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Sylvia Andrew
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Historical erscheint in der Harlequin Enterprises GmbH
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Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto) |
© |
1992 by Sylvia Andrew |
Fotos: Harlequin Books S.A.
Veröffentlicht im ePub Format im 12/2012 - die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
eBook-Produktion: readbox, Dortmund
ISBN 978-3-95446-778-5
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
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Blendende Helle durchflutete Lord Carterets großes Schlafgemach. Im Raum war es unerträglich warm, doch Seine Lordschaft hatte darauf bestanden, das Feuer im Marmorkamin zu schüren und keine der Kerzen verlöschen zu lassen.
„Mich wird früh genug Dunkelheit umfangen“, hatte er gesagt und seine Tochter grimmig angelächelt. „Ich möchte das Licht so lange wie möglich genießen.“
Er hatte die Bitte vor dem zweiten Schlaganfall geäußert, doch seither achtete Julia darauf, dass die Kerzen schon beim ersten Schwinden des Tageslichtes angezündet wurden und bis zum Morgengrauen brannten. Sie saß am Bett des Kranken und fächelte sich mit der Zeitung, die sie gelesen hatte, ehe er eingeschlummert war, Kühlung zu. Sie vermochte nicht, sich davon zu überzeugen, er sei auf dem Wege der Besserung, konnte sich ein Leben ohne ihn jedoch auch nicht vorstellen. Sie hatte die Mutter schon in Kindertagen verloren, und seither war er ihre Bezugsperson gewesen. Er hatte mit ihr gespielt und sie weitaus mehr gelehrt als die Gouvernante. Und seit der verhängnisvollen Saison in London war er ihr Freund und Vertrauter gewesen. Sie schluckte, als die Gefühle sie zu überwältigen drohten. Er würde es missbilligen, wenn sie ihnen nachgab und weinte. Sie war froh, dass sie sich beherrscht hatte, denn er regte sich und schlug die Lider auf.
„Julia?“, flüsterte er leise und kaum verständlich.
„Ich bin hier, Papa.“
„Das dachte ich mir.“
Er schwieg, und nur sein schwerer Atem war zu vernehmen.
„Hast du einen Wunsch, Papa?“, erkundigte sie sich besorgt.
„Nein. Ich habe nachgedacht. Wie alt bist du eigentlich, Julia?“
Sie unterdrückte einen Seufzer. Seit einer Woche stellte er ihr immer wieder dieselbe Frage und schien das stets aufs Neue zu vergessen. Geduldig antwortete sie: „Sechsundzwanzig, Papa.“
„Ich begreife nicht, warum du nicht geheiratet hast, mein Kind.“
„Ich habe nie jemanden gefunden, mit dem ich mich so gut hätte unterhalten können wie mit dir“, erwiderte sie lächelnd, obgleich sie wusste, dass diese Erklärung ihm ebenso wenig genügen würde wie alle anderen Begründungen, die sie ihm früher gegeben hatte.
Er krauste die Stirn und murmelte: „Was wirst du tun, wenn ich nicht mehr bei dir bin, Julia? Du solltest heiraten und einen Gatten haben, der dir beisteht, und Kinder. Die Gecken, die dir in London über den Weg gelaufen sind, hatten ja keine Ahnung, welch wertvoller Mensch du bist.“ Roderick Marchant, Earl of Carteret, schwieg und schüttelte leicht den Kopf. Ich hätte auf meine Schwester hören sollen“, fuhr er mit schwacher Stimme fort.“
Julia musste sich vorbeugen, um ihn zu verstehen.
