Die Stillwater-Triologie

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TOTGESCHWIEGEN

Ein Grab liegt hinter dem Farmhaus am Mississippi. Nur drei Menschen wissen, wer der Tote darin ist ... Grace Montgomery ist eine von ihnen. Weit weg von der Kleinstadt Stillwater mit ihren grausamen Erinnerungen hat sie als Staatsanwältin Karriere gemacht. Aber jene Mordnacht lässt sie nicht los: die Schreie, das Blut, der Kampf, die Todesstille. Um endlich aus dem düsteren Schatten der Vergangenheit zu treten, kehrt Grace jetzt zurück. Noch einmal will sie den Tatort sehen - und dann für immer vergessen. Zu spät erkennt sie, dass das nicht möglich ist. Denn die Einwohner von Stillwater misstrauen ihr zutiefst. Und ausgerechnet der einzige Mann, der an sie glaubt, bringt ihr dunkelstes Geheimnis in Gefahr

TOTGEGLAUBT

Kaltblütig hat er ihn umgebracht, die Leiche irgendwo auf seiner Farm verscharrt - die Einwohner von Stillwater sind überzeugt, dass an Clay Montgomerys Händen Blut klebt! Vor neunzehn Jahren verschwand Clays Stiefvater spurlos. Seitdem lebt der attraktive Farmer völlig zurückgezogen und scheut jeden Kontakt zu den Bewohnern des idyllischen Südstaatenstädtchens. Jetzt wird Allie McCormick, Spezialistin für ungelöste Fälle, auf Clay angesetzt. Frisch geschieden ist sie aus Chicago in ihre Heimatstadt zurückgekehrt, um die kalte Spur zu verfolgen. Und während sie bei Befragungen ihrem höchst sympathischen Verdächtigen näher kommt, wird auch die Spur allmählich heißer. Bis schließlich die grauenvolle Wahrheit zu Tage tritt …

TOTGESAGT

Die schöne Journalistin Madeline Barker hat es immer geahnt: Ihr Vater, der ehrenwerte Reverend Lee Barker, wurde vor zwanzig Jahren von einem Unbekannten verschleppt. Jetzt gibt es dafür endlich Beweise: In einem verlassenen Steinbruch wird sein Cadillac gefunden - darin deutliche Hinweise auf Gewalt und Missbrauch. Aber Madeline ist die einzige, die an einen unbekannten Täter glaubt. Denn beharrlich hält sich in Stillwater das Gerücht, ihre geliebten Stiefgeschwister hätten etwas mit dem Verschwinden des Gottesmannes zu tun. Entschlossen beauftragt Madeline den Privatdetektiv Hunter Solozano. Doch was der unkonventionelle Ermittler herausfindet, ist grausamer, als sie je für möglich gehalten hätte …


  • Erscheinungstag 01.10.2015
  • ISBN / Artikelnummer 9783955764906
  • Seitenanzahl 576
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Brenda Novak

Die Stillwater-Triologie

Brenda Novak

Totgeschwiegen

Roman

Image

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2012 by MIRA Taschenbuch
in der Harlequin Enterprises GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

Dead Silence

Copyright © 2006 by Brenda Novak

erschienen bei: Mira Books, Toronto

Übersetzt von Stelle Oblong

Published by arrangement with

HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Titelabbildung: Harlequin Books, S.A.

Autorenfoto: © 2001 by Trenton Bahr

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-95576-248-3

www.mira-taschenbuch.de

eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

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“Die glücklichsten Frauen haben,

wie auch die glücklichsten Nationen,

keine Geschichte.”

George Eliot

(englische Schriftstellerin, 1819 – 1880)

1. KAPITEL

Grace Montgomery hielt am Rand des Feldwegs an und sah hinüber zum großen Farmhaus. Dort hatte sie ihre Kindheit verbracht. Sogar in dieser bedeckten Nacht konnte sie im blassen Licht des Halbmondes erkennen, dass ihr älterer Bruder den Hof gut in Schuss hielt.

Aber das war bloß der äußere Schein. Die Wahrheit lag im Verborgenen. So war es auch im Fall dieser hübschen kleinen Südstaatenidylle. Deshalb hatte sie sich eigentlich geschworen, nie mehr hierher zurückzukommen.

Das Licht im ersten Stock erlosch. Clay ging zu Bett, wahrscheinlich zur gleichen Zeit wie jeden Abend. Grace verstand nicht, wie er es ganz allein hier draußen aushielt. Wie konnte er hier essen, schlafen und arbeiten – nur vierzig Schritte entfernt von der Stelle, an der sie ihren Stiefvater verscharrt hatten?

Sie stieg aus ihrem kleinen BMW. Das Warnsignal ertönte, weil sie den Schlüssel im Zündschloss hatte stecken lassen. Eigentlich hatte sie gar nicht vorgehabt, das Grundstück zu betreten. Aber jetzt war sie hier, und sie fühlte sich auch nach all den Jahren noch immer zu diesem Ort hingezogen.

Sie ging die Auffahrt entlang. Der kühle Stoff ihres Baumwollrocks strich über ihre Beine. Es war windstill. Bis auf das Zirpen der Grillen, das Quaken der Frösche und das Knirschen ihrer Sandalen auf dem Kiesweg war nichts zu hören. Sie hatte ganz vergessen, wie ruhig die Nächte in dieser Gegend waren und wie hell die Sterne hier draußen leuchteten, fernab der Stadt.

Sie erinnerte sich, wie sie als kleines Mädchen mit ihrer jüngeren Schwester Molly und ihrer älteren Stiefschwester Madeline auf der Wiese vor dem Haus geschlafen hatte. Das waren ganz besondere Abende. Sie hatten geplaudert, gelacht und gemeinsam in den tiefschwarzen Himmel geschaut, wo die Sterne ihnen zugeblinzelt und versprochen hatten, ihre Wünsche zu erfüllen. Damals waren sie noch so unschuldig: Wenn Madeline da war, kannte Grace keine Angst. Aber sie konnte natürlich nicht die ganze Zeit bei ihr sein. Sie hatte ja keine Ahnung, was damals in Grace vorgegangen war. Und an dem Abend, als es passierte, war sie gar nicht zu Hause.

Obwohl es sehr warm war, lief Grace ein Schauer über den Rücken, als sie die alte Scheune erreichte. Sie lag auf der rechten Seite zwischen den Trauerweiden und Pappeln. Sie hasste dieses alte Gebäude und die Erinnerungen, die es in ihr wachrief. Dort drinnen hatte sie den Stall des Pferdes ausgemistet, das nur ihr Stiefvater reiten durfte. Dort drinnen hatte sie nach Eiern gesucht und sich mit dem verrückten Hahn herumgeschlagen, der immer wieder hochflatterte, um ihr die Augen auszukratzen. Dort drinnen, im vorderen Teil der Scheune, hatte ihr Stiefvater, der Reverend, sich ein kleines Büro eingerichtet, in dem er seine Sonntagspredigten schrieb.

Der Geruch nach feuchter Erde und Magnolien brachte die Erinnerung zurück. Grace brach kalter Schweiß aus. Sie ballte die Fäuste so heftig, dass ihre Fingernägel sich tief in die Haut gruben. Du bist kein kleines Mädchen mehr, sagte sie sich verzweifelt. Es ist vorbei!

Sie versuchte, an etwas anderes zu denken. Sie musste die Erinnerung an dieses schreckliche kleine Kabuff unbedingt loswerden. Doch sie konnte nicht vergessen.

Das enge Zimmer war bis heute unberührt. Alles war so geblieben, wie er es hinterlassen hatte. Alles schien auf seine Rückkehr zu warten. Ihre Mutter hatte darauf bestanden, nichts zu verändern. Von Reverend Lee Barker sprachen sie weiterhin in der Gegenwart. Die Leute in der Stadt waren schon misstrauisch genug.

Die Einwohner von Stillwater, einer kleinen Gemeinde im Staat Mississippi, hatten ein gutes Gedächtnis. Würden sie es achtzehn Jahre nach dem Verschwinden des Reverends akzeptieren, wenn Clay das Büro ausräumte?

“Runter von meinem Grundstück, oder ich schieße!”, ertönte plötzlich eine tiefe Stimme.

Grace wirbelte herum. Ihr gegenüber stand ein über ein Meter neunzig großer, kräftiger Mann, der aussah wie aus Stein gemeißelt. Es war ihr Bruder. Und er zielte mit dem Gewehr auf sie.

Einen kurzen Moment lang wünschte Grace, er würde schießen.

Aber dann musste sie lächeln. Clay war auch früher schon immer wachsam. Er war der große Bruder. Er passte auf alle auf.

“Hey! Erkennst du deine eigene Schwester nicht mehr?”, sagte sie und trat aus dem Schatten.

“Grace?” Der Gewehrlauf senkte sich, und ihr Bruder machte eine unbeholfene Bewegung. Er wollte sie umarmen. Aber obwohl Grace ebenso danach zumute war, ging sie keinen Schritt auf ihn zu. Ihre Beziehung war viel zu … kompliziert.

“Grace! Du bist seit dreizehn Jahren weg! Ich erkenne dich kaum wieder! Du bist wirklich unvorsichtig. Ich hätte dich glatt über den Haufen schießen können”, fügte er grimmig hinzu.

Und wenn schon, dachte sie. Wie schnell es doch gehen könnte. Es bräuchte nur eine einzige Kugel …

“Wirklich?”, murmelt sie stattdessen. “Ich hab dich sofort wiedererkannt.” Vielleicht, weil sie so oft an ihn gedacht hatte. Abgesehen davon hatte er sich wirklich nicht sehr verändert. Sein dichtes Haar war immer noch schwarz – dunkler noch als Grace’ eigene Haare – und fiel ihm widerspenstig in die Stirn. Seine ernsten dunklen Augen, die ihren eigenen so sehr ähnelten, seine ausgeprägten Wangenknochen, seine Muskeln, die seither noch kräftiger geworden waren. Neben ihm fühlte sie sich mit ihren ein Meter fünfundsechzig und den fünfundfünfzig Kilo Gewicht ziemlich klein. Aber abgesehen davon ähnelten sie einander sehr.

“Ich dachte, du schläfst schon”, sagte sie.

“Ich habe dein Auto kommen sehen.”

“Immer auf der Hut.”

Falls er den ironischen Unterton in ihrer Stimme bemerkt haben sollte, reagierte er jedenfalls nicht darauf. Aber er warf einen kurzen Blick auf die alten Bäume, unter denen sich das Grab ihres Stiefvaters befand.

Nach einem peinlichen Moment des Schweigens sagte er: “Das Leben in Jackson scheint dir zu bekommen. Du siehst gut aus.”

Sie war tatsächlich gut zurechtgekommen in der großen Stadt. Jedenfalls bis zu dem Moment, als George E. Dunagan ihr einen Heiratsantrag gemacht hatte. Als er das zum dritten Mal tat und sie sich immer noch nicht zu einem Ja entschließen konnte, war ihre Beziehung zerbrochen. Dabei wünschte sie sich nichts sehnlicher, als mit ihm zusammen zu sein. Und weil er das wusste, hatte er ihr nach seinem letzten Antrag zu verstehen gegeben, dass er sie erst wiedersehen wollte, wenn sie eine Therapie hinter sich gebracht hatte. Sie sollte die Probleme lösen, die in ihrer Kindheit begründet lagen.

Sie ging tatsächlich zu einer Therapeutin, doch das brachte nichts. Es gab einfach viel zu viele Themen, über die Grace nicht reden wollte oder konnte – nicht einer Therapeutin und auch nicht George gegenüber. Und obwohl er dann einlenkte und sie wieder anrief, standen Grace’ Probleme weiterhin zwischen ihnen.

Sie hoffte inständig, dass es damit bald vorbei sein würde. Sie hatte sich vorgenommen zu handeln. Entweder würde sie die Vergangenheit besiegen oder die Vergangenheit würde sie besiegen. Der Ausgang war offen, das Ergebnis unsicher, aber sie würde erst dann nach Jackson zurückkehren, wenn sie mit Stillwater ins Reine gekommen war.

“Ich komme ganz gut zurecht.”

“Mom hat erzählt, dass du auf der Uni die Beste deines Jahrgangs warst.”

Das war jetzt sechs Jahre her … Sie lächelte unbestimmt. Es schien ihn zu beeindrucken. Sie selbst war nie sehr lange mit dem zufrieden, was sie erreicht hatte. “Ist schon erstaunlich, was man alles schaffen kann, wenn man sich ganz auf sich selbst konzentriert.”

“Und du hast dir natürlich die tollste Uni ausgesucht”, stellte er fest.

Zwei Tage nach ihrem Abschluss an der Highschool in Stillwater hatte sie ihre Heimatstadt verlassen und als Kellnerin in einem Imbiss in Jackson angefangen. Nebenbei hatte sie zwei Jahre lang jede freie Minuten genutzt, um für ihre Aufnahmeprüfung zu lernen. Als sie dann ein regelrechtes Traumergebnis bei der Prüfung erzielte, schien sich niemand mehr für ihren Notendurchschnitt im Schulabschlusszeugnis zu interessieren. Zunächst studierte sie an der University of Iowa und konnte schließlich einen der begehrten Studienplätze an der Georgetown University ergattern.

Aber warum sollte sie all das hier und jetzt mit ihrem Bruder Clay diskutieren? Sie dachte nicht oft an das College zurück. Damals hatte sie nur drei bis vier Stunden pro Nacht geschlafen. Alle anderen hatten es irgendwie geschafft, das Studium und ihr Privatleben einigermaßen zu vereinbaren, Grace hingegen lernte die ganze Zeit. Sie wollte einen guten Abschluss machen, und dafür musste alles andere zurückstehen.

Sie hatte versucht, ihre Vergangenheit zu bewältigen, indem sie besser war als alle anderen. Aber nachdem sie die Universität hinter sich gelassen und fünf Jahre lang im Büro des Bezirksstaatsanwalts gearbeitet hatte, war ihr klar geworden, dass es einfach nicht möglich war, vor den eigenen Problemen wegzulaufen. Dennoch konnte sie immer noch kein ganz normales Leben führen.

“Ich hatte eben Glück”, sagte sie schlicht.

Er warf einen Blick zum Haus. “Kommst du mit rein?”

Sie vernahm den hoffnungsvollen Unterton in seiner Stimme und warf einen Blick zur Veranda, auf deren Stufen sie früher immer gesessen hatten, wenn ihre Mutter ihnen aus der Bibel vorlas. Reverend Barker hatte darauf bestanden, dass sie sich jeden Abend eine Stunde lang mit der Bibel beschäftigten. Es war sicherlich keine schlechte Erfahrung. Die kleine Grace hatte mit einem Glas Limonade in der Hand dagesessen und gespürt, wie die Sommerhitze sich langsam abschwächte. Sie lauschte der melodischen Stimme ihrer Mutter, während der Schaukelstuhl auf den knarrenden Dielen hin- und herwippte und die Mücken im Licht der Laterne tanzten. Sie hatte diese Abende geliebt. Bis ihr Stiefvater nach Hause kam.

“Nein, ich … ich muss weiter.” Sie trat ein paar Schritte zur Seite. Clay war noch immer auf der Hut, genau wie früher. Sie wusste, sie würde keine weiteren Erinnerungen mehr verkraften.

“Wie lange bleibst du?”

Sie zögerte, bevor sie antwortete. “Ich weiß nicht.”

Er verzog das Gesicht und sah jetzt sehr rau aus. Ganz offensichtlich machte das Familiengeheimnis auch ihm arg zu schaffen. “Warum bist du zurückgekommen?”, fragte er.

Sie kniff die Augen zusammen. “Manchmal frage ich mich, ob es nicht besser wäre zu erzählen, was damals passiert ist.”

“Woher willst du wissen, dass das besser wäre?”

“Weil ich seit fünf Jahren nach den Wahrheiten im Leben anderer Menschen suche und die Leute auffordere, Verantwortung zu übernehmen.”

“Und bist du sicher, dass du immer den richtigen Täter findest und er eine angemessene Strafe bekommt?”

“Wir müssen in unser Rechtssystem vertrauen, Clay. Sonst fällt die ganze Gesellschaft auseinander.”

“Und wer soll für das einstehen, was hier passiert ist?”

Für den Mann, dessen Leiche wenige Meter entfernt begraben lag.

“Warum bist du nicht schon früher gekommen?”

“Aus dem gleichen Grund, der dich dazu bringt, noch immer mit einem Gewehr in der Hand über diesen Ort zu wachen.”

Er musterte sie einige Sekunden lang. “Klingt so, als müsstest du eine schwerwiegende Entscheidung treffen.”

“Ja. So ist es wohl.”

Keine Antwort.

“Willst du nicht versuchen, mich davon abzubringen?”, fragte sie mit einem unfrohen Lachen.

“Tut mir leid. Diese Entscheidung musst du schon alleine fällen.”

Sie hasste diese Antwort, und beinahe hätte sie es ihm gesagt. Am liebsten hätte sie jetzt einen Streit vom Zaun gebrochen, doch Clay wechselte das Thema, bevor sie noch etwas sagen konnte.

“Hast du gekündigt?”, fragte er.

“Nein, ich habe mir freigenommen.” Sie hatte in fünf Jahren kein einziges Mal gefehlt. Sie hatte zwei Monate Urlaub angespart, und wenn der verbraucht war, konnte sie immer noch unbezahlten Sonderurlaub nehmen.

“Da hast du dir ja einen interessanten Ort ausgesucht für deine Ferien.”

“Du bist schließlich auch hier.”

Ich habe gute Gründe.”

Er nahm ihr nicht übel, dass sie gegangen war. Sie spürte seine Erleichterung darüber, dass sie all dem entronnen war. Es wäre ihm lieber gewesen, sie wäre weggeblieben und hätte ihn, Stillwater und alles andere vergessen.

Seine Rücksicht machte ihr zu schaffen, denn genau das wünschte sie sich auch. “Du könntest doch auch hier weg”, murmelte sie, obwohl sie wusste, dass das nicht stimmte.

Er kniff die Lippen zusammen und presste hervor: “Ich habe meine Entscheidung getroffen.”

“Du bist wirklich furchtbar störrisch”, sagte sie. “Wahrscheinlich wirst du dein ganzes Leben hier verbringen.”

“Wo bist du untergekommen?”, fragte er.

“Ich hab das Haus von Evonne gemietet.”

“Dann weißt du es also schon.”

Grace spürte den Schmerz in ihrer Brust. “Molly hat mich angerufen, als sie starb.”

“Molly war auch bei ihrer Beerdigung.”

“Molly findet immer wieder Gründe, hierherzukommen”, verteidigte sie sich, obwohl er sie gar nicht angegriffen hatte. Sie hätte sich gern genauso verhalten wie ihre Schwester. Molly kam und ging und benahm sich so, als wäre nie etwas geschehen. Aber Grace konnte die Widersprüche nicht ertragen. “Ich habe mitten in einer wichtigen Gerichtsverhandlung gesteckt.” Das war nicht gelogen. Aber sie wäre auch nicht gekommen, wenn es ihr möglich gewesen wäre. Vor drei Monaten noch hatte sie das kategorisch abgelehnt. Sie wäre höchstens zum Begräbnis ihrer Mutter angereist – und sogar da war sie sich nicht sicher.

“Ich weiß, dass Evonne dir sehr viel bedeutet hat”, sagte er. “Sie war ein guter Mensch.”

Evonne Walker hatte in allem nur das Gute gesehen. Als Grace Stillwater verlassen hatte, war die kinderlose Witwe fünfundsechzig Jahre alt. Sie hatte früher Tag für Tag und bei jedem Wetter unter der Markise in ihrem Vorgarten gesessen und dort hausgemachte Seifen und Lotionen verkauft, Kräuter aus dem eigenen Garten, eingemachtes Gemüse, Pfirsiche und Tomaten, Püree aus Süßkartoffeln und Schokoladenkuchen.

Evonne war eine besondere Frau, und zwar aus drei Gründen: Sie hatte den Reverend nicht ausstehen können, sie hatte sich immer nur um ihre eigenen Angelegenheiten gekümmert und, sie war stets sehr nett zu Grace.

Etwa eine Woche nach Evonnes Begräbnis hatte ein Anwaltsbüro Grace ein Päckchen geschickt. Das war der letzte Anstoß, doch noch einmal nach Stillwater zurückzukehren – zusätzlich zu Georges Drängen, sich endlich den Problemen zu stellen, die ihrer Hochzeit im Weg standen. Auch wenn George jetzt wieder mit ihr sprach, war die Sache nicht vom Tisch. Er hatte ihr ein Ultimatum gestellt. In drei Monaten musste sie mit ihrer Vergangenheit zurande gekommen sein. Er wollte nicht sein Leben lang auf etwas warten, was womöglich nie geschehen würde.

Clay nahm das Gewehr in die andere Hand, als wäre ihm gerade erst wieder bewusst geworden, dass er es immer noch bei sich trug. “Die Leute hier denken, sie hat ihre Rezepte mit ins Grab genommen.”

“Nein.” Sie waren Evonnes Abschiedsgeschenk, das einzige Geschenk, das Grace jemals von ihr bekommen hatte.

“Wahrscheinlich hat sie sie dir vermacht, weil du ihr immer geholfen hast”, sagte er.

Aber Grace glaubte eher, dass Evonne eine Ahnung gehabt hatte, was damals vorgefallen war.

Trauer und Schuldgefühle vermischten sich mit Bedauern und Verwirrung. Grace spürte einen dicken Kloß im Hals. Sie konnte kaum noch sprechen: “Es ist alles so schrecklich kompliziert, Clay.”

“So ist es wohl”, stimmte er zu.

Sie wandte sich wieder ihrem Auto zu. “Es ist schon spät. Ich gehe jetzt lieber.”

“Warte.” Er fasste nach ihrem Handgelenk, ließ es aber sofort wieder los, als fürchtete er, sie könnte Angst vor ihm bekommen. “Es tut mir leid, Grace, das weißt du doch?”

Sie konnte den gepeinigten Ausdruck auf seinem Gesicht nicht ertragen. Es war ihr viel lieber, wenn er unbeteiligt dreinblickte. Sie wollte nichts von seinen inneren Qualen wissen. Das nicht auch noch.

“Ich weiß”, sagte sie leise und ging davon.

Diese Entscheidung musst du alleine fällen …

Immer wieder ging Clays Satz ihr im Kopf herum. Meinte er damit, dass er es ihr nicht verübeln würde, wenn sie ihr Schicksal selbst in die Hand nahm? Er hatte nichts von den zweifellos sehr ernsten Konsequenzen gesagt oder davon gesprochen, dass einige Menschen tief verletzt werden könnten. Er hatte ganz einfach die Verantwortung an sie zurückgegeben.

Sie liebte und hasste ihn dafür.

Wie sehr sie sich danach sehnte, ihm einmal ganz offen zu begegnen …

Es klingelte. Sie schob die Kiste beiseite, die sie gerade auspacken wollte, stand auf und ging über den Holzfußboden zur Haustür. Evonnes Verwandte hatten die meisten Möbel abgeholt. Sie wollten sie bei einer Auktion verkaufen. Trotzdem hatte Grace bei Rex Peters, dem Immobilienmakler, angerufen und das Haus gemietet. Sie wollte retten, was noch zu retten war: das Geschirr, die Küchengeräte, ein paar alte Möbelstücke, Gartengeräte und ein paar Fotos. Nun wartete sie auf George, der ihr ein Bett, ein paar Schränke, ein Sofa, Stühle und eine Essecke aus ihrer Wohnung in Jackson bringen sollte. Sie würde drei Monate in Stillwater bleiben – mehr Zeit hatte sie nicht, um “wieder in Einklang mit der Familie zu kommen”, wie George es ausgedrückt hatte. Währenddessen wollte sie nicht in einem halb leeren Haus wohnen.

Einen Augenblick lang hoffte sie, George würde es so eilig haben, dass er gleich wieder abfuhr. Seit der halbherzigen Versöhnung war ihre Beziehung angespannt, und obwohl sie sich eigentlich freuen sollte, ein bekanntes Gesicht zu sehen, wollte sich dieses Gefühl nicht einstellen. Sie litt darunter, dass er etwas von ihr verlangte, das sie ihm nicht geben konnte. Und sie fürchtete sich davor, wieder mit ihm ins Bett zu gehen. Das war das größte Problem von allen.

Wieder klingelte es.

Offenbar hatte er wirklich keine Zeit …

“Ich komme!” Sie riss die Tür auf. Aber da stand nicht George, sondern ein Junge mit grauen Augen, Sommersprossen im Gesicht und wirren blonden Haaren, die nur mühsam von einer Baseballmütze im Zaum gehalten wurden.

“Oh, hallo”, sagte sie überrascht.

Er sah zu ihr auf und sagte: “Tag.”

Sie wartete, aber mehr kam nicht.

“Was kann ich für dich tun?”

“Soll ich den Rasen mähen? Für fünf Dollar?”

Grace blickte ihn erstaunt an. “Bist du denn schon alt genug, um ganz allein einen Rasenmäher zu bedienen?”

So wie er sie jetzt ansah, war klar, dass er Zweifel an seinen Fähigkeiten nicht zu schätzen wusste. “Für Evonne hab ich den Rasen auch gemäht”, sagte er beleidigt.

Jahrelang war Grace Tag für Tag mit dem Fahrrad zu Evonne gekommen und hatte für sie kleine Aufträge erledigt. Wahrscheinlich hätte sie all das auch sehr gut allein erledigen können, aber auf diese Weise konnte sie Grace regelmäßig etwas zustecken, ein paar Pfirsiche oder ein Glas mit eingelegtem Gemüse oder dann und wann auch ein paar Dollar.

Grace’ Familie hatte jeden Cent gebrauchen können. Vor allem, nachdem Irene beschlossen hatte, Clay aufs College zu schicken.

“Ich spare nämlich”, fügte der Junge hinzu.

Grace lächelte ihn an. “Worauf denn?”

Er zögerte. “Das ist noch geheim.”

“Oh.” Sie musterte ihn. Er trug schmutzige Turnschuhe, Bluejeans, die an den Knien durchgescheuert waren, und ein übergroßes T-Shirt. Er sah ziemlich schmuddelig aus, aber wahrscheinlich hatte er sich heute Morgen alles ganz frisch angezogen. Es war nicht möglich, von seinem Erscheinungsbild darauf zu schließen, ob sich jemand gut um ihn kümmerte oder nicht. “Wie alt bist du denn?”, fragte sie.

“Acht.”

Jünger, als sie gedacht hatte, er sah eher aus wie neun. “Wohnst du in der Nachbarschaft?”

Er nickte.

“Ich verstehe. Tja. Da sich niemand aus Evonnes Familie um den Rasen kümmert, musst du das jetzt wohl tun.”

Anstatt sie nun anzustrahlen, wie sie es erwartete, drehte er sich nun um und begutachtete den Garten. Dann kratzte er sich am Haaransatz unter seiner Kappe, als wäre er schon zwanzig Jahre älter, und fragte: “Soll ich gleich damit anfangen?”

“Das Gras ist noch ziemlich kurz.”

Er dachte nach. Es passte ihm gar nicht, dass er eine so gute Gelegenheit verpasst hatte. “Ich könnte auch Unkraut jäten.”

“Für fünf Dollar?”

“Aber nicht, wenn ich auch noch den Garten hinterm Haus machen muss.”

Dieser Teil des Gartens war wirklich sehr weitläufig und ziemlich vernachlässigt. “Wie wär’s, wenn du dir nur die Beete vornimmst?”

“Krieg ich dann auch noch einen Keks dazu?”

Sie hätte am liebsten laut losgelacht, riss sich aber zusammen. Wenn sie ihn nicht ernst nahm, war er wahrscheinlich tödlich beleidigt. “Du verhandelst ja ganz schön hart.”

“Ist doch nur ein Keks.”

“Aber ich bin gerade erst eingezogen. Ich habe keine Kekse.”

Er dachte nach. “Vielleicht haben Sie morgen ja welche?”

“Wenn du mir Kredit gibst.”

“Klar.” Zum ersten Mal lächelte er. Zwei seiner Schneidezähne fehlten. “Ein Keks morgen ist besser als nichts. Vielleicht geben Sie mir ja sogar zwei. Weil ich so lange warten musste.”

Er war eindeutig ein aufgeweckter Bursche. “Wie heißt du?”, fragte sie lächelnd, als sie sein schlaues Grinsen bemerkte.

“Teddy.”

“Ich bin Grace. Ich schätze, wir haben jetzt eine Abmachung.”

“Vielen Dank!” Er rannte zum Blumenbeet und begann in Windeseile, Unkraut herauszuzupfen. Genau in diesem Moment kam ein Lieferwagen die Straße entlang. Es war George in einem gemieteten Transporter.

Er lächelte und winkte, als er sie sah. Dann parkte er ein.

“Das ist ja ein tolles Haus”, stellte er fest, nachdem er ausgestiegen war.

Sie dirigierte ihn Richtung Eingang. “Es ist alt, aber ich mag diese hohen Räume und die großen Fenster, die schnörkelige Tapete und den Holzfußboden. Das ist alles … so wie sie war, weißt du? Wenn ich die Augen zumache, rieche ich die Kräuter, die sie immer benutzt hat. Es ist fast so, als wäre sie noch da.”

“Von wem sprichst du?”

“Von Evonne.”

“Ist das nicht die Frau, die kürzlich gestorben ist? Die immer ihre Sachen im Vorgarten verkauft hat?”

Grace nickte und hielt ihm die Tür auf.

“Wie bist du denn an ihr Haus gekommen?”

“Das hab ich dir doch schon am Telefon erzählt.”

“Tut mir leid. Ich hatte so schrecklich viel mit dem Wrigley-Fall zu tun, ich hab’s nicht richtig mitbekommen.”

Sie schloss die Tür hinter ihm. “Dieser Einbruch mit anschließender Vergewaltigung?”

“Ja.” Der Rechtsanwalt nickte.

“Das ist ja auch eine vertrackte Geschichte”, gab sie zu, aber eigentlich wollte sie nichts davon hören. Sie hatte die Beweislage studiert und wusste, dass der Klient, ein dreißigjähriger Maurer, ein gefährlicher Gewalttäter war. Es gefiel ihr gar nicht, dass George alles daransetzte, diesen Kerl freizubekommen.

“Das stimmt. Aber jetzt erzähl mir doch noch mal, wie du an dieses Haus gekommen bist. Du scheinst es ja sehr zu mögen.”

“Ich war einfach nur zum richtigen Zeitpunkt zur Stelle. Evonnes Familie will es verkaufen, aber ich habe sie überredet, es mir für drei Monate zu überlassen, bevor sie es anbieten.”

“Du willst dich hier doch hoffentlich nicht niederlassen?”, fragte er.

“In Stillwater?”, fragte sie ungläubig. Erst drängte er sie hierherzukommen, um mit ihrer Vergangenheit ins Reine zu kommen, und dann gefiel ihm nicht, dass sie seinen Rat befolgte?

“Stimmt ja.” Er wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht und strich sich mit der Hand über sein schon etwas lichter gewordenes Haar. “Das willst du sicher nicht. Du hasst dieses Städtchen ja.”

So hätte sie es nicht ausgedrückt. Aber George war in einer wohlhabenden Familie groß geworden, von hingebungsvollen Eltern erzogen und von seiner jüngeren Schwester abgöttisch geliebt worden. Er konnte nicht verstehen, wie kompliziert ihre Kindheit und Jugend gewesen waren. Er hatte keine Ahnung, wie es sich anfühlte, wenn man im wahrsten Sinne des Wortes eine Leiche im Keller hatte.

“Ich mag diese ländliche Gegend schon. Hier geht alles seinen Gang. Alles ist nett und gemütlich”, sagte sie, während er seinen Blick umherschweifen ließ. Es waren die Erinnerungen an früher, die sie quälten. Und heute außerdem auch die enorme Hitze. Aber in Jackson waren die Sommer auch nicht wesentlich angenehmer.

“Du hast recht. Dieses Haus hat wirklich was Altehrwürdiges an sich”, stellte er fest.

“Komm mit in die Küche. Du hast bestimmt Durst.”

Er warf einen Blick in den Garten. “Wer ist denn das?”

Teddy kniete am Rand eines Beetes und begutachtete den Neuankömmling kritisch, dann jätete er weiter.

“Ein Junge aus der Nachbarschaft.”

“Hübscher Kerl. Gut, dass er nicht schon zwanzig Jahre älter ist. Sonst würde ich mir Sorgen machen, dass er mir dich wegschnappt.”

Grace hielt inne. Ihr war klar, dass George auf diese Weise ein Zeichen von ihr bekommen wollte, ein Zeichen, dass er hoffen konnte. Aber so einfach war das nicht. Natürlich mochte sie ihn sehr gern. Obwohl er sie eigentlich nicht wirklich verstand, war er immer ein aufopferungsvoller Freund. Und wenn die Wunden in ihrem Herzen verheilt waren, würde sie ihn heiraten und eine Familie mit ihm gründen.

