ihr abermals gelungen zu entkommen, und sie war ohne Umschweife nach L.A. getrampt, wo sie mit ihrem Job gerade so viel verdiente, dass sie über die Runden kam und ihren Selbstverteidigungskurs bezahlen konnte. Am Anfang hatten Danika und ihre Familie noch jeden Tag telefoniert oder sich zumindest gegenseitig Handynummern von vertrauenswürdigen Freunden hinterlassen. Doch dann ließ plötzlich ihre Großmutter nichts mehr von sich hören. Es kamen einfach keine Anrufe mehr.

Hatten die Monster sie gefunden? Und getötet?

Das letzte Mal, als Danika mit ihr gesprochen hatte, war sie in einer kleinen Stadt in Oklahoma gewesen. Sie hatte dort bei Freunden gewohnt, obwohl sie sich eigentlich immer davor gehütet hatte, allzu lange an vertrauten Orten zu bleiben, aber vielleicht war sie in ihrem Alter des ewigen Herumreisens auch einfach müde gewesen. Jedenfalls hatten selbst diese Freunde schon seit Wochen nichts mehr von ihr gehört. Hatten sie nicht mehr gesehen, seit sie eines Morgens zum Einkaufen aufgebrochen war.

An ihre geliebte Großmutter zu denken und an die Qualen, die sie möglicherweise erlitten hatte, erfüllte Danika mit unendlicher Trauer und unerträglichem Schmerz. Sie konnte noch nicht einmal ihre Mutter oder Schwester anrufen und fragen, ob die vielleicht etwas wüssten, denn ihre Mutter fand es sicherer, wenn sie nicht miteinander kommunizierten. Ihre Gespräche könnten zurückverfolgt werden, hatte sie bei ihrem letzten Anruf gesagt.

Danikas Augen brannten und ihr Kinn zitterte. Nein. Nein! Was ist los mit dir? Sie durfte jetzt nicht an ihre Familie denken. Diese ewige „Was, wenn …“ lähmte sie und würde sie noch verrückt machen.

„Du trödelst“, knurrte Enrique und riss sie damit endgültig aus ihren düsteren Gedanken. „Beweg deinen Arsch, aber ein bisschen plötzlich. Deine Kunden warten, und wenn sie das Essen zurückgeben, weil es kalt ist, dann bezahlst du es, klar?“

Am liebsten hätte sie ihm die Teller vor die Füße geknallt, aber sie konnte sich gerade noch bremsen, setzte ein freundliches Lächeln auf und drehte sich auf dem Absatz um, dass die Sohlen ihrer schäbigen Sneaker quietschten. Während sich in ihrem Magen ein eisiger Klumpen des Grauens zusammenballte, marschierte sie hoch erhobenen Hauptes zum Tisch der beiden Männer. Die beobachteten sie mit stechendem Blick. Mit ihrer Durchschnittskleidung und den unauffälligen Frisuren sahen sie eindeutig nach Mittelschicht aus. So gebräunt und muskulös, wie sie waren, konnten sie gut Bauarbeiter sein. Allerdings kamen sie dann wohl nicht direkt von der Arbeit, denn sie trugen blitzsaubere Jeans und T-Shirts. Einer von beiden fummelte sich mit einem Zahnstocher zwischen den Zähnen herum, je näher sie kam, umso hektischer. Danikas Hände zitterten vor Erschöpfung, aber es gelang ihr, die Teller vor die beiden Männer hinzustellen, ohne ihnen das Essen über den Schoß zu kippen. Eine Locke ihres tiefschwarzen Haares löste sich dabei aus dem Pferdeschwanz und fiel ihr in die Stirn.

Als sie ihre Hände endlich frei hatte, strich sie die Strähne zurück hinters Ohr. BB – bevor Budapest – hatte sie lange blonde Haare gehabt. NB – nach Budapest – hatte sie es auf Schulterlänge kürzen und färben lassen, um ihr Aussehen zu verändern. Ein weiteres Verbrechen, das aufs Konto dieser Unmenschen ging.

„Entschuldigen Sie wegen der Pommes frites.“ Obwohl die beiden Männer sie so unverhohlen verachteten, waren sie doch großzügige Trinkgeldgeber. „Ich wollte mir keinen davon nehmen, sondern lediglich verhindern, dass sie vom Teller rutschen.“ Lügnerin. Großer Gott, früher hatte sie nie gelogen.

„Kein Problem“, meinte Bird Brother Nummer eins, doch seine Stimme klang genervt.

Lasst das Essen nicht zurückgehen, bitte, lasst das Essen nicht zurückgehen. Sie konnte es sich einfach nicht leisten, es aus eigener Tasche zu bezahlen. „Kann ich Ihnen sonst noch etwas bringen?“

„Nein, danke“, antwortete Bird Brother zwei. Wieder waren die Worte höflich gewählt, aber gereizt ausgesprochen. Er griff sich eine Papierserviette, faltete sie auseinander und legte sie sich auf den Schoß.

Danika erhaschte einen Blick auf eine kleine tätowierte Acht an der Innenseite seines Handgelenks. Komisch. Sie hätte dort viel eher eine dunkelhaarige Frau mit einer blutigen Axt oder so im Rücken erwartet.