„Sie hatte mir geraten, dir mehr Zeit zu lassen, damit du dich im ton bewegen lernst. Ich hingegen war anderer Ansicht. Ich meinte, jeder müsse mit halb geschlossenen Augen sehen, welch wunderbare Tochter ich habe. Doch deine Verehrer, diese Hohlköpfe, suchten nur ein hübsches Gesicht und eine Frau, die Gefallen an leeren Komplimenten findet. Der Teufel soll diese Trottel holen! Ich hätte wirklich Alicias Empfehlungen folgen sollen. Deine Tante ist zwar in allem anderen eine dumme Person, aber sie weiß, wie man sich auf gesellschaftlichem Parkett zu benehmen hat. Ich hätte doch mehr Geduld aufbringen sollen.“ Mit zitternden Fingern ergriff Roderick die Hand der Tochter. Verzeih mir, dass ich dir die Zukunftsaussichten zunichtegemacht habe.“
Er verstummte und schien entweder eingeschlafen zu sein oder erneut das Bewusstsein verloren zu haben. Julia traten die Tränen in die Augen, und mit verschwommenem Blick schaute sie auf die Zeitung. Das Problem, dass sie bisher nicht verheiratet war, beschäftigte den Vater in jedem wachen Moment. Die Angst, er trage die Schuld daran, ließ ihn innerlich nicht zur Ruhe kommen, obwohl er in seinem geschwächten Zustand den Seelenfrieden dringend nötig hatte.
Julia fragte sich, was sie tun könne, um ihm zu helfen. Die einzige Antwort war, sich zu vermählen, doch das würde sich nicht bewerkstelligen lassen. Es war ihr schon im Verlauf der Saison in London nicht gelungen, einen Heiratsantrag zu erhalten; wie sollte sie dann ausgerechnet in Surrey, noch dazu, wo sie durch die Krankheit des Vaters ans Haus gebunden war, jemanden finden, der sich für sie interessierte? Selbst wenn es einen Verehrer gäbe, würde er gewiss nicht den Vorstellungen entsprechen, die der Vater sich von ihm als ihrem zukünftigen Gatten machte.
Einmal hatte es einen Gentleman gegeben, in den sie verliebt gewesen war. Sie lächelte trocken, als sie an die fast zehn Jahre zurückliegende kurze Bekanntschaft mit Hugo Devenish dachte. Es war nicht verwunderlich gewesen, dass sie sich, damals noch ein siebzehnjähriges scheues Mädchen und nur an die Gesellschaft des vom Wesen her nüchternen, sachlichen Vaters gewöhnt, Hals über Kopf in den charmanten, weltgewandten jüngeren Sohn des Marquess of Rostherne verliebt hatte.
Zu jener Zeit hatte der Marquess noch gelebt. Lord Hugo Devenish war erst kurz zuvor aus Griechenland zurückgekehrt und genoss das Aufsehen, das er im ton erregte. Warum auch nicht? Die wenigsten Damen, gleich welchen Alters, konnten sich der Ausstrahlung des hochgewachsenen, kräftigen, sonnengebräunten und attraktiven Gentleman entziehen, den immer noch der Ruf eines Aufsehens erregenden Gesellschaftsskandals umgab. Doch dank des Reichtumes seiner Familie, seiner noblen Herkunft und untadeligen Manieren neigten die Mütter heiratsfähiger Töchter dazu, seine Vergangenheit zu übersehen und ihn mit Wohlwollen zu betrachten. Schließlich hatte man ja nie etwas Genaues über die Umstände des Skandals erfahren, und zudem war Lord Hugo Devenish seinerzeit noch sehr jung gewesen.
Julia hatte ihn gänzlich unerwartet kennengelernt, als sie bei einem von Lady Godfrey veranstalteten Ball aus dem Saal geflohen war. Sie hatte sich einsam gefühlt, Sehnsucht nach dem Vater gehabt und sich in den Wintergarten zurückgezogen. Plötzlich war Cousine Sophie, ein lebhaftes blondhaariges Mädchen mit blauen Augen und zartem Teint, in den Raum gekommen, begleitet von zwei Kavalieren. Der eine war Lord Mersham, ihr treuester Verehrer, gewesen, doch den anderen, etwas größeren Herrn hatte Julia nicht gekannt.