“Ich laufe dir schon nicht davon”, sagte sie schließlich.

Er nahm ihre Hand, beugte sich herab und küsste sie auf die Stirn. “Dann bin ich ja beruhigt. Und wenn du wieder zu Hause bist, nehmen wir die Zukunft in Angriff.”

Es war typisch für ihn, dass er sie auf diese Weise ermutigen wollte. Er wusste ja nicht, wie es sich anfühlte, wenn man tief im Innersten verletzt worden war. Ihm genügte es, wenn sie einfach nur zu allem Ja sagte.

“So machen wir es”, stimmte sie zu, um sein Vertrauen in sie nicht zu erschüttern.

Er sah sie skeptisch an, aber dann küsste er sie.

Grace schlang ihre Arme um seinen Nacken und gab sich seinem Kuss hin, bis er intensiver wurde und sie den Widerwillen verspürte, der sie in solchen Situationen immer wieder erfasste. Sie schob ihn zurück und lächelte dabei, um ihre Panik zu überspielen. “Ich mach dir was zu trinken, okay?”

“Gern.” Er folgte ihr, vorbei an den wenigen Kisten, die sie in ihrem eigenen Auto nach Stillwater mitgebracht hatte. “Und was hast du so vor, ganz allein in der kleinen Stadt?”, fragte er.

“Das habe ich mich auch schon gefragt.”

“Wie wär’s, wenn du meine Kanzlei hier vertrittst?”

Sie schaute ihn skeptisch an. “Du willst doch nicht etwa deine Klienten hintergehen, indem du einer Staatsanwältin Zugang zu ihren Akten ermöglichst?”

“Ach komm schon, Grace, das darfst du nicht so eng sehen. Du bist drei Monate freigestellt. Du wirst keinen dieser Fälle bearbeiten.”

Es war trotzdem nicht koscher. Außerdem hatte Grace keine Lust dazu. “Danke, lieber nicht. Ich habe meinen Computer zu Hause gelassen, weil ich eine Zeit lang überhaupt nichts mit meinem Job zu tun haben möchte.” Sie wollte den Dämonen ihrer Vergangenheit die Stirn bieten, da konnte sie sich nicht von beruflichen Dingen ablenken lassen.

“Was willst du denn dann tun?”

In der Küche standen altertümliche Schränke und Regale mit bunten Verzierungen. Eigentlich ist klar, was man hier tun muss, dachte sie. “Ich werde die Rezepte ausprobieren, die Evonne mir vermacht hat.”

Das schien ihm gar nicht zu gefallen. “Du willst Seifen herstellen?”

“Genau”, sagte sie und holte eine Karaffe Eistee mit Himbeergeschmack aus dem Kühlschrank, um ihm ein Glas einzuschenken.

“Dann muss ich mir ja keine Sorgen machen”, scherzte er.

Grace reichte ihm das Glas. “Wie meinst du das?”

“Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, dass eine so talentierte Staatsanwältin wie du sich auf die Veranda setzt, um hausgemachte Spezialitäten zu verkaufen. Lange wirst du das nicht durchhalten.”

Grace strich sich eine widerspenstige Haarsträhne hinters Ohr. Vielleicht war es ja keine große Herausforderung, aber auch nicht so hektisch. In ihrem Beruf war sie ständig damit beschäftigt, das in Ordnung zu bringen, was andere Leute angerichtet hatten – soweit das nach einem Verbrechen überhaupt möglich war. Jetzt wollte sie die Einbrüche, Vergewaltigungen und Morde hinter sich lassen und sich mit den einfachen Dingen des Lebens beschäftigen. “Das wird schon gehen”, erklärte sie zurückhaltend. Sie wollte keinen Streit vom Zaun brechen.

“Danach bist du bestimmt froh, wenn du wieder arbeitest.”

“Gut möglich.”

“Nach einer Woche hast du genug. Wetten?”

Es könnte etwas länger dauern. Grace war nicht gerade erpicht darauf, wieder aufzurühren, was damals auf der Farm geschehen war. Und hier im Haus von Evonne fühlte sie sich so heimisch wie schon lange nicht mehr.

2. KAPITEL

Am nächsten Morgen klingelte Grace’ Handy schon sehr früh. Sie griff eilig danach, um sich zu melden, bevor die Mailbox ansprang; es war sicher jemand aus ihrem Büro.

Erst da wurde ihr bewusst, dass sie sich in Evonnes Schlafzimmer befand. Sie hatte geschlafen wie ein Baby – in ihrem eigenen Bett! Sie hatte es gestern noch mit tatkräftiger Unterstützung von George die Treppe hinaufgeschafft.

Sie war nicht mehr in Jackson, sie war jetzt in Stillwater. Und sie würde eine ganze Weile hier bleiben.

“Mach dir keine Sorgen, George, du wirst mich nicht verlieren”, murmelte sie und drückte auf die grüne Taste. Sicher wollte er sich erkundigen, wie es ihr nach seiner Abfahrt in ihrem neuen Heim ergangen war. Sie war ziemlich erleichtert, dass er wegen seiner Arbeit gleich hatte zurückfahren müssen. So war er wenigstens nicht auf die Idee gekommen, mit ihr zu schlafen.

“Hallo?”

“Du musst Mom anrufen und Madeline.”

Es war ihre jüngere Schwester Molly. Sie arbeitete als Modedesignerin in New York. Als Teenager war sie fast genauso erpicht darauf, Stillwater zu verlassen, wie Grace. Nach der Highschool hatte sie ein Stipendium bekommen und Modedesign in Los Angeles studiert. Seither kam sie nur noch selten in die alte Heimat, um Grace in Jackson oder Clay, Madeline und ihre Mutter Irene in Stillwater zu besuchen.

Grace fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, um wach zu werden. “Warum?”

“Weil sie wissen, dass du in Stillwater bist.”

“Clay hat es ihnen wohl schon erzählt.”

“Soweit ich weiß, bist du gestern Abend bei ihm gewesen. Wie lange sollte er denn warten?”

“Bis ich so weit bin, würde ich sagen.”

“Hast du ihn gebeten, es nicht weiterzusagen?”

“Nein. Ich dachte mir schon, dass er es Mom erzählen würde.”

“Na siehst du.”

Grace unterdrückte ein Gähnen und schob die dünne Bettdecke beiseite. Es war um halb sieben Uhr morgens und schon schwül. Das offene Fenster und der Ventilator, der in einer Zimmerecke vor sich hinschnurrte, nutzten da auch nicht viel. Gegen die Hitze konnte man nicht viel tun, bestenfalls sich in eine Badewanne mit kaltem Wasser setzen. Evonnes Haus hatte keine Klimaanlage. “Okay, ich … ich rufe sie dann nachher an.”

“Wusstest du übrigens, dass Mom einen Freund hat?”, fragte Molly.

Grace’ Müdigkeit verflog schlagartig. “Soll das ein Scherz sein?”

“Nein.”

“Als ich vor ein paar Wochen mit ihr gesprochen habe, hat sie nichts davon erzählt.”

“Das ist eine recht frische Beziehung, falls man es überhaupt so bezeichnen kann. Ich habe am Samstag mit Clay telefoniert, und er hat mir erzählt, dass sie oft weggeht und ein ziemliches Geheimnis daraus macht. Deshalb fragen wir uns, ob sie vielleicht heimlich jemanden trifft.”

“Glaubst du, es ist jemand aus Stillwater?”

“Falls es so ist, kann ich mir nicht vorstellen, wer es sein sollte. Du weißt ja, wie die Leute sie immer behandelt haben.”

“Aber es ist doch nicht mehr so schlimm wie früher, oder?”

“Natürlich nicht. Aber es gibt immer noch viele, die nichts mit ihr zu tun haben wollen.”

“Die Menschen hier sind wirklich entsetzlich misstrauisch und nachtragend.”

Molly ignorierte diesen Kommentar. “Jedenfalls hat sie jemanden gefunden. Und das wurde doch auch Zeit. Wenn man bedenkt, was sie alles durchgemacht hat … Sie verdient es, einen netten Mann um sich zu haben.”

“Und was ist, wenn er nicht nett ist?”

“Irgendwann muss es das Schicksal doch auch mal wieder gut mit uns meinen, findest du nicht? Sie kann doch nicht dreimal hintereinander eine Niete ziehen.”

Da konnte man sich nie sicher sein. Und selbst wenn ihre Mutter einen netten Mann kennengelernt hatte – durfte man ihn mit der Vergangenheit ihrer Familie belasten? Das Schlimmste durfte er natürlich nie erfahren. Das war ja auch ein Problem in ihrem Verhältnis zu George – ihre Unfähigkeit, ihm vollkommen ehrlich gegenüberzutreten. “Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, dass sie es noch schlechter treffen könnte als mit unserem Vater und Reverend Barker.”

“Unser Vater war doch gar nicht so schlimm.”

“Aber er ist abgehauen.”

“Das meine ich ja. Er hat einen einzigen großen Fehler begangen, nicht zwei. Und Mom hätte diesen Reverend nie geheiratet, wenn sie nicht so verzweifelt gewesen wäre. Sie wollte doch nur die Familie zusammenhalten.”

“Ich weiß.” Grace warf ihrer Mutter nicht vor, dass sie auf ihren zweiten Ehemann hereingefallen war. Er hatte ihr viel versprochen und sich zu Anfang wie ein solider Partner verhalten, wie einer, der zu seiner Frau hält und die Kinder unterstützt. Er hatte sich nicht davongestohlen wie ihr leiblicher Vater. Niemand hätte sich vorstellen können, welch finstere Seite dieser fromme Mann gehabt hatte.

“Warum hast du mir nichts davon erzählt?”, fragte Molly.

“Wovon?” Grace war furchtbar heiß. Sie zog sich das T-Shirt über den Kopf und setzte sich nur mit einem Slip bekleidet vor den Ventilator. Auf ihrer feuchten Haut fühlte sich der Lufthauch angenehm kühl an.

“Dass du nach Stillwater zurückgehst.”

Grace hatte diese Entscheidung alleine gefällt. Sie wusste, dass Molly ihr gerne beigestanden hätte; sie wollte es immer allen recht machen und versuchte, sich um alle zu kümmern. Grace widerstrebte es, das auszunutzen. “Der Gedanke ist mir eher spontan gekommen”, log sie.

“Kaum zu glauben.”

“Aber es stimmt.”

“Du musstest doch bestimmt eine ganze Menge Dinge in die Wege leiten.”

“Ach was. Das ging alles sehr schnell.”

“Wenn du meinst.” Offensichtlich wollte Molly keinen Streit mit ihr anfangen. “Und wie fühlt es sich an, wieder zurück zu sein?”

Grace ließ sich aufs Bett fallen, starrte zur Decke und suchte nach einer Antwort. Es fiel ihr nicht leicht, hier zu sein, aber in diesem Moment hatte sie das Gefühl, in dieses Haus zu gehören, ins Haus von Evonne. Und dass sie sich nicht hetzen musste und nicht tausend Sachen zu erledigen hatte, fühlte sich auch gut an.

“Es ist ganz nett hier.”

“Wie lange willst du denn bleiben?”

“Ich habe das Haus für drei Monate gemietet, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich das wirklich ausnutzen will.”

“Du solltest unbedingt Mom anrufen.”

“Das wollte ich ja. Ich hatte … zu tun.”

“Das dauert doch nur ein paar Minuten.”

“Bitte dräng mich nicht, Molly.”

“Will ich ja gar nicht. Dafür habe ich im Moment gar keine Zeit. Ich komme noch zu spät zur Arbeit, wenn ich mich jetzt nicht beeile.”

“Dann will ich dich nicht länger aufhalten.”

“Ruf mich an, wenn du was brauchst.”

“Das mache ich”, sagte Grace. Bevor ihre Schwester auflegen konnte, fiel ihr noch etwas ein: “Molly?”

“Ja?”

“Willst du es nicht auch mal versuchen?”

“Was denn?”

“Zurückkommen, Clay besuchen in … unserem alten Haus, mit Madeline zu Abend essen und …”

“Über so etwas denke ich nicht nach”, unterbrach Molly sie.

Wie konnte sie nicht darüber nachdenken? Auch für Grace war es alles andere als einfach. Reverend Lee Barker war zwar tot. Aber obwohl sie mitgeholfen hatte, seine Leiche die Veranda hinunterzutragen, damit Clay sie in eine Schubkarre laden und verscharren konnte, hatte sie noch immer Angst, sie könnte eines Nachts aufwachen und ihren Stiefvater am Fenster entdecken.

“Madeline hofft noch immer, er könnte eines Tages zurückkommen”, fuhr Molly fort. “Aber wir beide wissen, dass er für immer verschwunden ist. Und das ist auch gut so. Die Welt ist besser dadurch geworden.”

“Amen”, stimmte Grace zu. “Aber leider ist sie dadurch nicht einfacher geworden.”

“Du musst die bösen Erinnerungen einfach loslassen.”

War das wirklich so leicht? Wie sollte das denn gehen? “Und was ist, wenn doch noch jemand herausfindet, was wirklich passiert ist? Heutzutage hört man doch ständig von alten Kriminalfällen, die neu aufgerollt werden. Jemand könnte seinen Wagen im Steinbruch finden oder ein Sturm könnte etwas Schreckliches zutage fördern oder ein Zeuge könnte auftauchen …”

“Beruhige dich. Das ist jetzt achtzehn Jahre her. Alles ist in bester Ordnung.”

“Die Leute hier werden das nie vergessen, Molly. Die haben diesen Mistkerl doch wie einen Heiligen verehrt. Sie kannten ihn ja nicht so wie wir.”

“Sie können nicht mal beweisen, dass er tot ist. Und dass man ohne Leiche nur schwer einen Mord beweisen kann, solltest du als Staatsanwältin doch am besten wissen.”

Solltest du doch am besten wissen … Manchmal fand Molly genau die falschen Worte. Dass sie nach all den Jahren immer noch etwas Schreckliches zu verbergen hatten, bewirkte ja eben, dass Grace sich noch immer wie das hilflose Mädchen von damals fühlte und nicht wie die selbstbewusste erwachsene Frau, für die andere sie hielten. “Ich glaube, du solltest jetzt besser zur Arbeit gehen.”

“Wir sprechen später noch mal darüber.”

“Gut.” Grace legte auf und ging zum Fenster, um den Garten zu betrachten. Evonnes Familie schien sich nicht so hingebungsvoll um ihn zu kümmern, wie die Verstorbene es getan hatte, im Gegenteil: Es sah aus, als sei hier seit ihrem Tod überhaupt nichts mehr gemacht worden.

Das würde sich jetzt ändern.

Plötzlich bemerkte sie einen schwarzen Geländewagen in der Seitenstraße direkt hinter dem Zaun des Grundstücks.

“Ups …” Sie hüpfte vom Fenster weg. Hoffentlich hatte der Fahrer sie nicht halb nackt da stehen sehen. Gestern Abend hatte sie ein Tuch vor das Fenster gehängt, es aber mitten in der Nacht wieder weggenommen, damit die Luft besser zirkulieren konnte.

Wie konnte sie diesen peinlichen Fauxpas nur wieder ausbügeln? Grace überlegte fieberhaft, aber es war wohl eindeutig zu spät. Andererseits: Aus dieser Entfernung konnte man ganz bestimmt nicht besonders viel erkennen … hoffentlich.

Sie schlüpfte in ein Shirt mit Spaghettiträgern, Shorts und ein Paar Slipper und ging nach unten ins Erdgeschoss. In einer Stunde würde sie bei ihrer Mutter und bei Madeline anrufen. Aber zuerst wollte sie sich um den Garten kümmern.

Kennedy Archer fluchte, als er den Kaffee auf seiner Hose verschüttete. Schuld daran war die halb nackte Frau im Fenster. Evonnes Haus war noch nicht verkauft worden, und er hatte nicht damit gerechnet, jemanden am Fenster zu sehen. Schon gar nicht diese dunkelhaarige Schönheit, die ihm einen verschreckten Blick zugeworfen hatte. Und schon gar nicht so früh am Morgen. So, wie sie plötzlich zurückgeschnellt war, hatte sie offenbar nicht die Absicht gehabt, sich in ihrer ganzen Pracht zu zeigen. Ihr schöner Körper hatte sich dennoch bereits in sein Gedächtnis eingebrannt. Das würde wohl jedem so gehen. Seit dem Tod seiner Ehefrau vor zwei Jahren lebte Kennedy alleine.

“Daddy? Ist alles in Ordnung?”

Kennedy drückte das Handy fester gegen sein Ohr. Im selben Moment, in dem sein Sohn angerufen hatte, war ihm die Bewegung am Fenster aufgefallen – und er hatte laut aufgeschrien, als der heiße Kaffee sich über seinen Schoß ergoss.

“Alles klar, Teddy”, sagte er und versuchte verzweifelt, den nassen heißen Stoff seiner Hose nach oben zu ziehen, damit seine besonders empfindlichen Körperteile keinen Schaden nahmen. “Was gibt’s denn?”

Sein Sohn senkte die Stimme. “Ich will heute nicht bei Oma bleiben.”

Kennedy hatte sich das schon gedacht. Heath, sein zehn Jahre alter Sohn, kam sehr gut mit seiner Großmutter Camille aus. Er beklagte sich selten. Aber er war auch ein sehr ruhiger, geduldiger und bedächtiger Mensch – fast schon ein Intellektueller. Camille nannte ihn immer ihren “guten Jungen”.

Teddy war eine ganz andere Persönlichkeit. Er war quicklebendig und hatte mit acht Jahren schon seinen eigenen Kopf. Jeden Tag versuchte er aufs Neue, seine Großmutter herauszufordern, jedenfalls glaubte Camille, dass es ihm darum ging. Sie waren ständig dabei, ihre Kräfte zu messen. Kennedy jedoch wusste sehr wohl, dass Teddy kein Problemkind war. Man musste ihn einfach zu nehmen wissen. Raelynn hatte bis zu ihrem Tod einen sehr guten Draht zu ihrem Jüngsten gehabt.

“Wo willst du denn sonst hin?”, fragte Kennedy.

“Nach Hause.”

“Du kannst nicht nach Hause. Da ist niemand, der auf dich aufpasst.”

“Und was ist mit Lindy?”

Lindy war ein sechzehnjähriges Mädchen aus der Nachbarschaft oder was man in dieser Gegend Nachbarschaft nannte. Ihr Grundstück grenzte an das der Archers, aber das Haus war ein ganzes Stück weit entfernt. Lindy war sehr nett, aber das letzte Mal, als sie zum Babysitten gekommen war, hatte sie ihren Freund mitgebracht, und sie hatten sich zusammen mit den Jungs Horrorfilme angesehen.

“Lindy kommt nicht infrage. Aber du könntest zu Mrs. Weaver gehen.”

“Nein, da will ich nicht hin!”

Alles wäre einfacher, wenn Raelynns Eltern nicht vor zehn Jahren nach Florida gezogen wären. Mit der Mutter seiner verstorbenen Ehefrau kam Teddy viel besser zurecht. Aber inzwischen sah er seine Großeltern mütterlicherseits nur noch ein- oder zweimal im Jahr. “Teddy, wir haben doch schon darüber gesprochen. Wenn du mal genau darüber nachdenkst, ist es bei Oma Camille immer noch am besten. Sie reißt dir ja nicht den Kopf ab. Und letzte Woche ist sie mit euch sogar nach Jackson in den Zoo gefahren.”

“Ja, das war ja auch toll”, gab der Junge zu. “Aber … ich langweile mich hier. Kannst du nicht kommen und mich abholen?”

“Tut mir leid, Junge, aber ich muss heute arbeiten. Das weißt du doch.”

“Dann nimm mich doch einfach mit. Ich kann doch bei dir im Büro spielen.”

Kennedy hielt am Straßenrand an. Die Straße war kaum befahren um diese Zeit, aber er musste sich ein paar Taschentücher aus dem Handschuhfach holen und außerdem den Kaffee irgendwo hinstellen, wo er nicht wieder umfallen konnte. “Das geht nicht, jedenfalls nicht heute. Ich treffe mich mit meinem Wahlkampfleiter und einigen wichtigen Sponsoren zum Frühstück. Danach muss ich im Rotary Club eine Rede halten. Und später habe ich einen Termin mit einigen Wirtschaftsleuten.”

“Warum willst du unbedingt Bürgermeister werden?”

Das war bestimmt nicht der richtige Augenblick, um seinem Sohn mitzuteilen, wie es um seinen Großvater stand, obwohl es ihm am Telefon leichter fallen würde, das Thema anzusprechen, als unter vier Augen. Aber er konnte Teddy jetzt keine medizinischen Details erläutern und ihn dann damit alleine lassen. Nicht, nachdem er seine Mutter verloren hatte.

“Du weißt doch, dass Opa sich zur Ruhe setzen will, und dann ist dieser Posten zum ersten Mal seit dreißig Jahren unbesetzt. Seit ich klein war, habe ich mich darauf vorbereitet, eines Tages in seine Fußstapfen zu treten.”

“Und wann ist der Wahlkampf endlich vorbei?”

“Im November. Dann wird alles wieder einfacher, ob ich nun gewinne oder verliere.”

Teddy stöhnte laut auf. “Im November? Aber da bin ich ja schon wieder in der Schule.”

“Es ist ein anstrengendes Jahr, ich weiß.” Aber ganz bestimmt nicht schwieriger als das Jahr davor.

Kennedy zwang sich, nicht an die schwierigen ersten Monate ohne Raelynn zu denken. Er ging seinen Terminplan durch und entschied, dass er das Treffen mit Buzz und den anderen in der Pizzeria am Nachmittag absagen konnte. Er traf sich gern mit seinen alten Freunden; immerhin kannten sie sich schon seit der Schulzeit. Aber Teddy war jetzt wichtiger. “Wie wär’s, wenn ich dich und Heath um vier Uhr abhole und auf ein Eis einlade?” Dann konnte er immer noch kurz in der Pizzeria anhalten und Hallo sagen.

“Können wir nicht um sechs da hingehen?”

Kennedy, der die ganze Zeit versuchte, seine Hose trocken zu tupfen, hielt inne: “Um sechs? Aber um diese Zeit hole ich euch doch sowieso immer ab.”

“Ja, aber Oma will um vier mit uns schwimmen gehen.”

“Also hast du heute doch schon was vor.”

“Aber erst um vier.” Es gab eine kleine Pause, dann fragte der Junge: “Fahren wir am Wochenende zelten?”

“Vielleicht.”

“Sag doch einfach ja. Bitte!”

“Wenn du es schaffst, dich heute nicht mit Oma zu streiten.”

Teddy stieß einen lauten Seufzer aus. “Okay.”

“Was macht Heath denn gerade?”

“Der sieht fern, bis wir schwimmen gehen. Oma hat immer Angst, dass wir ihren Teppich schmutzig machen.”

“Ich dachte, du mähst bei den Nachbarn den Rasen?”

“Oje. Oma kommt”, flüsterte der Junge und legte auf.

Kennedy wusste, dass Camille Teddys Bitte als persönliche Beleidigung auffassen würde. Sie bemühte sich, ihren Enkeln gerecht zu werden. Es war nicht einfach für sie, sich fünf Tage in der Woche um zwei Jungs zu kümmern, nachdem sie so lange nichts mit Kindern zu tun gehabt hatte. Dennoch war diese Ablenkung für sie wichtig. Die Krebserkrankung ihres Mannes machte ihr schwer zu schaffen. Und deshalb versuchte sie immer wieder, Kennedy davon zu überzeugen, dass sie und die Jungs prächtig miteinander auskamen.

Oje. Oma kommt …

Offenbar lernte Teddy langsam, wie es ihm möglich war, Konfrontationen mit seiner Großmutter zu vermeiden.

Kennedy lachte vor sich hin, als er das Handy in die Halterung am Armaturenbrett schob. Sein Jüngster war ein schwieriges Kind, das stimmte; er war ungestüm und kaum zu bändigen. Wäre Camille jünger gewesen und nicht so angespannt, hätte sie das bestimmt leichter akzeptiert.

Irgendwie wird er den Tag schon überstehen, dachte er. Wahrscheinlich ging Teddy die strenge Art seiner Großmutter gegen den Strich. Dass sie ihre Enkel von ganzem Herzen liebte, das stellte allerdings niemand, nicht einmal Teddy, infrage.

Kennedy sah auf die Uhr. Es wurde Zeit, er hatte eine Menge zu tun. Und dank der Frau, die plötzlich am Fenster erschienen war, musste er noch mal nach Hause fahren und sich umziehen.

“Hattest du etwa vor, mir zu verheimlichen, dass du in der Stadt bist?”

Grace kniete im Garten und drehte sich erschrocken um. Ihre Mutter kam einmal pro Jahr nach Jackson, um sie zu besuchen, und dies war das erste Mal seit Grace’ Schulzeit, dass sie in Stillwater zusammentrafen.

Grace räusperte sich und stand auf. Sie hatte eigentlich nur ein paar Stunden lang im Garten arbeiten wollen, aber nun war der ganze Vormittag schon vorbei. Irgendwie hatte sie es als wichtige Mission aufgefasst, Evonnes Garten wieder zu seiner alten Schönheit zu verhelfen. Obwohl sie völlig verschwitzt war und wusste, dass sie morgen einen furchtbaren Muskelkater haben würde, hatte sie mit großem Eifer umgegraben und Unkraut gejätet.

Da sie schmutzige Handschuhe trug, musste sie sich den Schweiß mit dem Unterarm aus dem Gesicht wischen. “Tut mir leid, Mom”, sagte sie und lächelte verlegen. “Ich hatte es mir fest vorgenommen, aber dann hatte ich einfach so viel zu tun … hier.”

Irene deutete auf die Pflanzen. “Dieses Kraut war dir wichtiger?”

Offensichtlich war ihre Mutter zutiefst verletzt. Grace atmete tief ein und ging über den Rasen auf sie zu, um sie zu umarmen. Obwohl sie diesen Augenblick gefürchtet hatte, war sie glücklich, ihre Mutter zu sehen. Sie bewunderte sie, hatte sie oftmals vermisst, und doch rief ihre Gegenwart viele widerstreitende Gefühle in ihr wach. “Ich kann das einfach nicht so verwildert lassen, es stört mich”, sagte sie. “Und ich bin mir sicher, dass es Evonne auch gestört hätte. Und außerdem …” Sie trat einen Schritt zurück, zog ihre Mütze ab und warf einen Blick in den grauen Himmel. “… wollte ich gern fertig sein, bevor es anfängt zu regnen.”

Irene schien das für keine besonders gute Entschuldigung zu halten, aber wie Grace sie kannte, würde sie das Thema jetzt wahrscheinlich fallen lassen. Über die Jahre hatten sie ein Schema entwickelt, wie sie mit den Spannungen umgingen, die zwischen ihnen herrschten. Sie hatten sich stillschweigend darauf verständigt, dass es besser war, bestimmte Konfliktthemen nicht anzusprechen.

“Gut siehst du aus”, sagte Grace und meinte es auch so.

“Ich bin zu dick”, antwortete ihre Mutter, aber mehr als fünf oder sechs Kilo hätte sie gar nicht entbehren können. Sie war eben sehr eitel, das sah man schon daran, wie sie sich selbst für unwichtige Ereignisse perfekt kleidete und zurechtmachte.

“Ach was”, sagte Grace. “Du bist genau richtig.”

Ihr Lächeln entspannte sich, als sie merkte, dass ihre Mutter sich über das Kompliment freute. Sie war etwas kleiner als ihre Tochter, hatte aber die gleiche ovale Gesichtsform und ebenso blaue Augen. Grace trug ihre schwarzen Haare gern zu einem Knoten gebunden und benutzte kaum Make-up. Irene hingegen schminkte sich gern auffällig und ließ ihr Haar offen.

“Molly glaubt, du hast einen Freund”, sagte Grace. Sie war neugierig, ob ihre Schwester recht gehabt hatte.

Ihre Mutter machte eine abwehrende Handbewegung. “Ach was. Aber sie trifft sich immer noch mit diesem Mann, den sie Weihnachten mitgebracht hatte.”

“Bo ist nur ein guter Freund, das weißt du doch. Aber ich glaube langsam, dass du mir etwas verheimlichen willst, so eifrig, wie du das Thema gewechselt hast.”

“Mit wem sollte ich mich denn treffen? Hier kann mich doch sowieso niemand leiden.”

Ob das immer noch stimmte, war die Frage. Früher war es tatsächlich so. Als Irene Montgomery Reverend Barker geheiratet hatte und mit ihren drei Kindern aus dem benachbarten Booneville zu ihm gezogen war, war Grace erst neun Jahre alt. Aber auch schon mit neun bekommt man mit, was die Nachbarn tuscheln.

Guckt sie euch an, wie sie hochnäsig durch die Gegend läuft! Als hätten wir in Stillwater nicht genug aufrechte Frauen, die viel besser zu unserem Reverend passen würden. Sie ist doch mindestens fünfzehn Jahre jünger als er! Bestimmt will sie nur an sein Geld ran …

Lee Barker lebte durchaus in bescheidenen Verhältnissen und besaß nichts weiter als sein Einkommen als Seelsorger und die Farm. Aber es war mehr, als Irene und ihre Kinder je besessen hatten, und das genügte, um die Leute in Stillwater misstrauisch werden zu lassen. Alle waren der Ansicht, Grace’ Mutter hätte sich etwas genommen, was ihr nicht zustand.

Dass Reverend Barker bei jeder Gelegenheit zwar undeutliche, aber dennoch abschätzige Bemerkungen über seine Frau fallen ließ, war nicht besonders hilfreich. Sogar in seinen Predigten machte er nicht Halt davor. Irenes Begeisterung für ihren neuen Ehemann verflog sehr schnell, je besser sie ihn kennenlernte.

Grace war es immer ein Rätsel, warum die Menschen in Stillwater ihm so kritiklos ergeben waren – und wie es diesem schlechten Menschen gelungen war, alle davon zu überzeugen, ein Heiliger zu sein.

Eine schwielige Hand packt sie am Arm. “Sei ganz still”, raunt eine tiefe Stimme in ihr Ohr. Als sie zu wimmern beginnt, wird der Griff des Mannes, den sie Daddy nennen soll, fester. Er will sie zum Gehorsam zwingen. Seine leibliche Tochter Madeline schläft im Bett gegenüber. Grace weiß, dass sie eine schlimme Strafe erwartet, wenn sie ihre Stiefschwester aufweckt.

“Grace, ist alles in Ordnung?”, fragte ihre Mutter.

Die Erinnerung verblasste. Grace verschränkte die Arme und bemühte sich, gelassen zu bleiben. Aber es gelang ihr nur ein gequältes Lächeln: “Alles bestens.”

“Wirklich?”

“Bestimmt”, versicherte sie. Aber sie spürte, wie das Gefühl von Zuversicht und Zufriedenheit, das sie eben noch erfüllt hatte, verschwand. Sie fühlte sich, als wäre sie aus der warmen Sonne in einen kalten Keller hinabgestiegen. Die Bilder und Gefühle, die sie tief in ihr Unterbewusstsein verbannt hatte, erwachten wieder zum Leben. “Es … es ist einfach zu heiß hier draußen. Wollen wir uns nicht lieber auf die Veranda setzen?”, schlug sie vor und wandte sich dem Haus zu.

“Nach dreizehn Jahren … Ich kann wirklich nicht glauben, dass du zurückgekommen bist”, sagte ihre Mutter und folgte ihr.

Bevor sie richtig darüber nachgedacht hatte, erwiderte Grace spontan: “Ich kann nicht glauben, dass du hiergeblieben bist.”

“Ich konnte nicht weg”, sagte Irene beleidigt. “Glaubst du etwa, ich würde Clay einfach verlassen?”

“So wie ich es getan habe?”

Ihre Mutter schaute sie erschrocken an. “So habe ich das nicht gemeint.”

Grace presste die Hand gegen die Stirn, nachdem sie auf der Hollywoodschaukel Platz genommen hatte. Keiner von denen, die die Wahrheit kannten, hatte ihr je Vorwürfe gemacht. Sie bemitleideten sie, wussten aber nicht, wie sie sonst damit umgehen sollten. Niemand machte sie verantwortlich, das tat nur sie allein. “Entschuldige”, sagte sie. “Es fällt mir nicht leicht, hier zu sein.”

Ihre Mutter setzte sich neben sie und nahm ihre Hand. Sie sagte nichts, hielt sie aber eine Weile fest, während sie vor und zurück schaukelten.

Die Spannung zwischen ihnen schwächte sich ab. Grace wünschte, ihre Mutter wäre vor achtzehn Jahren so auf sie zugegangen.