„Okay, dann rufen Sie mich bitte einfach, wenn Sie noch irgendetwas möchten.“ Danika rang sich ein Lächeln ab, auch wenn sie damit wahrscheinlich aussah wie ein grimmiger Wolf. „Lassen Sie es sich schmecken.“

Sie hatte sich schon umgedreht, als Bird Brother zwei fragte: „Wann haben Sie Pause?“

Huch, was war das jetzt? Wieso interessierte der sich für ihre Pausen? Sie bezweifelte, dass er irgendetwas Romantisches mit ihr vorhatte, denn noch immer musterte er sie mit angewidertem Blick. „Äh, ich mache keine Pause.“

Er steckte sich eine Pommes in den Mund, kaute und leckte sich dann die fettigen Lippen ab. „Wie wär’s, wenn Sie heute mal eine machen würden?“

„Tut mir leid, das kann ich nicht.“ Los komm, weiterlächeln. „Ich hab viel zu tun.“ Sie hätte hinzufügen sollen: vielleicht ein anderes Mal. Immer hübsch freundlich bleiben und ans Trinkgeld denken. Aber die Worte blieben ihr im Hals stecken. Bloß weg, weg, weg.

Sie drehte sich auf dem Absatz um. Die beiden verschwanden aus ihrem Blickfeld. Abrupt knipste sie ihr Lächeln aus. In wenigen raschen Schritten hatte sie Gilly, die einzige andere Kellnerin erreicht, die mit ihr Schicht hatte. Gilly stand am Tresen und füllte drei Plastikbecher mit verschiedenen Limonaden. Eigentlich hätte sich Danika kurz mit dem Chef, den sie eben noch als Vorwand vorgeschoben hatte, absprechen müssen, aber sie konnte nicht mehr, sie brauchte eine kleine Pause, um wieder Haltung zu gewinnen.

„Großer Gott, Hilfe“, murmelte sie. Sie legte ihre Hände flach auf den Tresen und beugte sich vor. Zum Glück schützte eine halbhohe Trennwand sie vor den Blicken der Gäste.

„Der wird kein Einsehen haben.“ Gilly, eine sechzehnjährige Ausreißerin, die sich als Achtzehnjährige ausgab, warf Danika einen müden, komplizenhaften Blick zu. Sie arbeiteten beide vierzehn Stunden am Tag. „Der hat uns längst abgeschrieben, fürchte ich.“

Ein solcher Pessimismus klang irgendwie falsch und fehl am Platz bei einem so jungen Menschen wie Gilly. „Das will ich einfach nicht glauben.“ Das Lügen war schon so etwas wie ihre zweite Natur geworden. Auch Danika war sich längst nicht mehr sicher, ob Gott sich noch um die Menschen scherte. „Möglich, dass sich schon in wenigen Tagen etwas Wunderbares ereignet.“ Ja. Genau.

„Na, mein kleines Wunder ist, dass die Bird Brothers diesmal wieder in deinem Abschnitt sitzen.“

„Soll das ein Witz sein? Die lächeln dich an, als wärst du die gute Fee, und starren mich an, als wäre ich die böse Hexe. Keine Ahnung, was ich denen getan habe und warum sie immer wiederkommen.“ Bei ihrem zweiten Besuch hatte sie tatsächlich geglaubt, die beiden würden sie geradewegs wieder in den Albtraum zurückschicken, dem sie gerade entkommen war. Aber da sie keine monströsen Züge an ihnen entdecken konnte, hatte sie sich schließlich entspannt.

Gilly lachte: „Willst du, dass ich sie für dich rauswerfe?“

„Na, das wär’s jetzt noch, Gilly. Das ist eine Straftat, und ich glaube, Handschellen stehen dir nicht so gut.“

Gillys Lächeln verschwand. „Ich weiß“, murmelte sie.

Einerseits hätte Danika Gilly am liebsten geraten, nach Hause zurückzukehren. Als behütete Tochter, die sie selbst einmal gewesen war, konnte sie sich einfach nicht vorstellen, dass das Zusammenleben mit der eigenen Mutter so schlimm sein sollte. Andererseits hielt sie es inzwischen durchaus für möglich, dass Mütter ihren Töchtern das Leben zur Hölle machten. Dafür hatte sie in der kurzen Zeit hier zu viel Schreckliches gesehen: Frauen mit leerem Blick, die nachts auf der Straße ihren Körper verkauften. Schlägereien. Exzessiven Drogenkonsum. Was auch immer Gillys Mutter getan hatte, um ihre minderjährige Tochter auf die Straße zu treiben – es musste etwas Schlimmes gewesen sein.

Früher einmal hatte Danika sich die Welt als einen wunderschönen und sicheren Ort zum Leben vorgestellt – einen Ort voller Möglichkeiten. Jetzt war sie ernüchtert.

„Gehst du morgen zum Training?“, fragte sie, um das Gespräch in eine unverfängliche Richtung zu lenken. Seit sie hier arbeitete, seit einer Woche, war sie jeden Tag mit Gilly zusammen zu einem Selbstverteidigungskurs gegangen. Sie lernten dort zu treten, zu schlagen und, ja, gegebenenfalls auch mit Präzision zu töten. Neben ihrer Familie war der Selbstverteidigungskurs zu Danikas zweitem Lebensinhalt geworden. Denn sie wollte sich nie mehr in ihrem Leben hilflos fühlen.

Gilly seufzte und sah sie an. Wieder einmal dachte Danika, dass sie zu jung und zart war für das Hundeleben, das sie führte. Gilly hatte dunkles, kinnlanges, vollkommen glattes Haar, große braune Augen und eine honigfarbene Haut. Sie war durchschnittlich groß und hatte eine weibliche Figur. Sie war eine Mischung aus Unschuld und dunkler, verzweifelter Sinnlichkeit – und im Augenblick Danikas einzige Freundin.

„Meine Füße werden mich auf ewig hassen, aber ich gehe trotzdem hin. Und du?“

„Auf jeden Fall.“ Eigentlich war Freundschaft etwas, was sie sich zurzeit gar nicht leisten konnte, aber nach einem Blick auf dieses traurige, tapfere Mädchen hatte Danika sofort so etwas wie Seelenverwandtschaft gefühlt.

„Vielleicht werden wir ja sogar den Trainer wieder bezwingen – Mensch, war das ein Spaß.“

Sie musste kichern, zum ersten Mal seit Ewigkeiten.