Sie war froh gewesen, dass man sie nicht sogleich hatte sehen können, und hatte vorsichtig um die Palmen gelugt, um den Mann erkennen zu können. Erschrocken war sie erstarrt, als er in ihre Richtung schaute, und hatte innerlich aufgeatmet, weil er sie nicht bemerkt zu haben schien und das Gespräch mit Sophie und ihrem Bewunderer fortsetzte. Es hatte sie nicht erstaunt, dass die Aufmerksamkeit der Cousine eher ihm denn ihrem Verehrer galt, obgleich Sophie mit Lord Peter Mersham schäkerte.
Plötzlich war Maria Cunliffe in den Wintergarten gekommen und hatte der Freundin mitgeteilt, sie und Cousine Julia würden von Sophies Mutter gesucht. Sophie hatte gelacht und erwidert, sie könne sich nicht vorstellen, dass irgendjemand Julia vermissen würde. Auch Peter hatte gegrinst, sein Bekannter hingegen die Stirn gerunzelt. Sophie hatte die Begleitung der Herren ausgeschlagen und war mit Maria Cunliffe in den Ballsaal zurückgekehrt.
Lord Peter Mersham hatte eine hingerissene Bemerkung über Sophie gemacht, von seinem Hugo genannten Freund jedoch nur zur Antwort erhalten, sie sei zwar hübsch, aber überheblich, weil sie sich so abfällig über die Cousine geäußert habe. Peter hatte entgegnet, Julia Marchant habe zwar einen reichen Vater, sei aber ansonsten hochmütig, langweilig, unselbstständig und fad. Hugo hatte daraufhin gemeint, in seinen Augen sei Sophie Aston wahrlich kein Ausbund an Intelligenz und so dumm wie hübsch. Peter hatte sich geärgert und war zu den anderen Gästen zurückgegangen. Hugo hatte sich auf eine Bank gesetzt, eine Weile geschwiegen und dann plötzlich, ohne sich umzudrehen gesagt: „Nun können Sie das Versteck verlassen, Madam. Ich glaube nicht, dass Sie den ganzen Abend dort zubringen möchten.“
Julia hatte sich noch tiefer in den Winkel zurückgezogen und erschrocken gefragt: „Woher wussten Sie, dass ich hier bin?“
„Ich habe Sie sofort bemerkt, als ich den Wintergarten betrat. Nun zeigen Sie sich endlich und gewähren Sie mir die Gunst eines Tanzes.“
„Das geht nicht!“, hatte Julia bestürzt erwidert. „Wissen Sie denn nicht, wer ich bin?“
„Sie sind Lady Julia Marchant, Sophie Astons Cousine, wenn ich mich nicht sehr irre“, hatte Hugo geantwortet. „Und ich bin Hugo Devenish.“
Sie hatte nicht gewagt, sich ihm zu nähern.
„Es tut mir leid, wenn Sie sich durch das, was Sie belauscht haben, gekränkt fühlen“, hatte er nach kurzem Schweigen geäußert.
Julia hatte ihm widersprochen und enttäuscht hinzugefügt, sie hätte sich das Leben in London gänzlich anders ausgemalt. Natürlich habe sie sich auf die Bälle, Theaterbesuche und sonstigen gesellschaftlichen Amüsements gefreut, dann jedoch feststellen müssen, dass sie durch ihre Unbeholfenheit und Gehemmtheit offenbar nicht imstande sei, auf die Leute einen gewinnenden Eindruck zu machen. Sie sei eine schlechte Tänzerin, und jeder mache sich hinter ihrem Rücken über sie lustig. Selbst Sophie und Peter hatten das noch vor wenigen Minuten getan. Natürlich bemühe sie sich, nicht zu zeigen, wie sehr das Verhalten ihrer Umgebung sie kränkte, aber es ließe sich nicht leugnen, dass sie zutiefst verletzt sei.