“Evonnes Haus ist wirklich schön, nicht wahr?”, sagte Irene nach einer Weile.

“Ja. Ich mag es sehr gern.”

“Hast du vor, länger zu bleiben?”

“Drei Monate vielleicht.”

“Drei Monate! Das ist ja toll!” Irene ließ die Hand ihrer Tochter los und stand auf. “Du weißt doch, dass ich dich liebe, Grace. Vielleicht habe ich es nicht oft genug gesagt, vielleicht habe ich mich nicht richtig um dich gekümmert, aber du sollst wissen, dass ich dich immer geliebt habe.”

Grace wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Und so stellte sie die Frage, die sie schon viel früher hatte aussprechen wollen. “Glaubst du, etwas Schlimmes ist aus der Welt, weil man die Augen davor verschließt?”

Irene sah sie eine ganze Weile an. Die Frage hatte sie tief getroffen. “Wem nützt es, wenn man ständig darauf herumreitet? Ich hoffe, du kannst mir eines Tages verzeihen.” Sie ging zum anderen Ende der Veranda, und ihre Absätze klapperten über die Holzbohlen, bis das Geräusch ihrer Schritte vom Rasen abgedämpft wurde. “Ich hab noch eine Verabredung. Ruf mich doch später an, falls … falls du es möchtest.”

“Das tue ich bestimmt”, versicherte Grace und sah ihrer Mutter nach, wie sie durch den Vorgarten zur Straße stolzierte.

In der Pizzeria war es angenehm kühl. Grace hatte geduscht, bevor sie losgegangen war, fühlte sich aber schon wieder verschwitzt. Jetzt am Nachmittag war die Hitze beinahe unerträglich. Es war schwül und stickig, aber der Regen ließ noch immer auf sich warten. Wahrscheinlich würde es erst heute Abend anfangen zu tröpfeln.

“Bitte sehr, Ihre Pizza.”

Die jugendliche Kellnerin stellte schwungvoll einen Teller vor sie hin. Grace schob ihren Salatteller ein Stück zur Seite und schaute zur Tür, wo gerade eine Gruppe Männer eintrat.

Sie bedankte sich bei der Kellnerin und vermied es, sie zu lange anzusehen. Sie wollte jetzt nicht in irgendein Gespräch verwickelt werden. Sie war nur hergekommen, um eine Kleinigkeit zu essen und sich ein wenig von der Hitze zu erholen.

Aber ein paar Minuten später hörte sie, wie die Männer über sie sprachen.

“Doch, Tim, das ist sie ganz bestimmt.”

“Die willige Gracie? Glaub ich nicht.”

“Aber ja! Rex Peters hat mir erzählt, dass sie zurückgekommen ist.”

“Warum denn?”, fragte ein anderer. “Ich dachte, sie ist jetzt Staatsanwältin irgendwo. Es stand in der Zeitung.”

Grace konnte die Antwort nicht verstehen. Sie nahm sich vor, die Männer zu ignorieren und sich auf ihr Essen zu konzentrieren. Aber wenig später stieß einer einen leisen Pfiff aus und machte eine Bemerkung darüber, wie gut sie aussah. Sie konnte einfach nicht anders. Sie musste einen Blick hinüberwerfen.

Einer der Männer stand mit dem Rücken zu ihr am Tresen und gab seine Bestellung auf. Die anderen vier kannte sie von früher. Auf der Highschool waren sie gute Sportler, und Grace hatte sie bewundert. Aber diese Begegnung war ihr schrecklich peinlich, und sie wäre am liebsten davongerannt. Die alten Zeiten waren längst vorbei. Sie hatte sich verändert.

“Vielleicht würden wir sie ja besser erkennen, wenn sie keine Klamotten anhätte”, sagte Joe Vincelli und kicherte dabei auf seine typische Art, an die Grace sich jetzt wieder erinnerte. Lee Barkers Neffe. Der Reverend hatte ihn immer bevorzugt behandelt. Auch an ihren wenig schmeichelhaften Spitznamen erinnerte sie sich wieder. Irgendeiner hatte ihn auf die Tür ihres Spinds geschrieben.

“Sei doch still, sie hört uns doch”, sagte ein anderer. War das Buzz Harte? Sie war sich nicht sicher. Er hatte sich am meisten verändert, jedenfalls war von seiner einstigen Haarpracht nicht mehr viel übrig.

Sie lästerten weiter, lachten laut, und Grace wurde die Situation immer peinlicher. Ihr Herz begann heftig zu pochen. Sie starrte verlegen auf ihren Teller. Vor vierzehn oder fünfzehn Jahren hatte sie Sex mit drei dieser Männer gehabt, mal auf dem Rücksitz eines Autos, mal in einem Hauseingang. Anscheinend hatten diese Männer angenehmere Erinnerungen daran als sie. Sie konnte nicht mehr verstehen, dass sie diese Kerle überhaupt an sich rangelassen hatte, vor allem die, die auf die gleiche Schule gingen.

Aber damals hatte sie nach etwas gesucht, was sie nirgendwo finden konnte …

Sie fühlte sich schwach und verletzlich und fragte sich, wie sie aus diesem Lokal herauskommen könnte, ohne dicht an ihnen vorbeigehen zu müssen.

Und dann hörte sie wieder Joes Stimme, und er sprach immer lauter, genau wie früher, als er der Stimmgewaltigste von allen gewesen war. “Die konnte man ganz schön schnell rumkriegen. Musstest nur mit dem Finger schnippen, und schon machte sie die Beine breit. Ich hab’s ihr mal im Stadion unter der Tribüne besorgt. Meine Eltern saßen nichts ahnend nur ein paar Meter entfernt.”

Grace’ Brust zog sich zusammen, als sie alle zusammen loslachten. Sie bekam kaum noch Luft. Damals hatte sie sich danach gesehnt, von Joe gemocht und anerkannt zu werden. Und außerdem wollte sie ihm etwas zurückgeben. Sie hatte ihm den Onkel genommen.

“Mich hat sie mal gefragt, ob sie ein paar Wochen meine Freundin sein darf”, sagte Tim. Er sprach viel leiser als Joe, aber sie konnte sich ungefähr zusammenreimen, was er erzählte. “Ich hab natürlich Ja gesagt. Dann hab ich sie gebumst und sie anschließend davongejagt.” Dann lachte er ungläubig. “Wie so jemand Dummes einen Studienplatz in Georgetown ergattern konnte, ist mir schleierhaft.”

Irgendeiner hatte ihm offenbar einen Schlag versetzt, vielleicht Buzz, jedenfalls schrie er auf.

Dumm? Komm schon! Sie ist definitiv nicht dumm …” Er senkte die Stimme. “… irgendwie gestört. Bei denen Zuhause muss irgendwas Eigenartiges passiert sein.”

“Nichts war eigenartig”, protestierte Joe, “bis sie meinen Onkel umgebracht haben.”

“Du weißt doch gar nicht, was mit deinem Onkel passiert ist”, sagte Tim. Joe widersprach, aber Tim hob die Hand: “Glaub mir, da war von Anfang an etwas Merkwürdiges im Gang.”

“Wegen diesem Besen von Mutter”, brummte Joe.

Dann wurde geflüstert, aber Grace hörte nicht mehr hin. Sie war vollauf damit beschäftigt, Haltung zu bewahren.

Leider machte ihr Magen nicht mit. Ihr wurde immer übler, als sie sich vergegenwärtigte, was sie damals mit diesen drei Männern gemacht hatte.

Sie hätte es gern ungeschehen gemacht. Aber das war leider nicht möglich. So etwas hing einem für immer nach.

“Geh doch hin und sag Hallo zu ihr, Joe”, meinte Tim. “Vielleicht kannst du’s ihr gleich hier besorgen. Und wenn du’s gut machst, erzählt sie dir vielleicht, was mit deinem Onkel passiert ist.”

Joe knurrte, und jetzt kam der Mann, der die Bestellung aufgegeben hatte, wieder an den Tisch zurück und fragte mit lauter, klarer Stimme: “Wovon redet ihr denn eigentlich?”

Grace hatte sein Gesicht noch gar nicht gesehen, aber das war auch nicht nötig. Sie wusste, dass das Kennedy Archer war, damals der attraktivste, sportlichste und begehrenswerteste Junge von allen. Sie konnte nicht widerstehen. Sie sah zu ihm hinüber.

Er war nicht dicker geworden. Er hatte auch keine Glatze wie einige seiner Freunde. Immer noch groß und breitschultrig, hatte er immer noch dunkelblonde Haare und Grübchen, wenn er lächelte. Auf zahllosen Plakaten in der Stadt war sein Gesicht zu sehen. Er kandidierte für das Amt des Bürgermeisters.

Ihre Blicke trafen sich. Sie sah, wie überrascht er war, als er sie erkannte. Er hörte auf, an seinem Schlips zu ziehen, dessen Knoten er gerade lockern wollte.

Grace schaute sofort woanders hin. Normalerweise war um diese Zeit am Nachmittag in keinem Restaurant etwas los. Aber ausgerechnet jetzt musste sie auf Kennedy Archer und seine Freunde treffen. Was machten sie eigentlich um diese Zeit in einer Pizzeria? Aus dem Alter, in dem man sich an solchen Orten herumtrieb, waren sie doch längst raus.

Sie erinnerte sich noch daran, wie sie mit sechzehn als Aushilfskellnerin hinter dem Tresen gestanden und sie beobachtet hatte. Als Jungs hatten sie ständig angegeben und versucht, cool zu sein. Grace fiel es schwer, ihre widerstreitenden Gefühle zu beherrschen. Sie hätte niemals erwartet, in diesem Lokal mit diesen Männern konfrontiert zu werden, und auch nicht, dass ein Zusammentreffen mit ihnen sie derart erschüttern würde. Mit einem Mal war sie wieder die kleine Grace von damals, die verzweifelt nach Zuneigung suchte.

Wie hatte sie nur so kurzsichtig sein können? Sie hätte dieses Restaurant niemals betreten dürfen.

Sie hatte sich allzu sehr mit ihren Problemen als erwachsener Mensch befasst, sich gefragt, wie sie Clay und Irene begegnen sollte oder ihrer Stiefschwester Madeline, die sie noch immer nicht angerufen hatte. An ihre Schulzeit hatte sie kaum noch gedacht. Es war jene düstere Zeit, in der sie sich mehr als jeder andere verachtet hatte.

Mit einem Mal wurde ihr klar, dass sie nicht länger hier sitzen bleiben konnte. Sie spürte, wie ihr Magen rebellierte.

Sie erhob sich so würdevoll wie möglich und ging zügig zu den Toiletten.

Kaum hatte sie die Tür hinter sich geschlossen, erleichtert darüber, die verwunderten Blicke hinter sich gelassen zu haben, da taumelte sie auch schon in eine der Zellen, ging in die Knie und musste sich übergeben.

3. KAPITEL

Grace kam nicht zurück, und die Männer wandten sich anderen Themen zu: Der kommenden Wahl, den Baumwollpreisen und dass sie im August gemeinsam mit ihren Söhnen zum Angeln fahren wollten. Kennedy ertappte sich dabei, wie er immer wieder zu dem Tisch hinüberschielte, an dem Grace Montgomery gesessen hatte. Ihr Essen stand dort immer noch. Sie hatte ein bisschen Salat gegessen, die Pizza aber nicht angerührt, und die wurde nun von Minute zu Minute kälter.

War alles in Ordnung mit ihr? Er lehnte sich zurück und schaute Richtung Toiletten, aber sie war nirgends zu sehen. Wie lange wollte sie denn noch dort bleiben?

“He, Kennedy, was ist denn los mit dir?”, fragte Joe und stieß ihn in die Seite. “Glaubst du, du bist jetzt was Besseres als wir, seit du Bürgermeisterkandidat bist?”

“Ich war immer was Besseres als ihr Schwachköpfe”, sagte er lachend, aber nach einigen halbherzigen Bemerkungen übers Angeln schweiften seine Gedanken wieder ab. Warum kam Grace nicht mehr zurück? Die Männer hatten ihr hinterhergerufen und gepfiffen, als sie zur Toilette gegangen war, und dumme Bemerkungen gemacht, die nur bewiesen, dass sie mehr Testosteron im Blut als Hirn im Kopf hatten. Er hätte ihr gern etwas gesagt, um das alles abzuschwächen und ihr zu helfen. Er hätte ihr gern geholfen, sich in ihrer alten Heimat wieder mehr wie zu Hause zu fühlen. Falls das möglich war.

Weitere zehn Minuten verstrichen.

Ihre eigenen Pizzas wurden serviert. Aber auch nachdem sie sie verspeist hatten, war Grace noch nicht zurück.

Kennedy warf wieder einen Blick Richtung Toiletten. Nichts.

“Du bist ja so abwesend. Was ist denn los?”, fragte Buzz.

“Bin ich doch gar nicht”, widersprach Kennedy, während er an die halb nackte Frau dachte, die er am Morgen im Fenster gesehen hatte. Jetzt wusste er, wer es gewesen war. Grace. Offenbar wohnte sie im Haus von Evonne. Zwei so gut aussehende Frauen konnten gar nicht neu sein in Stillwater.

Aber warum mietete sie sich ein eigenes Haus, wenn doch ihre Mutter und ihr Bruder hier lebten? Die Montgomerys hatten Platz. Was stimmte nur nicht mit dieser Familie?

Sie tranken jeder noch ein Bier, aber Grace blieb verschwunden. Er wandte sich an Buzz: “Wo ist sie denn hin?”

“Wer?”, fragte Tim zurück, der zugehört hatte.

“Ach, vergiss es”, brummte Kennedy.

“Sie will uns wohl ihre Pizza überlassen”, stellte Ronnie fest. “Soll ich ein Stück stibitzen? Wäre das nicht witzig, wenn sie zurückkäme und die Hälfte ihrer Pizza wäre weg?”

“Na los, mach doch”, drängte Joe.

Ronnie schob den Stuhl geräuschvoll zurück und stand auf, aber Kennedy hielt ihn am Arm fest.

“Ach komm schon, Kennedy. Es ist doch nur ein Scherz.”

“Vergiss es. Ihr wisst doch, dass sie eine schwere Kindheit hatte. Lasst sie in Ruhe, okay?”

Joe warf ihm einen erstaunten Blick zu. “Wusste ja gar nicht, dass du was für die willige Gracie übrig hast. Soweit ich mich erinnere, hättest du sie früher nicht mal mit der Kneifzange angefasst.” Er krauste demonstrativ die Nase. “Du warst ja ein Archer.”

“Ich war mit Raelynn zusammen”, sagte Kennedy.

“Ja, eben, er hatte eine Freundin”, fügte Buzz hinzu.

“Ich doch auch”, meinte Joe und lachte vor sich hin. “Aber das hatte ja nichts mit der willigen Gracie zu tun. Ich mochte sie ja nicht mal.”

Kennedy kannte diese Männer seit der Grundschule, aber manchmal gingen sie ihm ganz schön auf die Nerven. Vor allem Joe, der in solchen Situationen aus allen Anwesenden nur das Allerschlimmste hervorkitzelte. Wenn Joe ihm damals, als er zwölf Jahre alt gewesen war, nicht das Leben gerettet hätte, wären sie heute wahrscheinlich gar nicht mehr befreundet. “Hört auf, ich will nichts mehr davon hören.”

Die anderen starrten ihn an. Irgendjemand murmelte was von dem Stress, den er wahrscheinlich zurzeit hatte, und nach einer Weile ließ die Spannung nach. Schließlich sprachen sie über unverfänglichere Themen wie Automarken und die kommende Footballsaison.

Kennedy hörte zu, bis er es nicht mehr aushielt. Was war denn nur mit Grace los? Er murmelte einen Fluch vor sich hin und stand auf, um zur Damentoilette zu gehen. Er klopfte an die Tür und rief: “Grace? Ist alles in Ordnung?”

Keine Antwort. Drinnen hörte man nur den Ventilator summen.

“Grace? Wenn du nicht antwortest, muss ich reinkommen.”

Immer noch nichts.

Er schob die Tür auf – und sah, wie sie sich mühsam aufrichtete. Aber dann warf sie sich gegen die Tür und drückte sie mit aller Kraft wieder zu.

“Mir … mir geht’s gut”, sagte sie. Nur klang es so, als würde sie kaum noch Luft bekommen.

So blass, wie ihr Spiegelbild ausgesehen hatte, konnte es ihr gar nicht gut gehen. Sie war krank, das war ganz offensichtlich.

“Soll ich dich nach Hause bringen?”, fragte er.

Wieder antwortete sie nicht. Sie lehnte sich noch immer gegen die Tür, und er wollte sie nicht mit Gewalt aufstoßen.

“Ich kann dich nach Hause bringen, wenn du möchtest.”

“Nein, geh … geh lieber zu deinen Freunden zurück. Die sind doch so witzig. Du willst doch bestimmt nichts verpassen.”

Mist. Sie hatte alles mitbekommen, genau, wie er befürchtet hatte. Wieder versuchte er, die Tür aufzuschieben, aber es ging nicht. “Die benehmen sich doch wie die letzten Idioten. Manchmal frage ich mich, ob die überhaupt je erwachsen geworden sind. Vergiss sie einfach.”

Jetzt klang es so, als würde sie langsam zu Boden rutschen.

“Grace?”

“Lass mich in Ruhe.” Ihre Stimme klang jetzt fester, kam aber von weiter unten, was ihm bestätigte, was er vermutet hatte. Sie war zu Boden gegangen. “Ich gehöre nicht zu deinen Bewunderern, also … tu uns beiden einen Gefallen und geh.”

Geh. Kennedy seufzte. Es war wohl besser, sie in Ruhe zu lassen. Aber er konnte jetzt nicht einfach gehen; er ahnte, dass die Bemerkungen seiner Freunde sie zutiefst verletzt hatten. Er lief im Korridor auf und ab, bis ihm auffiel, dass Joe und die anderen auf ihn warteten und wissen wollten, was passiert war. Sicher war es auch für Grace besser, wenn er zurück an den Tisch ging. Vielleicht konnte er sie ja von ihr ablenken.

“Na, hat’s was gebracht?”, fragte Joe, und alle lachten.

“Dann würde er bestimmt nicht so böse dreinblicken”, sagte Tim.

Kennedy warf allen einen wütenden Blick zu. “Wisst ihr was? Ihr könnt manchmal wirklich richtige Arschlöcher sein.”

Grace beugte sich über das Waschbecken und tupfe ihre Stirn mit einem feuchten Papierhandtuch ab. Sie musste erst einmal Kräfte sammeln, um die Pizzeria verlassen zu können. Sie hoffte, dass Kennedy und seine Freunde zuerst gehen würden. Sie würde sich ihnen später stellen, wenn sie darauf vorbereitet war.

Tief durchatmen. Ein und aus. Ein und aus. Sie hatte schon Schlimmeres überlebt. Sie hatte einfach nicht mit so etwas gerechnet.

Vergiss sie. Du brauchst sie nicht. Du hast sie nie gebraucht …

Es wurde langsam Zeit fürs Abendessen. Wahrscheinlich waren inzwischen wesentlich mehr Gäste im Lokal. Selbst wenn Kennedy und seine Freunde noch da waren, konnte sie jetzt vielleicht unbemerkt hinausschlüpfen. Und wenn sie sie sahen, war es auch egal. Sie hatte die Sache jetzt im Griff.

Sie wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser und trocknete es ab. Dann ging sie erhobenen Hauptes ins Lokal zurück. Auf dem Tisch, an dem Kennedy und seine Freunde gesessen hatten, standen leere Biergläser, Pappteller und Pizzapfannen, aber die Stühle waren jetzt leer.

Sie seufzte erleichtert und ignorierte die Pizza, die kalt an ihrem Platz stand. Sie verließ das Lokal und kramte in ihrer Handtasche nach dem Autoschlüssel, während sie die Straße entlanglief. Gleich würde sie wieder in Evonnes Haus sein und sich sicher fühlen. Als sie dann aber aufsah, bemerkte sie Kennedy Archer. Er stand am Straßenrand und lehnte sich gegen die Stoßstange seines Geländewagens, der direkt neben ihrem Wagen geparkt war.

Es sah so aus, als würde er auf jemanden warten. Hoffentlich nicht auf sie.

Grace lief immer langsamer. Sie musste an ihm vorbei, wenn sie in ihr Auto einsteigen wollte. Nie mehr würde sie es zulassen, dass er oder seine Freunde sie verletzten. Sie ging schneller, trat vom Gehsteig auf die Straße. Er stieß sich von seinem Wagen ab, aber es gelang ihr, sich um ihn herumzuschlängeln.

“Verzeihung”, murmelte sie und öffnete die Tür ihres Wagens. Es war fast so, als würde sie mit einem völlig Fremden reden.

Sie warf ihre Handtasche auf den Beifahrersitz und setzte sich in ihr Auto. Der vertraute Geruch der Ledersitze ließ sie entspannter werden. Aber als sie jedoch die Tür zuziehen wollte, merkte sie, dass er sie festhielt.

Sie legte ihre ganze Verachtung für die dummen Machos von Stillwater in ihren Blick und fragte ungnädig: “Kann ich etwas für Sie tun?”

Er trat einen Schritt zurück, als hätte es ihn getroffen. Die Tür ließ er trotzdem nicht los.

“Ich wollte nur …”

“Vergiss es.”

“Aber …”

“Ich kenne dich doch. Ich mache euch keine Vorwürfe, dass du und deine Freunde euch so benehmt; ich weiß schon, woran ihr euch erinnert. Aber ich erinnere mich auch an alles Mögliche. Also hör endlich auf, den Ritter zu spielen, und glaub bloß nicht, dass ich auf dein falsches Lächeln hereinfalle!”

Danach starrte sie so lange auf seine Hand, bis er ihre Tür endlich losließ.

Kennedy sah zu, wie Grace ausparkte. Ganz offensichtlich war das nicht mehr das Mädchen, das alles tat, wenn sie nur ein bisschen Zuneigung dafür bekam, so wie damals auf der Schule. Gern hätte er sich eingeredet, dass sie ihn eben mit Joe oder Tim verwechselt hatte, aber er wusste, dass es nicht so war.

Er setzte sich hinters Steuer und erinnerte sich daran, wie Joe in der Schulmannschaft mächtig angegeben hatte, er könne Grace jederzeit und an jedem Ort zum Sex überreden. Um das zu beweisen, hatte er sie in den Umkleideraum in der Turnhalle mitgebracht.

Kennedy war nicht lange genug geblieben, um mitzuerleben, was dann passierte, aber er hatte gehört wie sich die anderen später das Maul darüber zerrissen. Und sogar er hatte gelacht, als Joe allen erklärte, er werde sich mit Grace zum Abschlussball verabreden, nur, um sie dann abblitzen zu lassen.

Ich habe sie nie angerührt”, sagte Kennedy laut, um die peinigenden Erinnerungen loszuwerden. Aber auch wenn er sich nicht direkt beteiligt hatte – dazwischengegangen war er auch nicht. Er hatte daneben gestanden, wenn die Jungs sie schubsten oder ihr ein Bein stellten, und er hatte weggeschaut, wenn sie ihr beim Mittagessen einen Ohrenkneifer ins Essen legten. Er hatte nur eingegriffen, wenn Raelynn dabei gewesen war.

Raelynn … Ach, wie sehr er sie vermisste! Er kannte keine Frau wie sie. Sie war so wundervoll, einfach perfekt. Immer wieder hatte sie ihn angefleht, er solle seine Freunde doch davon abbringen, Grace zu ärgern, und sie einfach in Ruhe lassen. Aber sogar seine Mutter hatte immer nur abfällig von den Montgomerys gesprochen, und er hatte sich nicht davon frei machen können.

Heute tat ihm all das leid, aber es war zu spät. Er zog die Wagentür zu und ließ den Motor an. Meistens hatte er so getan, als würde Grace gar nicht existieren. Wenn er sich jetzt in Erinnerung rief, wie bittend sie ihn damals angeschaut hatte, wurde er sehr unruhig. Er war einfach nicht erwachsen genug, um zu bemerken, dass es seine Pflicht war, ihr in ihrer Not zu helfen. Vielleicht hatte er auch einfach nicht genügend darüber nachgedacht. Niemand hatte sich um sie gekümmert, nur ihre Familie. Als Molly auf die Highschool gekommen war, hatte sie eines Tages Grace mit Tim zusammen auf der Toilette entdeckt und es zu Hause ihrem älteren Bruder erzählt. Am nächsten Tag kam Clay in die Schule und brach Tim das Nasenbein.

Dank Clays Eingreifen waren die anderen Jungs verschreckt und hörten auf, Grace als Sexobjekt zu benutzen. Aber da war es längst schon zu spät. Und sie hörten nicht auf, sich weiter über sie lustig zu machen und sie auf andere Weise zu quälen.

Sein Handy klingelte. Kennedy war überrascht, als auf dem Display die Nummer seiner Mutter erschien. Sie wollte doch mit den Jungs zusammen schwimmen gehen. Wieso war sie schon wieder zu Hause?

Er meldete sich.

“Hast du schon gehört?”, fragte sie.

“Was gehört?”

“Grace Montgomery ist wieder in der Stadt.”

Stimmt genau. Er rief sich das Gesicht der Frau ins Gedächtnis zurück, die ihm gerade ein falsches Lächeln attestiert hatte. Auch in der Schule war sie schon sehr hübsch. Sie war nicht wegen ihres Aussehens zur Außenseiterin geworden, sondern wegen ihres Verhaltens. Inzwischen sah sie noch viel besser aus. Ihre früher eher zu dichten Augenbrauen waren jetzt fein gezupft und ihre leicht schiefen Zähne gerichtet worden. Noch immer hatte sie diesen dunklen Teint, blaue Augen und schwarzes Haar. Diese Kombination war schon aufregend genug, aber ihre ausgeprägten Wangenknochen und das energische Kinn – beides wirkte bei einem sehr jungen Menschen noch harsch – machten sie zu einer besonderen Erscheinung. Abgesehen von ihrer großartigen Figur natürlich. Sie war schon vor allen anderen Mädchen sehr gut entwickelt, was ihre Situation natürlich auch nicht leichter gemacht hatte.

“Kennedy?”, wiederholte seine Mutter, als er nicht sofort antwortete.

“Ich weiß schon, dass sie wieder da ist”, sagte er.

“Wer hat es dir denn erzählt?”

“Ich habe sie in der Pizzeria gesehen.”

“Jemand hat behauptet, sie würde einen BMW fahren. Stimmt das?”

Er wusste, dass seine Mutter viel besser damit klarkäme, wenn er ihr erzählen würde, dass Grace eins der kleineren, weniger teuren Modelle fuhr, aber genau deshalb hielt er sich jetzt zurück und sagte nur: “Ja, das stimmt.”

“Wie ist sie wohl an den rangekommen?”

Spielte das denn eine Rolle? Warum sollte Grace sich nicht was Schönes gönnen? “Keine Ahnung”, war alles, was ihm dazu einfiel.

“Ich kann es mir wirklich nicht vorstellen. Eine stellvertretende Bezirksstaatsanwältin verdient doch gar nicht so viel Geld. Vielleicht hat sie sich ja einen reichen Mann geangelt, so wie ihre Mutter, und jetzt ist sie zurückgekommen, weil der arme Kerl spurlos verschwunden ist.”

“Du redest dummes Zeug, Mutter”, sagte Kennedy und legte eine gehörige Portion Abneigung in seine Stimme. “Reverend Barker war nun wirklich kein Millionär. Falls Irene Montgomery ihn wegen des Geldes geheiratet hat, dann hat sie sich gründlich vertan.”

“Immerhin hat sie die Farm bekommen. Und Clay lebt immer noch dort.”

Kennedy merkte, dass sie jeden Augenblick in einen ernsten Streit geraten konnten, und wechselte vorsichtshalber das Thema: “Wieso seid ihr denn nicht schwimmen gegangen?”

“Das Bad wurde schon um fünf geschlossen, weil es gereinigt werden muss.”

“Also konnten die Jungs nur eine Stunde lang ins Wasser?”

“Reicht das etwa nicht?”

Ganz bestimmt war Teddy sehr enttäuscht, nachdem er sich den ganzen Tag darauf gefreut hatte. “Ich komme jetzt zu euch. Wir sehen uns dann gleich.”

“Bleibst du zum Abendessen?”

“Nein, ich möchte später gern nach Hause.” In letzter Zeit fiel es ihm leichter, den Verlust seiner Frau zu verkraften. Er konnte jetzt wieder an andere Dinge denken, sich um seinen Vater kümmern und sich auf den Wahlkampf konzentrieren. Heute aber spürte er, dass Raelynn ihm sehr fehlte.

“Ich habe Steaks und Mais zum Grillen besorgt”, sagte seine Mutter. Sie kümmerte sich gern um ihn; sie hatte dann das Gefühl, gebraucht zu werden. Als Einzelkind war ihm ihre Fürsorge manchmal ein wenig zu viel. Und nun, da sein Vater krank war, sollte er eigentlich ihr den Rücken stärken. Genau das machte es so schwierig, sie auf Distanz zu halten.

“Danke für das Angebot, aber wir haben noch eine Menge zu Essen zu Hause.”

Sie seufzte missbilligend. “Aber ich habe das Abendessen schon fertig.”

“Wie geht es Dad?”, fragte er.

“Gut. Er wird es bestimmt schaffen. Er weiß es, und ich weiß es auch.”

Kennedy war sich da nicht so sicher. Vielleicht wäre er zuversichtlicher gewesen, wenn Raelynn nicht gestorben wäre. In jungen Jahren hatte er viel Glück gehabt, aber das war mit einem Mal vorbei.

Nachdem sie zweimal die Nummer gewählt und gleich wieder aufgelegt hatte, nahm Grace allen Mut zusammen und versuchte es noch einmal. Sie musste Madeline anrufen. Es führte kein Weg daran vorbei, sie war immerhin schon zweieinhalb Tage in der Stadt. Sie hatte mit Clay und ihrer Mutter gesprochen und sogar ein paar von diesen Dummköpfen aus der Schule getroffen. Sie konnte den Anruf bei ihrer Stiefschwester nicht länger aufschieben. Sie hatte Madeline wirklich gern. Und doch: Nach allem, was passiert war, fiel es ihr schwer.

“Hallo?”

“Maddy?”

“Ja?”

Grace lag in einer Hängematte, die sie zwischen zwei Eichen auf der linken Seite des Gartens gespannt hatte, und nippte an einem Glas mit Eistee. Später wollte sie sich in der Küche betätigen, aber jetzt genoss sie den Sonnenuntergang. Sie hatte schon lange keinen so entspannten Moment mehr erlebt. Das Glück lag wohl wirklich in den einfachen Dingen des Lebens.

“Hier ist Grace.”

“Grace! Warum rufst du denn erst jetzt an?”

“Ich musste mich erst mal einrichten. Aber mach dir keine Sorgen, ich bleibe bestimmt einige Wochen hier.”

Einige Wochen? Soll das ein Scherz sein?”

“Nein.”

“Das ist ja großartig! Ich bin vorhin bei dir vorbeigefahren und dachte, ich sehe dich vielleicht, aber du warst nicht da.”

Grace wollte nicht wieder über die Katastrophe in der Pizzeria nachdenken und sagte schnell: “Ich war einkaufen.” Sie nahm einen Schluck von ihrem Eistee und erinnerte sich an ihren panischen Besuch im Supermarkt, wo sie ganz schnell das Nötigste zusammengesucht hatte, um bloß keine weitere unangenehme Begegnung zu riskieren.

“Und wie läuft es bei dir in der Redaktion?”

Madeline arbeitete seit ihrem Universitätsabschluss als Chefredakteurin beim Stillwater Independent. Tatsächlich war sie auch die Inhaberin des Blattes. Sie hatte es gekauft, als sich die ursprünglichen Besitzer zur Ruhe gesetzt hatten. Das bedeutete, dass sie natürlich auch in wirtschaftlicher Hinsicht für die Zeitung einstehen musste, und das war nicht immer ganz leicht. Grace fragte sich oftmals, was wohl aus ihrer Stiefschwester geworden wäre, wenn ihr Vater nicht eines Tages verschwunden wäre. Hätte sie es bis zur New York Times oder zur Washington Post geschafft?

Madeline hatte früher oft davon gesprochen, dass sie irgendwann einmal für eine bedeutende überregionale Zeitung arbeiten wollte. Aber gleichzeitig brachte sie es nicht übers Herz, Stillwater für längere Zeit zu verlassen. Grace glaubte, sie fürchtete, ihr Vater könnte eines Tages zurückkommen und sie würde ihn verpassen. Oder hatte sie Angst, etwas anderes Wertvolles könnte plötzlich aus ihrem Leben verschwinden, wenn sie nicht darauf aufpasste? Seltsamerweise fühlte sich Madeline ihrer Mutter und Clay, ja sogar Molly, mehr verbunden als Grace.

