Spion des Herzens
– oder –
Rückgabe möglich
Bis zu 14 Tage
Sicherheit
durch SSL-/TLS-Verschlüsselung
– oder –
Bis zu 14 Tage
durch SSL-/TLS-Verschlüsselung
Zweifellos war es der Wunsch der meisten jungen Ladys in heiratsfähigem Alter, zumindest eine gesellschaftliche Saison in London zu erleben. Jede hoffte, am Ende dieser immens kostspieligen Zeit ihre ehrgeizigen Verwandten zufriedenzustellen, indem sie einen passenden und vorteilhaften Ehepartner gefunden hatte.
Verity, die durch das Kutschenfenster ohne großes Interesse die vorüberfliegende Landschaft von Kent betrachtete, fragte sich, warum sie selbst in die Hauptstadt fuhr. Sie hatte nicht das Verlangen, sich unter die oberen Zehntausend zu mischen, geschweige denn ein Mitglied des ton zu heiraten. Die Vorstellung, eine pflichtbewusste Ehefrau zu werden, die sich den Launen eines hochwohlgeborenen Gentleman unterordnete, hatte nichts Verlockendes für sie. Warum, um alles in der Welt, hatte sie sich zu einer Saison in London überreden lassen?
Bei einem Blick auf die rundliche Frau mittleren Alters, die ihr gegenüber zufrieden ein Schläfchen hielt, musste sie unwillkürlich lächeln. Niemand, der die verwitwete Lady Clara Billington nicht genau kannte, wäre auf die Idee verfallen, dass sich hinter ihrem etwas trägen Wesen ein messerscharfer Verstand verbarg, mit dem sie die Menschen auf eine Art manipulierte, die mancher Stratege bewundert hätte.
Als die gut gefederte Kutsche plötzlich schwankte, wachte ihre Tante auf. „Gütiger Himmel!“, rief sie und rückte ihren modischen Hut zurecht. „Diese Straße wird immer schlechter. Erinnere mich daran, dass ich mit meinem Bruder Charles darüber ein ernstes Wort rede, Verity. Hier muss etwas getan werden.“ Nachdem Lady Billington auch die Falten ihres maronenfarbenen Reisekleides geordnet hatte und den Kopf hob, entdeckte sie, dass ihre Nichte sie seltsam forschend anblickte. „Was ist los, Liebes?“, erkundigte sie sich. „Du siehst mich an, als wäre ich eine Fremde.“
„Allmählich frage ich mich, wie gut ich dich wirklich kenne, Tante Clara“, erwiderte Verity. „Seit ich das Internat verlassen habe, planst du, mich für eine Saison nach London zu bringen. Wie hast du es nur geschafft, dass ich letztendlich eingewilligt habe?“
Lady Billington lächelte sie unschuldig an, dann wandte sie resolut den Kopf ab und schaute aus dem Fenster.
Ihre junge Nichte hatte nur teilweise recht. Fast von dem Tag an, an dem ihr Bruder gestorben war, hatte Lady Billington davon geträumt, seiner einzigen Tochter wenigstens eine Saison in London zu ermöglichen. Da ihr eigene Kinder versagt geblieben waren, hatte sie lebhaften Anteil am Heranwachsen ihrer Nichten und Neffen genommen, wobei Verity sehr schnell ihr Liebling geworden war. Als Veritys Mutter das Haus in Hampshire verkauft hatte und in ihre Heimat Yorkshire zurückgekehrt war, um ihrem unverheirateten älteren Bruder Lucius Redmond den Haushalt zu führen, hatte Lady Billington den Kontakt mit ihrer Schwägerin und Nichte aufrechterhalten und sie zumindest einmal im Jahr besucht.
Nach dem unerwarteten Tod von Veritys Mutter war Lady Billington ein wenig verletzt gewesen, dass Lucius zu Veritys alleinigem Vormund bestellt worden war.
Da Mr. Redmond Junggeselle war, hatte er sich jedoch Lady Billingtons wohlmeinendem Rat gebeugt und Verity auf ein ausgezeichnetes Internat in Bath geschickt.
Als Verity mit sechzehn die Schule verlassen hatte, war der Wildfang von einst zu einer atemberaubend hübschen jungen Dame erblüht. Sie hatte nicht nur eine exquisite Figur und zarte, klare Züge, sondern auch außergewöhnliche tiefblaue Augen, die durch eine Fülle blauschwarzer Locken noch vorteilhafter zur Geltung kamen. Leider schien sie den Gaben gegenüber, mit denen die Natur sie so reichlich ausgestattet hatte, blind zu sein. Abgesehen von gelegentlichen Besuchen bei ihrer Tante in Kent blieb sie in Yorkshire und half ihrem Onkel Lucius in seinem erfolgreichen Zeitungsverlag.
„Deine harmlose Miene täuscht mich keine Minute, Tante Clara“, brach Verity das Schweigen. „Du bist eine schlaue Person und weißt genau, dass ich nicht hier sitzen würde, wenn du nicht gedroht hättest, mir keine von den pikanten Informationen mehr zukommen zu lassen, die für mich unschätzbar sind.“
„Du bist ungerecht, mein Kind“, beschwerte Lady Billington sich gekränkt. „Ich habe dir lediglich geschrieben, dass in London nichts Erwähnenswertes los sei, weil sich nach der Flucht dieses schrecklichen korsischen Emporkömmlings die Hälfte der männlichen Mitglieder des ton auf dem Kontinent befindet. Ich war der Ansicht, du solltest mich in die Hauptstadt begleiten, weil wir gemeinsam vielleicht genügend Informationen sammeln können, aus denen du einen amüsanten kleinen Bericht verfassen kannst.“
Verity war zwar nicht überzeugt, zog es indes vor, dieses Thema nicht weiterzuverfolgen. Sie war sich bewusst, dass sie ohne die Hilfe der Tante nicht imstande gewesen wäre, ihre Artikel für die Zeitung ihres Onkels zu schreiben.