„Ja, vielleicht.“

Das Schrillen einer Glocke zerriss das Stimmengewirr, das den Diner erfüllte. Eine weitere Bestellung war fertig. Trotzdem rührte sich keine von beiden vom Fleck.

„Mal ehrlich“, meinte Gilly und stemmte ihre Hand in die Hüfte, „ich bin richtig in Rage geraten, als Charles uns anwies, über ihn herzufallen. Ich hätte ihn echt umbringen können. Und hinterher hätte ich mich fast totgelacht.“

„Mir ging’s genauso.“ Und traurigerweise war das keine Lüge.

„Stellt euch vor, ich wäre euer Feind. Zeigt mir, was ihr schon draufhabt. Los, greift mich an“, hatte Charles gesagt – woraufhin sie beide auf ihn losgegangen waren. Am Ende hatte er mit neunundfünfzig Stichen genäht werden müssen, aber zum Glück war er hart im Nehmen.

Danika hatte sich einfach ihre Entführer vorgestellt, und eine ungeheure Wut hatte sie erfasst. Aeron, Lucien und Reyes – sie schluckte, Reyes! Ihre Peiniger. Männer, die sie eigentlich mit jeder Faser ihres Körpers hassen müsste. Die sie auch wirklich hasste. Bis auf einen. Reyes. Dummes Mädchen.

Von ihm träumte sie, pausenlos. Egal ob sie schlief oder wach war. Er schwirrte ihr im Kopf herum, als wäre sein Name irgendwo dort eingebrannt.

Manchmal besiegte er sogar die Geschöpfe ihrer Albträume. Er griff sie an und kämpfte mit ihnen, bis das Blut in Strömen floss. Und danach kam er mit Wunden und Schmerzen zu ihr. Ohne zu zögern nahm sie ihn in die Arme, und er küsste sie. Langsam, ganz langsam, ließ er seine Zunge über ihren Körper gleiten – und hinterließ auf jedem Zentimeter ihrer Haut Brandmale.

Jede nächtliche Sekunde, die sie mit ihm verbracht hatte, hatte ihre Sehnsucht nach ihm gesteigert, bis er schließlich alles war, was sie wollte und brauchte. Inzwischen war er für sie wichtiger als die Luft zum Atmen. Er war wie eine Droge, und sie befand sich im Zustand schlimmster Abhängigkeit.

Was stimmt nicht mit mir? Er hatte sie und ihre Familie ohne ersichtlichen Grund gekidnappt und in Geiselhaft genommen. Er verdiente ihre Begierde nicht. Warum also sehnte sie sich so verzweifelt nach ihm? Er war attraktiv, sogar gefährlich attraktiv, aber das waren andere Männer auch. Er war stark, aber er hatte seine Stärke gegen sie eingesetzt. Er war intelligent, ließ dabei aber keine Spur von Humor erkennen. Nie lächelte er. Und trotzdem hatte sie noch nie einen Mann so sehr begehrt wie Reyes.

Er hatte genauso dunkles Haar wie Gilly, dunkle Augen und honigfarbene Haut – Honig, gemischt mit geschmolzener Schokolade. Zudem besaß er dieselbe verzweifelte Sinnlichkeit, so als hätte er die schmerzhafteste Seite der Liebe bereits kennengelernt und wäre nun für immer gezeichnet.

Doch hier endeten die Parallelen auch schon. Reyes war groß und hatte die ausgeprägten Muskeln eines Kriegers. Er trug mehr Waffen am Leib als Kleidung – sie waren an seinen Handgelenken, Knöcheln und Oberschenkeln festgeschnallt und baumelten an seiner Taille. Jedes Mal wenn sie ihn gesehen hatte, war er mit Kampfspuren übersät gewesen, mit Prellungen im Gesicht und Schnitten von Kopf bis Fuß, hauptsächlich an Armen und Beinen. Er war Krieger durch und durch.

Das waren sie übrigens alle gewesen, die selbst ernannten „Herren der Unterwelt“ – oder „Herren der Albträume“, wie sie sie genannt hatte, denn ihre allerschlimmsten Träume reichten nicht an diese Männer heran.

Aeron hatte hauchdünne schwarze Flügel und konnte wie ein Vogel fliegen, oder eher wie ein heimtückischer Drache aus dem Märchenbuch. Lucien hatte verschiedenfarbige Augen, die hypnotisierend zu kreisen begannen, bevor er sich in Luft auflöste, als hätte es ihn nie gegeben. Paradoxerweise war er stets in ein Wölkchen süßen Rosendufts gehüllt.

Welche magischen Fähigkeiten Reyes besaß, wusste sie nicht.

Alles, was sie wusste, war, dass er sie einmal gerettet hatte. Dass er ihr zuliebe mit seinem Kriegerkollegen gekämpft hatte. Warum? Darüber hatte sie sich seitdem den Kopf zerbrochen. Warum hatte er seinen Freund verwundet und nicht sie? Warum hatte er sie so angesehen, als wäre sie sein einziger Lebensinhalt? Und warum hatte er sie am Ende wieder freigelassen?

Spielt das eine Rolle? Er ist einer von ihnen. Er ist ein Monster. Vergiss das nicht.

Erneut riss die schrille Klingel sie aus ihren Gedanken. „Mädels!“, brüllte Enrique.

Gilly stöhnte.

Danika massierte sich den Nacken. Ende der Verschnaufpause. Sie richtete sich auf. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie einer ihrer Gäste mit dem Arm winkte, um ihre Aufmerksamkeit zu erhaschen. Zu Gilly gewandt sagte sie: „Ich bin morgen früh um halb fünf bei dir, okay?“

„Lass uns lieber fünf sagen. Da bin ich zwar auch noch müde, aber startklar.“ Gilly drehte sich um und griff nach den Getränkebechern.