Die Geschehnisse der Vergangenheit hatten jeden von ihnen auf andere Art getroffen. Grace hasste es, verletzlich zu sein, und tendierte dazu, Menschen aus ihrem Leben auszugrenzen. Madeline hingegen hatte Angst, sie könnte die Menschen verlieren, die sie liebte, und ließ sie deshalb nicht los.

“Der Zeitung geht es gut”, sagte sie. “Die Auflage steigt, vor allem, seit wir ‘Singles’ eingeführt haben.”

“Was ist das? Eine Rubrik? Kleinanzeigen?”

“Ein wöchentliches Feature, bei dem zwei Singles vorgestellt werden, eine Frau und ein Mann.”

“Ist ja spannend.”

“Ja, das ist es auch. Es bringt die Leute zusammen. Apropos – was hast du heute Abend vor?”

Grace fiel der Zettel ein, den sie an ihrer Haustür gefunden hatte, und musste lächeln. Haben Sie an meine Kekse gedacht? Teddy.

“Ich werde backen.”

“Ernsthaft?”

Sie musste noch mehr lächeln. “Ja, ernsthaft.”

“Klingt lustig. Brauchst du vielleicht Hilfe?”

Grace’ Herz begann heftig zu pochen, aber dann gelang es ihr doch, ganz locker zu klingen: “Ja, klar.”

“Eigentlich wollte ich mit Kirk zusammen ein Video angucken, aber wir hocken die ganze Zeit aufeinander. Ich würde viel lieber bei dir vorbeikommen.”

“Ist das denn was Ernstes zwischen euch beiden?”

“Überhaupt nicht.”

“Du bist wirklich genauso schlimm wie ich, Maddy. Du kennst ihn doch jetzt schon seit drei Jahren.”

Madeline seufzte hörbar. “Ich weiß, aber wir kommen einfach nicht weiter in unserer Beziehung. Wir sind zu gut befreundet, um uns zu trennen, aber wir lieben uns nicht genug, um zu heiraten.”

“Tja. Molly und Clay geht es in dieser Hinsicht auch nicht besser”, sagte Grace.

“Clay könnte doch heiraten. Es gibt eine Menge Frauen, die sich für ihn interessieren. Aber ihm genügt es, wenn er eine Nacht mit ihnen verbringt. Er wird in unseren Charts der begehrtesten Junggesellen mit den geringsten Heiratschancen ganz oben geführt.”

Grace konnte gut verstehen, dass Clay vor einer Heirat zurückschreckte. Wie sollte er mit einem anderen Menschen in einem Haus leben, das ein so furchtbares Geheimnis barg? Und was wäre, wenn seine Frau eines Tages umziehen wollte? Er konnte die Farm nicht verlassen. Die halbe Stadt wartete nur darauf, sie auseinanderzunehmen.

“Und Molly ist ja erst neunundzwanzig”, fuhr Madeline fort. “In dem Alter noch Single zu sein, ist heutzutage keine Seltenheit.”

“Mit neunundzwanzig ist man wirklich alt genug, um verheiratet zu sein”, meinte Grace.

“Stimmt schon.”

Grace hatte keine Lust, über ihre eigene Situation zu sprechen, was zweifellos der nächste Punkt gewesen wäre. Also wechselte sie schnell das Thema. “Wie wär’s, wenn du Kirk einfach mitbringst?”

“Das ist eine Idee”, sagte Madeline, der es offenbar nichts ausmachte, das Thema zu wechseln. “Er hat vorhin angerufen und angekündigt, er wolle mir etwas Wichtiges erzählen, was gestern in der Kneipe passiert ist.” Sie senkte bedeutungsvoll die Stimme. “Ich glaube, es hat was mit Dad zu tun.”

Grace stieß sich mit einem Fuß vom Boden ab, um der Hängematte Schwung zu geben. “Was soll das denn sein?”

“Weiß ich nicht. Er hatte keine Zeit, darüber zu sprechen. Aber es klang interessant.”

Nicht schon wieder. Arme Madeline. “Maddy, du musst endlich damit abschließen, verstehst du? Es ist nicht gut, wenn man von einer Sache so besessen ist. Der …” Sie hätte beinahe gesagt “der Reverend”, besann sich dann aber eines Besseren und beendete den Satz: “… Daddy wird ganz bestimmt nicht mehr zurückkommen.”

Reverend Barker hatte von seinen Stiefkindern verlangt, dass sie ihn Dad nannten, und war immer sehr wütend geworden, wenn sie es nicht taten, besonders in Gegenwart von anderen Leuten. Nach seinem Verschwinden hatte ihre Mutter darauf bestanden, dass es weiterhin dabei bleiben sollte, und ihnen verboten, das Büro im Schuppen auszuräumen.

“Bevor mein Dad deine Mutter kennenlernte, war er der einzige Mensch in meinem Leben”, stellte Madeline fest.

Ihre Mutter hatte Selbstmord begangen, und drei Jahre später hatte Lee Barker Irene Montgomery geheiratet. Grace hatte sich immer gefragt, warum seine erste Frau wohl so schrecklich unglücklich gewesen war. Wahrscheinlich hatte sie irgendwann die hässliche Fratze hinter der Maske der Frömmigkeit entdeckt. Niemand sprach jemals von ihr. Sogar Madeline tat so, als hätte es Eliza Barker niemals gegeben. Grace vermutete, dass Madeline ihr bis heute nicht vergeben hatte, dass sie sie ihrem Schicksal überlassen hatte.

“Ich weiß doch, wie viel er dir bedeutet hat, aber …”

“Ich muss das zu einem Abschluss bringen, Grace. Wenn ich Gewissheit habe, dass er tot ist, werde ich es akzeptieren, nicht wahr? Dann werde ich nicht mehr auf seine Rückkehr warten. Genauso wie bei meiner leiblichen Mutter. Das ist doch vernünftig, oder?”

“Glaubt Kirk denn, dass er tot ist?”

“Natürlich. Aber im Gegensatz zu den anderen Leuten hier in der Gegend macht er nicht unsere Mutter dafür verantwortlich.”

“Na ein Glück”, sagte Grace mit einem gekünstelten Lachen. “Es würde mir gar nicht gefallen, wenn er anderer Meinung wäre.”

“Das ist auch ein Grund, warum ich nicht aufhören kann, die Wahrheit zu suchen. Ich will den Leuten in dieser Stadt beweisen, dass sie genauso unschuldig ist wie du und ich. Sie waren so gemein zu ihr, und auch zu dir und Molly und Clay.”

Nach dem Verschwinden ihres Vaters waren ihre Stiefmutter und deren Kinder Grace, Clay und Molly die nächsten Bezugspersonen für Madeline. Natürlich hätte sie auch zu ihrem Onkel und ihrer Tante ziehen können, aber zu ihnen hatte sie nie ein besonders inniges Verhältnis gehabt. Nicht nur das: Es war vor allem ihre unerschütterliche Verbundenheit mit Irene, die sie von Joes Familie trennte.

Grace hielt sich das kühle Glas an die Wange und schloss die Augen. “Das ist nett, dass du das sagst, Maddy.”

Ihre Stiefschwester schwieg einen Moment lang, dann sagte sie: “Wir kommen dann so in einer Stunde zu dir rüber, okay?”

“Maddy?” Grace schlug die Augen auf und setzte das Glas ab.

“Was denn?”

“Wo wohnt Kennedy Archer eigentlich?”

“Im alten Haus der Baumgarters.”

Das Haus der Baumgarters war ein wunderschönes altes Haus im Südstaatenstil, ein paar Kilometer außerhalb der Stadt. Grace erinnerte sich sehr gut daran. Es war eines der schönsten Anwesen in der Gegend. Die Tochter des Hauses, Lacy Baumgarter, war in der Schule sehr beliebt und hatte bei sich zu Hause viele rauschende Feste gefeiert.

Zu denen Grace allerdings nie eingeladen worden war …

“Ein schönes Haus”, sagte sie und bemühte sich, so gleichgültig wie möglich zu klingen.

“Raelynn hat es wieder richtig auf Vordermann gebracht. Nachdem die Baumgarters ausgezogen waren, haben die Greens es gekauft, aber sie ließen sich scheiden. Ann hat versucht, das Haus zu halten, aber schließlich hat sie es an Kennedy und Raelynn verkauft. Die haben es dann renoviert.”

“Sehr schön.” Grace dachte an den Geländewagen, den sie heute Morgen von ihrem Fenster aus gesehen hatte, und war erleichtert. Vor der Pizzeria war ihr aufgefallen, dass Kennedy einen solchen Wagen fuhr, und hatte schon befürchtet, er hätte sie halb nackt am Fenster gesehen. Aber da er im alten Haus der Baumgarters wohnte, war es unwahrscheinlich, dass er so früh am Morgen in der Nähe ihres Hauses geparkt hatte.

“Warum fragst du?”, wollte Madeline wissen.

“Ich dachte, er wohnt vielleicht in der Stadt.”

“Du hast bestimmt gehört, dass er Bürgermeister werden will.”

“Ich habe die Plakate gesehen.” Sie waren ja nicht zu übersehen. Allerdings war Stadträtin Nibley eine nicht zu unterschätzende Konkurrentin.

“Die Zeitung unterstützt ihn. Wirst du bis zur Wahl hierbleiben? Dann könntest du auch deine Stimme abgeben.”

“Ich bin immer dabei, wenn es darum geht, dich und deine Zeitung zu unterstützen, Maddy. Aber für Kennedy würde ich nicht mal dann stimmen, wenn ich tatsächlich bis zur Wahl hier wäre und wählen dürfte.”

“Magst du ihn etwa nicht?”

Grace zögerte keine Sekunde: “Nein.”

“Wirklich? Warum denn nicht? Er ist sehr nett. Außerdem tut er mir leid.”

“Er stammt aus einer der mächtigsten Familien in Stillwater, er sieht gut aus, er ist gesund und reich. Was gibt es an ihm denn zu bemitleiden?”, fragte Grace bissig.

“Raelynns Tod hat ihn sehr mitgenommen. Ich habe noch nie gesehen, dass ein Mann bei einem Begräbnis so furchtbar geweint hat.”

Grace erinnerte sich, dass ihre Mutter Raelynns Autounfall erwähnt hatte. “Es tut mir leid wegen seiner Frau”, lenkte sie ein.

“Sie waren seit der Highschool zusammen.”

Grace war auf dieselbe Schule gegangen und konnte sich noch an sie erinnern. “Ich weiß. Sie war einer der nettesten Menschen, die ich je getroffen habe. Er hatte sie wirklich nicht verdient.”

Madeline schwieg verblüfft. “Was hast du denn ausgerechnet gegen Kennedy Archer?”

Abgesehen davon, dass er es nicht für nötig befunden hatte, sie zur Kenntnis zu nehmen – im Gegensatz zu seinen Freunden? Was war wohl schlimmer: Verhöhnt und beleidigt oder völlig ignoriert zu werden? Das Mitleid, das Kennedy in der Schule gelegentlich gezeigt hat, hatte sie mehr geschmerzt als alle Gemeinheiten von Joe oder Pete. Er hatte sie niemals angefasst, aber er hatte sich auch nicht für sie eingesetzt. Genau das hätte aber etwas bewirken können, denn Kennedy war der geborene Anführer. Er hatte eigene Ansichten und äußerte sie auch, und meistens folgten die anderen seinem Beispiel. Tatsächlich hatte sie ihn bewundert. Und ausgerechnet Raelynn hatte sich am meisten für sie eingesetzt. Nur Kennedy, der damals alles hätte ändern können, hatte sich nicht die Mühe gemacht, ihre Anwesenheit zur Kenntnis zu nehmen.

“Nichts Bestimmtes”, sagte sie. “Ich freu mich auf euch.”

“Und? Wie läuft’s mit dem Rasenmähen?”, fragte Kennedy seinen Sohn Teddy, als er rückwärts aus der Einfahrt seiner Eltern bog. Eigentlich hatte er nicht zum Abendessen bleiben wollen, aber sein Vater schien großen Wert darauf zu legen, und so hatte er sich doch noch umentschieden. Nach dem Essen hatten sie eine Weile über Politik gesprochen; um acht Uhr hatte er dann seine Jungs gerufen, die Reste vom Abendessen in Empfang genommen und war zu seinem Wagen gegangen.

“Er musste in der Ecke stehen”, teilte Heath ihm mit. Er war inzwischen zwar alt genug, um auf dem Beifahrersitz mitzufahren, aber Kennedy war es lieber, er saß weiter hinten. Es war einfach sicherer, und er wollte die größtmögliche Sicherheit für seine Kinder. Raelynn war auf dem Weg zum Friseur, als sie einem Wagen, der plötzlich vor ihr aufgetaucht war, ausweichen wollte und mit einem entgegenkommenden Sattelschlepper zusammenstieß. Einen solchen Aufprall konnte niemand überleben.

“Halt die Klappe, Heath”, rief Teddy. “Du musst Daddy doch nicht alles erzählen.”

Kennedy warf einen Blick in den Rückspiegel. Draußen wurde es schon dunkel, aber er konnte genau erkennen, dass Teddy ziemlich wütend dreinblickte. “Was ist denn passiert?”

“Nichts.”

“Was hast du gemacht?”, hakte Kennedy nach.

Heath deutete nach draußen. “Ich bin da hingegangen.” Sie fuhren gerade an Evonnes Haus vorbei.

Grace schien ihren kleinen BMW in die Garage gefahren zu haben, jedenfalls stand er nicht mehr vor dem Haus. Dort stand jetzt Kirk Vantassels Lieferwagen. Das Haus war hell erleuchtet. Wahrscheinlich hatte Grace gerade Besuch von ihrer Stiefschwester und deren Freund. Die beiden waren ja schon länger zusammen. “Worüber hat Oma sich denn aufgeregt?”

“Er soll nicht zur Hauptstraße gehen, weil da zu viel Verkehr ist.”

“Ich bin doch hintenrum gegangen”, widersprach Teddy.

“Das ist doch egal, du Dummkopf. Evonne ist tot, und jetzt wohnt da jemand anders.”

“Aufhören!”, rief Kennedy, aber Teddy legte schon los.

Du bist der Dummkopf! Ich weiß, dass da jemand anders wohnt. Ich habe sie doch kennengelernt. Sie hat mir einen Dollar fürs Unkrautjäten gegeben und gesagt, dass ich ihren Rasen mähen darf.”

“Du musst aber tun, was Oma sagt”, erklärte Heath. “Er darf da nicht mehr hingehen, stimmt doch, Dad?”

Kennedy bog nach links ab und fuhr weiter. Evonnes Haus verschwand aus seinem Blickfeld. Er wusste, dass Grace ihn nicht leiden konnte, und war kurz versucht, Teddy deswegen den Umgang mit ihr zu verbieten. Aber dann erinnerte er sich daran, wie einsam sie als junges Mädchen gewesen war. Es wäre falsch, sie erneut auszugrenzen. “Ich wüsste nicht, warum er für Grace nicht das Gleiche tun sollte wie für Evonne.”

Teddy grinste seinen Bruder an. “Da hast du’s!”

“Das wird Oma aber gar nicht gefallen”, meinte Heath.

“Na und? Übrigens bekomme ich morgen Kekse von Grace”, erklärte Teddy stolz. “Aber dir werde ich keinen mitbringen.”

Heath streckte seinem Bruder die Zunge raus. “Das hättest du sowieso nicht getan.”

“Vielleicht ja doch.” Teddy war zwar sehr dickköpfig, aber auch großzügig. “Ich werde Oma sagen, dass es in Ordnung ist, wenn du Grace ab und zu im Garten hilfst.”

“Das findet Oma bestimmt nicht gut”, sagte Heath. “Ich glaube, sie mag Grace nicht.”

“Aber sie kennt sie doch gar nicht”, widersprach Teddy.

“Doch, tut sie”, sagte Heath. “Sie hat am Telefon von ihr gesprochen. Sie sagte, dass Grace ein Flittchen ist und dass ihre Mutter einen Reverend umgebracht hat.”

“Grace Montgomery war die Beste ihres Jahrgangs in Georgetown, und das ist eine der besten Universitäten überhaupt. Sie ist eine ausgezeichnete Bezirksstaatsanwältin. In der Zeitung stand kürzlich ein Artikel über sie, und da hieß es, sie würde nie einen Fall verlieren.”

“Und was heißt das?”, fragte Heath.

“Das heißt, dass sie unseren Respekt verdient, verstanden? Und Oma weiß überhaupt nichts darüber, dass irgendjemand den Reverend umgebracht hat.”

“Wer’s glaubt, wird selig”, murmelte Heath.

Kennedy drehte sich ruckartig um und warf seinem Sohn einen sehr bösen Blick zu. “Aber das hat Oma so gesagt”, verteidigte sich der Junge.

Kennedy rieb sich nervös über die Bartstoppeln auf seinen Wangen und konzentrierte sich wieder auf die Straße. “Manchmal redet Oma ein bisschen viel”, sagte er, obwohl er wusste, dass fast alle in der Stadt das Gleiche dachten. Auch er hatte sich gelegentlich über das Verschwinden des Reverends Gedanken gemacht. “Reverend Barker ist vor vielen Jahren verschwunden. Niemand weiß, was aus ihm geworden ist.”

“Heißt das jetzt, dass ich morgen zu Grace gehen darf, Dad?”, fragte Teddy.

Kennedy erinnerte sich an den Zorn in ihren Augen, als er auf dem Parkplatz vor der Pizzeria das Wort an sie gerichtet hatte. “Weiß sie denn, dass du mein Sohn bist?”

“Weiß ich nicht.”

“Hat sie irgendwas über mich gesagt?”

“Nein.”

“Okay. Du kannst den Rasen mähen, aber du gehst nicht ins Haus.”

“Warum nicht?”

“So lautet die Regel. Entweder du hältst dich daran, oder du darfst überhaupt nicht hin.”

“Und was ist mit meinen Keksen?”

“Die kann sie dir ja an der Haustür geben, okay?”

Einen Moment lang blieb es still, dann antwortete Teddy und klang endlich besänftigt. “Okay. Ich hab ihr eine Nachricht hinterlassen. Bestimmt bekomme ich die Kekse morgen.”

“Bringst du mir dann auch einen mit?”, fragte Kennedy.

“Kekse enthalten Kohlehydrate, Dad”, antwortete Teddy.

Kennedy lachte leise. “Weißt du denn überhaupt, was das ist, Kohlehydrate?”

“Nein, aber Oma weiß es, und sie mag sie nicht.”

“Weil sie Angst hat, sie könnte zu dick werden.”

“Mom hat immer die besten Kekse gemacht”, sagte Heath.

Kennedy bemerkte die Trauer in der Stimme seines Sohns und fühlte mit ihm. Heath und Teddy vermissten ihre Mutter sehr. Kennedy vermisste sie auch. Er sehnte sich nach Raelynns Liebkosungen, nach ihrem Lachen, ihrer Gegenwart. Außerdem war es ihm einfach zu viel, sich Tag für Tag mit seiner energischen Mutter herumschlagen zu müssen.

“Ich bring euch beiden einen mit”, sagte Teddy versöhnlich.

Wieder erinnerte sich Kennedy an den zornigen Blick, den sie ihm zugeworfen hatte. “Aber erzähl ihr bloß nicht, dass einer von den beiden für mich ist”, sagte er mit verlegenem Lachen.

4. KAPITEL

“Na, los, erzähl es ihr”, drängte Madeline und stieß Kirk mit dem Fuß an.

Sie saßen um den Sofatisch im Wohnzimmer, nachdem sie das von Grace improvisierte Abendessen – Hühnchen mit Nudeln und grünem Salat – gegessen hatten. Kirk hatte ein paar Wahlplakate von Vicky Nibley mitgebracht, und Madeline hatte sich fürchterlich aufgeregt, weil sie damit nicht den Kandidaten unterstützten, den ihre Zeitung favorisierte. Kirk gab zu, dass er sich nicht besonders für Politik interessierte. Er tat das nur, um seinem seit Jahren verwitweten Vater zu helfen, mit Vicky in Kontakt zu kommen. Dieser Gedanke brachte Grace zum Lachen, aber nun wechselte Madeline das Thema, und schon läuteten bei ihr alle Alarmglocken. Grace kannte ihre Stiefschwester gut genug, um zu wissen, dass sie jetzt direkt auf das Thema zu sprechen kommen würde, das ihr wirklich am Herzen lag.

“Was soll ich ihr erzählen?”, fragte Kirk träge. Er hatte es sich auf Grace’ dunkelgrünem Plüschsofa bequem gemacht.

Kirk war von seiner Großmutter aufgezogen worden, bis er alt genug war, um bei seinem Vater zu wohnen. Er war acht Jahre älter als Grace, weshalb sie früher nicht sehr viel mit ihm zu tun gehabt hatte. Aber sie hatte ihn immer gut leiden können. Er war einer von diesen kräftigen, schweigsamen Männern, die sich nicht mehr umstimmen ließen, wenn sie erst mal eine fest gefügte Meinung hatten. Außerdem sah er nicht schlecht aus. Zwar war seine Nase leicht gebogen – diesen Schönheitsfehler hatte er sich beim Footballspielen zugezogen – und er hatte dünnes braunes Haar. Aber diese beiden Nachteile wurden durch seine strahlenden braunen Augen ausgeglichen. Außerdem hatte er große männliche Hände, die von seiner harten Arbeit als Zimmermann zeugten. Sie waren so ganz anders als die feinen, perfekt manikürten Hände von Grace’ Freund George.

“Erzähl ihr, was du gestern Abend in der Kneipe gehört hast. Ich hab dich doch nicht hierhergeschleppt, nur damit du dir den Magen mit Nudeln und Hühnchen vollschlagen kannst”, neckte Madeline ihren Freund und warf sich ihre langen kastanienbraunen Haare über die Schulter.

Grace nahm ihr Weinglas, stand auf und ging durchs Zimmer, um aus dem Fenster zu schauen. Man kann Lee Barker hier einfach nicht vergessen, dachte sie verbittert. Sogar nach achtzehn Jahren tauchte sein Name in fast jedem Gespräch über Stillwater auf.

“Ich hab Matt Howton getroffen”, sagte Kirk.

Grace nippte an ihrem Wein. “Matt? An den kann ich mich gar nicht erinnern.”

“Der älteste Sohn von John Howton. Ein großer, dünner Kerl, ungefähr 23 Jahre alt. Arbeitet für Jed Fowlers Autohandel.”

Kaum fiel der Name Jed Fowler, verkrampften sich Grace’ Muskeln im Nacken und an den Schultern. “Und was hat Matt erzählt?”

Kirk lehnte sich nach vorn und stützte die Ellbogen auf die Oberschenkel. “Wir haben einfach nur nett zusammengesessen, ein paar Bier getrunken und Billard gespielt. Und er hat mich gefragt, wie es Madeline so geht. Und dann kamen wir darauf zu sprechen, dass du wieder in der Stadt bist, und dann fing er an, über deinen Stiefvater zu reden.”

“Und?”, fragte Grace und versuchte ruhig zu wirken.

“Er glaubt, Jed Fowler könnte etwas mit seinem Verschwinden zu tun haben”, warf Madeline ein, die offenbar ungeduldig darauf wartete, dass Kirk endlich auf den Punkt kam.

Grace war nicht besonders überrascht. Matt war nicht der Erste, der glaubte, der wortkarge Mechaniker könnte etwas mit dem mysteriösen Verschwinden des Reverends zu tun haben. Aber Madeline klang so aufgeregt, dass noch mehr dahinterstecken musste. “Hat er auch gesagt, wie er darauf kommt?”

“Du kennst doch Lorna Martin, die hinter Jeds Laden wohnt. Sie behauptet, dass sie in der Nacht, in der Vater verschwand, gehört hat, wie Jeds Lieferwagen gegen Mitternacht zurückkam, richtig?”

Grace nickte.

“Im Laden ging das Licht an und blieb es bis drei Uhr morgens”, fuhr Madeline fort. “Sie legt Wert darauf, dass es das einzige Mal war, dass sie ihn so spät noch gesehen hat.”

“Das hat sie doch alles schon der Polizei erzählt”, stellte Grace fest.

“Und jetzt erzähl ihr, was Matt gesagt hat”, drängte Madeline ihren Freund.

“Matt behauptet, Jed hätte einen Aktenschrank im Büro, den er nie aufschließt”, sagte Kirk.

Ihr Magen fing an zu rebellieren. Grace hatte genug von verschlossenen Aktenschränken. Sie wusste nur allzu gut, dass meist nichts Gutes in ihnen verborgen war. “Und?” Sie warf ihm einen finsteren Blick zu. “Vielleicht war was Wertvolles drin.”

Kirk sah sie erstaunt an. Er schien überrascht, dass sie an der Neuigkeit nicht größeres Interesse zeigte. “Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Aber Matt meint, Jed würde sich recht eigenartig wegen diesem Schrank verhalten. Vor zwei Tagen hatte Matt irgendwas im Büro zu erledigen. Als er reinkam, war der Aktenschrank erstaunlicherweise aufgeschlossen. Er wurde neugierig und machte ihn ganz auf. In diesem Moment kam Jed rein und wurde sehr wütend. Fast hätte er ihm gekündigt.”

“Ich habe noch nie erlebt, dass Jed wütend wird”, sagte Grace. “Ich habe noch nie erlebt, dass er überhaupt irgendwelche Gefühle zeigt.”

“Genau”, stimmte Kirk zu. “Ganz offensichtlich ist etwas in diesem Aktenschrank, das niemand sehen darf.”

Jed war lange Zeit ein unsicherer Faktor. “Was könnte es denn sein?”, fragte Grace.

“Vielleicht Beweisstücke”, warf Madeline ein.

“Falls er am Tod unseres … Vaters schuld sein sollte, warum sollte er dann etwas aufbewahren, das ihn belasten könnte?” Grace bemühte sich im sachlichen Ton einer Staatsanwältin zu sprechen, dabei konnte sie sich sehr gut einen Grund dafür vorstellen – falls er der Täter gewesen wäre. Und nun kam Madeline genau darauf zu sprechen.

“Wer weiß das schon so genau? So was kommt vor. Ich habe genug Gerichtsdokus im Fernsehen gesehen, um das zu wissen.” Sie trank ihr Glas aus. “Du hast vielleicht ja auch schon mal mit Kriminellen zu tun gehabt, die sich Trophäen aufbewahrt haben, oder?”

“Ein Mal”, gab Grace zu. An diesen Fall dachte sie nicht gern zurück. Sie schwieg eine Weile und sagte dann: “Warst du nicht davon überzeugt, dass Mike Metzger dahintersteckt?”

Eine Woche vor seinem Verschwinden, hatte Reverend Barker den neunzehnjährigen Mike dabei erwischt, wie er Haschisch auf der Toilette der Kirche rauchte. Er hatte ihn der Polizei übergeben. Mike war natürlich stocksauer deswegen und hatte ein paar unklare Drohungen gegen den Reverend ausgestoßen. Nach seinem Verschwinden hatte er öffentlich erklärt, er sei froh darüber, dass er weg sei. Seine Mutter schwor allerdings, dass ihr Junge in der fraglichen Nacht zu Hause im Bett war. Die Beweislage war recht dünn, also konnte keine Anklage erhoben werden. Inzwischen war Mike im Gefängnis, weil er in seinem Keller Designerdrogen hergestellt hatte. Madeline hatte jahrelang voller Überzeugung behauptet, er sei am Verschwinden ihres Vaters schuld.

Madeline runzelte die Stirn. “Ich wollte wirklich nicht, dass Jed unter Verdacht gerät”, murmelte sie. “Ich habe ihn immer gemocht. Aber man muss auch zugeben, dass er ein bisschen … anders ist.”

Dagegen konnte man nichts sagen. “Mike traut man irgendwie eher zu, dass er etwas Schreckliches tut.”

“Stimmt. Aber vor allem habe ich nicht weit genug gedacht. Wir wissen ja, dass Jed am fraglichen Abend auf der Farm war, weil der Traktor repariert werden musste.”

“Er war in der Scheune. Aber deswegen muss er nicht unbedingt ein Mörder sein. Mike wohnt nur eine Meile von der Farm entfernt. Das kann man problemlos zu Fuß gehen.”

Madeline stand auf und schenkte sich und Kirk etwas Wein nach. Sie war deutlich über ein Meter siebzig groß, schlank und hatte eine würdevolle Ausstrahlung. Lediglich die wenigen feinen Sommersprossen um ihre Nase waren ein Kontrapunkt zu ihrer überaus eleganten Erscheinung. “Aber Jed hatte die Gelegenheit”, sagte sie.

Kirk rutschte ein Stück nach vorn. “Stellt euch doch mal Folgendes vor: Der Reverend kommt von der Kirche nach Hause, sieht das Licht in der Scheune und geht rein, um nachzusehen, wie es mit der Reparatur des Traktors vorangeht. Er gerät mit Jed in Streit, es kommt zu einem Handgemenge …”

“Aber worüber sollen sie sich denn gestritten haben?”, fragte Grace. “Mike hatte wenigstens ein Motiv. Aber warum hätte Jed auf unseren … Dad losgehen sollen?” Sie brachte das Wort Dad kaum über die Lippen.

“Sie waren eben wegen irgendwas verschiedener Ansicht”, meinte Kirk.

“Aber unser Vater ist doch an diesem Abend gar nicht nach Hause gekommen.” Grace versicherte sich, dass sie nicht zitterte, bevor sie das Glas anhob, um einen weiteren Schluck zu trinken. Dann wiederholte sie das, was sie schon hundertmal gesagt hatte: “Wenn sein Wagen vorgefahren wäre, hätte ich es doch hören müssen.”

“Vielleicht warst du ja gerade abgelenkt”, sagte Kirk.

“Nein. Er … er wollte doch noch unsere Hausaufgaben kontrollieren. Wir haben doch immer auf ihn gewartet, stimmt’s, Madeline?”

“Eigentlich immer.” Madeline nickte zustimmend.

Grace atmete tief ein. Sie hatte besonders darauf geachtet, ob er nach Hause kam, mehr als ihre Geschwister. “An diesem dritten August ist er nicht vorgefahren”, stellte sie mit ruhiger Stimme fest.

“Woran erinnert ihr euch sonst noch?”, fragte Kirk.

Grace erinnerte sich an mehr, als ihr lieb war. Sie erinnerte sich noch, wie schwierig es gewesen war, sich das klebrige Blut von den Händen abzuwaschen. An den Klang des Spatens, mit dem in der Erde gegraben wurde, den Geruch des Regens und der welken Blätter. Sie erinnerte sich daran, wie sie in einer Wanne mit heißem Wasser saß, vor sich hin zitterte und mit den Zähnen klapperte, während ihre Mutter sie abrieb, als sei sie ein Baby. Und sie erinnerte sich an die rosa Farbe, die das Badewasser angenommen hatte, als sie aus der Wanne stieg.

Sie verbannte die Erinnerungen aus ihrem Bewusstsein. “Ich weiß nicht”, sagte sie. “Es war ein Abend wie jeder andere.”

“Komisch nur, dass Jed nicht an der Tür geklopft hat, um sich seinen Lohn abzuholen. Findest du das nicht eigenartig?”, fragte Madeline.

Das war allerdings eigenartig. Grace wusste nicht, was er gesehen hatte und ob er es jemals erzählen würde. Es war durchaus möglich, dass er den Traktor repariert hatte und anschließend einfach nach Hause gegangen war, so wie er es der Polizei erklärt hatte. Aber es konnte genauso gut sein, dass er viel mehr mitbekommen hatte, als er zugab. “Vielleicht wusste er ja, dass Dad noch nicht nach Hause gekommen war, und wollte uns nicht damit belästigen.”

“Oder er war zu beschäftigt damit, die Leiche zu verstecken und sich aus dem Staub zu machen”, warf Kirk ein.

Grace schüttelte den Kopf. “So einer ist Jed nicht. Und ihr habt mir immer noch kein Motiv nennen können. Warum sollte er den in der ganzen Stadt beliebten Reverend denn umbringen?”

“Er hat ihn ja gar nicht gemocht”, widersprach Kirk. “Wie du dich vielleicht erinnerst, hat er schon einige Monate vor dem Verschwinden des Reverends aufgehört, zur Kirche zu gehen. Eines Tages stand er mitten im Gottesdienst auf, ging weg und kam nie wieder.”

“Er war aber nicht der Einzige, der nicht mehr zur Kirche ging.”

“Aber er war der Einzige, der mitten in der Predigt aufstand und ging.”

“Vielleicht mochte er Dads Predigten nicht.” Grace hatte seine Gottesdienste auch nicht gemocht – nicht, seit ihr klar geworden war, dass das, was aus seinem Mund kam, nicht von Herzen kam.