Er war zuerst strikt dagegen gewesen, weil er sein Journal nicht mit frivolem Klatsch beflecken wollte, wie er sich ausgedrückt hatte. Doch als Verity ihn darauf hingewiesen hatte, dass nicht nur Männer Zeitungen lasen und seine weiblichen Leserinnen es zu schätzen wüssten, wenn gelegentlich ein Artikel erscheinen würde, der ihre Interessen berücksichtigte, hatte der Onkel eingelenkt. Da er allerdings ein altmodischer Mann war und die Meinung vertrat, dass Ladys wie Verity nicht arbeiten sollten, hatte er ihre Tätigkeit von Anfang an auf einen Beitrag pro Monat beschränkt.
Verity hatte sich damit zufriedengegeben. Ihre Artikel über Mode, neue Frisuren und Schönheitsmittel hatten bei den Damen in Yorkshire großen Anklang gefunden. Am populärsten aber waren ihre Berichte über die Ereignisse während der Londoner Saison gewesen, für die Lady Billington sie mit dem nötigen Material versorgt hatte.
„Wenn in London nichts los ist, können wir immer noch auf den Prinzregenten zurückgreifen“, meinte Verity nach einigem Überlegen. „Er ist immer für irgendeine Verrücktheit gut. Außerdem bin ich nicht sicher, ob wirklich alle wichtigen Mitglieder des ton das Land verlassen haben.“
Lady Billington überlegte. „Während meines Aufenthalts in Kent habe ich etwas gehört, das dich interessieren könnte. Es heißt, dass Arthur Brinleys Enkelsohn dazu bestimmt ist, der nächste Viscount Dartwood zu werden.“ Als keine Antwort erfolgte, fügte sie hinzu: „Ich weiß, du hast den alten Mann sehr gern gehabt, kann mich aber nicht erinnern, dass du je seinen Enkel erwähnt hättest. Du kennst doch bestimmt Major Carter.“
„Ja, ich kannte ihn“, räumte Verity ein, „habe ihn aber seit mindestens fünf Jahren nicht mehr gesehen.“
Lady Billington studierte das hübsche Gesicht ihrer Nichte. „Gehe ich recht in der Annahme, dass du den Major nicht magst?“
Verity runzelte die Stirn. Hegte sie tatsächlich eine Abneigung gegen Arthur Brinleys Enkelsohn, der ihr einmal sehr wehgetan hatte? Aber das schien unendlich lange her zu sein. Wenn sie während der vergangenen Jahre überhaupt an ihn gedacht hatte – und das war nicht sehr oft gewesen – dann nur, weil sie in der Zeitung einen Bericht über seine Heldentaten im Krieg auf der iberischen Halbinsel gelesen hatte.
Verity seufzte tief. „Nein, Tante Clara, das stimmt nicht, obwohl ich ihn für einen Einfaltspinsel halte.“ Sie zuckte die Achseln, bevor sie hinzusetzte: „Ich sollte wohl besser über ihn reden, da er sich als so tapferer Soldat erwiesen hat. Außerdem hat er mir früher einmal das Leben gerettet.“
„Gütiger Himmel“, rief Lady Billington. „Was, um alles in der Welt, ist damals geschehen?“
„Nichts besonders Aufregendes“, erwiderte Verity mit einer abwehrenden Geste. „Ich wäre beinahe ertrunken, wenn Brin nicht in den See gesprungen wäre und mich gerettet hätte.“
Ihre Tante schauderte. „Das war wohl zu der Zeit, als du dich wie ein Wildfang benommen hast?“
„Ja, in der Tat“,bestätigte Verity, vom missbilligenden Ton ihrer Tante völlig unbeeindruckt. „Aber du hast recht. Dass Brin den Titel erbt, wird die Damen in Yorkshire brennend interessieren. Man erzählt sich übrigens, er habe sein Offizierspatent zurückgegeben. Er ist nicht nach Yorkshire zurückgekehrt, zumindest bis letzte Woche nicht. Ich frage mich, wo er sich versteckt hat.“
„Er könnte sich in London aufhalten, Liebes. Angeblich geht es seinem Onkel sehr schlecht. Der schreckliche Kerl hat wirklich alles Menschenmögliche getan, um seinen Neffen daran zu hindern, in den Besitz des Titels zu gelangen. Das ging so weit, dass er dieses arme Kind geheiratet hat, das jung genug ist, um seine Enkelin zu sein. Aber jetzt sieht es so aus, als ob der Major bald der neue Viscount Dartwood wäre.“
Verity lachte amüsiert. „Der gute Brin wird bald feststellen, dass demnächst alle Mütter von heiratsfähigen Töchtern hinter ihm her sind.“
Lady Billington wollte ihre Nichte gerade wegen dieser spöttischen Bemerkung tadeln, als ein seltsam splitterndes Geräusch zu hören war. Im nächsten Augenblick wurden sie gegen die Seite der Kutsche geworfen, die zu einem abrupten Stillstand kam.
Die andere Tür wurde geöffnet, und der Reitknecht Lady Billingtons streckte den Kopf herein. „Ist alles in Ordnung, Mylady?“
„Ja, Ridge, uns geht es gut“, versicherte sie, während sie versuchte, sich wieder aufzurichten, was angesichts der schräg überhängenden Kutsche nicht ganz einfach war. „Was, um alles in der Welt, ist geschehen?“
„Das rechte Vorderrad ist beschädigt und eine der Zugleinen gerissen. Zum Glück sind wir in Sichtweite von Sittingbourne, Madam. Wenn Sie in der anderen Kutsche zum Gasthof ‚Crown‘ fahren, führen Clem und ich die Pferde dorthin. Ich werde mich unverzüglich um die Reparatur kümmern, aber heute werden wir vermutlich nicht mehr weiterfahren können.“
„Wie dumm. Ich wollte eigentlich London heute noch erreichen, um Lady Swayles Gesellschaft besuchen zu können.“ Sie zuckte die Achseln. „Nun, daraus wird wohl nichts. Helfen Sie Miss Verity und mir beim Aussteigen.“
Da Verity jung und schlank war, hatte sie beim Verlassen der Kutsche keine Mühe. Lady Billington, deren Körperumfang im Laufe der Jahre um einiges zugenommen hatte, fiel das nicht so leicht. Es bedurfte der vereinten Kräfte ihrer Nichte und des Reitknechts, um sie ins Freie zu befördern.