Danika ging wieder nach vorn. Es folgten zehn Minuten, in denen sie die Servietten und Strohhalme ordnete und den Bird Brothers Kaffee holte und einschenkte. Zumindest hielt sie das davon ab, an Reyes zu denken.

Zweimal ließ Bird Brother eins seine Gabel fallen, und sie musste ihm eine neue bringen. Einmal bat Bird Brother zwei, Kaffee nachgeschenkt zu bekommen. Dann brauchte er eine neue Serviette. Als sie endlich versuchte, sich von ihrem Tisch zurückzuziehen, griff Nummer zwei sie beim Handgelenk und hielt sie fest. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt.

Doch sie ließ sich nichts anmerken – jeder verdammte Cent zählt –, fragte nur höflich, ob er noch etwas bräuchte, und löste sich aus seinem Griff.

„Wir würden gerne mit Ihnen sprechen“, sagte er und streckte schon wieder seinen Arm nach ihr aus.

Sie trat ein paar Schritte zurück. Wenn er sie noch einmal berührte, würde sie ihn anschnauzen. Ganz sicher würde sie sich von einem Fremden nicht mehr angrapschen lassen. Um nichts in der Welt. „Worüber?“

Eine Mutter und ihr Kind brachten die Türglocke zum Läuten, als sie das Restaurant betraten.

„Worüber?“, wiederholte sie.

„Über einen Job. Geld.“

Danika riss die Augen auf. Großer Gott! Hielten sie sie etwa für eine Nutte? Das also hatten sie mit „Eine wie die“ gemeint. Komisch, dass sie sie mit Ekel und Verachtung ansahen und offenbar trotzdem ihre Dienste in Anspruch nehmen wollten. „Nein, danke. Mir geht’s gut hier in diesem Job.“ Okay, nicht wirklich gut, aber das musste sie denen ja nicht auf die Nase binden.

„Danika“, rief Enrique. „Hier warten Gäste.“

Die beiden Männer schauten zum Eingang hinüber und runzelten die Stirn. „Später“, sagte Bird Brother zwei.

Schönen Dank auch. Im Ernst. Sie – eine Nutte? Danika, die näher beim Eingang stand als Gilly, ergriff zwei Speisekarten und führte die neuen Gäste an einen Tisch. Sie sahen etwas ungepflegt und hager aus, und ihre Kleidung war fleckig und verknittert. Keine guten Trinkgeldgeber. Trotzdem schenkte sie ihnen ein herzliches Lächeln, in das sich sogar eine Spur Neid mischte.

Sie vermisste ihre Mutter so.

„Was kann ich Ihnen zu trinken holen?“

„Wasser“, sagten sie beide wie aus einem Mund.

In die blauen Augen des Jungen trat ein wehmütiger Ausdruck, als er auf einem der Nachbartische eine übrig gebliebene Limonade entdeckte. Kühle Tropfen perlten an dem Plastikbecher hinunter. Danika legte den Kopf schief, ihr Künstlerauge hatte ein herzzerreißendes Motiv für ein Porträt erkannt. Die Sehnsüchte der Menschen waren so einfach, wenn sie nicht mehr als das Nötigste zum Auskommen hatten.

Aber du wolltest doch nicht mehr malen, weißt du nicht mehr?

Das Malen war ihr in ihrer jetzigen Welt, wo der Tod hinter jeder Ecke lauerte, wie ein unzulässiger Luxus vorgekommen. Außerdem musste sie etwas fühlen, um malen zu können. Natürlich nicht nur Freude. Nein, die Malerei verlangte ein ganzes Spektrum von Emotionen, Wut, Traurigkeit, Wonne, Hass, Liebe, Kummer. Ohne diese Gefühle war das Malen, das wusste sie, ein bloßes Farbenmischen und -auftragen. Aber wenn sie diese Gefühle zuließ, würde sie den Halt verlieren, den sie zum Leben brauchte.

Sie schluckte die Traurigkeit hinunter, die sie sich gerade überhaupt nicht leisten konnte, und reichte den Gästen die Speisekarte. „Ich bin gleich mit den Getränken wieder da. Dann nehme ich Ihre Bestellung auf.“

„Danke“, sagte die Mutter.

Auf dem Weg zur Getränkebar grapschte Bird Brother zwei erneut nach ihrem Arm und umschloss ihn mit festem Griff. Danika erstarrte. Ihre Wut war so groß, dass sie das Gefühl hatte, gleich überzukochen. Und mit dieser Wut wurde sie nicht so leicht fertig wie mit ihrer Traurigkeit, sie war nicht so einfach herunterzuschlucken. Hatte sie sich den ganzen Tag wie unter einer Eisschicht gefühlt, so spürte sie jetzt flammende Hitze auf der Haut.

„Wann sind Sie hier fertig?“

„Ich weiß es nicht.“

„Hören Sie, es ist nur zu Ihrem Besten. Die Welt ist verdammt schlecht, und wenn man nicht gerade selber zu den Bösen gehört, dann sollte man da draußen nicht alleine herumlaufen.“

„Wenn Sie mich noch einmal anfassen“, stieß sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, ohne näher auf seine geheuchelte Bestürzung einzugehen, „dann werden Sie es bereuen. Ich bin keine Nutte. Und ich will auch keinen Job, klar?“

Sie befreite sich aus seinem Griff, während er und sein Kumpel sie noch anglotzten, und stolzierte davon, bevor sie sich zu irgendeiner Dummheit hinreißen ließ. An der rückwärtigen Getränketheke zapfte sie mit zitternden Händen die Getränke für die Mutter und ihren Sohn. Ihr Herz trommelte in ihrem Brustkorb. Du musst dich beruhigen. Tief einatmen, tief ausatmen. Ja, richtig so. Schließlich lockerte sich der Schraubstockgriff ihrer Muskeln um ihre Knochen.