“Ich bin manchmal mit Daddy in Jeds Werkstatt gegangen”, sagte Madeline.

“Gab es Spannungen zwischen ihnen?” Grace wusste, dass dem nicht so war, und nahm einen kleinen Schluck Wein. Ihre Hand blieb ruhig.

“Irgendetwas stimmte zwischen den beiden nicht. Als Daddy ihn einlud, doch wieder in die Kirche zu kommen, sagte Jed, er hätte von jemandem wie ihm schon mehr als genug gehört.” Sie fuhr mit dem Finger über den Rand ihres Glases. “Das klingt doch feindselig, oder?”

“Aber die Polizei fand keine Hinweise darauf, das Jed etwas mit seinem Verschwinden zu tun haben könnte”, stellte Grace fest. Sie fühlte sich jetzt gefestigt genug, ihren beiden Gesprächspartnern wieder ins Gesicht zu sehen.

“Sie haben ja nie wirklich nachgeforscht. Sie haben ihn als Zeugen befragt, das war alles.”

“Und jetzt glaubst du, dass er der Mörder ist?” Kaum hatte Grace es ausgesprochen, merkte sie, dass sie in diesem Satz das falsche Wort betont hatte. Glücklicherweise schien es niemand bemerkt zu haben.

“Daddy ist doch nicht einfach so abgehauen, Grace. Er hätte mich niemals allein zurückgelassen. Er hätte auch Mom nicht einfach so verlassen und dich und Clay und Molly, die Farm, sein Pfarramt. Nicht nach alldem, was meine echte Mutter uns angetan hatte. Er hasste sie dafür, dass sie sich so davongestohlen hat.”

Grace biss sich auf die Zunge und schwieg. Madeline musste doch bemerkt haben, dass die Ehe zwischen ihrem Vater und der Frau aus Booneville nicht harmonisch gewesen war. Sie musste doch gespürt haben, dass die Spannung zwischen ihm und seinen Stiefkindern immer größer wurde. Offenbar blendete sie bestimmte Teile der Vergangenheit einfach aus. Und doch war Grace davon überzeugt, dass die Ermittlungen gegen Irene Barker sich über Jahre erstreckt hätten, hätte Madeline sich nicht so für ihre Stiefmutter eingesetzt und sie als aufopferungsvolle Mutter und Ehefrau beschrieben. Womöglich wäre die Sache sogar ohne Leiche vor Gericht gekommen. “Aber ausgerechnet Jed, Maddy? Er ist doch überhaupt nicht gewalttätig.”

“Auf jeden Fall hat er nicht die Wahrheit gesagt.”

Wollte Madeline die Wahrheit wirklich wissen? Grace hätte ihr am liebsten vorgeschlagen, ihren Vater endlich zu vergessen und sich damit abzufinden, dass er für immer verschwunden war, ohne eine Spur zu hinterlassen. Die Wahrheit würde für sie nur noch mehr Leid bedeuten. Dann würde sie ihre Mutter und ihre Geschwister verlieren. War es das wirklich wert?

“Du warst an diesem Abend doch gar nicht zu Hause.” Madeline hatte die Nacht bei einer Freundin verbracht und nichts von den Geschehnissen mitbekommen. Aber auch sonst waren ihr viele Dinge überhaupt nicht aufgefallen, dafür hatte Reverend Barker gesorgt.

“Jed hat mal was Merkwürdiges zu mir gesagt, als ich meinen Jeep bei ihm abgeholt habe”, mischte Kirk sich ein.

Grace schaute ihr Spiegelbild im Fenster an. “Was denn?”

“Ich hatte ihn gefragt, was in dieser Nacht passiert ist. Zuerst sagte er nicht viel, nur das Gleiche wie immer. Aber als ich wissen wollte, was er glaubt, da antwortete er, dass Lee Barker genau das bekommen hat, was er verdient hat.”

Ein kalter Schauer lief Grace über den Rücken.

“Was er verdient hat”, wiederholte Madeline. “Siehst du, Grace? Mein Dad war Reverend, um Himmels willen. Er war ein guter Mensch! Wieso sollte er eine Strafe verdienen?”

Grace schloss die Augen und spürte, wie schwer die Schuld wog, die sie auf sich geladen hatte. “Das bedeutet doch nichts weiter, als dass Jed ihn nicht leiden konnte.”

“Nein, es bedeutet mehr als das”, widersprach Madeline. “Und ich werde es beweisen.”

An diesem Abend begann es, ausgiebig zu regnen. Zum ersten Mal seit ihrem Einzug fühlte Grace sich in Evonnes Haus unwohl. Sie saß auf dem Sofa im Wohnzimmer und sah zu, wie das Wasser die Fensterscheiben herablief. Ihre Unterhaltung mit Madeline und Kirk hatte sie aus dem Gleichgewicht gebracht, das Unwetter tat sein Übriges dazu. Sie sah wieder die großen Pfützen vor sich, die sich gebildet hatten. Der Boden war aufgeweicht. Dicke Tropfen fielen aus dem Laub, und alles war nass und die Zeit viel zu knapp, um die Grube tief genug ausheben zu können.

Trotzdem hatte in den vergangenen fünfzehn Jahren niemand das Grab von Lee Barker entdeckt.

Sie schenkte sich noch etwas Wein ein. Was, wenn es Madeline gelang, die Polizei davon zu überzeugen, dass Jed ihren Vater auf dem Gewissen hatte? Würde er versuchen, seine Unschuld zu beweisen? Würde er alles erzählen, was er wusste? Und was wusste er eigentlich? Wie konnte sie ihrer Stiefschwester jemals wieder unter die Augen treten, wenn die Wahrheit ans Tageslicht kam?

Sie nippte an ihrem Chardonnay und erinnerte sich an ihre Begegnung mit Clay vor einer Woche. Sie hatte ihm erklärt, dass sie hergekommen war, um herauszufinden, ob sie den Schleier lüften sollte oder nicht. Aber das war eine Lüge. Ihr waren die Hände gebunden, und das wussten sie beide sehr gut. Sie hätte die Wahrheit schon vor vielen Jahren erzählen müssen. Jetzt war es zu spät dafür.

Aber warum war sie dann gekommen? Um sich für ihr jahrelanges Schweigen zu rechtfertigen. Um damit klarzukommen, dass sie für immer damit leben musste. Mehr nicht.

Sie versuchte die düstere Vorahnung, die sie ergriffen hatte, wieder abzuschütteln. Dann stellte sie das Glas ab und griff nach dem Handy, das neben ihr auf dem Sofa lag, und rief Clay an.

“Hallo?”

Die tiefe feste Stimme ihres Bruders erfüllte sie wieder mit Zuversicht. “Ich hasse diese regnerischen Abende”, sagte sie ohne Einleitung. “Hast du nicht das Gefühl, du musst dich mit deinem Gewehr auf die Veranda setzen und auf alles vorbereitet sein?”

Clay antwortete nicht gleich. “Mach dir keine Sorgen, Grace. Es passiert nichts. Nicht, solange ich da bin.”

Sie strich sich nervös über den Unterarm, auf dem sich eine Gänsehaut gebildet hatte. “Aber dieser Regen …”

“Ist doch bloß Regen.”

“Ist es nicht. Dieses Prasseln und der feuchte Geruch, der aus dem Garten hereinkommt … das führt mir alles wieder so lebendig vor Augen, als wäre es erst gestern gewesen.”

“Es war aber nicht erst gestern”, sagte er. “Es war vor sehr langer Zeit. Seitdem hat sich alles verändert.”

“Das ist doch Unsinn, Clay.” Sie zog die Sofadecke über ihre Beine, hatte aber trotzdem das Gefühl, die feuchte Kälte des Regens zu spüren. “Du hast dich überhaupt nicht verändert. Du passt immer noch auf diese verdammte Farm auf. Und ich bin zurückgekommen und stehe am gleichen Punkt wie früher. Madeline sucht immer noch nach ihrem Vater oder nach einer Erklärung für sein Verschwinden. Inzwischen ist sie der Überzeugung, dass Jed es gewesen ist.”

“Das denken auch andere.”

“Ja, aber sie hat sich fest vorgenommen, es zu beweisen.”

“Das wird sie nicht schaffen”, sagte er ohne Zögern.

“Aber sie wird es versuchen und eine Menge Staub aufwirbeln. Ich habe das schon öfter erlebt. Irgendjemand kann sich nicht damit abfinden, dass ein Kriminalfall abgeschlossen ist, und macht weiter, bis eine Tages …”

“Ohne Leiche sind alle Vermutungen und Verdächtigungen genauso wertlos wie schon vor achtzehn Jahren”, unterbrach er sie. “Die Polizei wird den Fall nicht wieder aufrollen, ohne neue Beweise zu haben. Du kennst dich mit solchen Sachen doch aus. Du bist doch Anwältin.”

Grace strich sich über die Stirn. Sie war inzwischen lange genug in diesem Bereich tätig, um zu wissen, dass es immer auch Ausnahmen von der Regel gab. “Deswegen habe ich mich von hier ferngehalten! Ich will nicht jedes Mal in Panik geraten, wenn es draußen stürmt! Ich will nicht Madelines Schmerz spüren und sie die ganze Zeit belügen!”

Das lange Schweigen am anderen Ende der Leitung signalisierte Grace, dass ihr Bruder die gleichen Probleme hatte. Aber dann sagte er: “Vergiss es, Grace, es ist vorbei. Ich lasse nicht zu, dass noch einmal etwas Schlimmes passiert.”

Es klopfte an der Haustür. Sie schaute überrascht auf die Uhr über dem Kamin. Es war kurz vor Mitternacht.

“Jemand hat geklopft”, sagte sie.

“So spät noch?”

“Vielleicht hat Madeline etwas vergessen.” Sie stand auf und schaute durch das Guckfenster an der Tür. “Ich muss jetzt auflegen.”

“Wer ist es denn?”

“Joe Vincelli.”

“Vincelli! Was will der denn von dir?”

“Ich weiß es nicht. Aber wenn ich dich in fünf Minuten nicht zurückgerufen habe, kommst du her, okay?”

“Soll ich nicht gleich mit ihm reden?”

Sie wollte ihren Bruder nicht hineinziehen. Es war wichtig, dass sie ihre eigenen Schlachten selbst schlug. Außerdem hatte er in der Vergangenheit genug für sie getan. “Lass mich erst mal herausfinden, was er will”, sagte sie und legte auf.

Sie zog die Tür auf, und der feuchte Wind fuhr ihr durchs Haar. Das Rauschen des Regens verstärkte sich. “Guten Abend. Was gibt’s denn?”

Joe musterte sie grinsend von oben bis unten. “Hab gesehen, dass bei dir noch Licht ist, und dachte mir, ich könnte ja mal vorbeischauen.”

“Warum?”, fragte sie sachlich. “Hast du dich verirrt?”

Er lachte leise vor sich hin und rieb sich verlegen übers Kinn. Jetzt, mit zunehmendem Alter, dank seines dichten Vollbarts, der eng liegenden Augen und seiner schief sitzenden Eckzähne hatte er etwas Wölfisches an sich. “Wollen wir nicht was zusammen trinken und auf die alten Zeiten anstoßen? Ich habe dich in der Pizzeria gesehen, hatte aber keine Gelegenheit, mit dir zu sprechen.”

“Das lag vielleicht daran, dass du vor deinen Freunden damit angeben musstest, dass du ‘es mir besorgt’ hast, als wir sechzehn waren.”

Er sah jetzt verlegen aus, als er sich im Nacken kratzte. “Ja, na ja, ich wollte damit ja nichts Abfälliges sagen.”

Grace umfasste den Türknauf fester. “Geh nach Hause. Ich will nichts mit dir zu tun haben.”

“Sei doch nicht so abweisend.” Er lehnte sich gegen einen der Pfeiler der Veranda und zündete sich eine Zigarette an. “Wir können es uns doch ruhig ein bisschen netter machen, hm?” Er blies den Rauch in ihre Richtung.

“Wir beide?”

Er zwinkerte ihr zu. “Wäre ja nicht das erste Mal.”

“Es gibt nur ein Problem dabei.”

“Und das wäre?”

“Ich würde dich nicht mal an mich ranlassen, wenn du der letzte Mann auf Erden wärst.”

Sein Grinsen verschwand. Er stieß sich ab und beugte sich zu ihr. “Hast dich wohl verändert, hm?”

“Scheint so.”

Wieder grinste er vor sich hin. “Aber so sehr nun auch wieder nicht.”

“Wahrscheinlich bist du überhaupt nicht in der Lage zu verstehen, wie sehr ich mich verändert habe.” Sie musterte ihn von oben bis unten und gab ihm damit deutlich zu verstehen, dass sie nicht sonderlich beeindruckt war von dem, was sie sah. “Im Gegensatz zu mir scheinst du ja überhaupt nicht erwachsen geworden zu sein.”

Er starrte sie verbissen an und zog an seiner Zigarette. “Du glaubst wohl, dass du jetzt zu gut für mich bist, nur weil du in Jackson als Staatsanwältin Karriere gemacht hast? Steckt das dahinter, willige Gracie?”

Der Rauch seiner Zigarette schwebte auf sie zu und brannte in ihrer Nase. “Mein Name ist Grace”, erklärte sie. “Und ich bin immer viel zu gut für dich gewesen, Joe. Ich wusste es damals nur noch nicht.”

“Leck mich am Arsch.” Er warf die Kippe weg und wandte sich zum Gehen. Dann aber drehte er sich noch mal um und sagte: “Was du damals bekommen hast, war genau das, was du wolltest. Du warst nichts weiter als ein billiges Flittchen.”

“Komm mir nie wieder zu nahe”, sagte sie und schloss energisch die Tür.

“Miststück!”, schrie er und warf einen Stein gegen das Haus.

Grace legte die Kette vor und lehnte sich neben der Haustür an die Wand und verschränkt die Arme. Geh weg …

“Vielleicht komme ich ja mal mit dem Bagger auf eure Farm und grabe alles um, bis ich was finde, das ihr dort verbuddelt habt”, schrie er. “Onkel Lee muss doch irgendwo abgeblieben sein, hab ich nicht recht, Grace? Ein Mensch löst sich doch nicht einfach in Luft auf! Jeder hier weiß, was aus ihm geworden ist, auch wenn ihr es nicht zugebt!”

Sie antwortete nicht. Sie wusste, dass viele Leute in der Stadt Joe für einen Helden hielten, weil er Kennedy aus dem Fluss gerettet hatte, als er beim Spielen beinahe ertrunken wäre. Aber ansonsten konnte sie nichts Positives an ihm entdecken.

“Wer von euch hat ihn auf dem Gewissen?”, rief er weiter. “Und wie fühlt man sich so dabei?”

Grace vergrub ihr Gesicht in den Händen.

“Sogar wenn du es nicht selbst getan hast, kannst du noch in den Knast dafür kommen. Als Staatsanwältin wirst du das ja wohl wissen.”

Oh mein Gott, dachte Grace, es wäre so leicht, die Wahrheit zutage zu fördern, wenn sie nur wüssten, wo sie nachschauen mussten.

“Es wird dir noch leidtun, dass du mich so behandelt hast”, rief er.

Kurz darauf heulte der Motor seines Lieferwagens auf. Sie schaute durchs Guckfenster und sah zu, wie er auf ihrem Rasen wendete und davonfuhr.

Es wird dir noch leidtun … dröhnte es in ihren Ohren.

Ach was, er kann dir überhaupt nichts anhaben, beruhigte sie sich. Clay würde das nicht zulassen.

Aber sie musste sich ja nicht nur wegen Joe Sorgen machen. Die Sache mit dem verschlossenen Aktenschrank von Jed war überaus beunruhigend.

Ihr Telefon klingelte.

“Alles in Ordnung?”, fragte ihr Bruder, als sie sich meldete.

Da war sie sich nicht so sicher. Am liebsten hätte sie ihre Sachen gepackt, wäre nach Jackson zurückgefahren und hätte sich in ihrer Arbeit vergraben. Eine Stimme sagte ihr jedoch, dass es dafür längst zu spät war. “Er … er hat mich sowieso nie gemocht.”

“Was wollte er denn von dir?”

“Er wollte mich wohl einfach daran erinnern, schätze ich.”

“Lass dich bloß nicht von ihm ins Bockshorn jagen, hast du verstanden, Grace?”

Während ihrer Schulzeit hatten Joe und seine Freunde genug Macht gehabt, um sie total zu verunsichern, aber das war vorbei. Sie war jetzt viel stärker. Das hatten die vergangenen dreizehn Jahre bewiesen.

“Was mich betrifft, kann dieser Joe Vincelli gern zur Hölle fahren”, sagte sie.

“Das ist die richtige Einstellung.”

Am nächsten Morgen schob sie ihre Kissen im Bett zurecht und griff nach dem Handy. Als Erstes rief sie ihre Mutter an. Sie hatte sich nach ihrer Ankunft zu spät bei ihr gemeldet und wollte diesen Fehler kein zweites Mal begehen. Sie war schließlich auch nach Stillwater gekommen, um die Beziehung zu ihrer Mutter zu retten, und nicht, um sie zu zerstören. “Hast du Lust, mit mir zu frühstücken?”

Als Irene zu sprechen begann, hörte Grace eine männliche Stimme im Hintergrund.

“Hast du gerade Besuch?”, fragte sie.

“Aber natürlich nicht, es ist doch erst acht Uhr morgens”, antwortete ihre Mutter hastig.

Na ja, dachte Grace, vielleicht ist es der Fernseher gewesen. Oder? “Wenn dir ein anderer Tag lieber ist, Mom, geht das auch in Ordnung.”

“Nein, nein, ich komme gern. Ich muss mich nur erst fertig machen. In einer Stunde bin ich bei dir.”

Nachdem du denjenigen verabschiedet hast, der über Nacht bei dir war … “Okay. Also bis dann.”

Kaum hatte ihre Mutter aufgelegt, wählte Grace die Nummer von Madeline. “Wer auch immer es ist, mit dem Mom sich regelmäßig trifft, er ist jetzt gerade bei ihr”, sagte sie, nachdem ihre Schwester sich gemeldet hatte.

“Hat sie es zugegeben?”

“Nein, aber ich habe jemanden im Hintergrund gehört.”

“Sie benimmt sich wirklich merkwürdig.”

“Ich verstehe gar nicht, was schlimm daran sein soll, wenn sie einen Freund hat. Glaubt sie, wir würden es ihr übel nehmen? Wir sind doch alle erwachsen. Wir werden kaum anfangen zu weinen. Bis auf Molly vielleicht, aber sie ist ja auch die Jüngste.”

“Vielleicht fürchtet sie ja, wir könnten mit ihm nicht einverstanden sein.”

“Aber wer sollte das ein?” Grace schob die Decke zum Fußende des Bettes.

“Ich habe nicht die geringste Ahnung.”

Irene war noch immer eine attraktive Frau. Wenn es nicht diese schreckliche Nacht vor achtzehn Jahren gegeben hätte und all das, was sie bewirkt hatte, hätte ihre Mutter bestimmt schon vor Jahren wieder geheiratet. “Ich denke, sie wird es uns wissen lassen, wenn es so weit ist.”

“Wahrscheinlich.”

Grace stand auf und ging zum Fenster. Heute Morgen trug sie ein Shirt mit Spaghettiträgern zu ihrem Slip, aber nach dem Erlebnis von gestern achtete sie darauf, nur am Rand des Fensters zu stehen, um hinunter in den Garten zu schauen.

Das Unkraut war verschwunden, die Beete in Ordnung gebracht, und alles sah wieder hübsch und gepflegt aus. Leider spürte sie die Gartenarbeit in ihren Muskeln. “Ich frage mich, ob Mom heute überhaupt zur Arbeit muss.”

“Hast du sie nicht gefragt?”

“Nein. Die Stimme im Hintergrund hat mich völlig verunsichert.”

Madeline lachte. “Sie geht bestimmt zur Arbeit. Mrs. Little ist total auf sie angewiesen. Ohne Mom läuft in der Boutique überhaupt nichts. Sie hat nur sonntags und montags frei, wenn der Laden geschlossen ist.”

“Vielleicht war es ja Mr. Little.”

“Mr. Little?”

“Vielleicht hat sie ja eine Affäre mit einem verheirateten Mann.”

“Das will ich doch nicht hoffen. Die Leute hier würden sie wahrscheinlich ans Kreuz nageln.”

“Sie hatten sie ja schon immer auf dem Kieker.”

“Eben deshalb sollte sie vorsichtig sein.”

“Wie meinst du das?”, fragte Grace.

“Weil du wieder da bist. Sie liegen auf der Lauer.”

Abgesehen davon, dass sie mit Evonnes Familie und dem Makler über das Haus gesprochen und die Pizzeria aufgesucht hatte, war Grace für sich geblieben. Wie konnte sie nur derart im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen? “Na und?”

“Du warst so lange fort. Alle wundern sich über deine Rückkehr. Sie haben mich über dich ausgefragt. Ich hab schon überlegt, ob ich einen Artikel über dich in die Zeitung setzen soll.”

“Das soll wohl ein Scherz sein.”

“Nein, gar nicht.”

“Das wäre doch Zeitverschwendung”, meinte Grace. “Warum sollte jemand an einem Artikel über mich interessiert sein?”

“Du siehst gut aus und bist gleichzeitig unnahbar. Diese Kombination macht die Leute nervös. Außerdem sollten sie ruhig erfahren, was du in den letzten dreizehn Jahren alles erreicht hast.”

So war Madeline, sie setzte sich für alle ein. “Das hast du doch schon getan. Mom hat mir den Artikel geschickt, den du letztes Jahr geschrieben hast.”

“Den habe ich geschrieben, weil du meine Schwester bist. Schließlich kommt es nicht sehr häufig vor, dass jemand aus Stillwater als Jahrgangsbeste den Abschluss in Georgetown macht, stellvertretende Staatsanwältin wird und darüber hinaus noch nie einen Fall verloren hat.”

“Na ja, ich bin ja auch erst seit fünf Jahren im Amt. Ich werde ganz bestimmt mal verlieren. Abgesehen davon weißt du ganz genau, was die ehrbaren Bürger von Stillwater von mir halten, Madeline.”

“Gerade deshalb will ich den Leuten zeigen, wie falsch sie dich eingeschätzt haben.”

Grace bezweifelte, dass ein Artikel viel bewirken würde. Alle konnten sich noch gut daran erinnern, wie sie sich als Teenager benommen hatte, damals, als sie gleichzeitig versucht hatte, sich zu retten und zu zerstören. “Bitte schreib keinen Artikel über mich.”

“Mal sehen, ob mir in dieser Woche die Neuigkeiten ausgehen. Was hast du heute Abend vor?”

“Nichts.” Endlich mal saß Grace nicht vor einem mit Aktenordnern vollgepackten Schreibtisch. Es konnte natürlich sein, dass gelegentlich jemand aus dem Büro anrief, aber sie hatte vor ihrer Abreise alle ihre Fälle abgeschlossen.

“Ich könnte nach der Arbeit bei dir vorbeikommen.”

“Wann machst du denn Schluss?”

“So gegen fünf – es sei denn, es kommt auf den letzten Drücker noch eine wichtige Nachricht rein. Aber das betrifft dann meistens Kühe, die eigenmächtig ihre Weide verlassen haben.” Sie lachte. “Das schaffe ich auch ohne Überstunden.”

“Soll ich uns was zu essen machen?”

“Du hast doch gestern schon gekocht. Vielleicht bringe ich einfach ein paar Pizzas mit?”

Grace musste an den Jungen denken, der ihr die nette Botschaft hinterlassen hatte. Er würde bestimmt heute wiederkommen, um seine Kekse abzuholen. Sie wollte ihm etwas mitgeben, falls sich herausstellte, dass seine Familie genauso arm war wie ihre eigene früher. “Nein, lass mal. Ich werde Lasagne machen.”

“Hmm … Ich liebe Lasagne!”

“Und was meinst du: Soll ich mal bei Mom vorbeifahren und nachschauen, ob vor ihrem Haus ein fremder Wagen parkt?”, fragte Grace.

“So unvorsichtig würde sie bestimmt nicht sein.”

“Bist du sicher?”

“Ja. Ich habe das nämlich schon selbst mehrmals versucht, aber es stand nie ein Wagen da.”

Grace ging vom Fenster weg. “Du bist doch die Reporterin! Du müsstest das doch herausfinden können.”

“Wahrscheinlich könnte ich das, aber … Ehrlich gesagt, ich schwanke hin und her. Einerseits will ich ihre Privatsphäre respektieren, andererseits meine Neugier befriedigen. Und darüber hinaus weiß ich nicht genau, ob ich es überhaupt wissen will.”

“Manchmal ist es besser, die Wahrheit nicht zu kennen”, stimmte Grace zu und wünschte dabei, Madeline würde das auch im Fall ihres verschwundenen Vaters so sehen.

“Da hast du recht. Wir können ja heute Abend weiter darüber sprechen.”

“Also dann bis später.”

“Grace?”

“Was denn?”

“Hast du nicht Lust, mit mir heute am späten Abend zur Autowerkstatt zu fahren und dort ein bisschen herumzuspionieren?”

Grace hielt inne. “Am späten Abend? Etwa erst, nachdem Jed geschlossen hat?”

“Genau das.”

“Du willst doch nicht etwa einbrechen?”

“Ich will bloß wissen, was in diesem Aktenschrank versteckt ist.”

Mitten in der Nacht?”

“Wann sollen wir denn sonst an das Ding rankommen? Wenn er unschuldig ist, ist es ja nicht weiter schlimm, wenn wir einen Blick hineinwerfen.”

“Außer, dass es sich um Einbruch handelt! Wenn man uns dabei erwischt, landen wir im Gefängnis. Und ich würde meinen Job verlieren. Dann hättest du wirklich eine tolle Geschichte für deine Zeitung.”

“Wir werden schon nicht erwischt”, sagte Madeline. “Du weißt doch, dass die Polizisten ihre Abende im Coffeeshop verbringen. Außerdem habe ich ein Gerät im Wagen, mit dem ich den Polizeifunk abhören kann. Wir können ja warten, bis sie mit etwas anderem beschäftigt sind, bevor wir reingehen.”

“Maddy …”

“Denk einfach darüber nach, okay? Ich will es jedenfalls nicht alleine tun.”

Grace stellte den Ventilator aus, weil sein Geräusch sie nervös machte. “Und was ist mit Kirk?”

“Gestern Abend hätte er bestimmt mitgemacht, aber da war ich noch nicht so weit. Und jetzt ist es zu spät. Er hatte eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter, seine Mutter hatte einen Schlaganfall. Sie war ja keine besonders gute Mutter, aber er fliegt trotzdem hin. Sie liegt in einem Krankenhaus in Minnesota.”

Grace hielt sich an der Klinke der Badezimmertür fest, als sie strauchelte. “Also bleiben nur wir beide?”

“Es ist bestimmt überhaupt nicht schwer! Ich will unbedingt wissen, was in diesem Aktenschrank ist, bevor er es wegschafft.”

Grace kaute nervös auf ihrer Unterlippe. “Aber er hat doch mitbekommen, dass Matt herumgeschnüffelt hat. Wahrscheinlich ist es sowieso schon längst nicht mehr da.”

“Aber das ist doch erst zwei Tage her, und das Ding ist immer noch abgeschlossen!”

“Ich verstehe nicht, was uns das bringen sollte, Maddy.”

“Soll das ein Witz sein?”, fragte Madeline ungläubig. “Wir könnten die Wahrheit herausfinden! Willst du denn nicht wissen, was mit Dad passiert ist? Willst du nicht endlich Gewissheit haben?”

Wie schön wäre es, wirklich nichts darüber zu wissen! “Ja, sicher, aber …”

“Vielleicht finden wir auf diese Weise ja endlich eine Spur.”

“Vielleicht aber auch nicht.”

“Wenn wir dort nichts finden, sind wir trotzdem einen Schritt weiter.”

“Wie denn das?”

“Du weißt doch, was Lorna Martin gesagt hat. Am Abend, als Dad verschwunden ist, hat sie Jed noch spät in seiner Werkstatt gesehen, so spät wie sonst nie. Was sagt uns das?”

“Dass Lorna eine neugierige Nachbarin ist?”, sagte Grace, um sich einen Augenblick Luft zu verschaffen.

“Unsinn. Es sagt uns, dass er an diesem Abend etwas Außergewöhnliches gemacht hat.”

Grace stellte sich vor, wie sie in Jeds Büro herumstöberte, und verzog das Gesicht. Das war einfach nicht in Ordnung. Sie wollte seine Privatsphäre nicht verletzen. Außerdem war er schon alt. Wer weiß, was er tun würde, wenn er sie dabei ertappte. “Madeline …”

“Bitte, Grace, du musst mitmachen. Mir zuliebe. Ich muss wissen, was in diesem Aktenschrank ist. Und wenn dabei nur herauskommt, dass es mit uns überhaupt nichts zu tun hat.”

Grace spürte, dass ihre Stiefschwester den Tränen nahe war. Sie überlegte fieberhaft, was sie sagen sollte. “Wenn wir nichts finden, lässt du Jed dann endlich in Ruhe?”, fragte sie.

Es gab eine längere Pause, dann antwortete Madeline: “Ja. Wenn ich kann.”

Das war nicht gerade ein eindeutiges Versprechen. Grace wollte immer noch ablehnen. Aber sie musste auch zeigen, dass sie ihre Schwester unterstützte, sonst würde sie womöglich Verdacht schöpfen. “Na gut, das ist jetzt aber noch keine endgültige Zusage. Ich denke darüber nach”, sagte sie und unterbrach die Verbindung.

Sie legte den Apparat auf das Regal im Badezimmer und strich sich nervös durch die langen dunklen Haare. Warum hatte dieser dämliche Matt Howton bloß nicht den Mund gehalten?

Einbruch war ein ernstes Vergehen. Aber Grace fürchtete weniger, bei einem Verbrechen ertappt zu werden, als dass Madeline die Wahrheit herausfinden könnte.

5. KAPITEL

Nach ihrem Gespräch mit Madeline hatte Grace ein ungutes Gefühl. Als ihre Mutter eingetroffen war, bereitete sie weiter das Frühstück vor, aber sie fühlte sich, als würde der Boden unter ihren Füßen nachgeben und sie in ein so tiefes Loch ziehen, dass sie nie wieder herauskam.

Ihr war von Anfang an klar, dass eine Rückkehr nach Stillwater ihr ganzes Leben durcheinanderbringen würde, und nun machte ihr diese Aussicht Angst. Dennoch konnte sie nicht einfach wieder wegfahren. Dazu war es noch zu früh. Dreizehn Jahre lang hatte sie so getan, als sei sie ein anderer Mensch, jemand ohne quälende Vergangenheit. Aber so konnte sie nicht mehr weitermachen, und das wusste sie genau. Sie wollte endlich in der Lage sein, sich selbst zu vergeben, sich weiterzuentwickeln.

Leider war ihr nicht klar, wie sie das schaffen sollte und ob es überhaupt möglich war. Dennoch war sie sich ziemlich sicher, dass ein Einbruch in Jeds Autowerkstatt nicht die richtige Methode war, ihre Probleme zu lösen.

“Warum bist du denn so still heute Morgen?”, fragte ihre Mutter, als sie sich Sirup über die Pfannkuchen träufelte, die Grace gebacken hatte.

Grace stellte eine Karaffe mit Orangensaft auf den Tisch. Ihr fiel auf, wie erstaunlich einsilbig ihre Mutter war. Sie war recht spät gekommen und wirkte nervös.

“Ich denke nach”, sagte Grace.

“Worüber denn?”

Grace ging zum Küchentresen zurück und legte sich ein paar Scheiben Schinkenspeck auf den Teller, bevor sie am Tisch gegenüber von Irene Platz nahm. “Über Madeline.”

“Wieso denn? Mit ihrer Zeitung hat sie es doch gut getroffen.”

Offensichtlich hatte sie heute Morgen keine Lust, sich über allzu schwere Themen zu unterhalten. Das war typisch für sie. Wenn wirklich große Probleme auftauchten, versuchte sie immer, sie zu ignorieren.

Grace wünschte, sie könnte weiterhin so tun, als wäre die Fassade, die ihre Mutter unbedingt aufrechterhalten wollte, echt. Aber das konnte sie nicht. Deshalb arbeitete sie unermüdlich daran, die Hilflosen zu beschützen und die Schuldigen zu bestrafen. Deshalb war sie nach Stillwater zurückgekommen. “Sie glaubt, sie weiß, wer ihren Vater umgebracht hat”, sagte sie.

Irene verzog das Gesicht. “Mike Metzger ist wirklich ein übler Bursche, nicht wahr?”