Die zweite Kutsche, die ein paar Yards hinter ihnen angehalten hatte, war nicht nur hoch beladen – Lady Billington pflegte niemals mit leichtem Gepäck zu reisen – in ihr saßen auch ihre persönliche Zofe, der Butler Dodd und zwei der widerwärtigsten Haustiere, die Verity je getroffen hatte: ein grüner Papagei und ein überfütterter Schoßhund namens Horace.
Es entstand ein Höllenspektakel, als Verity Horace kurzerhand von seinem Platz hob und ihn dem entsetzten Butler in die Arme drückte. Der verhätschelte Pekinese war zutiefst empört darüber, dass man ihn so roh aus seinem Schlummer geweckt hatte. Er verlieh seiner Entrüstung durch lautes Kläffen Ausdruck, woraufhin der aufgeschreckte Papagei ohrenbetäubend zu kreischen begann. Der Tumult dauerte an, bis sie in den Hof des Gasthauses einbogen.
Verity sprang aus der Kutsche, noch ehe der Reitknecht die Stufen hinuntergelassen hatte. „Das genügt“, erklärte sie. „Ich weigere mich, auch nur noch eine Meile mit deinen widerwärtigen Kreaturen zu fahren. Warum du diese lauten Biester mit auf Reisen nimmst, ist mir unbegreiflich.“
„Aber, Liebes, so beruhige dich doch“, sagte Lady Billington beschwichtigend und folgte ihrer Nichte in den Gasthof. „Ich weiß wirklich nicht, von wem du dieses heftige Temperament hast. Dein Vater war ein ganz ruhiger Mann, und ich kann mich nicht erinnern, dass deine Mutter je die Beherrschung verloren hätte.“ Sie runzelte plötzlich die Stirn. „Aber von den Harcourts ist bekannt, dass sie schnell aus der Fassung gerieten. Dein Urgroßvater, der vierte Duke, neigte zu heftigen Wutausbrüchen. Einige seiner Familienmitglieder waren der Meinung, dass man ihn hätte ins Irrenhaus sperren müssen.“
Verity bedachte sie mit einem ungnädigen Blick. „Zwischen geistiger Umnachtung und gerechtfertigtem Ärger besteht ein Unterschied, Tante Clara. Deine abscheulichen Schoßtiere stellen sogar die Geduld eines Heiligen auf die Probe. Wenn du mich zwingst, während der restlichen Fahrt nach London mit den beiden Biestern in der gleichen Kutsche zu sitzen, garantiere ich für nichts. Ich würde nicht davor zurückschrecken, dem grünen Federvieh den Hals umzudrehen und den verwöhnten Köter aus dem Fenster zu werfen.“
Ihre Tante verzichtete klugerweise darauf, ihre Nichte zu belehren, dass es eine unverzeihliche Grausamkeit wäre, wehrlosen Geschöpfen etwas anzutun. „Aber Liebes, du kannst doch nicht allein hier bleiben“, wandte sie stattdessen ein.
„Ridge ist bei mir, ich bin also nicht allein“, erwiderte Verity und sprach schnell weiter, um zu verhindern, dass ihre Tante die gefährliche Wendung bemerkte, die das Gespräch genommen hatte. „Lass uns eine Kleinigkeit essen und abwarten, was Ridge uns zu berichten hat. Wenn wir mit ihm gesprochen haben, entscheiden wir, was wir tun sollen.“
Da Lady Billington einsah, dass das am vernünftigsten war, bestellte sie beim Wirt eine leichte Mahlzeit, bevor sie und Verity sich in die Kaffeestube zurückzogen. Dort vertrieben sie sich die Zeit damit, das lebhafte Treiben in dem viel besuchten Gasthof zu beobachten. Als Ridge endlich kam, brachte er keine guten Nachrichten. Wie es schien, konnte die Kutsche erst am nächsten Morgen repariert werden. Er schlug vor, in der Herberge zu bleiben und die Reise am folgenden Tag nach Beendigung der Arbeiten fortzusetzen.
Lady Billington war mit diesem Arrangement zufrieden und rief nach dem Wirt. Doch als Verity verkündete, dass sie ebenfalls übernachten und am nächsten Tag mit Ridge fahren würde, protestierte ihre Tante empört.
„Es tut mir leid, Verity, aber das kommt nicht in Frage. Es ist undenkbar, dass du ohne Zofe hier bleibst. Du wirst mich also begleiten.“
„Nein, nicht zusammen mit den schrecklichen Tieren“, beharrte Verity. Sie sah das Zucken um Ridges Lippen und den Ausdruck von Mitgefühl in seinen Augen, bevor sie sich an den Wirt wandte, der geduldig im Hintergrund wartete. „Kann man hier eine Kutsche mieten?“
„Normalerweise schon, aber zu dieser Jahreszeit wollen alle Leute zur Saison nach London, ich habe also keinen Wagen zur Verfügung.“ Er strich sich über das schüttere Haar „Vielleicht bekommen Sie ja einen Platz in der Postkutsche.“
„Du kannst nicht ohne weibliche Gesellschaft reisen“, warf ihre Tante ein. „Und Dodd kann ich dir nicht überlassen. Sie muss mir heute Abend beim Ankleiden helfen.“
„Möglicherweise habe ich eine Lösung für Ihr Problem, Madam“, sagte der Wirt zu Veritys größter Freude – und zum Entsetzen ihrer Tante. „Meine Nichte wartet ebenfalls auf die Postkutsche.“ Er deutete auf einen Ecktisch, an dem eine einzelne junge Frau saß. „Sie stand in Diensten der verwitweten Lady Longbourne. Die alte Dame ist vor einem Monat gestorben, und meine Nichte will sich jetzt in London eine neue Stellung suchen.“
Lady Billington war nach wie vor nicht gerade glücklich darüber, dass Verity die Postkutsche benutzen wollte. Doch nachdem sie ein paar Worte mit der Nichte des Gastwirts gewechselt hatte, die eine ruhige Person mit guten Manieren zu sein schien, stimmte sie zu. Und da der Nachmittag schon ziemlich weit fortgeschritten war, verlor sie keine Zeit mehr und setzte ihre Reise fort.