„Das ist verständlich“, hatte Lord Devenish erwidert. „Jedem würde es so gehen. Doch nun vergessen Sie die Hemmungen, und tanzen Sie mit mir. Ich werde Sie so geschickt führen, dass Sie nicht befürchten müssen zu stolpern.“
Zögernd war sie aus dem Versteck gekommen und hatte den Mann, der unbedingt mit ihr tanzen wollte, misstrauisch angeschaut. Er war aufgestanden, und sie hatte bemerkt, dass er sie um Haupteslänge überragte und ungemein gut aussah. Er hatte ihr den Arm gereicht, und innerlich immer noch widerstrebend war sie mit ihm in den Ballsaal gegangen. Er war indes ein wundervoller Tänzer, und der aufmunternde Blick seiner nussbraunen Augen hatte ihr jedes Gefühl der Unsicherheit genommen und sie die Umgebung vollkommen vergessen lassen. In der Pause, als das Souper serviert wurde, hatte er ihr einen Teller voller Köstlichkeiten gebracht und sich mit ihr in einen stillen Erker zurückgezogen. Durch seine charmante, herzliche und lustige Art war ihre Befangenheit schnell geschwunden. Sie hatten viel gelacht, bis sie unversehens von ihm leicht auf den Mund geküsst worden war. In ihrer Bestürzung hatte sie unwillkürlich die Lippen geöffnet und ihn erschrocken angeschaut. Er hatte ihr noch einen Kuss gegeben, der viel zärtlicher und gefühlvoller als der erste gewesen war, und sich dann zu ihrer Überraschung stirnrunzelnd erkundigt, wie alt sie sei.
„Siebzehn.“
„Erst? Ich habe Sie älter geschätzt.“
„Wahrscheinlich, weil ich so groß bin. Ich werde oft für älter gehalten.“
„Dann wird es Zeit, dass ich Sie zu Ihrer Tante zurückbringe. Ich darf Sie nicht länger dem Gerede der Leute aussetzen.“ Er hatte sie zu der Countess of Thornton geleitet, sich mit einem bedauernden Lächeln vor ihr verneigt und sich unter die Gäste gemischt.
Im weiteren Verlauf des Abends war sie in einem Zustand seliger Benommenheit gewesen und hatte die neugierigen Blicke, die man ihr zuwarf, nur am Rande wahrgenommen. Nachts hatte sie Stunden wach gelegen, ihr Glück nicht fassen können und von einer wundervollen Zukunft in Lord Hugo Devenishs Armen geträumt. Durch ihn hatte sie plötzlich das Gefühl bekommen, schön und begehrenswert zu sein. Und der Umstand, dass er kein zweites Mal mit ihr getanzt hatte, war auch schnell erklärt. Er hatte Rücksicht auf sie genommen und vermieden, dass man über sie klatschte.
Am nächsten Abend hatte sie sich eingeredet, es gäbe gewiss eine vernünftige Erklärung dafür, dass er tagsüber nicht zu Besuch erschienen war. Vielleicht hatten wichtige Geschäfte ihn ihr ferngehalten. Schließlich hatte er nicht wissen können, ebenso wenig wie sie, dass er bei Lady Godfreys Ball sein Lebensglück finden würde.
Eine Woche lang hatte Julia sich etwas vorgemacht, sich dann jedoch eingestehen müssen, das für sie die Welt von Grund auf verändernde Erlebnis sei für ihn vollkommen bedeutungslos gewesen. Möglicherweise hatte er sich sogar über sie amüsiert.
Erbittert hatte sie bei Ausfahrten im Park verstohlen nach ihm Ausschau gehalten, um ihn dann hochmütig zu ignorieren, und bei allen gesellschaftlichen Veranstaltungen, die von ihnen beiden besucht wurden, war es nicht anders gewesen. Irgendwann war ihr dann aufgefallen, dass der gesamte ton sich über ihr Verhalten belustigte, doch es hatte sie nicht gestört. Eine Art wütender Besessenheit hatte sie befallen, den Mann, den sie inzwischen als ihren Feind betrachtete, zu verfolgen und zu bestrafen, koste es, was es wolle.