Das stimmte schon, Mike war ein schrecklicher Kerl, aber er hatte Lee Barker nicht auf dem Gewissen, und das wusste Irene sehr gut.

“Sie hat ein paar tolle Artikel über dich geschrieben”, sagte Irene. “Sie ist sehr stolz auf dich.”

Grace wusste, dass auch Madeline von ihren sexuellen Eskapaden gehört hatte und das Thema ignorierte. Vielleicht weigerte sie sich auch einfach, es zu glauben, genauso wie sie sich weigerte, die Gerüchte über ihre Familie und deren Schuld zur Kenntnis zu nehmen.

“Sie hat immer zu uns gehalten”, stellte Grace fest.

Ihre Mutter nahm einen Schluck Orangensaft. “Sie ist zwar nicht meine leibliche Tochter, aber ich habe sie immer als eine von uns betrachtet. Und auch sie fühlt sich mit uns sehr verbunden.”

Grace starrte ihre Mutter an. Sie wusste, dass sie es nicht sagen sollte, aber sie konnte sich einfach nicht beherrschen. Es machte sie einfach verrückt, dass Irene sich so wenig verantwortlich fühlte für das, was damals geschehen war. “Aber was ist, wenn sie herausfindet, was wirklich passiert ist?”

Irene sah sie gequält an. “Sie wird es nicht herausfinden.”

Wieder schob sie das Problem von sich fort.

“Sie ist drauf und dran.”

Irene schwieg.

“Wir sollten die Leiche verschwinden lassen”, brach es aus Grace hervor.

Irene schaute sie erstaunt an. Auch Grace konnte kaum glauben, was sie da eben gesagt hatte. Wenn sie übereilt handelten, könnte das alles nur noch schlimmer machen. Aber was konnten sie denn sonst tun? Alles einfach geschehen lassen? Zusehen, wie die Menschen, die sie liebte, in den Abgrund gezogen wurden? Wegen einer Tat, die sie nicht zu verantworten hatten?

Ihre Mutter wurde blass. “Grace, ich bitte dich, ich möchte nicht darüber sprechen.”

Grace senkte die Stimme. Jetzt, nachdem sie den Gedanken, der ihr die ganze Zeit im Kopf herumgespukt war, ausgesprochen hatte, wuchs in ihr die Überzeugung, dass sie genau das wirklich tun sollten. “Ich verstehe ja, dass das schwierig für dich ist, und ich will dich auch nicht beunruhigen. Aber ich bin der Meinung, dass wir die Leiche woandershin bringen sollten.”

“Hör auf damit!”, stieß Irene hervor und schaute sich dabei um, als fürchtete sie, belauscht zu werden. “Wir werden nichts dergleichen tun.”

“Gestern Abend war Joe Vincelli hier und hat gedroht, mit einem Bagger zur Farm zu fahren.”

“Warum sollte er so was tun? Es ist doch achtzehn Jahre her.”

“Weil er glaubt, wir hätten etwas zu verbergen.”

“Aber Lee ist schon so lange verschwunden. Gut, seine Familie redet nicht mit mir, sie grüßen mich nicht mal auf der Straße. Aber Joe Vincelli hat uns doch nie irgendwelche Scherereien gemacht. Warum sollte er jetzt damit anfangen?”

Grace ließ ihre Finger ganz langsam über das beschlagene Saftglas gleiten. “Weil er nicht mehr dreizehn ist. Und weil er rachsüchtig ist.”

Irene strich einige nicht vorhandene Falten auf ihrer Bluse glatt. “Die Polizei hat die Farm doch abgesucht und nichts gefunden. Joe wird auch keinen Erfolg haben.”

“Aber er ist ja nicht der Einzige, der in der Vergangenheit herumstochert. Auch Madeline will unbedingt die Wahrheit herausfinden. Und wenn sie ihre Verdächtigungen erst mal in der Zeitung abdruckt, kommt eine Lawine ins Rollen, die wir nicht mehr aufhalten können. Die Leute hier reden ja schon darüber, wer damals was wann gesehen hat. In einer größeren Stadt würde so ein Skandal mit der Zeit in Vergessenheit geraten, aber nicht in Stillwater. Nicht solange Joe und seine Angehörigen glauben, wir hätten uns des Mordes schuldig gemacht. Und wenn jetzt auch noch Madeline anfängt, Öl ins Feuer zu gießen, wird es erst recht unangenehm.”

“Es ist doch ganz normal, dass sie es herausfinden will.”

Grace packte ihre Mutter am Arm. “Mom, die Haie schwimmen schon seit Jahren um uns herum. Sie warten nur auf eine Gelegenheit, uns anzugreifen. Wir müssen die Leiche wegschaffen, solange es noch möglich ist. Sie irgendwo weit weg im Wald vergraben.”

Ihre Mutter hob das Saftglas, aber ihre Hände zitterten so sehr, dass sie nicht trinken konnte. Sie stellte es wieder ab und schüttelte heftig den Kopf. “Nein, nein! Das halte ich nicht aus.”

“Aber wir müssen etwas tun”, beharrte Grace. “Clay kann doch nicht für immer und ewig auf der Farm bleiben! Er hat es verdient, frei zu sein, zu heiraten, sein Leben zu leben. Wenn wir die Überreste los sind, gibt es nichts mehr, was uns mit dem Verschwinden des Reverends in Verbindung bringt. Aber sollte jemand die Leiche dort finden, wo sie jetzt ist …”

“Dann sei Gott uns gnädig”, flüsterte Irene.

“Amen.”

Ihre Mutter rang die Hände. “Aber es ist doch schon so lange her …” Sie starrte auf ihren Teller. Vor ihrem inneren Auge schienen sich Szenen abzuspielen, die sie lieber nicht beschwören wollte. Sie schüttelte heftig den Kopf. “Nein, wir dürfen nichts tun. Wenn wir etwas verändern an diesem … diesem Ort, machen wir bestimmt einen Fehler, übersehen ein Detail, hinterlassen Spuren – und dann wird Lee am Ende doch noch gewinnen. Und er wird uns alle in den Abgrund reißen, mich, dich und sogar Madeline.”

Irene wurde immer unruhiger.

Plötzlich wurde Grace bewusst, wie zerbrechlich ihre Mutter geworden war, und ließ ihren Arm los. Sie atmete tief durch und schob das Essen auf ihrem Teller hin und her, bis es schließlich kalt geworden war. Irene war nicht mehr so souverän wie früher. Sie würde sich nicht mehr auf sie verlassen können – nicht, wenn Entscheidungen verlangt wurden, die sie in der Vergangenheit mit Clays Hilfe getroffen hatte. Möglicherweise hatte Clay sich ja schon darauf eingestellt. Vielleicht war das der Grund, weshalb er sie so sorgsam behütete.

“Es tut mir leid”, sagte Grace. “Mach dir keine Sorgen, okay? Ich war im Unrecht. Es bleibt alles, wie es ist.”

Irene schaute sich nervös in der Küche um. “Glaubst du wirklich?”

“Ich weiß es.” Grace strich ihr über den Arm. “Ich hab mich nur von Joe nervös machen lassen und überreagiert, das ist alles.”

“Bist du sicher?”

Grace tat so, als wäre sie ganz ruhig, aber das Gegenteil war der Fall. “Ganz bestimmt.”

Ihre Mutter nickte. “Gut. Ich bin froh, dass du das sagst. Ich … Es hat sich doch alles ganz gut entwickelt. Es wäre doch nicht gerecht, wenn wir jetzt …”

“Ich weiß.” Grace griff nach dem Teller ihrer Mutter. “Bist du fertig?”

“Ja.”

“Dann räume ich jetzt ab.”

Sie stand auf und trug das Geschirr zum Waschbecken. Gleichzeitig grübelte sie, wie sie sich verhalten sollte, jetzt, wo ihre Mutter nicht mehr mit der Vergangenheit zurechtkam. “Wie gefällt dir eigentlich deine Arbeit in der Boutique?”, fragte sie, um irgendwie das Thema zu wechseln.

“Ich bekomme dort zwanzig Prozent Preisnachlass”, sagte Irene, die offenbar froh war, über etwas anderes sprechen zu können.

“Du hast einen guten Geschmack. Du siehst immer richtig toll aus”, sagte Grace und lächelte ihr zu. “Ich begleite dich noch zu deinem Wagen. Ich möchte nicht, dass du zu spät kommst”, fügte sie hinzu. Und in diesem Augenblick wurde ihr klar, wie ungeheuer wichtig es war, dass sie nach Stillwater zurückgekommen war. Sie brauchte ihre Familie, aber viel entscheidender war, dass ihre Familie sie jetzt brauchte.

Teddy Archer stand vor der Tür von Evonnes Haus und überlegte, ob er anklopfen sollte oder nicht. Sein Vater hatte ihn schon vor einer Weile bei seiner Großmutter abgesetzt, aber er wusste, dass es noch viel zu früh war, um jemanden zu besuchen. Er hatte sich gezwungen, so lange wie möglich zu warten, und hoffte, dass es nun allmählich genug war. Aber als er die Veranda erreichte, bemerkte er einige Plakate, die für die Bürgermeister-Kandidatin Vicki Nibley warben. Seine neue Freundin gehörte offenbar zum “Lager des Feindes”, wie seine Oma zu sagen pflegte.

Seine Großmutter verabscheute alle, die Mrs. Nibley unterstützten, und behauptete, sie und ihre politischen Freunde würden die Stadt ruinieren. Teddy fand allerdings, dass Grace nicht unbedingt unsympathisch war. Sie hatte ihm einen Dollar gegeben, weil er für sie Unkraut gezupft hatte, und außerdem musste er ja auch noch seine Kekse einkassieren.

Er entschied, trotz allem anzuklopfen, und rückte seine Baseballmütze zurecht, während er darauf wartete, dass die Tür geöffnet wurde.

Kaum stand sie vor ihm, fühlte er sich gleich besser. Sie schien ehrlich erfreut, ihn zu sehen, und sagte lächelnd: “Hallo.”

Er steckte die Hände in die Hosentaschen und drehte sich um. Im Vorgarten waren tiefe Reifenspuren zu sehen. “Da ist ja jemand über den Rasen gefahren”, stellte er fest.

Sie folgte seinem Blick und sagte: “Ja, ich weiß.”

“Wer war das denn?”

Sie zuckte mit den Schultern. “Ein Mann namens Joe.”

“Joe Vincelli?”

“Genau der. Kennst du ihn?”

“Ja. Er ist witzig.”

“Vielleicht finden einige Leute ihn ja witzig, ich aber nicht.”

Es war auch nicht so, dass alle Leute Joe gut leiden konnten. Teddy hatte mal gehört, wie seine Großmutter gesagt hatte, Joes Eltern täten ihr leid, denn Joe sei “nicht gerade ein Musterknabe”. Aber er hatte nicht verstanden, was sie damit meinte. Trotzdem wusste er, dass es eine Aussage war, die man nicht unbedingt wiederholen sollte, also sagte er jetzt lieber nichts dazu. Stattdessen deutete er auf die Plakate: “Wollen Sie Mrs. Nibley ihre Stimme geben?”

“Ja.”

“Warum?”, fragte er und spähte misstrauisch zu ihr hoch.

“Na ja, ich bin nicht gerade ein großer Fan von Kennedy Archer.”

“Oh.” Sie mochte seinen Vater nicht? Was konnte das denn bedeuten?

“Und was ist mit dir?”, fragte sie. “Wenn du alt genug wärst, wen würdest du wählen?”

“Bestimmt nicht Vicki Nibley”, gab er zu.

“Also bist du ein Archer-Anhänger?”

Er nickte.

“Kennst du ihn denn?”

Er nickte wieder. Vielleicht wäre es besser, ihr jetzt zu erzählen, dass Kennedy Archer sein Vater war, aber er fürchtete, dass sie ihn dann auch nicht mehr mögen würde. “Er ist nett”, sagte er stattdessen, in der Hoffnung sich damit Luft zu verschaffen.

“Na ja, wenn du meinst”, erwiderte sie. Sie lächelte immer noch, aber es klang wenig überzeugt. “Und? Bist du bereit für deine Kekse?”

Wie gut, dass sie daran gedacht hatte. Er grinste sie an. “Na klar.”

“Prima. Ich hab gestern Abend nämlich einen ganzen Berg davon gebacken. Wie wär’s, wenn ich bei deiner Mutter anrufe? Wenn sie erlaubt, dass du reinkommst, kann ich dir ein paar Kekse und ein Glas Milch anbieten.”

Teddy linste an ihr vorbei ins Haus. Er roch das leckere Aroma der Kekse und erinnerte sich daran, wie es war, als seine Mutter welche gebacken hatte. Am liebsten wäre er sofort hineingelaufen.

Aber sein Vater hatte ihm ja verboten, dieses Haus zu betreten. Teddy starrte zu Boden und trat von einem Fuß auf den anderen. “Äh, also … meine Mutter ist nicht zu Hause.”

“Wer passt denn auf dich auf?”

“Meine Oma”, sagte er. “Sie weiß, dass ich hier bin.”

“Bist du sicher?”

Er nickte, machte aber noch immer keine Anstalten, hereinzukommen.

“Wir könnten natürlich auch ganz einfach eine Decke da drüben unter den Bäumen ausbreiten und die Kekse im Garten essen”, schlug sie vor.

Obwohl sie seinen Vater nicht leiden konnte, schien sie doch sehr nett zu sein. Und im Garten Kekse zu essen, konnte eigentlich nichts Schlimmes sein. Dann wäre er immer noch außerhalb des Hauses. “Das wäre toll”, sagte er erleichtert. “Und wenn wir sie aufgegessen haben, kann ich einen neuen Auftrag übernehmen. Falls es was zu tun gibt.”

Ihr Lächeln fiel auf ihn wie der allerschönste Sonnenschein.

“Ich war gerade dabei, den Geräteschuppen aufzuschließen und den Keller zu inspizieren. Das ist immer ein Abenteuer.”

“Wieso?”, fragte er.

“Warst du denn schon mal im Keller?”

“Einmal, mit Evonne.”

“Fandest du es nicht gruselig mit all den Spinnweben?”

“Ich hab doch keine Angst vor Spinnen.” Er richtete sich kerzengerade auf, um größer zu wirken. Sie sollte ihm ruhig glauben, auch wenn es da unten tatsächlich ein bisschen unheimlich war. “Aber warum wollen Sie denn unbedingt in den Keller gehen?”

“Um nachzusehen, was von den eingemachten Pfirsichen und Tomaten übrig ist. Ich will Evonnes Laden wiedereröffnen.”

“Den Verkaufsstand?” Er war völlig gebannt von dieser Idee. Als er im letzten Sommer zu seiner Großmutter gekommen war, hatte Evonne ihn oft eingeladen. Bei ihr hatte es ihm immer gefallen, und er war glücklich, wenn er mithelfen durfte. “Ich kann ziemlich gut rechnen”, sagte er.

“Glaub ich dir”, sagte sie lachend. “Und ich bin wirklich froh, dass ich auf dich zählen kann.” Sie zog die Tür ein Stückchen weiter auf. “Willst du mir helfen, die Sachen nach draußen zu tragen? Und wenn wir unser kleines Picknick beendet haben, fangen wir mit der Arbeit an.”

Teddy zögerte nur eine Sekunde lang. Er würde nicht lange drinnen bleiben, also war es nicht ganz so, als gehorchte er seinem Vater nicht. Außerdem würde der von ihm erwarten, dass er half. Es war immer richtig zu helfen. Sogar Großmutter war dieser Ansicht.

“Okay.” Er folgte ihr ins Haus, und schon einen Moment später spürte er, wie die vertraute Umgebung ihn freundlich aufnahm.

Kennedy stand in seinem Büro in der Bank und blickte auf das große Gemälde von Raymond Milton, das an der Wand hing. Kennedys Vater Otis Archer hatte seine Kindheit in einer Nachbargemeinde von Stillwater verbracht, in einem schäbigen Farmhaus, zusammen mit seiner verwitweten Mutter und zehn Geschwistern. Er hatte keinen Highschool-Abschluss machen können, weil er an einer benachbarten Tankstelle hatte arbeiten müssen oder sich um den Hof kümmern. Es war ohnehin kein Geld da, um ihn auf die Universität zu schicken. Trotzdem war es ihm gelungen, Raymond Milton, einen erfolgreichen Fuhrunternehmer, davon zu überzeugen, dass etwas Besonderes in ihm steckte. Milton lieh ihm ein wenig Geld, und Otis Archer gründete im Alter von gerade mal fünfundzwanzig Jahren die Stillwater Kreditbank.

Mit dreißig hatte er bereits sein erste Million verdient und heiratete Miltons jüngste Tochter Camille. Mit vierzig wurde er Bürgermeister und erbte eine weitere Million von seinem verstorbenen Schwiegervater. Im gleichen Jahr wurde Kennedy geboren.

Otis Archer hatte ganz unten angefangen und sich zum wichtigsten Mann von Stillwater emporgearbeitet. Das war ein großes Vermächtnis.

Kennedy meldete sich nicht, als seine Sekretärin anklingelte. Nach dem Anruf vom Polizeichef, den er gerade erhalten hatte, war klar, dass es nur Joe sein konnte. Er wollte jetzt nicht mit ihm reden, und er musste gleich zu einem Auswärtstermin aufbrechen. Aber irgendetwas fesselte ihn am Porträt seines Großvaters. Obwohl die Stadt nicht so mondän und weltoffen war wie so viele andere, liebte Kennedy Stillwater. Er war überzeugt davon, dass er ein guter Bürgermeister sein würde. Im Grunde war ihm dieser Posten schon in die Wiege gelegt worden, und er fühlte sich wohl mit dem Weg, der vor ihm lag. Und doch brachte ihn der Gedanke, dass er womöglich bald schon ein Bild seines Vaters neben das des Großvaters aufhängen musste, aus dem Gleichgewicht. Ein weiterer Verlust nach dem Tod von Raelynn wäre einfach zu viel für ihn.

“Ich hab ihr gesagt, dass dein Wagen noch auf dem Parkplatz steht.”

Kennedy drehte sich um, als Joe Vincelli sein Büro betrat. “Was für eine Überraschung.”

Joe reagierte nicht auf den sarkastischen Unterton in Kennedys Stimme. “Warum hast du nicht reagiert, als Lilly durchgeklingelt hat?”

“Ich hatte zu tun.”

Joe hob zweifelnd die Augenbrauen; das war selbst für seine Verhältnisse eine flaue Entschuldigung. Doch weder Joe noch sonst jemand ahnte, dass Otis Archer an Krebs litt, und es sollte auch niemand erfahren. Die Bank würde wahrscheinlich in eine schwere Krise geraten, wenn bekannt wurde, dass ihr Vorsitzender unter Umständen an Weihnachten nicht mehr am Leben war. Außerdem fürchtete Kennedy sich vor all den Mitleidsbekundungen.

Ob sie den Zustand von Kennedys Vater noch geheim halten konnten, wenn er sich im kommenden Monat einer Chemotherapie unterzog, wussten sie nicht. Aber zum Wohle der Bank und ihrer Angestellten – und um die Privatsphäre der Betroffenen zu schützen, worauf Kennedys Mutter großen Wert legte – gaben sie sich alle Mühe.

“Was gibt’s denn?”, fragte er, obwohl er sowieso schon wusste, was Joe ihm gleich mitteilen würde.

“Ich will, dass McCormick den Fall meines verschwundenen Onkels wieder aufrollt.”

Kennedy sah Joe verwundert an. Warum, fragte er sich, wollte er, dass man sich wieder mit diesem alten Fall befasste? Nun gut, Lee Barker war ein Verwandter der Vincellis, aber Joe war erst dreizehn, als der Reverend verschwunden war, und er hatte bis heute kein besonderes Interesse an der Aufklärung dieses Falls an den Tag gelegt. “Chief McCormick hat mich vor ein paar Minuten angerufen.”

“Er kann den Fall nicht erneut bearbeiten, wenn es keine neuen Erkenntnisse gibt”, sagte Joe. “Aber ich weiß, dass du ihn dazu bringen kannst.”

“Warum sollte der Fall denn wieder aufgerollt werden?”, fragte Kennedy.

“Vielleicht finden wir ja diesmal etwas heraus.”

“Vielleicht aber auch nicht.”

“Ach komm schon, Kennedy, wir wissen doch alle, dass Clay oder Irene oder beide zusammen den Reverend auf dem Gewissen haben. Es wird Zeit, dass wir es endlich beweisen. Und überleg mal, was es für deinen Wahlkampf bedeutet, wenn wir Erfolg haben! Vicki Nibley würde keinen Fuß mehr auf den Boden bekommen, wenn du herausfindest, was damals auf der Farm passiert ist.”

Kennedy ging zu seinem Schreibtisch und lehnte sich dagegen. Als sie zwölf gewesen waren, hatte Joes Vater sie zum Campen mitgenommen. Kennedy war auf einem glitschigen Stein ausgerutscht und in den Fluss gefallen. Es war sehr früh am Morgen, Joes Vater hatte noch geschlafen. Wäre Joe nicht ins Wasser gesprungen, um ihm zu helfen, wäre Kennedy in der reißenden Strömung zweifellos ertrunken. Joe wäre bei der Rettungsaktion beinahe selbst umgekommen.

Es war klar, dass Kennedy Joe eine Menge verdankte, aber von ihm zu verlangen, dass er Druck auf den Polizeichef ausübte, war nicht in Ordnung. “Ehrlich gesagt, mache ich mir keine Sorgen um die Wahl”, sagte Kennedy. “Falls ich verliere, werde ich ja nicht direkt arbeitslos. Hier in der Bank gibt es eine Menge zu tun.”

“Was redest du denn da? Du träumst doch seit Jahren davon, eines Tages in die Fußstapfen deines Vaters zu treten.”

“Trotzdem wird es mich nicht aus der Bahn werfen, wenn ich dieses Amt nicht bekleiden darf.”

“Interessiert dich denn gar nicht, was mit meinem Onkel passiert ist?”

Natürlich hätte Kennedy das gern gewusst. Alle fragten sich schließlich, was aus dem Reverend geworden war. Einige behaupteten, sie hätten gesehen, wie Lee Barkers Auto am fraglichen Abend zu seiner Farm gefahren war, andere hatten den Reverend auf der entgegengesetzten Seite der Stadt gesehen. Chief McCormick hatte Kennedy vor wenigen Minuten sogar berichtet, eine Frau habe Lee Barker erst vor wenigen Monaten in einem Einkaufszentrum in Jackson erkannt. Die meisten aber gingen davon aus, dass Clay oder Irene am Verschwinden des Seelsorgers schuld waren. Einige glaubten, dass Grace ihren Stiefvater umgebracht hatte, obwohl sie damals ja noch ein junges Mädchen gewesen war. Nur Madeline, die am fraglichen Abend nicht zu Hause gewesen war, wurde nicht beschuldigt.

Kennedy hatte seine eigene Theorie, aber wie alle anderen konnte auch er keine Beweise vorlegen. Inzwischen fand er allerdings, dass die Gerüchte überhand nahmen. Darüber hinaus interessierte er sich viel mehr für die neue Grace als für das Schicksal des Reverends. Hinter ihrem strengen und gefestigten Äußeren glaubte er eine verletzliche und verwundbare Frau mit einer geradezu tragischen Ausstrahlung entdeckt zu haben. Außerdem war er fasziniert von ihrer Schönheit, die in auffälligem Kontrast zu ihrer düsteren Vergangenheit stand.

Er hatte in der letzten Nacht lange wach gelegen und darüber nachgedacht, was sie alles erreicht hatte, nachdem sie Stillwater den Rücken gekehrt hatte – und auch darüber, was er frühmorgens an ihrem Fenster gesehen hatte.

“Natürlich interessiert mich das”, antwortete er. “Aber nicht so sehr, dass ich die Montgomerys anschwärze, bevor ich neue Beweise in der Hand habe.”

Joe streckte seine langen Beine aus. “Dann tu es für mich.”

Kennedy hatte befürchtet, dass es darauf hinauslaufen würde. Obwohl Joe die Rettungsaktion am Fluss noch nie als Druckmittel verwendet hatte – was Kennedy ihm hoch anrechnete –, war klar, dass er tief in der Schuld seines Lebensretters stand. Niemandem war er so verpflichtet wie Joe.

Aber der Gedanke daran, was das für Grace bedeuten würde, ließ ihn innehalten. “Das geht nicht. Ich bin nicht befugt, so etwas zu verlangen.”

Joe verzog das Gesicht. “Ach komm, deinem Vater gehört diese Stadt doch praktisch. Und jetzt will er sie dir übergeben. Sprich mit McCormick und bring ihn dazu, etwas zu unternehmen.”

Joe konnte ein netter Kerl sein. Er war ein toller Zechkumpan und jemand, der seinen Freunden gern unter die Arme griff, wenn Not am Mann war. Aber er hatte auch seine dunklen Seiten. Er war bereits zweimal von derselben Frau geschieden, und wenn seine Eltern ihm nicht eine Stelle im familieneigenen Straßenbauunternehmen gegeben hätten, wäre er wahrscheinlich arbeitslos. Offiziell war er Leiter der Firma, tatsächlich aber die meiste Zeit unterwegs, traf sich mit Freunden, saß in Kneipen herum, baggerte Frauen an oder versuchte, Kennedy dazu zu überreden, ihm Geld zu leihen.

“Aber warum?”, fragte Kennedy.

“Weil ein Verbrechen verübt wurde.”

“Aber das wissen wir doch gar nicht.” Kennedy hatte ohnehin den Eindruck, dass Grace schon genug für diese Nacht bezahlt hatte, ob sie schuldig war oder nicht. Und auch wenn er Joes Ansichten über die Familie Montgomery im Großen und Ganzen teilte, zögerte er.

“Wir sollten es herausfinden”, drängte Joe. “Wenn du dich darum kümmerst, kann ich mit einem Bagger auf die Farm fahren und alles umgraben. Falls dort eine Leiche liegt, werde ich sie finden.”

“Die Polizei hat die Farm doch durchsucht. Sie haben nichts gefunden.”

“Ach komm! Das war zu Zeiten des alten Jenkins. Dass der nichts gefunden hat, wundert mich nicht, so schusselig wie er war.”

“Trotzdem müsste McCormick einen neuen Durchsuchungsbefehl bekommen. Das dürfte nicht einfach sein, nachdem die Polizei schon mal zum Zug gekommen ist. Es mag dich erstaunen, aber kein Richter gibt leichtfertig die Erlaubnis, die Privatsphäre anderer Leute zu durchsuchen”, erklärte Kennedy. “Und Clay ist ein Wachhund, das weißt du ja. Er wird niemals seine Erlaubnis geben.”

“Richter Reynolds wird sicher ein offenes Ohr für dich haben.”

Kennedy erinnerte sich daran, wie Joe sich in der Pizzeria aufgeführt hatte. “Es geht dir doch eigentlich gar nicht um deinen Onkel, stimmt’s?”

“Nein”, knurrte Joe finster.

“Es wirkt auf mich, als wärst du vor allem damit beschäftigt, Grace zu quälen.”

“Die willige Gracie?” Joe zuckte mit den Schultern. “So ein Quatsch. Warum sollte ich was gegen sie haben?”

“Weiß ich nicht. Aber falls das deine Absicht sein sollte …” Kennedy hob einen Papierbeschwerer aus Glas hoch, den seine Angestellten ihm zu Weihnachten geschenkt hatten. “Du hast ihr auf der Highschool schon genug angetan.”

“Leck mich!” Joe sprang auf. “Ich habe ihr überhaupt nichts angetan.”

Das Telefon klingelte. Kennedy hob die Hand; er wollte das Gespräch annehmen und hoffte, dass die Unterbrechung die Spannung im Raum abschwächen würde. Aber Joe fluchte nur und marschierte zur Tür.

“Du bist ja ein toller Freund”, murmelte er vor sich hin. Fehlte nur noch, dass er hinzufügte: “Ohne mich wärst du gar nicht mehr hier.” Aber das tat er nicht. Er verschwand einfach nach draußen.

Kennedy wäre gern hinter ihm hergelaufen, um ihm klarzumachen, dass es besser war, die alten Zeiten ruhen zu lassen – und dass dies auch für Grace gelten musste. Aber am anderen Ende hörte er die Stimme seiner Mutter.

“Hallo? Kennedy? Bist du dran?”

Camilles Stimme klang sehr angespannt. Er begann, seine Schläfen zu massieren, weil er fürchtete, dass dieser Anruf ihm noch mehr Kopfschmerzen bereiten könnte. “Was gibt’s denn?”, fragte er.

“Du musst mal ein ernstes Wort mit deinem Sohn reden.”

Es war sofort klar, dass sie nicht Heath meinte, sondern Teddy. “Was hat er denn jetzt wieder angestellt?”

“Er ist schon heute Vormittag zu Grace Montgomery rübergegangen.”

“Darüber habe ich mit ihm schon gesprochen. Ich habe ihm erlaubt, ihren Rasen zu mähen.”

“Aber er sollte schon vor einer Stunde zurück sein.”

Kennedy warf einen Blick auf die Uhr. “Vielleicht hat er nicht auf die Zeit geachtet.”

“Das ist keine Entschuldigung. Ich kann ihn doch nicht aus dem Haus lassen, wenn er nicht mal die einfachsten Regeln beachtet! Er sollte um zwei zurück sein.”

Damit hatte sie natürlich recht. Teddy musste sich an die Abmachungen halten. “In Ordnung”, sagte Kennedy. “Ich werde heute Abend mit ihm darüber sprechen. Und dann sehen wir weiter.”

“Nein, du musst jetzt gleich dort hingehen. Er ist jetzt drei Stunden weg, Kennedy. Das gefällt mir gar nicht. Grace ist kein guter Mensch.”

“Ich glaube nicht, dass sie so schlimm ist, wie du denkst, Mom. Immerhin ist sie Staatsanwältin. Und soweit ich gehört habe, sogar eine ziemlich gute.”

“Das ist mir egal. Du weißt ganz genau, dass sie kein vorbildliches Leben geführt hat, als sie noch hier lebte. Und du willst doch wohl nicht riskieren, dass deinem Sohn etwas geschieht?”

Damit hatte sie einen besonders wunden Punkt getroffen. Seit dem Verlust von Raelynn rechnete er ständig mit dem Schlimmsten. “Natürlich nicht”, lenkte er ein und seufzte. “Ich sehe gleich nach.” Obwohl er dann zu spät zu seinem Termin kommen würde.

“Tu das. Und Teddy soll bitte sofort nach Hause kommen!”

Kennedy vermied es, sich festzulegen, und sagte nur: “Ich rufe dich dann zurück.”

Niemand machte auf, als Kennedy an Grace’ Haustür klopfte, also spähte er durchs Fenster. Drinnen sah es aus, als hätte sie sich inzwischen häuslich eingerichtet. Auf dem Boden des Wohnzimmers lag ein neuer Teppich, auf dem Sofa und den Sesseln jede Menge Kissen, es gab einen kleinen Tisch, der als Zeitschriftenablage diente, einen Couchtisch und in der Ecke einen altmodischen Sekretär. Im angrenzenden Esszimmer stand ein breiter Tisch aus Mahagoni. Die Möbel waren eine Mischung aus alt und neu – nichts davon übertrieben – und die Kombination der einzelnen Stücke zeugte von Geschmack.

“Ist jemand zu Hause?”, rief er laut und klopfte erneut gegen die Tür.

Keine Antwort, obwohl der BMW in der Garage stand. Das hatte er gleich bemerkt, als er gekommen war.

Er spürte, wie er nervös wurde, und ging um das Haus herum, in der Hoffnung, eine offene Tür auf der Rückseite zu finden. Aber kaum hatte er das Gartentor geöffnet, hörte er die Stimme einer Frau und hielt inne.

War das Grace?

Er blieb hinter der Pappel stehen, deren Äste ihn gut verbargen, und spähte zwischen den Blättern hindurch.

Sie war es tatsächlich. Teddy war bei ihr. Sie saßen auf der Terrasse. Grace las ihm ein Buch vor.

“Warum, glaubst du, ist er in diese dunkle Höhle gegangen?”, fragte sie und deutete auf eine Illustration.

“Wahrscheinlich war er neugierig”, sagte Teddy.

“Du würdest das aber nicht tun, oder?”

“Nein, aber ich finde es gut, dass er es macht. Du nicht auch?”

Sie lachte. “So spricht ein mutiger Junge. Du liebst die Gefahr, hm?”

“Glaubst du, er wird sich wehtun?”

“Vielleicht verirrt er sich auch”, sagte sie. “Schauen wir mal nach.” Sie drehte die Seite um und las weiter. Sie trug ein T-Shirt und Shorts, keine Schuhe, und hatte die Füße unter ihrem Stuhl über Kreuz gelegt.

Kennedy konnte kaum fassen, was er da sah.