Nachdem Verity sich von ihrer Tante verabschiedet hatte, setzte sie sich zu der Nichte des Wirtes an den Tisch.„Ich denke, ich sollte mich vorstellen, nachdem Ihnen meine Gesellschaft ja förmlich aufgezwungen wurde“, sagte sie mit einem freundlichen Lächeln. „Mein Name ist Verity Harcourt.“
„Margaret Jones, Miss, aber alle nennen mich Meg.“
Verity streifte ihre neue Gefährtin mit einem prüfenden Blick. Sie trug einen grauen Mantel, dazu einen passenden Hut und wirkte sehr ordentlich. „Sie wollen sich in der Hauptstadt eine neue Stellung suchen, Meg?“
„Ja, Miss. Meine Schwester lebt in London, und ich kann bei ihr wohnen, bis ich etwas finde. Die Longbournes haben mir ein Zeugnis ausgestellt. Ich war Myladys persönliche Zofe, erwarte aber nicht, etwas Ähnliches zu bekommen. Es gibt viele Mädchen, die mehr Erfahrung haben als ich. Daher muss ich alles nehmen, was ich bekommen kann.“
Verity überlegte, ob sie ihr eine Stellung anbieten sollte. Im Hause ihres Onkel hatte es genügend weibliche Dienstboten gegeben, sodass sie es nie für nötig erachtet hatte, für sich eine erfahrene persönliche Zofe einzustellen. Allerdings pflegte ihre Tante sie ständig darauf hinzuweisen, dass das, was in der Wildnis von Yorkshire genügte, in der feinen Gesellschaft nicht akzeptabel war.
Verity wusste, dass ihre Freiheit in London drastisch beschnitten würde. Beispielsweise war es strikt verboten, allein auszugehen. Andererseits hatte sie keine Lust, jedesmal Lady Billingtons Personal zu belästigen, wenn sie den Wunsch nach einem Spaziergang verspürte. Und von Dodd wäre es zu viel verlangt gewesen, zwei Herrinnen zu dienen, solange sich Verity in der Stadt aufhielt.
Verity fasste einen schnellen Entschluss. „Würden Sie gern für mich arbeiten, Meg?“ Sie lächelte, als sie das Erstaunen der jungen Frau bemerkte. „Ich meine es ernst“, versicherte sie. „Es wird höchste Zeit für mich, eine eigene Zofe zu haben. Ich muss Sie aber warnen, dass ich den größten Teil des Jahres in Yorkshire wohne. Falls also ein ruhiges Landleben nicht nach Ihrem Geschmack ist, sollten Sie sich eine andere Stellung suchen.“
„O nein, Miss, ich bin auf dem Land aufgewachsen, und Lady Longbourne ist nie weit weggefahren, als ich für sie gearbeitet habe“, beteuerte Meg, die ihr Glück kaum fassen konnte. „Es ist nur … Wird die Dame, die bei Ihnen war, nicht zuerst mit mir sprechen wollen? Ihre Tante, nicht wahr?“
„Ja, Lady Billington ist meine Tante“, bestätigte Verity. „Doch sie hat mit der Sache wenig zu tun, obwohl wir die nächsten Wochen in ihrem Haus verbringen. Mein Vormund ist derjenige, der Ihren Lohn bezahlt, und er wird sich bestimmt an unsere Abmachung halten.“
„In diesem Fall muss ich mit meinem Onkel reden“, erwiderte Meg. Sie war kaum aufgestanden, als ein Hornsignal ertönte und die Postkutsche in den Hof rollte. „Wenn Sie keinen Platz in der Kutsche bekommen, muss ich natürlich bei Ihnen bleiben.“
Ein paar Minuten später beobachtete Verity, wie ein hochgewachsener Mann durch eine Seitentür hereinkam. Ein grauer capeähnlicher Mantel verhüllte weitgehend seine kräftige Gestalt. Er hatte einen altmodischen Dreispitz tief in die Stirn gezogen und die untere Gesichtshälfte durch einen dunklen Wollschal vermummt, sodass nur seine Augen zu sehen waren. Verity nahm an, dass es sich um den Kutscher handelte, denn er schaute in ihre Richtung, nachdem er mit dem Wirt und seiner Nichte ein paar Worte gewechselt hatte. Er blickte sie, wie sie meinte, unnötig lange an, bevor er nickte und wieder hinauseilte.
Meg kehrte an den Tisch zurück. „Es geht in Ordnung, Miss Harcourt. Der Kutscher nimmt uns mit. Wir müssen uns aber beeilen, weil er ein bisschen hinter dem Fahrplan zurück ist.“
Da sie den Reitknecht ihrer Tante nirgendwo entdecken konnte, beauftragte Verity den Wirt, Ridge von ihrer Abreise zu informieren. Dann ging sie hinaus auf den Hof.
„Was? Kein Gepäck, Mädchen? Ich hoffe doch, dass ich keiner Ausreißerin behilflich bin.“
Als Verity erstaunt den Kopf hob, sah sie, dass der Mann auf dem Bock sie prüfend musterte. Seine hellbraunen Augen funkelten verdächtig, und sie konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er sich über sie lustig machte. Da sie indes befürchtete, er könnte sich beleidigt fühlen und sie zurücklassen, wies sie ihn nicht zurecht, wie er das eigentlich verdient hatte. Sie warf lediglich stolz den Kopf zurück, bevor sie in den etwas dumpf riechenden Wagen kletterte.