Und bald fand sie sich, gänzlich unerwartet, in ihrem Urteil über Lord Hugo Devenish bestätigt. Eines Tages hatte sie sich im Hause der Tante im Salon hinter den geschlossenen Portièren auf die Erkerbank gesetzt und sich wilden Wunschvorstellungen hingegeben, irgendwann einen reumütigen, vollkommen verzweifelten Lord Devenish voller Verachtung zurückweisen zu können.
Durch den Klang ihres Namens war sie jäh in die Wirklichkeit zurückgerissen worden, und erstaunt hatte sie vernommen, dass die Tante äußerte, sehr um sie besorgt zu sein.
„Seit Lord Devenish sich so auffallend um Miss Strangway bemüht, Lady Crichel“, hatte die Tante gesagt, „ist Julias Benehmen noch schlimmer geworden. Ich habe bereits an meinen Bruder geschrieben, doch leider weilt er im Moment nicht in Downings Castle. Die arme Julia ist so unglücklich.“
Lady Crichel hatte verächtlich erwidert, Julia sei ein törichtes Kind und Lord Devenish ein unverbesserlicher Roué, der sogar mit seiner Schwägerin ein Verhältnis gehabt habe. Auf den Einwand von Julias Tante, etwas vorsichtiger mit solchen Äußerungen zu sein, denn schließlich gäbe es keinen Hinweis, dass dieses Gerücht der Wahrheit entspräche, hatte Lady Crichel spitz entgegnet: „Und was, meine Liebe, soll man von einem attraktiven Burschen denken, der ständig mit der Frau seines Bruder zusammen ist, nach einem in der Öffentlichkeit ausgetragenen Streit mit ihm plötzlich ins Ausland reist und dem dann, kaum einen Monat später, seine erst ein Jahr verheiratete Schwägerin folgt? Sie wissen so gut wie ich, meine Teure, dass John Devenish seither ein gebrochener Mann ist, der Vergessen beim Spiel und im Alkohol sucht. Sein Vater musste ihm mehr als einmal aus der Patsche helfen. Er hätte diese Thérèse de Lachasse nie heiraten dürfen! Eine Ausländerin! Es gab genügend hübsche und begüterte englische Mädchen, die stolz darauf gewesen wären, sich mit dem Erben des Marquess of Rostherne zu vermählen.“
Julia hatte genug gehört. Ihre Meinung über Lord Devenish war also doch nicht falsch gewesen. Er war ein hemmungsloser Frauenheld. Vermutlich hatte er inzwischen das Interesse an seiner Schwägerin verloren und war nach England zurückgekommen, um neue Eroberungen zu machen. Es hatte Julia geärgert, dass sie durch ihn bei Lady Godfreys Ball zum Mittelpunkt allgemeinen Geredes geworden war. Trüben Blickes hatte sie aus dem Fenster gestarrt und sich nach Hause gesehnt.