Auf dem Rückweg zu Mutter und Kind machte sie einen großen Bogen um den Tisch der Bird Brothers. Als die Mutter merkte, dass sie dem Jungen eine Cola brachte, wollte sie schon protestieren, doch Danika stoppte sie durch eine kurze Bewegung ihrer Hand, die, wie sie überrascht feststellte, immer noch zitterte. Der Schock über Bird Brothers Berührung saß offenbar tiefer als gedacht. Also noch einmal: tief einatmen, tief ausatmen.

„Die geht aufs Haus“, sagte sie leise. Da Enrique nie etwas spendierte, nicht einmal seinen Angestellten, würde er die 1,79 $ von ihrem Gehalt abziehen, wenn er es mitbekam. „Wenn es okay ist, dass er eine Cola trinkt.“

Das Gesicht des Jungen leuchtete auf. „Ist doch okay, Mom, oder? Bitte, bitte, bitte.“

Die Mutter schaute Danika dankbar an. „Ja, das ist okay. Vielen Dank.“

„Gern. Und was kann ich Ihnen zu essen bringen?“ Sie zog den Block und den Bleistift aus ihrer Schürze. Ihre Hand zitterte jetzt nicht mehr, aber ihre Muskeln waren so angespannt, dass sie den dünnen Bleistift aus Versehen abbrach. „Oh, tut mir leid.“ Vorsichtig holte sie einen Ersatzstift hervor.

Mutter und Sohn gaben ihre Bestellung auf, und während sie mitschrieb, ließ sie ihren Blick durch den Diner schweifen. Gerade war eine andere Familie hereingekommen, die sie jedoch nur kurz musterte. Sie war nicht mehr ganz so angespannt wie in ihren ersten Tagen hier. Anfangs hatte sie ständig damit gerechnet, dass Reyes hereinspaziert kam, sie über die Schulter warf und mit ihr in der Nacht verschwand.

Gilly führte die Familie zu der anderen noch freien Tischnische und fing dabei Danikas Blick auf. Müde lächelten sie sich zu. Danika fühlte sich schwach auf den Beinen, ihre Nerven lagen nach Bird Brothers Gegrapsche immer noch blank. Du weißt, dass du so nicht reagieren darfst. Du musst immer auf der Hut und auf alles vorbereitet sein.

„Haben Sie das notiert?“, hörte sie die Mutter fragen.

Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Tisch zu. „Ja. Zwei Hamburger, einer ohne Senf und Tomate, der andere mit allem, beide mit Pommes frites.“

Die Frau nickte. „Genau. Danke schön.“

„Ich gebe die Bestellung sofort auf. Es dauert sicher nicht lange.“ Danika riss die Seite von ihrem Block und ging zu Enrique.

Diesmal fasste Bird Brother eins nach ihrem Arm. „Hören Sie, wir halten Sie doch nicht für eine Prostituierte. Wir wollen nur mit Ihnen reden. Schlimme Dinge liegen vor Ihnen.“

Bevor sie etwas dagegen tun konnte, hatte ihr Instinkt die Oberhand gewonnen. Vor ihrem inneren Auge sah sie die Panik im Gesicht ihrer Schwester, als sie nachts aus ihrem Hotelzimmer herausgezerrt und als Geiseln der Monster zu der Burg verschleppt worden waren. Und sie hörte wieder die Stimme ihrer Mutter: Vielleicht ist deine Großmutter tot. Ermordet.

Sie sah plötzlich rot, die Wut hatte sie voll im Griff, verwandelte sie in eine Furie. Na los, greif an. Lass dir nichts gefallen. Schluss mit der ewigen Hilflosigkeit. Sie hieb mit ihrer freien Hand auf die Nase des Mannes und spürte, wie unter der Wucht des Schlages der Knorpel brach. Blut floss auf sein Hemd und den Teller. Er schrie auf vor Schmerz und hielt sich die Hand schützend vors Gesicht.

Auf den Schmerzensschrei folgte bleierne Stille. Dann fiel irgendwo ein Glas herunter. Klong, splash. Flüssigkeit spritzte auf den gefliesten Boden. Irgendjemand fluchte. Alle Geräusche klangen unwirklich laut, hallten wie Donner in ihrem Kopf und rissen Danika, die wie auf Autopilot geschaltet war, aus ihrer Benommenheit.

Sie öffnete den Mund.

Bird Brother zwei schnappte mit weit aufgerissenen Augen nach Luft. Er sprang auf und atmete schnaubend ein und aus. „Was erlaubst du dir hier eigentlich, du Schlampe?“

„Ich … ich …“ Ein Zucken durchlief Danikas Körper. Dann stand sie wieder wie erstarrt da und kämpfte mit der aufsteigenden Panik. Die Aufmerksamkeit aller Anwesenden war jetzt auf sie gerichtet. Und es war keine wohlwollende Aufmerksamkeit. „Ich … ich habe Ihnen mehrmals gesagt, dass Sie mich nicht anfassen sollen.“

„Sie haben ihn angegriffen!“ Der Unverletzte der beiden Typen kam drohend näher, legte ihr seine Hände auf die Schultern und drängte sie zurück.

Sie hätte ihn davon abhalten können, sie so zu schubsen, hätte ihm ihren Bleistift in den Hals rammen und dann davonrennen können, aber sie tat es nicht. Die erlebte Demütigung und ihr schlechtes Gewissen hatten ihre Wut vollständig verdrängt. Wo bleibt deine Abgeklärtheit?

