Miss in Maskerade

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Die junge Georgiana spielt ein riskantes Spiel: Als Page verkleidet, schleicht sie sich beim berüchtigten Viscount Fincham ein, um den Tod ihres Onkels aufzuklären. Doch der Hausherr ist nicht so kalt und ruchlos, wie sie es vermutet hat. Im Gegenteil! Er ist ein richtiger Gentleman. Je näher sie dem Viscount kommt, desto schwerer fällt es ihr, die Rolle aufrechtzuerhalten. Denn er bringt ihr Herz in größte Gefahr...


  • Erscheinungstag 11.01.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783733729424
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

Im flackernden Schein des Kaminfeuers wirkte das Gesicht der Witwe noch strenger und abweisender als sonst. Nicht einmal ihre engsten und wohlwollendsten Freunde hätten sie als Schönheit bezeichnet – auch nicht fünf Jahrzehnte zuvor, als ihre Verlobung mit dem sechsten Earl of Grenville bekannt gegeben wurde. Bei vielen hatte diese Verbindung für Überraschung gesorgt, denn sie hatte wahrlich eine gute Partie gemacht. Doch selbst die unbarmherzigsten Kritiker der alten Dame, an denen es im Laufe ihres Lebens nicht gemangelt hatte, konnten ihr weder leichtfertiges Handeln noch mangelndes Pflichtbewusstsein zum Vorwurf machen. Ganz im Gegenteil hatte die Pflicht für sie stets an erster Stelle gestanden, selbst wenn sie dadurch zu Entscheidungen gezwungen wurde, die ihren eigenen Empfindungen widersprachen. Ihre Entschlossenheit galt als unerschütterlich. Allen, die sich in den vergangenen Jahrzehnten auf sie und ihren gesunden Menschenverstand verlassen hatten, war sie eine wahre Stütze gewesen.

Doch am heutigen Tag, an dem sie hatte zusehen müssen, wie das letzte ihrer sechs Kinder in der Familiengruft beigesetzt wurde, schienen die Lebenskraft und das zielstrebige Funkeln aus ihren Augen verschwunden zu sein. Vielleicht nicht zur Gänze, jedoch zu einem großen Teil. Das fiel der einzigen anderen Person, die sich ebenfalls im Zimmer befand, auf, als die Witwe endlich den Kopf hob und ihre schweigende Betrachtung des Kaminfeuers aufgab.

„Es fällt mir nicht leicht, diese Bitte an Sie zu richten“, offenbarte die alte Dame schließlich. „Mir ist bewusst, dass die Suche nach der Person, die für den Tod meines Sohnes verantwortlich ist, durchaus riskant für Sie werden kann. Sollte diese Person bemerken, dass Sie ihr auf der Spur sind, wäre möglicherweise auch Ihr Leben in Gefahr. Dennoch gibt es niemanden, dem ich so bedingungslos vertraue wie Ihnen.“ Die Witwe gab ein heiseres Lachen von sich. „Ein trauriges Eingeständnis für jemanden in meinem fortgeschrittenen Alter, der einen so großen Bekanntenkreis hat wie ich. Und trotzdem ist es wahr. Ich weiß, dass Sie Ihr Äußerstes geben werden, um herauszufinden, was mein Sohn gemeint hat.“

„Sie sind sich sicher, Madam, dass er gesagt hat ‚Kein Fremder … Es muss einer der Fünf gewesen sein. Einer von ihnen muss dahinterstecken‘?“

„Ganz sicher. Diese Sätze werde ich wohl niemals vergessen, da sie zu den letzten gehörten, die er zu mir sagte. Leider habe ich keinerlei Ahnung, was er damit gemeint haben könnte. Der Bekanntenkreis meines Sohnes war außerordentlich groß, noch viel größer als der meinige. Er kann damit zahllose Personen gemeint haben – Angehörige des Hochadels, Regierungsmitglieder, hochrangige Offiziere des Heeres oder der Marine. Vielleicht handelt es sich auch um eine Geheimgesellschaft. Wer kann das sagen? Aber sobald ich Gewissheit habe, werde ich weitere Maßnahmen ergreifen. Bis dahin ist es besser, die Welt in dem Glauben zu lassen, mein Sohn wurde das Opfer unbekannter Räuber. Was sicher der Fall war … Doch ich will denjenigen vor Gericht bringen, der hinter dem Überfall steckt.“