Einige Tage später war ihr Zorn auf Lord Devenish wieder in vollem Maße entbrannt. Hugo Devenish hatte gewagt, einen Morgenbesuch bei der Tante abzustatten, und war, entgegen Julias Wünschen, ins Haus gebeten worden. Beim Betreten der Bibliothek hatte er so gewinnend gelächelt, dass Julia fast zum Einlenken bereit gewesen war. Doch dann hatte sie sich ihres Ärgers besonnen und kühl gefragt: „Sie wünschen, Sir?“
„Ihre Tante, Lady Julia, hat mir gestattet, ungestört mit Ihnen zu sprechen, damit ich Sie bewege, Ihr peinliches Benehmen zu ändern, das für uns beide zum Nachteil ist.“
„Ach, amüsiert es Sie nicht mehr, mich zur Zielscheibe allgemeinen Spottes zu machen?“
„Ich gebe zu, dass ich Sie zum Tanzen aufgefordert habe, um die Klatschbasen, die sich über Sie den Mund zerrissen, zum Schweigen zu bringen. Das war unüberlegt, denn ich hätte berücksichtigen müssen, wie jung und leicht beeinflussbar Sie noch sind. Aber ich versichere Ihnen, es geschah nicht in böser Absicht. Vergeben Sie mir und seien Sie mir wieder gut.“
„War das alles, was Sie mir zu sagen hatten?“
„Nun, wäre nur ich von Ihrem kindischen Gebaren betroffen, hätte ich es mit Nachsicht hingenommen. Doch nun hat das durch Sie entstandene Gerede Auswirkungen auf eine Dame, der ich mich verbunden fühle. Ich kann nicht dulden, dass sie unter Ihrem Betragen zu leiden hat, und verlange von Ihnen, umgehend Vernunft anzunehmen und sich so aufzuführen, wie man es von einer gesitteten jungen Dame erwarten kann.“
Sie hatte gegen den Wunsch ankämpfen müssen, in Tränen auszubrechen, sich jedoch beherrscht, weil sie Lord Devenish nicht zeigen wollte, wie tief sie verletzt war. Sie hatte geläutet und kühl erwidert. „Richten Sie Miss Strangway aus, dass Sie sich durch mich nicht mehr aus der Ruhe gebracht fühlen muss! Ich reise am Ende der Woche heim und werde Londoner Boden nie mehr betreten! Ehe Sie gehen, Sir, möchte ich Ihnen noch sagen, dass ich Ihnen nie verzeihen werde. Durch Ihr geheucheltes Mitleid und die Herablassung, mit der Sie mir bei Lady Godfreys Fest entgegengetreten sind, und weil beides nur der selbstsüchtigen Absicht entsprungen ist, Ihre männliche Eitelkeit zu befriedigen, haben Sie mich noch mehr zum Gespött der Leute gemacht, als ich es vorher war. Betrachten Sie mich in Zukunft als Ihre Feindin, sollten wir uns je wieder über den Weg laufen. Im Übrigen bin ich froh, besonders im Hinblick auf Ihre zweifelhafte Vergangenheit, Ihrem Interesse entrinnen zu können.“ Lord Devenishs wütende Miene hatte sie erschreckt, doch glücklicherweise war in diesem Moment der Butler in die Bibliothek gekommen. „Lord Devenish möchte gehen, Parsons“, hatte sie hastig erklärt.
Lord Devenish hatte sie noch sekundenlang erbost angeschaut, sich dann brüsk umgedreht und war gegangen.
Tage später war Julia nach Downings Castle gereist und im Herbst vom Vater nach Griechenland mitgenommen worden. In den folgenden drei Jahren hatte sie es vermocht, die unglückliche Londoner Saison zum größten Teil zu vergessen. Mehrere Verehrer hatten ihr mittlerweile den Hof gemacht, doch vergebens. Keinem war es gelungen, die Erinnerung an Hugos braun gebranntes Gesicht, seine lächelnden Augen und die beiden Küsse zu verdrängen.
Fünf Schläge der Kaminuhr brachten Julia in die Gegenwart zurück. Der Arzt würde bald zur täglichen Visite erscheinen. Sie wartete, doch die Minuten verstrichen, ohne dass Dr. Carfax kam. Gewiss war er irgendwo aufgehalten worden.