Zum Glück war er nicht sehr voll. Eine plumpe Frau mit einem schlafenden Kind auf dem Schoß, ein Mann in grober Arbeitskleidung, offenbar ein Bauer, und ein ganz in Schwarz gekleideter Mann in mittleren Jahren nahmen die eine Polsterbank ein, Verity und Meg die andere. Verity streifte die anderen Passagiere nur mit einem flüchtigen Blick und wandte sich dann Meg zu. Sie erzählte ihr vom schönen Haus ihres Onkels und den Plänen, die ihre Tante und sie sich für die kommende Saison ausgedacht hatten.
„Nachdem die Dinge in Europa eine so unerwartete Wendung genommen haben, glaubt meine Tante nicht, dass wir in diesem Jahr in London eine besonders fröhliche Zeit erleben“, fuhr Verity fort. „Mit ein bisschen Glück wird sie gar nicht bis Juni bleiben wollen.“
„Meinen Sie die Tatsache, dass der Emporkömmling von Elba geflohen ist?“, fragte der schwarz gekleidete Mann. Da er mit einem fremdartigen Akzent sprach, richteten sich sogleich alle Blicke auf ihn.
„O mein Gott“, rief die dicke Frau und presste das Kind fester an sich. „Sind Sie etwa einer von diesen heidnischen Franzosen?“
„Nein, Madame, ich bin Schweizer und habe Papiere, die das beweisen.“ Er wühlte in der flachen, hölzernen Schatulle, die auf seinem Schoß lag. „Und mich haben Geschäfte in Ihr Land geführt.“
„Zweifellos haben Sie Ihre Reise angetreten, bevor Sie von der Flucht des Kaisers erfahren haben, Monsieur.“ Verity amüsierte sich insgeheim über das unverhohlene Misstrauen der drallen Frau.
„Ja, Mademoiselle, sonst wäre ich gar nicht aufgebrochen. Aber ich denke nicht, dass ich hier in Gefahr bin“, setzte er hinzu.
„Da haben Sie recht, Monsieur. Wir können auf Wellington vertrauen, er wird uns nicht im Stich lassen“, versicherte Verity stolz. Dann wandte sie sich wieder Meg zu, die anfing, ihre Schüchternheit ihrer neuen und offenbar freundlichen Herrin gegenüber abzulegen.
Während sie Meile um Meile hinter sich ließen, plauderten Verity und Meg angeregt miteinander und unterbrachen ihr Gespräch erst, als die Kutsche ohne ersichtlichen Grund langsamer wurde und dann zum Stillstand kam.
Der Schweizer warf einen besorgten Blick aus dem Fenster. „Was mag da los sein, Mademoiselle?“
Sie zuckte gleichgültig die Schultern. Da sie es nicht eilig hatte, London zu erreichen, kümmerte sie eine mögliche Verzögerung nicht sonderlich. Als sie von draußen Stimmen hörte, nahm sie an, dass jemand dem Kutscher signalisiert hatte, anzuhalten, möglicherweise um ihn vor einer Gefahrenquelle zu warnen. Nach kaum einer Minute setzten sie die Fahrt, wenn auch in langsamerem Tempo, fort. Nach einigen hundert Metern blieb die Kutsche im Hof eines kleinen Gasthofes erneut stehen, und der Begleiter des Postillons öffnete den Wagenschlag.
„Eine halbe Meile von hier ist ein Baum auf die Straße gestürzt“, erklärte er. „Es hat sich dahinter eine Schlange von Fahrzeugen gebildet. Wir warten hier, bis das Hindernis entfernt worden ist. Der Kutscher sagt, dass Sie die Zeit dazu nutzen können, etwas zu essen. Anschließend wird er außer zum Pferdewechsel nicht mehr Station machen.“
„Ein guter Vorschlag“, meinte Verity und ließ sich von dem Mann beim Aussteigen helfen. „Dafür kann man niemand verantwortlich machen.“
„Gut zu wissen, dass Sie ein vernünftiges Mädchen sind. Vielleicht sind Sie doch keine Ausreißerin“, ertönte vom Bock wieder die Stimme mit dem breiten Yorkshire-Dialekt.
Prompt verfehlte Verity die Stufe. Sie blieb mit dem Absatz hängen und wäre gestürzt, wenn der Kutschenbegleiter sie nicht festgehalten hätte. „Da sehen Sie, was Sie angerichtet haben“, fauchte sie und betrachtete den zerrissenen Rocksaum, bevor sie den Kopf hob und den Kutscher vorwurfsvoll anblickte. „Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie Ihre dummen Bemerkungen in Zukunft für sich behalten würden.“
Sein lautes, sonores Lachen folgte ihr, während sie mit Meg in den Gasthof ging. Verity war zwar temperamentvoll, beruhigte sich aber schnell wieder und pflegte ihren Ärger nur an denjenigen auszulassen, die sich ihren Zorn zugezogen hatten. Als Meg sich erbot, den Volant festzustecken, versicherte sie, den Schaden selbst beheben zu können, und bat sie höflich, sich um den Imbiss zu kümmern.
Außer den Passagieren der Kutsche saß nur noch ein Gast in der Gaststube, ein mittelgroßer, untersetzter Mann, der einen Krug Ale vor sich stehen hatte und aus dem Fenster starrte. Da sogar Verity zu sittsam war, um ihren Unterrock in Gegenwart von Mitgliedern des männlichen Geschlechts zu flicken, schaute sie sich nach einem Ort um, wo sie allein sein konnte.
Der Gasthof war nur klein, und es schien keinen Privatsalon zu geben. Als sie jedoch einen Gang entdeckte, der von der Schankstube wegführte, gelang es ihr, unbemerkt hinauszuschlüpfen. Die erste Tür auf dem Gang stand halb offen, und Verity spähte ohne zu zögern in das Zimmer. Der Raum war leer, doch auf dem Tisch befanden sich die Reste einer Mahlzeit. Vor dem Fenster stand ein Wandschirm. Als sie sich dahinter versteckte, stellte sie fest, dass er die Zugluft abhalten sollte, die durch das schlecht schließende Fenster drang.