„Weißt du was?“, knurrte er sie an. „Du bist genau so wie sie. ‚Vielleicht ist sie unschuldig‘, wurde mir gesagt, ‚deshalb sei bitte vorsichtig mit ihr. Sei freundlich.‘ Aber das konnte ich mir nicht vorstellen, nicht eine Sekunde. Trotzdem hab ich die Anweisung erst mal befolgt. Was für ein blöder Fehler: Du hast ja gerade selbst demonstriert, wie verabscheuungswürdig du bist. Vielleicht bist du ja tatsächlich eine Nutte – ihre Nutte.“

„Du bist genau so wie sie“, hatte er gesagt. Wie wer? „Es tut mir leid. Ich wollte nicht … ich …“ Aber egal, was sie sagte, sie konnte sich nicht aus der Sache herausreden. Sie räusperte sich und versuchte, ihren Pullover glatt zu ziehen. Irgendwie musste Blut auf ihre Handfläche gespritzt sein, denn überall, wo sie hinfasste, hinterließ sie dunkelrote Schlieren. „Es tut mir aufrichtig leid.“

„Kann vielleicht mal jemand die Polizei verständigen, verdammt noch mal?“

Oh Gott! Kaum hatte sie sich einigermaßen niedergelassen, musste sie schon wieder flüchten. Wenn das hier in die Zeitung kam … Oh Gott. Ihr Puls raste bereits wieder.

Enrique kam aus der Küche gestampft. Die Schwingtüren schlugen hinter ihm zusammen. Er war ein stattlicher, imposanter Mann, groß und übergewichtig. Sein schütteres Haar fiel ihm in die vor Wut zusammengekniffenen Augen, als er bellte: „Mädel, du bist gefeuert. Und das dürfte noch das kleinste deiner Probleme sein. Geh nach hinten und warte, bis die Polizei da ist.“

Natürlich war sie gefeuert. Und instinktiv wusste sie auch, dass er ihr den heutigen Tag nicht mehr bezahlen würde. „Okay,“ sagte sie, „ich gehe, sobald Sie mich bezahlt haben. Sie schulden mir noch …“

„Du verschwindest jetzt auf der Stelle nach hinten! Du verschreckst hier alle Gäste.“

Danikas Blick schweifte durch den Diner und blieb an der Mutter und ihrem Sohn hängen. Die Frau hatte einen Arm schützend um den Jungen gelegt, mit dem anderen schob sie die Cola weg, die Danika ihm gegeben hatte. Beide starrten sie angsterfüllt an. Wieso mich? Ich habe mich doch bloß gewehrt.

Ihre Augen wanderten weiter und landeten bei Gilly. Die kam mit besorgter Miene auf sie zu, wohl in der Absicht, ihr zu helfen. Aber das würde ihr nur auch noch den Job und den Tageslohn kosten, und das wollte Danika auf keinen Fall.

„Ich warte in meiner Wohnung auf die Polizei“, log sie.

„Nein, das wirst du nicht“, herrschte Enrique sie an. „Du wirst …“

Daraufhin drehte sich Danika auf dem Absatz um und stolzierte hoch erhobenen Hauptes aus dem Diner. Glücklicherweise versuchte niemand, sie aufzuhalten, nicht einmal Bird Brother zwei. Die Nacht war warm, überall waren Scharen von Menschen unterwegs, blinkten Neonreklamen. Sie fühlte sich, als würde sie sich im gebündelten Licht von Scheinwerfern bewegen, als würde ihr der gaffende Blick aller Passanten folgen.

Großer Gott, was sollte sie jetzt nur tun?

Sie beschleunigte ihren Schritt, bis sie fast rannte. Sie hatte vierzig Dollar in der Tasche. Genug für ein Busticket. Aber wohin? Vielleicht nach Georgia. Der Pfirsich-Staat war weit genug entfernt, und wichtiger noch: Sie würde an Oklahoma vorbeikommen. Dort könnte sie nach ihrer Großmutter suchen.

Sie hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, als ihr etwas in den Rücken stieß und sie in eine dunkle Gasse drückte. Dort schlug sie mit einer solchen Wucht auf dem Pflaster auf, dass sämtliche Luft mit einem Schlag aus ihren Lungen zu entweichen schien. Steine bohrten sich durch den dünnen Stoff ihres Pullovers und T-Shirts in ihre Haut. Mit dem Kiefer knallte sie auf den Boden. Dann sah sie nur noch kleine weiße Sternchen vor den Augen tanzen.

„Du verdammte Hure!“, knurrte eine Männerstimme ganz dicht an ihrer Schläfe. Kleine Spucketröpfchen spritzten ihr ins Haar. Bird Brother zwei. Er hatte sie also doch nicht entkommen lassen. „Hast du wirklich geglaubt, ich würde dich einfach so abziehen lassen? Du gehörst uns, Baby, und du wirst genauso leiden wie deine Freunde. Die darf ich leider nicht töten, aber dich … du wirst mich sogar anflehen, dass ich endlich Schluss mit dir mache.“

Wieder übernahm ihr Instinkt das Kommando. Schrei nicht lange herum, kämpfe! Warte nicht, bis du dich wehren musst, schlag gleich zu! Die Worte hatten sich ihr eingebrannt, waren ihr in Fleisch und Blut übergegangen. Als ihr Angreifer sie an den Haaren herumriss und sie hochhob, schnellte sie automatisch herum. Sie spürte einen stechenden Schmerz auf der Kopfhaut, als sie ihre Haare seiner Umklammerung entriss, aber der hielt sie nicht auf. Pfeilschnell stieß sie ihren Arm gegen seinen Kehlkopf, um ihm den Atem zu nehmen und sich frei zu strampeln, während er nach Luft rang. Bleib dran.

Sie hörte ein Grunzen, dann einen Heulton. Seine Umklammerung lockerte sich.