Sie begann die Zeitung durchzublättern und setzte sich plötzlich aufrecht hin, als ihr Blick auf eine Nachricht fiel, die unter den Gesellschaftsspalten gemeldet wurde. „Es wird damit gerechnet“, las sie erstaunt, „dass innerhalb der nächsten vier Wochen die offizielle Ankündigung der Heirat des sechsten Marquess of R. bekannt gegeben wird. Gespannt wartet man in den Kreisen des Adels darauf zu erfahren, wer die Auserwählte ist, die Seine Lordschaft zum glücklichsten aller Männer macht. Nur so viel sei angedeutet, dass sie sehr vermögend ist und zurzeit nicht im ton verkehrt.“
Julia meinte, den Augen nicht trauen zu können. Sie zweifelte nicht daran, dass die Notiz Hugo Devenish betraf, denn seit dem Tode seines Vaters und des älteren Bruders war er der Marquess of Rostherne. Zudem war es ein offenes Geheimnis, dass er dringend Geld benötigte. Wahrscheinlich hatte er vor, die Tochter eines Bürgerlichen zu heiraten, der dank seiner Beteiligungen an in den Midlands oder im Norden des Landes gelegenen Fabriken zu Reichtum gelangt war. Er musste in einer sehr verzweifelten Lage sein, wenn er eine derartig schockierende Mesalliance in Betracht zog.
Unwillkürlich fragte sich Julia, wie er sich fühlen würde, wenn er die boshaft formulierte Meldung in der „Gazette“ sah, rief sich indes sogleich zur Ordnung. Für sie war Hugo Devenish Vergangenheit, und daran würde sich nichts ändern, auch wenn es ihr in den vergangenen Jahren manchmal schwergefallen war, ihn zu ignorieren. Er hatte erneut mehrere Monate in Griechenland verbracht, Zeichnungen und Beschreibungen von Tempeln und Kultstätten angefertigt und in regem Briefwechsel mit Julias Vater gestanden, der sich ebenfalls sehr für die griechische Kultur interessierte.
Stimmen im Korridor kündigten die Ankunft des Arztes an. Julia erhob sich und öffnete ihm und der ihn begleitenden Tante die Tür.
„Wie geht es Roderick?“, erkundigte sich Alicia leise. „War er bei Bewusstsein? Hat er mit dir gesprochen? Mein liebes Kind, du siehst schrecklich abgespannt aus“, fügte sie in besorgtem Ton hinzu und ergriff die Hand der Nichte. „Ich bestehe darauf, dass du jetzt endlich etwas isst. Nein, keine Widerrede!“
„Lady Thornton hat recht“, warf Matthew Carfax ein. „Sie sind Ihrem Vater keine Hilfe, falls Sie krank werden. Sobald ich ihn untersucht habe, kann die Pflegerin Sie ablösen. Ich komme später zu Ihnen.“
Widerstrebend verließ Julia mit der Tante das Zimmer des Vaters.
„Ich muss dir etwas mitteilen und hoffe, dass du nicht zu enttäuscht bist“, sagte Alicia auf dem Weg in die Halle. „Sophie hat beschlossen, morgen nach London zurückzufahren.“
Es wunderte Julia nicht, dass die Cousine sich langweilte. Sie überlegte, wie sie auf taktvolle Art Verständnis zeigen könne, doch die Tante sprach bereits weiter.
„Es war freundlich von ihr, zu uns nach Downings zu kommen und ihre Unterstützung anzubieten, aber du weißt, welch schwache Nerven sie hat. Ich habe ihr geraten, zu ihrem Gatten und den Kindern heimzukehren, denn ich bin überzeugt, sie vermisst sie.“
Das war eine sehr einfühlsame Art, Sophies wahres Verhalten zu umschreiben, und Julia musste selbst in ihrer bedrückten Verfassung lächeln. Die Cousine hatte London nur verlassen, um ihrem Mann drastisch vor Augen zu führen, wie wütend sie über seine Ablehnung war, ihr eine neue Equipage zu kaufen. Doch schon bald nach ihrer Ankunft war ersichtlich geworden, dass ihr das durch die Krankheit des Onkels bedingte ruhige Leben in Downings Castle nicht passte. Sie war nicht imstande, sich einzufügen, und hatte in den vergangenen zwei Tagen deutlich genug zu erkennen gegeben, wie sehr sie sich ödete. Julia war überzeugt, dass die Tante ganz bewusst daraufhin gewirkt hatte, die Tochter in den Schoß ihrer Familie zurückzuschicken und sie zu bewegen, sich mit dem Gatten zu vertragen.