Verity war mit ihrer Arbeit fertig und verstaute gerade die restlichen Nadeln in ihrem Retikül, als sie plötzlich Schritte hörte und jemand den Raum betrat.
Sie hatte nie unter Scheu gelitten, sodass es ihr nicht peinlich gewesen wäre, sich zu zeigen und den verständlichen Grund für ihre Anwesenheit zu erklären. Warum sie sich dagegen entschied, wusste sie selbst nicht.
Als sie durch einen Spalt des Paravents spähte, erblickte sie einen Mann, der mit dem Rücken zu ihr vor dem Kamingitter stand. Obwohl sie sein Gesicht nicht sehen konnte, erkannte sie in ihm ohne Schwierigkeit den Gast, der in der Schankstube aus dem Fenster gestarrt hatte. Auf einmal hörte sie, dass noch jemand hereinkam.
Eine Stimme mit eindeutig fremdartigem Akzent sagte: „Es war klug von Ihnen, mich hier zu treffen, Monsieur. Woher wussten Sie, dass wir hier einen ungeplanten Halt einlegen würden?“
„Sie sind nicht der Einzige, der Verstand besitzt“, erwiderte der andere gereizt. „Ich kam sehr früh an unserem vereinbarten Treffpunkt ein und hörte von dem Baum, der die Straße blockiert. Es lag auf der Hand, dass der Kutscher in diesem Gasthof Rast machen würde, bis das Hindernis beseitigt ist. Ich habe am Fenster nach Ihnen Ausschau gehalten und auf eine Chance gehofft, Ihnen die Botschaft meines Herrn zu übermitteln.“
Das Auge an den Spalt im Wandschirm gepresst, hatte Verity den Ausländer, dessen dünne Lippen sich zu einem unangenehmen Lächeln verzogen hatten, genau im Blickfeld. In der Kutsche hatte sie ihm kaum Beachtung geschenkt. Jetzt war sie nicht mehr sicher, dass er war, was er zu sein vorgab. In seinen harten grauen Augen stand ein berechnender Ausdruck. Aufmerksam lauschte sie seinen Worten.
„Wir haben nur wenig Zeit, und es wäre nicht gut, wenn wir zusammen gesehen würden. Haben Sie etwas für mich?“
„Jetzt nicht, aber mein Herr wird sich mit Ihnen am Freitagabend um acht Uhr am gewohnten Ort treffen.“
„Ach ja, ich weiß, im Gasthof von diesem kleinen Ort … diesem kleinen Frampington. Lietell, lietell Frampington …“ Der Klang dieses Namens schien ihm zu gefallen. „In Ordnung. Teilen Sie Ihrem Herrn mit, dass ich dort sein werde. Und erinnern Sie Ihn daran, dass die Sache dringend ist. Mein geliebter Kaiser benötigt Informationen über Wellingtons Pläne.“
Verity war immer stolz auf das blaue Blut der Harcourts gewesen, das durch ihre Adern floss. Wie in jeder anderen Familie hatte es natürlich auch schwarze Schafe gegeben. Zum Beispiel der dritte Duke, den man verdächtigt hatte, seine erste Frau ermordet zu haben, was allerdings nie hatte bewiesen werden können. Doch sogar die, deren Namen höchstens im Flüsterton erwähnt wurden, hatten stets loyal zur Krone gestanden.
Drei ihrer Cousins waren in den Konflikt mit Frankreich verwickelt, und wenn Verity als Junge zur Welt gekommen wäre, hätte sie sich bestimmt in den Dienst des Königs gestellt. Es hatte ihr nie an Mut oder Risikofreude gemangelt – eine Tatsache, die ihre Tante manche schlaflose Nacht gekostet hatte. Lady Billington wäre daher überrascht gewesen, wenn sie gewusst hätte, dass Verity die Knie zitterten, während sie beobachtete, wie der Ausländer und sein Komplize den Raum verließen.
Der Kaiser …? Wellington …? Die Worte schienen von den Wänden widerzuhallen. Gütiger Himmel, worüber war sie da gestolpert? Und was, um alles in der Welt, sollte sie nun tun?
Ihren ersten Impuls, den Ausländer zur Rede zu stellen und ihn dann den Behörden zu übergeben, verwarf sie wieder. Es bestand die Möglichkeit, dass man ihr nicht glauben würde. Ihr Wort hätte gegen das seine gestanden, und zweifellos führte er authentisch aussehende Dokumente mit sich, aus denen hervorging, dass er der harmlose Schweizer Uhrmacher war, der er zu sein behauptete. Außerdem war da noch der andere Mann zu bedenken, der anscheinend nur ein Diener war, der als Bote fungierte. Doch wenn sie einen direkten Blick auf sein Gesicht werfen und den Behörden eine genaue Beschreibung liefern könnte, würde dies möglicherweise zu seinem Herrn, dem eigentlichen Verräter, führen.
Nachdem sie sich ihre weitere Vorgehensweise überlegt hatte, wollte Verity ihr Versteck verlassen. Diesmal wurde sie durch ein Hausmädchen daran gehindert, das im Schneckentempo das Geschirr zusammenräumte. Obwohl sie eigentlich keine Zeit verlieren durfte, musste Verity ausharren. Es war lebenswichtig, dass niemand von ihrer Anwesenheit in diesem Raum etwas wusste.
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis das Mädchen mit der Arbeit fertig war. Gleich darauf eilte Verity auch schon zum Eingang der Schankstube zurück. Rechts von ihr war die Theke, an der der Kutschenbegleiter neben dem Passagier stand, der wie ein Farmer wirkte. Die dicke Frau saß an einem Ecktisch und fütterte ihr Kind mit Suppe. Schließlich entdeckte Verity auch ihre neue Zofe.