Eine warme Flüssigkeit lief an ihren Händen herunter und sammelte sich in den Vertiefungen zwischen den Fingerknöcheln. Was um … plötzlich kapierte sie. Sie hielt den Bleistift immer noch umklammert und hatte ihm die Spitze tief in den Hals gerammt – genau so wie sie es sich im Diner ausgemalt hatte.

Oh mein Gott! Benommen rappelte sie sich auf. Sie schwankte und musste sich an seinen Schultern festhalten, um nicht zu fallen. Und dann wäre sie fast vor lauter Grauen zusammengeklappt, als der Mann mit einem gurgelnden Geräusch in sich zusammenfiel. Mondlicht fiel auf die umliegenden Gebäude und beleuchtete sein blasses, schmerzverzerrtes, schreckstarres Gesicht. Er versuchte zu sprechen, brachte aber keinen Ton mehr heraus.

„Es tut mir leid!“ Sie spreizte ihre Finger und ließ ihn endgültig los. Dann hob sie die Hände, mit den Handflächen nach außen. Das Blut lief ihre Arme herab. Panik mischte sich in das Grauen. Keine Spur von Abgeklärtheit. Nicht mehr. Und keine erlösende Betäubung.

Sie trat zurück, erst einen Schritt, dann noch einen. Oh Gott, oh Gott. Mörderin, schrie es in ihrem Inneren. Du bist eine Mörderin. Der metallische Geruch von Blut mischte sich mit dem Gestank nach Urin und Körperausdünstungen.

Bird Brother zwei war jetzt endgültig zusammengesackt und lag ausgestreckt auf dem Asphalt. Sein Kopf war zur Seite gedreht, und seine Augen schienen sie zu fokussieren, während sein Brustkorb sich zu einem letzten Atemzug hob und senkte. Oh Gott. Sie stieß Magensäure auf. Du hattest keine andere Wahl. Sonst hätte er dich umgebracht.

Weil sie nicht wusste, was sie sonst tun sollte, drehte sich Danika um und bahnte sich schlingernd einen Weg durch die Menschenmenge, die sich bereits am anderen Ende des Gebäudes versammelt hatte. Die Neonlichter beleuchteten jede ihre Bewegungen, ihr keuchender Atem kam ihr vor wie ein Trommelwirbel. Aber niemand versuchte sie aufzuhalten.

Zwei Wochen zuvor hatte einer ihrer Selbstverteidigungstrainer in New York gesagt, dass sie keinen Killerinstinkt hätte.

Das würde er wohl heute nicht mehr behaupten.

Ich bin genauso schlecht wie die Monster.

3. KAPITEL

Ich weiß, wo deine Frau ist.“

Reyes richtete sich auf dem Sofa auf, die Spitze seines Messers steckte in seinem Arm. Er drückte es tiefer hinein, so tief, dass er ein paar Adern durchtrennte. Aber die Wunde würde nur allzu schnell wieder verheilt und die Einstichstelle verschorft sein. Bereits jetzt war das Blut auf seiner Haut getrocknet.

Erst vor drei Tagen war er vom Dach gesprungen und doch schon wieder so weit hergestellt, dass er laufen konnte. Leider. Schmerz war lauter und fordernder denn je, er wollte irgendetwas – aber was, das wusste Reyes nicht. Der Sprung hatte ihm jedenfalls in keiner Weise weitergeholfen.

Als er sich die Klinge unsanft aus der Haut zog, fügte er sich eine weitere Verletzung zu. Er leckte sich über die Unterlippe und versuchte den Schmerz zugenießen. Aber auch diese Wunde verheilte zu schnell. Ein Stich reicht nicht. Nichts ist genug.

„Hast du mir nichts zu sagen?“

„Du bist genauso mies wie Gideon.“ Er warf einen raschen Blick zu Lucien hinüber, der in der Türöffnung stand. Die dunklen Haare des Kriegers fielen in weichen Wellen auf seine Schultern, seine verschiedenfarbigen Augen funkelten erwartungsvoll.

„Als würde ich lügen.“

Sie waren allein im Freizeitsalon. Paris, den man eigentlich immer dort antraf, weil er nonstop Pornos guckte, war ausnahmsweise nicht da, sondern in der Stadt – ein paar Frauen flachlegen. Um bei Kräften und in Form zu bleiben. Und auch Maddox und sein Mädchen, Ashlyn, lagen im Bett. Wie immer.

Sabin und die anderen Krieger waren in der Küche, die Reyes schon seit Langem nicht mehr betreten durfte, weil er immer auf den Tisch blutete. Sie waren dabei, einen Plan auszuarbeiten, wie sie den Tempel der Unaussprechlichen in Rom stürmen konnten, ohne dass die Menschen ihre Anwesenheit bemerkten.

Reyes bezweifelte, dass der Tempel ihnen den Weg zum Allsehenden Auge, zum Tarnumhang oder dem Meißel – was immer das sein mochte – weisen würde, aber er stand mit dieser Meinung allein da, also hielt er den Mund. Trotzdem wusste er, dass er recht hatte. Wenn es in diesem Tempel außer bröckelnden Felsen, Moos und Muschelschalen etwas zu finden gäbe, hätten sie es längst gefunden. Außerdem hatte ihnen der Zwangskäfig, den sie bei der Durchsuchung des Tempels aller Götter entdeckt hatten, bei ihrer Suche nach Pandoras Büchse auch nicht weitergeholfen.

Klar, es war ganz praktisch, den Käfig zu besitzen. Jeder, den man dort hineinsperrte, wurde auf wundersame Weise gezwungen, das zu tun, was der Käfigbesitzer verlangte. Aber wen sollten sie darin einsperren? So lange, bis sie hierauf eine Antwort gefunden hatten, würden Lucien und Anya mit dem Käfig spielen wie zwei unartige kleine Kinder.