„Wie ich dir schon vorhin erklärt habe, meine ich, dass Julia auch ohne dich auskommen kann“, sagte Sophie unwirsch, als Mutter und Cousine den Salon betraten. „Ich brauche dich! Was soll ich tun, wenn Peter sich immer noch so halsstarrig benimmt? Du musst mich begleiten!“
„Sophie hat recht“, wandte Julia sich an die Tante. „Ihr Gatte wäre gewiss nicht damit einverstanden, dass sie ohne Begleitung fährt, auch wenn die Reise nur von kurzer Dauer ist. Und hier gibt es wirklich nicht viel zu tun.“
„Siehst du, Mama! Julia benötigt dich nicht!“ Sophie lächelte triumphierend. „Du kannst ja zurückkommen, falls Onkel Roderick … nun, wenn sein Befinden sich sehr verschlechtern sollte.“
Alicia Aston, Countess of Thornton, schaute die Nichte an und fragte unschlüssig: „Bist du sicher, dass du auf mich verzichten kannst?“
„Ja“, antwortete Julia. „Ich bin sehr dankbar, dass du in den letzten Wochen hier warst, aber ich kann deine Zeit nicht noch länger in Anspruch nehmen. Deine Enkel werden sich bestimmt freuen, wenn du wieder bei ihnen bist.“
Dieser Hinweis half Alicia, die Entscheidung zu treffen. Sie liebte Sophies Kinder ebenso wie die Tochter. „Gut, dann reise ich morgen mit Sophie“, willigte sie ein.
„Ich kümmere mich darum, dass unser Gepäck gerichtet wird“, sagte Sophie rasch und verließ den Salon.
„Es war nicht meine Absicht, dich so überstürzt allein zu lassen, Julia“, fuhr Alicia ernst fort. „Ich muss jedoch zugeben, dass ich mir große Sorgen um Sophie und ihren Gatten mache. Neuerdings streiten sie sich sehr oft und aus den nichtigsten Anlässen. Ich habe den Eindruck, dass Peter zu wenig Rücksicht auf die schwachen Nerven meiner Tochter nimmt. Meine Anwesenheit in London trägt hoffentlich dazu bei, eine Katastrophe abzuwenden. Bist du wirklich der Meinung, dass du ohne mich zurechtkommst?“
„Ja“, bestätigte Julia. „Natürlich war es am Anfang ein schwerer Schlag für mich, dass Papa so krank wurde, doch inzwischen habe ich mich mit der Situation abgefunden. Bitte, mach dir meinetwegen keine Gedanken. Sophies Ehe sollte deine Hauptsorge sein. Falls ich deine Hilfe benötige, setze ich mich mit dir in Verbindung.“
„Das erwarte ich“, erwiderte Alicia und verließ, nicht restlos davon überzeugt, das Richtige zu tun, den Salon.
Bedrückt nahm Julia in einem Sessel Platz und starrte trübsinnig ins Leere. Ein Weilchen später klopfte es, und auf ihr Geheiß hin betrat ein Hausmädchen mit einem Tablett den Raum, stellte es auf dem Tisch vor ihr ab und zog sich leise zurück. Unlustig blickte sie auf den kalten Imbiss, überwand sich jedoch und nahm eine Kleinigkeit zu sich. Plötzlich hörte sie Dr. Carfax, stand hastig auf und öffnete die Tür. Die Frage, wie es ihrem Vater gehe, erstarb ihr auf den Lippen, als sie die Miene des Arztes sah.