Meg unterhielt sich mit jemand, der sich außerhalb von Veritys Blickfeld befand. Vermutlich war es der Spion, doch darüber war Verity nicht sonderlich besorgt. Meg ahnte nichts von seinem wahren Beruf und würde sich völlig normal benehmen. Von dem Boten war nichts zu sehen.
Verity raffte ihre Röcke und lief den Gang zurück bis zu einer Tür, durch die man, wie sie vermutet hatte, zu den Ställen gelangte. Der Himmel war wolkenverhangen, doch es war noch hell genug, um die Außengebäude deutlich erkennen zu können.
Der Hof schien verlassen zu sein. Das einzige Geräusch verursachten die Pferde, die sich in ihren Geschirren bewegten. Die Postkutsche stand nur ein paar Meter vom Eingang des Stalles entfernt. Als sie sich etwa auf gleicher Höhe befand, bemerkte sie an der Rückfront des Wagens eine Bewegung. Bei näherem Hinschauen erkannte sie den Kutscher, der mit dem Rücken zu ihr auf das freie Land hinausblickte, während er eine Zigarre rauchte. Er schien sich ihrer Gegenwart nicht bewusst zu sein. Nachdem sie das letzte Stück auf Zehenspitzen zurückgelegt hatte, stellte sie enttäuscht fest, dass der große Stall leer war.
„Was tappen Sie hier herum, Mädchen?“
Verity fuhr herum. Der Kutscher stand am Tor und versperrte ihr den Ausgang. „Bereitet es Ihnen etwa Vergnügen, sich von hinten anzuschleichen und unschuldige junge Damen fast zu Tode zu erschrecken?“, erkundigte sie sich hochmütig.
Er warf den Stummel der Zigarre in eine Pfütze, verschränkte die Arme vor der Brust und ließ seinen Blick unverschämt langsam an ihr hinunterwandern. „Allmählich frage ich mich, ob Sie wirklich so unschuldig sind, Mädchen, und wie es kommt, dass Sie mit der Postkutsche reisen.“
Verity war es gewöhnt, mit Respekt und Höflichkeit behandelt zu werden, doch dieser Mann schien seinen eigenen Gesetzen zu folgen. Sie wollte ihn schon empört zurechtweisen, überlegte es sich aber dann anders.
„Wie lange sind Sie schon hier draußen? Und haben Sie zufällig gesehen, wie ein Mann in einem grauen Mantel, ähnlich dem Ihren, den Gasthof verlassen hat?“, fragte sie.
„Ha! Ich hatte also recht. Sie sind durchgebrannt, und Ihr Liebhaber hat Sie im Stich gelassen.“
„Seien Sie nicht albern.“ Veritys Geduld war erschöpft. „Ich habe weder Zeit noch Lust, mich mit Ihnen auf eine Diskussion einzulassen. Beantworten Sie gefälligst meine Fragen, Sie Tölpel.“
„Ein Tölpel bin ich?“ In seiner nicht unattraktiven tiefen Stimme schwang unmissverständlich ein scharfer Ton mit. Bevor Verity reagieren konnte, war er mit drei großen Schritten bei ihr und hob sie mühelos hoch.
Gleich darauf fand sie sich in einem Heuhaufen wieder. Der Kutscher lag halb auf ihr und hielt sie mit seinem Körper gefangen. Als Verity, die weniger ängstlich als schockiert war, mit den Fäusten auf ihn einhämmerte, packte er ihre Handgelenke und presste diese mit einer seiner großen Hände über ihrem Kopf ins Stroh. Während er seinen Hut abnahm, erhaschte sie einen Blick auf sein volles, leicht gewelltes Haar. Dann legte er ihr die andere Hand über die Augen, sein fester warmer Mund verschloss den ihren und hinderte sie so daran, ihn weiter zu beschimpfen.
Verity verspürte zum ersten Mal so etwas wie Furcht, weil sie sich an die strikte Mahnung ihrer Tante erinnerte, sich stets davor zu hüten, mit einem Mann allein zu sein. Jetzt dämmerte ihr, dass sie gut daran getan hätte, diese Warnung zu beherzigen. Sie war sich aber auch bewusst, dass er nur gerade genügend Kraft benutzte, um sie festzuhalten. Ihr Busen wurde nicht von seiner breiten Brust gedrückt, ihre Handgelenke taten bei seinem Griff nicht weh, ihre Lippen wurden nicht wund unter der federleichten Berührung seiner Lippen, die sehr sanft die ihren teilten.
Sie hatte sich nie zuvor in einer derart kompromittierenden Lage befunden. Niemals hatte sich ein Mann solche Freiheiten bei ihr erlaubt. Statt indes beleidigt und angewidert zu sein, konnte sie nicht verhindern, dass ihre Lippen als Reaktion auf seinen Kuss einladend bebten. Sein Mund passte so perfekt auf den ihren, als ob sie eins wären … Irgendwie glaubte sie, ihm zu gehören, als wären sie legal miteinander verbunden. Sie wollte nicht, dass dieses wunderbare Gefühl, bei dem ihr das Blut heißer durch die Adern floss, jemals endete.
Unvermittelt löste er sich von ihr und verbarg sein Gesicht wieder unter dem Schal, bevor Verity auch nur die Chance hatte, die Augen zu öffnen. „Das war eindeutig, Mädchen“, sagte er. „Sie sind noch nie geküsst worden und haben diese Erfahrung sehr genossen, denke ich.“
Sein Spott brachte Verity jäh in die Realität zurück. Verletzt, gedemütigt und gleichermaßen wütend, stand sie auf. „Wie können Sie es wagen, mich wie eine Dirne zu behandeln?“, fuhr sie ihn an, während sie sich bemühte, die an ihrem Rock haftenden Halme abzustreifen. „Ich werde mich bei Ihren Vorgesetzten über Sie beschweren.“
Natürlich war ihr klar, dass es sich um eine leere Drohung handelte, und allem Anschein nach wusste er das ebenfalls. Laut lachend drehte er sich um und bückte sich, um seinen Dreispitz aufzuheben.