„Reyes“, sagte Lucien. „Hallo, wir sprechen gerade über Danika.“

„Nein, tun wir nicht.“ Er hätte sie am liebsten für immer aus seinen Gedanken verbannt, glaubte aber langsam, dass sie zu einem festen Bestandteil von ihm geworden war. Wie sein Dämon. Nur schlimmer. Sie hatte seine kostbare innere Ruhe zerstört. Diese Ruhe wollte sich einfach nicht mehr einstellen, selbst dann nicht, wenn er verletzt im Bett lag und mit wild pochendem Herzen wundervolle Höllenqualen litt.

„Soll ich dir sagen, was ich über sie weiß?“, fragte Lucien.

Lass dich nicht ködern. Es ist besser, wenn du nichts weißt.

Wenn Reyes seinem Dämon nicht beständig körperliche Qualen lieferte, geriet dieser außer Kontrolle und forderte sein Maß an Schmerz blindlings und extrem vehement ein. Und zwar nicht nur von Reyes selbst, sondern auch von anderen – egal, von wem. Das war einer der Gründe, warum er Danika fortgeschickt hatte. Wüsste er, wo sie sich aufhielt, würde er ihr zwangsläufig irgendwann irreparablen Schaden zufügen.

„Erzähl’s mir“, hörte er sich mit heiserer Stimme sagen.

„Vor drei Tagen ist sie mit einer Waffe auf einen Mann losgegangen.“

Was? Dieser süße kleine Engel sollte einem anderen Menschen wehgetan haben? Reyes prustete los. „Also bitte, jetzt weiß ich ganz sicher, dass du lügst.“

„Wo ich dich noch nie im Leben belogen habe?“

Das stimmte, Lucien hatte ihn noch nie angelogen. Reyes schluckte die aufsteigende Magensäure herunter und fragte mit angespannter Stimme: „Woher weißt du, dass sie ihn verletzt hat?“

„Mehr als verletzt. Sie hat ihn getötet. Und es kommt noch besser: Als ich gerufen wurde, um seine Seele abzuholen, sah ich das Zeichen der Jäger auf seinem Handgelenk.“

„Was?“ Reyes war mit einem Satz auf den Füßen, rasend vor Wut. Die Jäger hatten Danika gefunden? Sie war gezwungen worden, einen von ihnen umzubringen? Seine Zweifel und seine Ungläubigkeit – ein instinktiv errichteter Schutzwall gegen die furchtbare Nachricht – waren mit einem Schlag verflogen. Die Jäger hassten ihn. Vielleicht hatten sie Danika hier, in der Burg, gesehen, waren ihr gefolgt und hatten sie gefoltert, um so an Informationen über ihn zu gelangen.

Er knirschte mit den Zähnen vor Zorn. Diese Arschlöcher! Sie waren so vernagelt zu glauben, alles Böse der Welt sei einzig und allein auf die Dämonen zurückzuführen. Und da sie die Dämonen nicht ohne die Krieger auslöschen konnten, die sie beherbergten, waren sie so fanatisch hinter ihnen her. Entsprechend würden sie sicher auch nicht lange fackeln, all diejenigen umzulegen, die sie als Freunde der Krieger ansahen.

Dass Danika gar nicht seine Freundin war, wussten die Jäger ja nicht. Vielleicht hatten sie sogar vor, sie als Köder zu benutzen, in der Hoffnung, er käme aus der Deckung, wenn sie ihn mit Danika aus der Reserve lockten.

Von daher änderte diese neue Information über Danika alles.

„Ist sie verletzt? Haben sie sie angefasst?“ Er tastete nach seinem zweiten Messer, bevor er realisierte, was er da überhaupt gerade tat: Er bereitete sich auf den Kampf, auf einen Krieg vor.

Lucien fuhr mit seiner Geschichte fort, als hätte Reyes überhaupt nichts gesagt: „Als ich die Seele des Jägers zur Hölle geleitet habe, konnte ich seine letzten Taten vor meinem inneren Auge sehen.“

„Ist … sie … verletzt?“ Reyes musste die Wörter geradezu durch seine zusammengebissenen Zähne pressen.

„Ja.“

Ein jäher Schmerz bohrte sich mit spitzen Krallen in die Innenseite seines Schädels. „Ist sie …?“ Reyes presste die Lippen aufeinander. Er brachte das Wort nicht heraus. Er konnte nicht einmal den Gedanken zu Ende denken.

„Nein“, antwortete Lucien. „Sie ist nicht tot.“

Den Göttern sei Dank. Reyes’ Wut wich einer unsagbaren Erleichterung, und er ließ seine angespannten Schultern sinken. „Waren noch andere Jäger beteiligt?“

„Ja.“

Wieder antwortete Lucien nicht ausführlicher.

„Wie viele?“

„Einer. Sie hat ihm die Nase gebrochen.“

„Vorsätzlich?“, fragte er schockiert.

„Ja.“

Die Danika, an die sich Reyes erinnerte, war sanft und weich gewesen. Was er von der Tigerfrau denken sollte, von der er jetzt hörte, wusste er noch nicht, aber er war sich sicher, dass sie furchtbar unter ihren Taten litt.

„Wo ist sie jetzt?“ Er würde sie aufsuchen, schauen, wie es ihr ging, eine Möglichkeit finden, sie vor weiteren Attacken der Jäger zu schützen, und dann würde er wieder verschwinden und sie in Ruhe lassen. Er würde es sich verbieten, bei ihr zu bleiben, ja, er würde noch nicht einmal mit ihr sprechen. Aber sehen musste er sie, er musste sich einfach davon überzeugen, dass sie lebte und dass es ihr gut ging.

Danach würde er den anderen Jäger, der für ihre Qualen verantwortlich war, aufspüren und töten. Eine gebrochene Nase reichte als Vergeltung nicht aus.

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