“Da ist es auch schon passiert.” Teddy holte tief Luft, als er sah, wie der Junge im Buch einen Abhang hinunterrutschte und in einem finsteren Loch landete. “Aber da wird ihm doch jemand heraushelfen, oder?”

“Vielleicht”, sagte sie. “Aber du darfst nicht darauf warten, dass andere dich retten. Du musst versuchen, dich selbst zu retten. Das solltest du dir merken.”

“Aber warum kann ich denn nicht auf die Hilfe anderer Leute warten?”

Sie zögerte einen Moment, dann sagte sie: “Manchmal können die anderen nicht hören, wenn du um Hilfe schreist.”

Kennedy hatte das merkwürdige Gefühl, dass sie gar nicht mehr über die Geschichte im Buch sprach, sondern von eigenen Erfahrungen, die sie in ihrer Jugend gemacht hatte. Wahrscheinlich von dem, was sie auf der Highschool erlitten hatte. Jedenfalls stand fest, dass Teddy nicht in Gefahr war. Im Gegenteil, sein Sohn bekam hier ein wenig von der Nähe und Zuneigung, die er seit dem Tod seiner Mutter so schmerzlich vermisste.

Kennedy brachte es nicht übers Herz, die beiden zu stören. Er zog sich zurück, schloss das Gartentor mit einem leisen Klicken und eilte davon.

Im Auto rief er seine Mutter zurück und sagte: “Teddy geht es gut. Du musst dir keine Sorgen machen.”

“Kommt er jetzt nach Hause?”

Er bog auf die Hauptstraße ein. “Ja, aber nicht gleich.”

“Warum denn nicht?”

“Er hat zu tun.”

“Ist er etwa immer noch bei ihr?”

Kennedy wollte die Szene trauten Zusammenseins nicht beschreiben, die er gerade beobachtet hatte. Er war zutiefst dankbar, dass Grace so lieb zu Teddy war, obwohl sie ihn nicht leiden konnte. “Er fegt ihre Garage”, log er, weil er glaubte, dass seine praktisch veranlagte Mutter mit einer solchen Antwort etwas anfangen konnte.

Leider hatte er ihre Abneigung gegen Grace unterschätzt.

“Sie lässt ihn den ganzen Tag lang schuften? Findest du es etwa gut, dass sie den Jungen ausbeutet?”

“Das tut sie überhaupt nicht”, rief er aus. “Ich hab das alles geregelt, hörst du!”

Nach diesem Ausbruch schwieg seine Mutter erstaunt, während er sich bemühte, seine Gefühle im Zaum zu halten. Es mochte ja sein, dass seine Mutter ihm dann und wann auf die Nerven ging, aber sie tat es nur in guter Absicht und weil sie für ihn und seine Söhne nur das Beste wollte. Außerdem belastete ihre Situation sie natürlich auch, manchmal vielleicht sogar zu viel. Er hatte oft schon überlegt, ob er ein Kindermädchen für seine Söhne einstellen sollte, aber damit wäre ihnen wahrscheinlich auch nicht geholfen. Seine Jungs sehnten sich nach ihrer verlorenen Mutter, nicht nach einem Aufpasser. Seine Mutter wiederum wäre sicherlich sehr pikiert, wenn er ihr auf diese Weise zu verstehen gäbe, dass er sie nicht für stark genug hielt, mit den beiden fertig zu werden.

“Ich bin dort gewesen”, fuhr er mit ruhiger Stimme fort. “Es ist alles in bester Ordnung. Er kommt nach Hause, wenn er so weit ist.”

“Du hättest ihm sagen sollen, dass er sofort gehen muss.”

“Wieso? Willst du ihm etwas vorlesen?”

“Wie bitte?”

“Ach, vergiss es”, sagte er und legte auf.

6. KAPITEL

Aus der geöffneten Tür der Billardhalle neben Jeds Autowerkstatt drang Countrymusic. Grace lehnte sich gegen die Mauer. Wenn sie sich nur einen Schritt weiter wagte, könnte sie etwa die Hälfte der männlichen Bevölkerung von Stillwater beim Dart, Billard oder Biertrinken beobachten. Aber von dieser Stelle aus war die Rückseite der Werkstatt am besten zu erreichen. Sie lag nicht weit von Evonnes Haus entfernt an der Kreuzung, die das Geschäftszentrum des Ortes darstellte. Sich durch den Vordereingang Zugang zu verschaffen, war praktisch unmöglich; man würde sie sofort bemerken. Nebenan lag das Grundstück von Walt Eastmans Reifenservice, das von einem großen Wachhund bewacht wurde.

Grace trug ein schwarzes T-Shirt und Jogging-Shorts und hatte ihre langen Haare unter eine Baseballmütze gesteckt. Neben ihr kauerte Madeline auf dem Boden und beschäftigte sich mit ihrem Rucksack. Sie war genauso angezogen.

“Ich will nur hoffen, dass Jed nicht auch einen Hund hat”, flüsterte Grace ihr zu.

Madeline schüttelte den Kopf. “Nein, Walt ist der Einzige mit einem Wachhund. Und für den habe ich dieses saftige Steak eingepackt.”

“Na prima, dann müssen wir uns ja über nichts weiter Sorgen machen, außer dass wir erwischt werden könnten und im Gefängnis landen.”

Madeline hob den Bolzenschneider hoch, den sie aus dem Rucksack geholt hatte. “Niemand wird im Gefängnis landen. Du hast doch den Polizeifunk gehört. Die sitzen gemütlich bei Kaffee und Donuts zusammen wie immer.”

“Leider kriegen wir jetzt nicht mit, was sie als Nächstes tun werden.”

“Willst du das Funkgerät vielleicht mit dir herumschleppen?”

“Nein, danke.” Wichtiger als der Polizeifunk war für Grace, dass sie nicht zu viel bei sich trug – damit sie, wenn es nötig sein sollte, schnell wegrennen konnte.

“Na, siehst du.”

“Und wie geht’s nun weiter?”

Madeline zog den Reißverschluss ihres Rucksacks zu und stand auf. “Kirk hat alles ausgekundschaftet. Im hinteren Teil des Zauns gibt es ein Tor, das mit einem Vorhängeschloss gesichert ist. Wir schneiden ganz einfach die Kette durch, gehen rein und schauen uns um. Das kann ja nicht so schwer sein.”

“Kirk hat dir also Tipps gegeben, wie man einbricht, hm?”

“Weil er ja nicht mitkommen konnte.”

“Warum warten wir nicht, bis er wieder zurück ist, wenn er sich so gut auskennt?”, fragte Grace, immer noch in der Hoffnung, die ganze unangenehme Sache verschieben zu können. Wenn sie doch nur genug Zeit hätte, um Clay dazu zu bringen, die sterblichen Überreste von Lee Barker fortzuschaffen, bevor Madeline noch mehr Aufmerksamkeit auf den Fall lenkte!

“Wir können nicht warten, weil wir sonst Gefahr laufen, dass der Inhalt des Aktenschranks verschwindet.”

“Das kann doch schon längst passiert sein.”

“Je früher wir uns darum kümmern, desto größer ist die Chance, dass das, was wir suchen, noch da ist.” Madeline setzte den Rucksack auf. “Außerdem wissen wir überhaupt nicht, wann Kirk zurückkommt. Womöglich muss seine Mutter tage- oder wochenlang im Krankenhaus bleiben.”

Als Grace noch immer nicht überzeugt war, warf Madeline ihr einen finsteren Blick zu: “Ich weiß gar nicht, was du hast. Wir wollen doch nichts stehlen. Mach dir keine Sorgen. Das ist doch ganz harmlos.”

Es war überhaupt nicht harmlos. Grace’ Puls raste. Sie fand es ganz und gar nicht beruhigend, dass Kennedy Archers Wagen vor der Billardhalle stand. Bestimmt war er mit seinen Freunden da drinnen. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, was hier los sein würde, wenn man sie erwischte …

Als Madeline sie überredet hatte, war Grace nicht klar, dass diese verrückte Aktion in unmittelbarer Nachbarschaft der Billardhalle stattfinden sollte, quasi unter den Augen der Machos von Stillwater. Ausgerechnet heute, am Donnerstag, wurden dort Margaritas zum Preis von nur einem Dollar angeboten, weshalb besonders viele Gäste anwesend waren. Grace hatte nur an ihre Stiefschwester gedacht. Madeline war allein losgegangen, nachdem sie ihr abgesagt hatte, woraufhin Grace sich genötigt sah, sie zu begleiten. Sie konnte doch nicht zu Hause herumsitzen und Däumchen drehen, während ihre Schwester in eine Autowerkstatt einbrach! Grace fühlte sich ebenso schuldig wie verantwortlich – zumal sie alle Antworten kannte, die Madeline so verzweifelt suchte.

“Ich bin Staatsanwältin”, flüsterte sie und atmete tief durch. “Ich kann doch nicht einfach irgendwo einbrechen. Normalerweise klage ich Leute an, die so etwas tun.”

“Du kannst niemanden anklagen, der nicht verhaftet wurde, hab ich recht?” Madeline spähte vorsichtig um die Ecke. “Und wir wissen ja, dass die Polizei im Moment mit was anderem beschäftigt ist, als Einbrecher zu jagen. In Stillwater passiert nie etwas, also rechnen sie auch nicht damit.”

Zu allem Überfluss war es auch noch furchtbar heiß. Aber mit einem Mal wurde Grace von einer merkwürdigen Tollkühnheit erfasst. “Also los”, sagte sie. “Bringen wir es hinter uns. Soll ich vorgehen?” Wenn sie ihre Stiefschwester schon nicht von dieser idiotischen Sache abbringen konnte, dann wollte sie es wenigstens so schnell wie möglich hinter sich bringen. Sie wollte jetzt loslaufen, die Kette aufschneiden, hineingehen, den Aktenschrank durchsuchen und dann sofort wieder verschwinden.

“Nein, ich gehe zuerst. Ich hab mir das schließlich alles ausgedacht.” Madeline rannte los und umrundete den Parkplatz.

Grace zögerte. Sie hörte die Gesprächsfetzen, die aus der Billardhalle drangen, die Musik, aber dann riss sie sich los und folgte ihrer Schwester. Als sie bei ihr ankam, hatte Madeline schon das Steak über den Zaun des Nachbargrundstücks geworfen, und der Wachhund machte sich darüber her, ohne die beiden weiter zu beachten.

Das war ein gutes Zeichen. Aber der zweite Schritt ging nicht so reibungslos vonstatten. Die Kette durchzuschneiden war beileibe nicht so einfach, wie es im Fernsehen immer aussah. Sie mussten den Bolzenschneider gemeinsam mit aller Kraft zudrücken. Mit viel Mühe gelang es dann tatsächlich, die Kette zu durchtrennen, die nun rasselnd zu Boden fiel. Grace kam es so vor, als müsste die ganze Stadt dieses Geräusch gehört haben.

“Na bitte”, sagte Madeline. Es schien ihr gar nichts auszumachen, dass sie einen Höllenlärm verursachten. “Den schwierigsten Teil haben wir schon hinter uns.”

Grace warf einen Blick zurück. Niemand kam aus der Billardhalle, um nachzusehen, was hier draußen los war, und auch in den umliegenden Häusern ging kein Licht an.

Vielleicht hatte Madeline ja recht und Grace übertrieb mit ihrer Vorsicht. Sie wollten doch nur einen Blick in den Aktenschrank in Jeds Büro werfen. Stillwater war eine verschlafene Stadt. Es konnte nicht so riskant sein.

“Auf geht’s.” Madeline ging durch das Tor, aber Grace hielt sie zurück.

“Nicht ohne Handschuhe, Maddy.”

“Das Tor hat doch jeder schon mal angefasst.”

“Das ist egal.”

“Okay. Du bist schließlich vom Fach.”

“Erinnere mich bloß nicht daran.”

Madeline nahm den Rucksack ab und stellte ihn auf den Boden. Sie griff in eine Seitentasche und reichte Grace ein Paar gelbe Gummihandschuhe.

Grace schaute sie erstaunt an. “Soll das ein Scherz sein? Wir wollen doch nicht Jeds Abwasch erledigen.”

“Was Besseres habe ich nicht gefunden.”

“Also weißt du, das gefällt mir alles überhaupt nicht. Jetzt haben wir uns schon des unerlaubten Eindringens auf Privatgelände schuldig gemacht.”

“Du meinst Betreten.”

“Ich meine gewaltsames Eindringen und Sachbeschädigung”, sagte Grace mit Blick auf die zerschnittene Kette. Trotzdem ließ sie sich von Madeline auf den Hof ziehen.

Als sie vor der Werkstatt ankamen, wäre Grace am liebsten gleich hineingeschlüpft, um sich zu verbergen. Aber natürlich war die Tür verschlossen. “Wie kommen wir denn da jetzt rein?”, fragte sie.

Madeline zog sich die Handschuhe aus und reichte sie Grace. “Halt mal kurz”, sagte sie und holte eine Nagelfeile aus ihrem Rucksack.

“Woher weißt du, wie man ein Schloss knackt?”, flüsterte Grace. “Wer hat dir das denn beigebracht?”

“Was glaubst du wohl?”

“Schon wieder Kirk? Da muss man sich ja Sorgen um deinen Umgang machen.”

Madeline lachte vor sich hin. “Als er klein war, hat sein Vater ihm, wenn er böse war, immer das Fahrrad weggenommen und es in den Schuppen eingeschlossen. Also hat Kirk gelernt, wie man so ein Schloss knackt.”

“Du fasst gerade mit ungeschützten Händen den Türknauf an”, ermahnte Grace ihre Schwester. Wenn sie sich unterhielten, wirkte das, was sie taten, irgendwie alltäglich. Aber wenn sie dabei riskierten, dass Madeline ihre Fingerabdrücke hinterließ, war das mehr als leichtsinnig.

“Ich reibe das ab, bevor wir gehen.”

“Maddy, ich bin mir ganz sicher, dass Jed nichts mit dem zu tun hat, was vor achtzehn Jahren passiert ist. Können wir nicht einfach nach Hause gehen?”

Aber Madeline war viel zu beschäftigt, um zuzuhören.

“Und was ist, wenn später jemand vorbeikommt und bemerkt, dass die Werkstatt aufgebrochen ist und etwas stiehlt? Dann wären wir daran schuld.”

“Wer klaut denn Autoreparaturwerkzeug?”

“Du wärst überrascht, was alles gestohlen wird. Ich habe Leute kennengelernt, die praktisch alles mitnehmen, was nicht niet- und nagelfest ist.”

“Aber doch nicht in Stillwater. Die Leute schließen hier oft nicht mal ihre Häuser ab. Wir hinterlassen alles so, wie wir es vorgefunden haben, okay?”

“Das beruhigt mich wirklich sehr”, sagte Grace sarkastisch.

“Hör auf, dir Sorgen zu machen.”

Es dauerte ewig, das Schloss zu knacken. Grace trat in den Schatten des Wellblechhauses und blickte angespannt zur Billardhalle hinüber. “Wahrscheinlich finden wir eine Tüte mit Marihuana oder so was. Und das war dann das große Geheimnis. Interessiert es uns denn, ob Jed Marihuana raucht? Das hat doch mit uns überhaupt nichts zu tun.”

“Wir könnten aber auch etwas viel Interessanteres als Rauschgift finden.”

Falls wir überhaupt jemals da reinkommen.”

Madeline fluchte und zog die Feile aus dem Schloss.

Grace’ Anspannung wurde noch stärker. “Was ist denn?”

“Ich kriege das nicht …”

Zwei Männer kamen aus der Billardhalle und schlenderten die Straße entlang. Als Grace ihre Stimmen hörte, zog sie Madeline mit sich nach unten in den Schatten. Der Drahtzaun, der das Gelände umgab, bot ihnen nicht sehr viel Schutz.

“Wer ist das?”, flüsterte Grace, als die beiden Männer auf dem Parkplatz neben dem Lokal stehen blieben.

“Marcus und Roger Vincelli”, antwortete Madeline leise.

Joes Vater?”

“Und sein Bruder.”

“Oh Gott. Ist Joe auch bei ihnen?”

“Ich glaube nicht.”

Schließlich stiegen die Männer in ihre Autos und fuhren davon. Als nichts mehr außer der Musik aus der Kneipe zu hören war, standen die beiden Frauen wieder auf.

“Beeil dich jetzt”, drängte Grace beunruhigt.

“Ich krieg das Schloss so nicht auf”, stellte Madeline frustriert fest. “Das ist ein anderes als das, das Kirk mir gestern zum Üben gegeben hat.”

“Dann hat es wohl keinen Zweck. Lass uns gehen”, schlug Grace hoffnungsvoll vor.

“Nein, dann müssen wir eben das Stemmeisen benutzen.”

“Das was?”

Ihre Schwester kramte bereits in ihrem Rucksack.

“Madeline, das können wir doch nicht …”

Doch noch bevor Grace zu Ende gesprochen hatte, rammte ihre Schwester das Eisenteil zwischen Tür und Pfosten. Eine Sekunde später ertönte ein grässliches Kratzen, Schaben und Quietschen, und dann schwang die Tür mit einem leisen Knirschen auf. Der Hund auf dem Nachbargelände bellte einmal kurz und wandte sich dann wieder seinem Steak zu.

Mit weit aufgerissenen Augen starrte Grace um sich. Sie war sich ganz sicher, dass man sie jeden Augenblick entdecken würde. Doch mehrere Sekunden vergingen, ohne dass irgendjemand auftauchte.

“Ich hoffe, du hast nicht vor, da drinnen jetzt alle Lichter einzuschalten”, sagte Grace und hielt Madeline die Gummihandschuhe hin, als sie eintraten.

“Natürlich nicht. Hier.” Madeline legte ein langes schweres Gerät in Grace’ Hände. Grace fand einen Schalter, drückte drauf und stellte fest, dass sie eine Taschenlampe in der Hand hielt.

“Du hast ja wirklich an alles gedacht.”

“Du suchst da drüben, ich hier.”

Der Verkaufsraum der Werkstatt war rechtwinklig angelegt und hatte einen Zementboden. Auf der gegenüberliegenden Seite stand ein Tresen, dahinter befanden sich die Toiletten. Es roch nach Motoröl. An den Wänden standen Holzregale, auf denen jede Menge Ersatzteile lagen. Das war kein Ort, an dem Grace sich heimisch fühlte. Aber jetzt, wo sie schon mal eingebrochen waren, entschied sie, dass es besser war, ihr Vorhaben möglichst zügig zu erledigen. Wenn Madeline merkte, dass keine Beweise vorhanden waren, würde sie vielleicht damit aufhören, Jed für den Tod ihres Vaters verantwortlich zu machen.

“Sieht wie ein Ersatzteillager aus”, stellte Grace fest.

Madeline ließ den Lichtkegel ihrer Lampe durch den Raum gleiten. “Da drüben sind ein paar Aktenschränke.”

“Da auch”, ergänzte Grace.

“Ich nehme mir die hinter dem Pult dort vor und du die neben der Toilette.”

Die Schubladen des ersten Schranks waren beschriftet: “Aufträge”, “Ersatzteile”, “Rechnungen”, “Kataloge”.

Aus der Toilette hörte man ein andauerndes Pfeifen. Offenbar war die Spülung defekt. Das Geräusch ging Grace ziemlich auf die Nerven. Madeline begann hastig, die Schubladen aus den Schränken zu ziehen, der Lichtschein ihrer Lampe huschte hin und her, während sie weitersuchte, bis sie den verschlossenen Aktenschrank gefunden hatte.

“Das ist er”, stieß sie atemlos hervor.

Grace drehte sich erwartungsvoll zu ihr um. “Soll ich dir helfen?”

“Nein, das muss er sein. Du kannst ja die anderen Schränke durchsehen, ob da vielleicht noch was ist.”

Madeline holte ein weiteres Gerät aus ihrem Rucksack, und Grace wandte sich wieder ihrer eigenen Durchsuchungsarbeit zu. Sie wollte gar nicht wissen, was ihre Schwester jetzt wieder Schreckliches vorhatte. Inzwischen hatten sie sich schon eine ganze Reihe von Gesetzesübertretungen zuschulden kommen lassen.

Als sie einen lauten Knall hörte, wusste sie, dass Madeline es geschafft hatte, die Schublade zu öffnen. Der Gedanke daran, dass Jed morgen früh einen aufgebrochenen Schrank vorfinden würde, war ihr mehr als nur peinlich.

“Bring bloß nicht alles zu sehr durcheinander”, warnte sie. “Es ist schon schlimm genug.”

“Ich musste das Schloss aufbrechen”, sagte Madeline. Sie war viel zu aufgeregt, um Bedauern oder Reue zu empfinden. “Aber so schlimm ist es gar nicht. Er wird kaum merken, dass wir hier gewesen sind.”

“Na klar, er wird bestimmt denken, dass er die Schlösser selbst demoliert hat. So was passiert einem ja ständig.”

Madeline antwortete nicht. Sie stöberte in den Schubladen herum.

“Was gefunden?”, fragte Grace.

“Bis jetzt nicht.”

Grace hörte die pulsierenden Rhythmen der Musik aus der Billardhalle, die bis hierher drangen. Jed war schon sehr lange im Geschäft und schien alle Papiere aufzubewahren.

“Der übertreibt wirklich”, stellte sie fest. “Einige von diesen Ordnern sind ja schon über zehn Jahre alt.” Sie fand sogar welche, die noch viel älteren Datums waren.

Madeline sagte nichts.

“Vielleicht sollte jemand Jed mal klarmachen, dass das Finanzamt nur bis zu sieben Jahre alte Unterlagen prüft.”

“Das kannst du ihm ja mal mitteilen”, murmelte Madeline. Sie hatte einen Ordner aufgeschlagen und blätterte ihn konzentriert durch.

Grace wiederum sichtete die Akten auf ihrer Seite eher nachlässig. “Ich werde ihm bestimmt gar nichts mitteilen.”

“Hm”, brummte Madeline vor sich hin.

“Vielleicht solltest du mal einen Artikel zu diesem Thema in deine Zeitung setzen”, schlug Grace vor. “Du könntest Jed als abschreckendes Beispiel nennen.”

“Gute Idee.”

Madeline hörte gar nicht zu. Grace nahm sich vor, mit dem nervösen Geplapper aufzuhören. Sie schloss die Türen des mittleren Aktenschranks und wandte sich dem dritten zu. Dieser Schrank war sehr alt und sah ziemlich mitgenommen aus. Sie begann im oberen Regal, wo eine Menge Staub lag, ein paar lose hingelegte uralte Unterlagen, ein zerbrochener Kaffeebecher und weitere Ordner mit Papieren, die fünfzehn, sechzehn oder siebzehn Jahren alt waren.

“Ach du meine Güte”, murmelte Grace vor sich hin, als sie sich langsam nach unten arbeitete und die Ordner immer nachlässiger prüfte. Was sollte das auch? Madeline hatte ja den mysteriösen verschlossenen Aktenschrank gefunden und kämmte ihn gerade durch. Was hatte sie schon noch zu tun?

Aber dann bemerkte sie etwas und bekam eine Gänsehaut. Die Zeitangaben auf den Ordnerrücken näherten sich immer mehr dem Datum jener schrecklichen Nacht vor achtzehn Jahren. Und mit einem Mal fragte sie sich, ob Jed wohl die Unterlagen für die Traktorreparatur auf der Farm der Montgomerys aufbewahrt hatte und ob da womöglich etwas zu finden war.

Fieberhaft durchsuchte sie die Unterlagen aus dem Monat August, konnte aber kein Papier mit dem entsprechenden Datum finden. Aber sie fand die Kopie einer Rechnung vom Folgetag.

Sie zog ihre Handschuhe aus, um das Papier aus dem Ordner zu nehmen. Die Rechnung war auf den Namen ihrer Mutter ausgestellt. Das war eigenartig; der Reverend hatte sich doch sonst immer um die “Männersachen” gekümmert.

Sie hielt den Zettel mit einer Hand fest und durchsuchte den nächsten und übernächsten Ordner. Alle vorherigen Rechnungen waren auf den Namen ihres Stiefvaters ausgestellt. Hatte Jed etwa schon am Morgen nach der Tat gewusst, dass Lee Barker für immer verschwunden war? Falls ja, war er der Einzige. Die Gemeinde hatte zwei Tage gebraucht, um überhaupt mit der Suche nach dem Vermissten zu beginnen. Noch nie zuvor war ein erwachsener Mann in Stillwater vermisst worden. Und da auch das Auto des Reverends unauffindbar war, gingen zunächst alle davon aus, dass er bald wiederkommen würde.

Grace warf einen kurzen Blick auf Madeline. Die hatte gerade eine Zigarrenkiste mit Briefen und Papieren geöffnet. Grace wandte sich wieder der Rechnung zu. Jed hatte alle Ersatzteile, die er für den Traktor bestellt und eingebaut hatte, wie auch die aufgewendete Arbeitszeit akribisch notiert. Aber im Gegensatz zu den anderen Rechnungsformularen fehlte hier der Vermerk “bezahlt”.

Hatte er das Geld nicht eingefordert? Grace konnte sich nicht daran erinnern. Natürlich wusste sie, dass Jed in dieser Nacht nicht bei ihnen angeklopft hatte. Aber vielleicht war er ja später noch mal gekommen.

“Hier ist nichts”, sagte Madeline niedergeschlagen. “Nur ein paar alte Liebesbriefe von einer Frau namens Marilyn, ein Zwei-Dollar-Schein, auf den jemand ’Ich liebe dich’ geschrieben hat, und Bilder von drei Kindern, die ich nicht kenne.”

“Ich hab auch nichts gefunden”, sagte Grace. Sie legte die Rechnung zurück und wollte den Ordner schon schließen, als sie etwas schwarzes Glänzendes zwischen den Hängeregistern bemerkte. Neugierig wandte sie sich von Madeline ab und griff danach, doch als sie sah, was sie da in den Händen hielt, zuckte sie zusammen. Beinahe hätte sie ihren Fund wieder fallen lassen.

Es war die Taschenbibel, die Reverend Barker immer bei sich getragen hatte.

Sie hätte Stein und Bein schwören können, dass sie sie mit ihm vergraben hatten.

Kennedy wollte Joe schnell besiegen. Wenn er das nächste Mal zum Zug kam, wollte er die Achter-Kugel versenken und sich anschließend aus dem Staub machen. Er ging regelmäßig donnerstags in die Billardhalle. Es gefiel ihm dort. Seit Raelynns Tod war dies das einzige gesellschaftliche Ereignis, an dem er regelmäßig teilnahm. Glücklicherweise kamen die Jungs gut mit Kari Monson aus, der alleinstehenden Nachbarin seiner Eltern. Kari arbeitete tagsüber, passte abends aber gern mal auf die Kinder auf. Bestimmt waren sie längst im Bett. Es war schon spät. Er hatte einen anstrengenden Tag vor sich. Er sollte wirklich so schnell wie möglich nach Hause gehen.

Auf der anderen Seite des Tischs beugte Joe sich über den grünen Filz und drehte den Queue zwischen den Fingern, während er überlegte, wie er seinen nächsten Stoß durchführen wollte. Es waren noch drei Kugeln von Joe auf dem Tisch und eine letzte von Kennedy; es gab also keinen Grund, sich zu hetzen, das Spiel war sowieso bald vorbei. Trotzdem machte es Kennedy nervös, wenn er zusah, wie viel Zeit Joe sich für seinen nächsten Stoß nahm. “Komm schon”, ermahnte er seinen Gegner. “Ich will heute noch irgendwann ins Bett.”

“Moment”, stieß Joe hervor, während er zum anderen Ende des Tischs ging. Obwohl Joes Besuch in Kennedys Büro eher unerfreulich verlaufen war, hatten sie nicht mehr darüber gesprochen, auch nicht über Grace. Trotzdem spürte Kennedy, wie die Spannung zwischen ihm und Joe wuchs. Joe wollte dieses Spiel auf Teufel komm raus gewinnen.

“Du kannst von mir aus einen zusätzlichen Stoß machen, wenn es dir hilft”, sagte Kennedy. “Aber jetzt mach endlich.”

“Du brauchst mir nichts zu schenken”, widersprach Joe. “Ich will nicht, dass du mir entgegenkommst.”

Kennedy schüttelte den Kopf, als die Kellnerin nachfragte, ob er noch etwas trinken wolle. “Komm schon! Wir müssen jetzt doch keinen verbissenen Wettbewerb draus machen! Es geht doch nur um fünfzig Dollar.”

Buzz, der gerade mit seinem eigenen Spiel fertig war, kam mit seinem Bier in der Hand herüber, um zuzusehen. “Na, wer gewinnt heute?”

Die beiden Männer antworteten nicht. Das sagte eigentlich schon genug. Wenn Joe gewann, redete er gern darüber.

“Das da ist die beste Ecke”, sagte Buzz, um das Spiel voranzubringen. Aber Buzz war enger mit Kennedy befreundet als mit Joe, weshalb Joe seinen Rat ignorierte und sich für eine andere Ecke entschied.

Joe beugte sich über den Tisch, sein Stock stieß gegen die Kugel. Sie schoss auf das Eckloch zu. Im letzten Moment bekam sie einen seitlichen Drall und verfehlte ihr Ziel.

Nun war Kennedy in der perfekten Position, das Spiel zu beenden. Aber bevor er das tun konnte, kam Ronnie Oates, der vor drei Minuten gegangen war, in die Billardhalle gestürmt.

“Ich glaube, jemand bricht gerade in die Werkstatt ein!”, rief er aus. Er war so aufgeregt, dass er atemloser klang, als er eigentlich war, denn er hatte ja nur den kurzen Weg vom Parkplatz hierherlaufen müssen.

“Wer will denn den alten Jed beklauen?”, brummte Joe. “Mann, wenn jemand unbedingt einen Schraubenschlüssel braucht, kann er ihn gern von mir kriegen.”

“Ich habe den Lichtschein einer Taschenlampe gesehen”, sagte Ronnie. “Wir sollten rübergehen und nachschauen.”

Kennedy blickte sehnsüchtig auf den grünen Filz. Nur noch ein Stoß … nur ein einziger noch, und das Spiel würde beendet sein. Aber Joe und die anderen stürmten schon aus dem Lokal. Selbst wenn er die Kugel jetzt ordentlich versenkte, wäre es umsonst, weil keine Zeugen mehr da waren. Er konnte genauso gut mitgehen und nachschauen, was da los war. Wahrscheinlich irgendwelche Halbstarken, die mal wieder über die Stränge schlugen. Andererseits war heute Donnerstag, und deshalb war es eher ungewöhnlich. Außerdem war Jeds Werkstatt ein ziemlich untypischer Ort für Jugendliche, die ihre Kräfte erproben wollten.

“Ruf die Polizei”, sagte er zu Pug, dem Barkeeper.

Er sah noch, wie der Mann zum Telefon griff und die Nummer wählte, dann rannte er nach draußen auf den Parkplatz.

Grace starrte die Bibel an, die sie gerade gefunden hatte. Draußen wurden Stimmen laut, und sie schreckte zusammen. Einen Moment lang gaben ihre Knie nach, als der panische Gedanke durch ihr Gehirn schoss: Jetzt kriegen sie uns! Es war genau das eingetreten, was sie befürchtet hatte.

Sie hörte ein dumpfes Geräusch. Madelines Taschenlampe war zu Boden gefallen. Sie hob sie wieder auf und machte sie aus. “Da kommt jemand”, flüsterte sie. “Wir müssen hier raus.”

Der Hund auf dem Nachbargrundstück wurde unruhig und begann zu bellen.

Grace war ratlos. Sollte sie die Bibel im Aktenschrank liegen lassen oder mitnehmen?

In ihrer Panik war sie zu keinem Entschluss fähig. Sie knipste ihre Taschenlampe aus und schob die Bibel wieder an die Stelle, wo sie sie gefunden hatte. Dann wurde ihr klar, dass der Einbruch schon verdächtig genug war und jede Menge Fragen provozieren würde. Natürlich würden alle sich fragen, was dahintersteckte, und wenn sie dann die Bibel mit dem Namen und den Randbemerkungen des verschwundenen Reverends fanden, würden sie Jed danach fragen. Und dann wäre er gezwungen zu erzählen, wo er sie her hatte. Er konnte sie doch nur in der Nacht an sich genommen haben, als Lee Barker ums Leben gekommen war. Grace wusste noch, dass die Bibel aus der Jackentasche ihres Stiefvaters gefallen war, als sie seine Leiche über die Verandatreppe gezerrt hatten. Sie hatte versucht, das Buch wieder zurückzustopfen, aber vielleicht war es ja ein zweites Mal herausgerutscht und irgendwo im Schatten zu Boden gefallen.

So könnte es gewesen sein. An diesem Abend war sie nicht mehr ganz bei sich. Das war allen so gegangen.