Veritys Augen funkelten gefährlich. Und als sie vor sich etwas sah, woran sie ihren Rachedurst befriedigen konnte, vermochte sie sich nicht zu beherrschen. Sie holte mit dem in einem festen Schuh steckenden Fuß aus und versetzte dem Kutscher einen wohlgezielten Tritt gegen das Hinterteil, der so kräftig war, dass der Mann vornüber ins Heu stürzte.
„Sie kleine …! Warten Sie, bis ich Sie erwische!“
Verity hatte nicht die Absicht, zu warten. Eine Konfrontation mit diesem schrecklichen Menschen genügte ihr. Sie verließ den Stall, lief schnell über den Hof und hielt erst inne, als sie wieder die Schankstube betrat.
Meg blickte sie besorgt an. „Miss Verity, wo waren Sie? Ich wollte mich gerade auf die Suche nach Ihnen machen.“
So nonchalant wie möglich setzte Verity sich an den Tisch. „Ich bin wirklich sehr dankbar, dass Sie sich so um mein Wohlbefinden sorgen, Meg.“ Sie sprach absichtlich laut, sodass der angebliche Uhrmacher am Nebentisch sie hören konnte. „Aber mitunter muss man allein sein. Außerdem verlangt es die Schicklichkeit, dass man bestimmte Orte allein aufsucht.“
Die Erklärung schien alle zu befriedigen. Meg wurde feuerrot, und der Ausländer hüstelte, bevor er nach seinem Weinglas griff.
Es wäre wohl eine gute Gelegenheit gewesen, den Schweizer – falls er tatsächlich Schweizer war – in ein Gespräch zu verwickeln. Aber würde er nicht misstrauisch werden, wenn Verity plötzlich Interesse an ihm zeigte? Allerdings fühlte sie sich nach der nervenaufreibenden Episode im Stall momentan außerstande, scheinbar harmlose Fragen zu stellen. Andererseits hielt sie es für ihre Pflicht, über den Mann so viel wie möglich herauszufinden.
Glücklicherweise wurde ihr die Entscheidung durch den Wachmann abgenommen. Der Begleiter des Postillions informierte die Reisenden, dass der Baum von der Straße geräumt worden wäre, und sie sofort weiterfahren würden.
Mit gesenktem Blick stieg Verity in den Wagen. Sie spürte, dass der Kutscher sie beobachtete und sich zweifellos über ihr Unbehagen amüsierte. Vermutlich trieb er die Pferde nur deshalb zu einem halsbrecherischen Tempo an, um ihr die Fahrt so ungemütlich wie möglich zu machen.
Verity klammerte sich an den Haltegurt und wunderte sich, wie die anderen Reisenden, Meg ausgenommen, bei diesem Gerüttel schlafen konnten. Selbst der „Uhrmacher“ hatte die Augen geschlossen, und so musste Verity leider darauf verzichten, ihn diskret auszuhorchen. Infolgedessen war sie am Abend bei ihrer Ankunft in London nicht gerade bester Laune.
Sie beauftragte Meg, eine Droschke zu mieten, und wollte gerade den Hof der Poststation überqueren, als sie merkte, dass sie ihr Retikül vergessen hatte. Die anderen Passagiere hatten die Kutsche bereits verlassen, und Verity ärgerte sich maßlos, dass sie ihren Beutel holen musste, statt den Spion im Auge zu behalten. Kaum hatte sie den Fuß auf die oberste Stufe des kleinen Treppchens gesetzt, als ihr jemand die Hand entgegenstreckte, um ihr beim Aussteigen zu helfen. Es war der dreiste Kutscher! Nun war es vollends um ihre Beherrschung geschehen.
„Sie sind nicht nur ein ungebildeter Tölpel, sondern auch der schlechteste Kutscher, der jemals Zügel in der Hand hatte“, schimpfte sie. „Und jetzt verschwinden Sie endlich!“
Er brach in schallendes Gelächter aus. Bevor Verity eine weitere schneidende Bemerkung formulieren konnte, fasste er sie mit beiden Händen um die schlanke Taille und hob sie so mühelos aus der Kutsche, als wäre sie leicht wie eine Feder. „Sie sind zu einem hübschen Ding herangewachsen, Miss Harcourt, und das gefällt mir gut.“
Als Verity ausholte, wich er geschickt dem Schlag aus, sodass sie ihn verfehlte. Sie musste sich damit zufriedengeben, mit erhobenem Kopf über den Hof zu stolzieren. Dabei klang ihr sein Lachen immer noch in den Ohren.
„Haben Sie gesehen, welchen Weg der Ausländer eingeschlagen hat, Meg?“, fragte sie, nachdem sie sich vergeblich nach ihm umgeschaut hatte.
„Nein, Miss, ich war damit beschäftigt, einen Wagen zu mieten.“
Da es sinnlos war, auf Londons belebten Straßen nach dem Spion zu suchen, nannte Verity dem Fahrer die Adresse ihrer Tante und kletterte in die Droschke.
„Dieser schreckliche Kutscher“, sagte sie. „Wenn ich rachsüchtig wäre, würde ich mich bei seinen Vorgesetzten über ihn beschweren. Haben Sie gemerkt, wie der Mann mich behandelt hat?“
Meg hatte tatsächlich beobachtet, auf welche Weise man ihrer jungen Herrin aus der Kutsche geholfen hatte. „Er war ein bisschen frech, Miss“, räumte sie und konnte nur mit Mühe ein Kichern unterdrücken. „Außerdem war er sehr von Ihnen angetan.“
„So eine Unverschämtheit! Wenn dieser Bursche noch einmal meinen Weg kreuzt, werde ich …“ Verity richtete sich plötzlich auf. „Meg, er kannte mich. Er wusste meinen Namen“, rief sie ungläubig.