“Grace!”, rief Madeline, die schon an der Tür war.

Grace presste ihre Hand gegen die Stirn. Denk nach! Oh, Gott. Was soll ich nur tun?

Aber es war keine Zeit mehr zum Nachdenken. Die Rufe und Schritte von draußen kamen näher. Sie konnte sogar schon die Stimmen unterscheiden.

Sie schloss die Tür des Aktenschranks und sprang auf, um Madeline zu folgen. Kaum war sie bei ihr angelangt, wurde ihr jedoch klar, dass sie die Bibel auf keinen Fall zurücklassen durfte. Sie konnte ihre ganz Familie ins Unglück stürzen.

“Wir müssen uns trennen”, sagte sie. “Du gehst dort lang und ich …” Sie suchte verzweifelt nach einer Alternative. “… ich klettere durchs Fenster in der Toilette.”

“Aber was ist, wenn …”

“Los!”, kommandierte Grace und gab ihrer Stiefschwester einen Schubs.

Madeline drückte ihren Arm, um ihr zu zeigen, dass sie verstanden hatte, und huschte nach draußen.

Lauf, dachte Grace, lauf! Aber sie selbst hatte das Gefühl, nur im Zeitlupentempo voranzukommen. Sie tastete sich durch die Dunkelheit zurück zum Aktenschrank, holte die Bibel wieder heraus und steckte sie in den Bund ihrer Shorts.

Sie hörte die Männer an der Eingangstür und beeilte sich, in die Toilette zu kommen. Wenn sie sich nicht unter Jeds Schreibtisch verstecken wollte, war dies die einzige Möglichkeit zur Flucht.

Instinktiv tastete sie nach der Taschenlampe. Sie hasste die Dunkelheit, und jetzt hatte auch noch vergessen, wo sie das verdammt Ding hingelegt hatte.

Dann hörte sie jemanden rufen. “Da! Ich seh ihn! Da drüben!” Und schon entfernten sich die Schritte in die andere Richtung.

Madeline! Ob es ihr gelang, den Verfolgern zu entkommen? Aber das war jetzt für sie zweitrangig. Sie musste die Bibel wegbringen und so schnell wie möglich vernichten.

Endlich hatte sie sich durch die Dunkelheit bis in die Toilette vorgearbeitet und schaute nach oben zu dem kleinen Fenster über dem Klosett. Das Mondlicht fiel hindurch und schien ihr den Weg zu zeigen. Aber wie sollte sie das schaffen? Das Fenster lag zwar günstig nach hinten, aber es war zu hoch. Selbst wenn es ihr gelingen sollte hindurchzukriechen, fürchtete sie, sie könnte auf der anderen Seite hinunterfallen und sich den Hals brechen.

Sie musste das Gebäude vorne verlassen, eine andere Möglichkeit gab es nicht. Es ging nicht anders. Auch wenn die Polizei bereits auf dem Weg hierher war und sie womöglich entdeckte, wenn sie die Werkstatt verließ.

Sie umrundete den Verkaufstresen und spähte durch die Eingangstür, die einen Spaltbreit offen stand, nachdem Madeline hinausgeschlüpft war.

Draußen waren noch keine Sirenen zu hören, nur die Geräusche der Verfolgungsjagd in einiger Entfernung und das Bellen des Hundes auf dem Nachbargrundstück.

Ihr blieb nur wenig Zeit. Bald würden einige der Verfolger zurückkommen, um nachzusehen, ob etwas gestohlen oder zerstört worden war.

Sie spürt den ledernen Einband der Bibel auf ihrer nackten Haut, und es kam ihr so vor, als würden die Hände des Reverends sie an dieser Stelle berühren. Am liebsten hätte sie sie weit weg geworfen. Sie wollte mit diesem unheilvollen Buch nichts zu tun haben. Aber das durfte sie nicht. Sie musste es verbrennen, damit niemand es je wieder zu Gesicht bekam.

Sie setzte alles auf eine Karte, trat nach draußen und rannte um das Gebäude herum. Es gelang ihr, den Werkstatthof zu durchqueren, ohne ein nennenswertes Geräusch verursacht zu haben. Sie erreichte die Straße und schöpfte Hoffnung.

Sie war draußen. Aber was nun?

Am besten wäre, sie würde über den Zaun zum Nachbargrundstück klettern und dann in diese Richtung flüchten. Ihre Verfolger waren gerade woanders beschäftigt und würden sie dort nicht vermuten.

Kennedy traute seinen Augen nicht. Er lehnte gegen die Rückseite seines Wagens und wartete, ob die anderen den Einbrecher stellen würden. Plötzlich bemerkte er einen zweiten Schatten auf dem Gelände der Werkstatt. Eine schwarz gekleidete Gestalt rannte zur Straße hin und begann dann, Lorna Martins Zaun zu erklimmen.

Das war doch ein Kind! Die Person war viel zu klein für einen erwachsenen Mann. Außerdem war diese Klettertechnik ziemlich ungewöhnlich.

Kennedy wandte sich um, aber die anderen Männer waren schon ein ganzes Stück entfernt. Er musste sich wohl allein um diesen Einbrecher kümmern.

“He! Stopp! Stehen bleiben!”, rief er.

Der Junge hatte den Zaun hinter sich gebracht und rannte so schnell er konnte davon. Kennedy blieb nichts anderes übrig, als ihn zu verfolgen. Er sprang über den Zaun und kam direkt vor Lorna Martins Ehemann Les zum Stehen, der im Bademantel aus dem Haus stürzte.

“Kennedy?”, fragte er aufgeregt. “Was ist denn los? Was machst du denn hier?”

Kennedy hatte so viel Schwung, dass er ihm beinahe in die Arme gefallen wäre. “Zwei Jungs sind in Jeds Werkstatt eingebrochen. Der eine ist hier über den Zaun. Hast du ihn gesehen?”

“Nein, aber ich hab Geräusche gehört, da drüben.” Er deutete in die entgegengesetzte Richtung.

“Sie haben sich getrennt. Der andere ist hier entlang.” Kennedy rannte weiter und konnte nicht mehr verstehen, was Les hinter ihm her rief. Er wollte diesen Jungen unbedingt fangen. Es ging nicht an, dass jemand nach einem Einbruch ungeschoren davonkam. Der Täter musste auf jeden Fall zur Verantwortung gezogen werden.

Kennedy erreichte jetzt die Straße und sah, wie der Schatten vier Häuser entfernt um eine Ecke bog. Offenbar wollte er im Wald Schutz suchen. Wenn er ihn nicht bald erreichte, würde er ihn niemals kriegen. Nicht allein und nicht in dieser Dunkelheit.

Er erreichte die Ecke. Der Täter war verschwunden. Da war nichts als eine Reihe kleiner Häuser, die schwach von den Straßenlaternen angestrahlt wurden. Der schwarze Asphalt glänzte in ihrem Schein.

Es begann zu regnen. Kennedy atmete tief durch und spähte in die Nacht. Wo konnte der Junge hingelaufen sein? Der Regen wurde stärker. Zweifellos würden sie beide schnell durchnässt sein, was nicht gerade eine angenehme Aussicht war.

Trotzdem wollte Kennedy nicht so einfach aufgeben. Er schaute hinüber zu den Eisenbahngleisen, die das Brachland am Rand der Stadt durchschnitt. Der Junge hatte längst das Weite gesucht; andernfalls müsste er irgendwo zu sehen sein.

So, wie er sich bewegt hatte, kannte sich der Einbrecher in dieser Gegend nicht besonders gut aus. Wenn er in diese Richtung lief, würde er zweifellos am Fluss ankommen. Doch wie wollte er ihn überqueren? Schwimmen? Im Dunkeln? Wenn er dieses Risiko nicht eingehen wollte, würde er nicht weit kommen. An dieser Stelle beschrieb der Fluss einen Bogen. Das Land wurde an drei Seiten von Wasser begrenzt.

Kennedy durchquerte im Dauerlauf das Brachland, ließ die Eisenbahnschienen hinter sich und erreichte das kleine Wäldchen am Fluss. Leider war hier kaum noch etwas zu erkennen. Das Dickicht und die Blätter versperrten die Sicht und ließen das Mondlicht nicht bis zum Erdboden durchdringen. Der Junge konnte in mehrere Richtungen gelaufen sein. Vielleicht aber auch nicht. Es war auch möglich, dass Kennedy falsch lag und der Junge sich hier in der Gegend doch gut auskannte. Vielleicht hatte er sich flach auf den Boden gelegt und wartete ab.

Kennedy blieb stehen und horchte. Er hörte den Schrei einer Eule, sonst nichts.

Er drang tiefer ins Gestrüpp ein, bemühte sich, so leise wie möglich voranzukommen, und näherte sich dem Fluss. Ab und zu hielt er an und horchte. Dieses Spielchen konnte man natürlich ewig fortsetzen. Er ging zehn Minuten lang das Waldstück ab und bemerkte nichts.

Er fragte sich, ob es nicht vielleicht besser wäre, zurückzugehen und ein paar Männer mit Taschenlampen zu holen. Gerade als er sich entschlossen hatte, genau das zu tun, hörte er einen Schreckensschrei. Gar nicht weit entfernt, sogar viel näher, als er gedacht hatte. Offenbar war der Junge verletzt.

Jetzt hatte er ihn.

Kennedy arbeitete sich durch das Gestrüpp und bemühte sich, in der Finsternis etwas auszumachen. Plötzlich drang das blasse Mondlicht durch das Blätterdach. Er konnte einen Schatten auf dem Boden erkennen. Offenbar hatte sich der Junge in dem dichten, stacheligen Brombeergebüsch verheddert, das am Flussufer wucherte.

Kennedy arbeitete sich durch das Dickicht hindurch, packte den Jungen am T-Shirt und zerrte ihn aus dem Buschwerk. Dann setzte er ihn unsanft vor sich auf den Boden.

“Was glaubst du eigentlich …”, begann Kennedy seine Schimpftirade. Aber der Junge drehte sich zur Seite und sprang auf die Füße. Er wollte flüchten. Kennedy hielt ihn fest. Der Junge wehrte sich.

“Was soll das denn?”, rief Kennedy aus, als sie zusammen zu Boden gingen. Aber mit einem Mal wurde ihm klar, dass der Körper unter ihm viel zu weich war, um zu einem Jungen zu gehören.

Er riss ihm die Baseballmütze vom Kopf und erstarrte verwundert.

Das war ja eine Frau, und zwar nicht irgendeine. Es war Grace Montgomery.

7. KAPITEL

Grace bekam keine Luft mehr. Sie konnte auch nicht mehr klar denken. Es gab nur einen einzigen Gedanken in ihrem Kopf: Weg! Ich muss hier weg! Sie versuchte, Kennedy abzuschütteln oder beiseitezudrücken, aber sie zitterte bereits am ganzen Körper – und er war einfach zu stark.

“Lass mich los!”

“Hör auf zu schlagen!”

Sie konnte nicht aufhören. Sie war verzweifelt. Wenn er die Bibel bei ihr finden würde, dann wäre noch viel mehr als nur ihr Job in Gefahr.

“Beruhige dich”, sagte er. “Ich … ich wollte dir doch nicht wehtun.” Er drückte ihre linke Hand zu Boden. “Ich dachte …” Er hielt auch ihre andere Hand fest, als er merkte, dass sie auf dem Boden nach etwas suchte, einer Wurzel vielleicht, die ihr helfen könnte, sich von ihm frei zu machen. “… du bist ein Junge.”

Noch bevor sie antworten konnte, hörte Grace eine zweite Stimme. Es war Joe Vincelli. Er arbeitete sich durch das Gestrüpp und rief: “Kennedy? Wo bist du?”

Grace erstarrte. Am liebsten wäre ihr gewesen, der Boden unter ihr würde nachgegeben und sie verschlingen.

Kennedy hob den Kopf, antwortete aber nicht. Sie konnte seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen, es war einfach zu dunkel.

Nun wandte er sich wieder ihr zu. “Was machst du denn hier?”, flüsterte er barsch. “Wieso bist du in Jeds Werkstatt eingebrochen?”

Sie antwortete nicht, ihr fiel auch gar keine Ausrede ein. Und was spielte es schon für eine Rolle, was sie ihm erzählte? Er hatte sie doch sowieso immer nur für Abschaum gehalten. Jetzt hatte er endlich den Beweis gefunden, dass er schon immer recht gehabt hatte.

“Keine Panik, okay?” Er klang jetzt ruhiger und freundlicher. “Erzähl mir einfach, um was es hier geht. Ich habe nicht die leiseste Idee, was das soll, aber ich hätte es schon gern gewusst.”

Er redete mit ihr wie mit einem verängstigten Kind. Seine Freundlichkeit kam ihr aufgesetzt vor. Sie wusste ja schließlich, was er und seine Freunde von ihr hielten.

Sie bäumte sich auf, um ihre Angst unter Kontrolle zu bekommen, und starrte ihn feindselig an.

“Grace? Was soll das alles?”, drängte er.

Der Regen fiel jetzt noch dichter. Sie spürte die Feuchtigkeit des Bodens und die Tropfen auf ihrem Gesicht. Am Rande ihres Blickfelds bemerkte sie den Lichtkegel von Joes Taschenlampe zwischen den Baumstämmen.

“Hallo?”, rief Joe, während er näher kam. “Kennedy? Wo bist du? Ich sehe doch, dass hier jemand durchgekommen ist.”

Ganz offensichtlich hatte Joe ihre Spuren im Unterholz entdeckt, und es fiel ihm nicht schwer, ihnen zu folgen. Außerdem hatte er ja Licht.

Grace schloss die Augen, weil sie jede Sekunde damit rechnete, dass der Lichtschein sie traf. Aber dazu kam es nicht. Kennedy sprang auf, zog sie hoch, schob sie hinter sich ins Gebüsch und zischte: “Los, hau ab.”

Kennedy konnte nicht fassen, was er da eben getan hatte. Er hatte eine Einbrecherin laufen lassen – und dabei kandidierte er für das Amt des Bürgermeisters.

Er versuchte sich mit dem Argument zu beruhigen, dass eine Festnahme für Grace den Verlust ihres Arbeitsplatzes bedeutet hätte und dass er ihr das nicht zumuten wollte, bevor er nicht die Gründe für ihr merkwürdiges Verhalten kannte. Aber in Wahrheit wusste er, dass sein Motiv ein anderes war. Er hatte gespürt, wie sie zitterte, er hatte ihre Angst bemerkt, und obwohl sie ihn um nichts gebeten hatte, wollte er sie beschützen. Er erinnerte sich an das, was sie zu seinem Sohn gesagt hatte: “Du darfst nicht darauf warten, dass andere dich retten. Du musst versuchen, dich selbst zu retten.”

Für den Bruchteil einer Sekunde hatte er das Bedürfnis verspürt, sie an sich zu ziehen, um sie vor dem Regen zu schützen. Sie war so unnahbar und gleichzeitig so zerbrechlich. Ganz ruhig, meine Süße. Ich werde dich beschützen.

Aber das war ja der reine Wahnsinn. Für sie war er ein Feind und kein Retter.

Joe tauchte zwischen den Bäumen auf. “Da bist du ja. Warum hast du nicht geantwortet?”

Kennedy trat einen Schritt zurück und stand plötzlich mit einem Fuß auf etwas flachem Eckigem. Ein fester Gegenstand, womöglich ein Buch? Jedenfalls war es keine Pflanze und kein Stein. Es war nicht eben gerade vom Himmel gefallen. Ganz offensichtlich hatte Grace es verloren.

Er wollte Joe auf keinen Fall darauf aufmerksam machen, denn womöglich würde eine Entdeckung Grace in Schwierigkeiten bringen. “Da ist noch eine zweite Person aus der Werkstatt gerannt, also bin ich hinterher. Beinahe hätte ich ihn gekriegt.”

Joe leuchtete mit seiner Taschenlampe das Brombeergebüsch ab. Man sah ziemlich deutlich, dass jemand dort hineingelaufen war, aber Joe schien sich zu fragen, wo er in diesem stacheligen Gestrüpp abgeblieben war. “Er muss noch in der Nähe sein”, stellte er fest. “Los, komm.”

Kennedy bückte sich und hob hastig das Ding auf, das Grace dort verloren hatte. Er schob es unter sein T-Shirt in den Hosenbund und hielt Joe am Arm fest: “Da bin ich schon gewesen.”

Joe suchte weiter die Umgebung mit seiner Lampe ab. “Der kann doch nicht weit gekommen sein. Dahinter ist doch der Fluss.”

Das feuchte Ding in Kennedys Hosenbund fühlte sich an wie ein Buch. Aber warum sollte Grace aus Jeds Werkstatt ausgerechnet ein Buch stehlen? Es war wirklich rätselhaft. “Er ist weg. Außerdem hat es angefangen zu regnen. Gehen wir lieber zurück.”

“Nass sind wir doch sowieso schon.”

“Ich glaube, er ist wieder zurückgerannt. Hier ist er bestimmt nicht mehr.”

“Hast du gesehen, wer es war?”

“Ich hab ihn nicht erkannt, aber er war nicht sehr groß. Wahrscheinlich ein Teenager.”

Joe suchte rundum alles ab. “Das war garantiert kein Teenager.”

Der Beschützerinstinkt, den Kennedy einige Augenblicke zuvor so überraschend bei sich registriert hatte, meldete sich erneut. Er verstand gar nicht, warum er sich so stark zu Grace hingezogen fühlte, jetzt, wo sie doch erwachsen waren. Natürlich wollte er, dass sie ihm wegen seines Verhaltens in der Vergangenheit verzieh, aber er wollte auch, dass sie ihn mochte, und das wiederum verstand er nicht.

Vielleicht, weil sie eine echte Herausforderung darstellte. Es war ihm immer sehr leichtgefallen, Freundschaften zu schließen, und er hatte noch nie erlebt, dass jemand ihm so viel Widerstand entgegensetzte.

Es konnte natürlich auch sein, dass er ihr helfen und ihr Leben beeinflussen wollte, wie einst Raelynn sein Leben beeinflusst hatte. Grace brauchte einen Freund. Er spürte die Verpflichtung gutzumachen, was sie früher erlitten hatte.

“Wie meinst du das?”, fragte Kennedy.

“Ich glaube, es war Kirk Vantassel”, sagte Joe.

Sie machten sich gemeinsam auf den Weg, um den Wald zu verlassen.

Kirk war größer als Joe, und da er gerade erklärt hatte, dass der Flüchtige klein gewesen war, wunderte sich Kennedy und fragte nach: “Wie kommst du denn auf Kirk?”

“Weil die andere Person Madeline Barker gewesen ist. Sie ist zusammen mit ihm eingebrochen. Wir haben sie auf der Straße erwischt.”

Der Regen hatte Kennedys Hemd durchgeweicht. Der Baumwollstoff klebte an seinem Oberkörper. Ganz vorsichtig versuchte er, das Buch zur Seite zu schieben, damit Joe es nicht sehen konnte. “Madeline ist doch eine angesehene Bürgerin. Warum sollte sie in Jeds Werkstatt einbrechen?”

“Sie ist überzeugt davon, dass er ihren Vater getötet hat. Hat uns erklärt, sie hätte nach Beweisen gesucht.”

Das machte Sinn. Madeline war ständig dabei, neue Theorien über das Verschwinden ihres Vaters zu erfinden. Einige davon hatte sie sogar in ihrer Zeitung abgedruckt. Vielleicht hatte sie ja eine neue Spur gefunden.

Kennedy konnte sich gut vorstellen, wie erpicht sie darauf war, dieser Spur nachzugehen. Auf ihre Stiefmutter und deren Kinder ließ sie nichts kommen. Viele Jahre lang hatte sie sie verteidigt. Er konnte sich sogar vorstellen, dass sie Grace überredet hatte, ihr bei diesem Einbruch zu helfen. Könnte es also sein, dass das Buch, das er jetzt bei sich trug, ein Beweisstück darstellte?

“Hat Madeline denn zugegeben, dass Kirk bei ihr war?”, fragte er.

“Sie behauptet, sie sei allein gewesen. Aber als Les mir erzählte, dass du hinter einer anderen Person her warst, war mir klar, dass das nicht stimmt.”

Kennedy folgte dem hellen Kreis, den Joes Taschenlampe auf den Boden warf. Er hätte gern einen Blick hinter sich geworfen, aber er traute sich nicht. Grace würde bestimmt so lange warten, bis er Joe losgeworden war, bevor sie sich auf den Weg nach Hause machte. “Habt ihr sie der Polizei übergeben?”

“Nein. Sie hat versprochen, sie würde den Schaden bezahlen, den sie verursacht hat. Also haben wir sie laufen lassen. Sie hat schon genug mitgemacht.”

Sie erreichten das mondbeschienene Brachland.

“Dass ihr Vater verschwunden ist, hat ihr schwer zu schaffen gemacht”, sagte Kennedy. Und weil das Wetter dafür einen guten Grund lieferte, begann er zu laufen. Er wollte Joe so schnell wie möglich von hier weglotsen. Das Buch, das er an seiner Seite spürte, hatte einen Ledereinband und hatte das Format einer Bibel. Aber das war nicht möglich, oder? Soweit er wusste, war Grace nicht besonders religiös, genauso wenig wie ihre Familie. Ein paar Jahre nach dem Verschwinden des Reverends waren die Montgomerys aus der Kirche ausgetreten. Daraufhin hatten die Leute in der Stadt noch einen weiteren Grund gehabt, auf sie zu zeigen und sie als gottlose Menschen zu brandmarken. Andererseits konnte Kennedy auch nicht glauben, dass sie in die Werkstatt eingebrochen war, um eine Bibel zu stehlen. Selbst wenn Jed dort eine gehabt hatte, gab es keinen vernünftigen Grund dafür.

“Das Verschwinden deines Onkels hat bestimmt die ganze Montgomery-Familie schwer getroffen”, sagte er, um das Gespräch nicht abbrechen zu lassen.

“Ach was”, sagte Joe, der auch losgejoggt war und nun neben ihm lief. “Wenn du mich fragst, sollte Madeline mal ein bisschen näher bei sich zu Hause suchen, wenn sie Antworten finden will. Es ist genau so, wie ich dir schon in deinem Büro gesagt habe: Du solltest McCormick dazu bringen, den Fall neu aufzurollen. Das hier wäre jedenfalls nicht passiert, wenn sich die Polizei darum gekümmert hätte.”

Kennedy strich sich die nassen Haare aus der Stirn. “Du meinst, wir würden Madeline einen Gefallen tun, wenn wir ihre Familie verdächtigen?”

Kennedy wusste, dass Joe die Sache nicht zum Wohl von Madeline verfolgte. Wäre das jetzt nicht eine Gelegenheit gewesen, Grace in anderem Licht erscheinen zu lassen, indem er Joe mitteilte, dass sie Madeline bei der Suche nach Beweisen geholfen hatte? Er war es leid, dass Joe immer auf ihr herumhackte. Aber es war wohl doch besser, ihren Namen in diesem Zusammenhang nicht zu erwähnen. McCormick würde Madeline sicher nicht zu hart rannehmen. Sie war ja bei allen beliebt, was man von Grace nicht gerade behaupten konnte. Wenn Kennedy sie beschuldigte, würde sie garantiert angeklagt werden.

“Sollen die Montgomerys denn das Ganze noch mal durchmachen und eine weitere Untersuchung über sich ergehen lassen?”, fragte er, als Joe langsamer wurde. Er wollte ihn so lange wie möglich beschäftigen.

Joe hatte wieder damit begonnen, mit der Taschenlampe den Waldrand abzusuchen. Aber bei dieser Frage drehte er sich wieder um und ging weiter. “Zum Teufel, ja, wenn sie so schuldig sind, wie ich meine, dann ist das gar keine Frage. Die Gerechtigkeit muss zum Zuge kommen.”

“Gerechtigkeit? Und was ist, wenn sie nicht schuldig sind? Was hat es mit Gerechtigkeit zu tun, wenn wir ihr Leben zerstören?”

Joe zuckte mit den Schultern. “Sie sind doch die Unruhestifter. Und wer sich etwas zuschulden kommen lässt, muss zur Rechenschaft gezogen werden.”

Sie überquerten die Bahngleise. “Das sagst du so einfach”, meinte Kennedy. “Das ist aber vielleicht eine ganz komplizierte Geschichte.”

Joe hielt Kennedy am Arm fest. Sie blieben stehen. “Warte mal kurz. Ich stehe auf der Seite des Opfers. Irgendwas ist mit meinem Onkel passiert”, erklärte er. “Und ich meine, es wird höchste Zeit, dass sich die Polizei damit befasst, was geschehen ist.”

Kennedy riss sich los. “Was treibt dich denn wirklich an, Joe? Das verstehe ich nicht dabei.”

“Ich will die Wahrheit herausfinden, das hab ich doch schon gesagt. Du solltest dich auch dafür interessieren.” Der Regen tropfte aus Joes Haaren, die ihm auf der Stirn klebten. “Willst du mir dabei helfen oder nicht?”

Kennedy erinnerte sich daran, wie Grace ihn auf dem Parkplatz vor der Pizzeria abgekanzelt hatte. Er konnte sich nur einen einzigen Grund vorstellen, warum Joe unbedingt alles in Bewegung setzen wollte, um ihr zu schaden. “Du bist bei ihr abgeblitzt, stimmt’s? Du wolltest so weitermachen wie früher, und sie hat dich weggeschickt. Hab ich recht?”

Joe schaltete die Taschenlampe aus, aber Kennedy konnte seinen finsteren Gesichtsausdruck trotzdem sehen. “Blödsinn! Was sollte ich denn von der willigen Gracie wollen?”

Kennedy erinnerte sich an Grace’ blaue Augen, die wach und intelligent dreingeblickt hatten. Diese Augen zeugten auch von einer Menge Leid, dass sie erduldet hatte. Gleichzeitig waren sie rätselhaft und tief, tief genug, um sich darin zu verlieren. Er glaubte, ganz genau zu wissen, was Joe an ihr so interessant fand. “Sie ist eine sehr schöne Frau und irgendwie was ganz Besonderes.”

“Was Besonderes?” Joe lachte hämisch. “Ich hab’s mit ihr getrieben. Alle haben das getan. Nur du wahrscheinlich nicht, aber auch bloß wegen Raelynn.”

Kennedy ignorierte die Spitze. “Aber das ist doch jetzt alles anders. Damals waren wir noch jung und unerfahren. Sie wusste doch noch gar nicht, wer sie war. Sie war einfach nur ein einsames Mädchen, das uns ihren Körper überlassen hat, weil sie ihn noch nicht als Teil ihrer Selbst ansehen konnte. Aber jetzt ist sie attraktiv und erfolgreich und interessiert sich nicht die Bohne für uns, egal ob für dich oder für mich.”

Joe rieb sich die Regentropfen aus dem Gesicht und ließ den Lichtkegel seiner Taschenlampe ein letztes Mal über den Waldrand gleiten. “Für mich ist sie immer noch die Gleiche”, sagte er und ging weiter. Aber Joe log. Kennedy glaubte nicht, dass es einen einzigen Mann in der Stadt gab, jedenfalls keinen einzigen Single, der nicht davon träumte, mit Grace Montgomery ins Bett zu gehen.

Sogar er selbst wollte das.

Clay ging in der Küche auf und ab, hielt an, warf Grace einen ungläubigen Blick zu, verzog grimmig das Gesicht und sagte: “Das ist nicht wahr.”

“Doch, es stimmt.” Sie wickelte das große Handtuch, das er ihr gegeben hatte, noch enger um sich. Die Nacht war jetzt um drei Uhr morgens noch angenehm warm, aber ihr war kalt. Sie hatte den weiten Weg nach Hause durch den Regen zu Fuß zurückgelegt. Dort hatte sie, ohne sich umzuziehen, die Autoschlüssel genommen und war direkt zur Farm gefahren.

“Aber wir haben die Bibel doch zusammen mit ihm vergraben”, sagte Clay energisch, als könnte er auf diese Weise die Wahrheit ungeschehen machen.

“Sie muss herausgefallen sein. Einmal hab ich es bemerkt. Auf den Stufen der Veranda.”

“Aber das wäre uns doch aufgefallen.”

“Woher willst du das wissen?”, fragte Grace. “Es war doch so dunkel. Und kannst du dich wirklich an alles erinnern? Konntest du noch klar denken?”

Grace fragte sich, ob sie in dieser Nacht überhaupt noch hatten denken können. Clay hatte die Initiative übernommen. Die Leiche zu vergraben und anschließend das Auto ihres Stiefvaters im Steinbruch zu verstecken, das war alles seine Idee. Und damit lebten sie jetzt schon seit achtzehn Jahren.

Was hätten sie auch sonst tun sollen? Die Polizei rufen kam nicht infrage. Grace wusste das heute so gut wie damals. Niemand in Stillwater hätte ihnen geglaubt; niemand hätte ihnen zugehört. Stattdessen hätten alle Vergeltung für den Tod ihres geliebten Reverends gefordert.

“Wir waren doch so vorsichtig”, sagte er.

“Offenbar nicht vorsichtig genug.”

“Aber Jed hat nie etwas von der Bibel gesagt.” Clay rieb sich mit der Hand über die Wangen. “Jedenfalls nicht zu mir. Nicht zu Mom. Nicht zur Polizei. Warum?”

“Ich weiß es nicht.”

Er setzte sich auf den Rand des Tisches neben sie. “Und wo, glaubst du, ist sie jetzt?”

“Kennedy Archer oder Joe Vincelli haben sie bestimmt gefunden. Anders kann ich es mir nicht vorstellen.”

Clay schien neue Hoffnung zu schöpfen. “Vielleicht haben sie sie ja gar nicht bemerkt. Wir sollten morgen hingehen und danach suchen.”

Grace schüttelte den Kopf. “Nein. Ich weiß ganz genau, wo ich sie verloren habe.”

Es musste passiert sein, als sie mit Kennedy gerungen hatte. Kurz zuvor hatte sie die Bibel noch bei sich gehabt. Aber sie wollte nichts von dieser kleinen Rangelei erzählen. Niemand musste erfahren, dass Kennedy sie überwältigt und wieder freigelassen hatte. Sie hatte die Bibel verloren, als sie weglaufen wollte. So wollte sie es erzählen.

Dennoch kam sie nicht umhin, sich eine Frage zu stellen, auch wenn sie so tat, als sei das gar nicht wichtig: Warum hatte er ihr geholfen?

“Als die Luft wieder rein war, hab ich den ganzen Platz abgesucht”, sagte sie. “Das Buch war weg.”

Clay stand auf und fing wieder an, hin und her zu gehen. “Joe Vincelli wird es bestimmt der Polizei übergeben.”

“Ich weiß.”

“Und Kennedy Archer auch.”

Grace antwortete nicht sofort. Sie war sich nicht sicher, was Kennedy betraf. Sie konnte noch immer nicht glauben, dass er sie hatte laufen lassen, und fragte sich, ob er es wohl schon bereute.

“Er wird es wohl tun müssen”, stellte sie fest. “Schließlich will er Bürgermeister werden.”

“Es ist wohl besser, wenn ich Mom anrufe”, sagte Clay. “Sie sollte vorbereitet sein, falls …”

Es klopfte an der Tür. War das Joe? Oder Kennedy? Die Polizei?

Grace’ Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Hatte sie nicht genau das erwartet? Dass eines Tages jemand so an die Tür klopfen und dann das Unheil über sie hereinbrechen würde? Als sie noch jung gewesen war, hatte sie jeden Tag die Rückkehr des Reverends gefürchtet. Jetzt fürchtete sie die, die kommen würden, um nach seinem Verbleib zu fragen.

“Geh nach oben”, flüsterte Clay. “Ich krieg das schon hin.”

Grace hatte ihren Wagen auf dem Kiesplatz hinter dem Haus geparkt, damit es von der Straße aus nicht zu sehen war. Sie wollte schon nach draußen laufen, um wegzufahren, solange es noch möglich war. Aber dann hörte sie Madelines Stimme.

“Hallo, Clay! Hörst du mich? Clay, mach bitte auf!”

Clay ging nicht sofort hin. Er schaute Grace an. “Weiß sie von der Bibel?”

“Falls sie davon weiß, wird es nicht lange dauern, und alles bricht über uns zusammen. Sie wird direkt zu Jed gehen und ihn fragen, wo er sie gefunden hat.”

“Aber warum sollte er ihr das sagen?”

Autor

Brenda Novak
Brenda Novak hätte es sich nie erträumt, einmal eine so erfolgreiche Autorin zu werden, interessierte sie sich doch in der Schule stark für Mathematik und Naturwissenschaften und wählte Betriebswirtschaftslehre als Hauptfach auf der Universität. Für ihren ersten Roman brauchte Brenda fünf Jahre – sie wollte perfekt sein. Und sie hatte...
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