Es folgte eine Stille, in der in dem behaglichen Empfangszimmer nur das Ticken der Standuhr und das Knistern der Holzscheite im Feuer zu vernehmen war. Schließlich wandte sich die junge Frau an die Witwe: „Sie beabsichtigen nach wie vor, in ein paar Tagen nach Bath abzureisen, nicht wahr? Bis dahin werde ich mir überlegen, wie ich am geschicktesten vorgehe. Bitte schreiben Sie Ihrer guten Freundin Lady Pickering in London noch nicht. Sie bereits jetzt miteinzubeziehen ist vielleicht nicht die sinnvollste Lösung. Mir fällt gewiss noch etwas Besseres ein, Mylady.“

1. KAPITEL

September 1802

Warum überlegst du es dir nicht anders, Ben, und verbringst ein oder zwei Wochen bei Louise und mir? Du weißt, wie gern sie dich hat! Du bist fast wie ein Bruder für sie. Sie wird überglücklich sein, wenn du noch bleibst.“

Lord Fincham betrachtete seinen Begleiter mit halb zusammengekniffenen Augen. Wer ihn in den letzten Minuten beobachtet hatte, hätte zu dem Schluss kommen können, er wäre ganz und gar in Gedanken versunken. Seit er am Fenster des überfüllten Wirtshauses Platz genommen hatte, hatte er noch kein einziges Wort gesprochen. Auch den Krug Bier, den der Wirt vor ihm hingestellt hatte, hatte er nicht angerührt. Allerdings wusste niemand besser als der Gentleman, der ihm gegenübersaß, dass sich hinter der gelangweilten Miene und dem zur Schau gestellten Desinteresse ein messerscharfer Verstand verbarg – eine beinahe beängstigende Intelligenz, die bei anderen Menschen zuweilen Unbehagen hervorrufen konnte.

Als der Viscount schließlich seinen Krug ergriff, fiel der feine Spitzenbesatz seines rechten Ärmels über seinen Handrücken. „Du irrst dich, mein lieber Charles. So herzlich gelangweilt, wie ich derzeit vom Leben bin, stelle ich keine gute Gesellschaft für Louise dar – genauso wenig wie für irgendjemand anderen. Abgesehen davon, dass deine entzückende Frau im Augenblick wahrhaftig andere Sorgen hat. So kurz vor der Niederkunft will sie sich bestimmt nicht mit meiner finsteren Stimmung abgeben.“

Charles Gingham kannte seinen Freund zu gut, um ihn überreden zu wollen. Daher sagte er nur: „Was du brauchst, alter Knabe, ist genau das, womit ich seit einigen Jahren gesegnet bin – die Liebe einer guten Frau.“

Weiße, ebenmäßige Zähne wurden sichtbar, als der Viscount verschmitzt lächelte. „Offensichtlich vergisst du, dass ich bereits eine habe. Caroline ist zweifellos die Erfahrenste, mit der ich je meine Stunden verbracht habe.“

Charles schnaubte verächtlich. „Ich spreche nicht von deinen Paradiesvögeln, Ben. Mein Gott! Von der Sorte hattest du all die Jahre genug. Und keine von ihnen hat dir je etwas bedeutet, wenn ich das richtig beurteile. Nein, was du brauchst, ist eine Ehefrau, eine Dame, die du liebst und schätzt. Jemanden, der deinem Leben eine neue Richtung, einen Sinn gibt.“

Diesmal wirkte das Lächeln des Viscounts zynisch. „Ich glaube kaum, dass mir eine solche Dame jemals begegnen wird, mein lieber Freund. Nein, vielleicht heirate ich ja in ein oder zwei Jahren, und sei es nur, um einen Erben zu zeugen. Immerhin mangelt es einem Mann in meiner Position nicht an Heiratskandidatinnen. Die hoffnungsvollen kleinen Schätzchen werden mir in ermüdender Regelmäßigkeit auf dem Heiratsmarkt präsentiert. Sofern ich es ernsthaft in Betracht ziehe, finde ich gewiss ein weibliches Wesen darunter, das meinen Ansprüchen genügt – blond, von tadellosem Benehmen, pflichtbewusst und fügsam.“

Charles Gingham sah seinen Freund ein wenig traurig an. „Grübelst du immer noch darüber nach, was hätte sein können? Ich weiß, dass du es tust. Wenn ich dich vor all den Jahren nicht mit nach Frankreich gezerrt hätte, wärst du jetzt vielleicht ein glücklich verheirateter Mann.“

„Um meinetwillen brauchst du dir keine Vorwürfe zu machen, Charles“, antwortete der Viscount, wobei ihm anzuhören war, welchen Überdruss ihm dieses Gesprächsthema bereitete. „Sei gewiss, dass dein Mitleid vollkommen unangebracht ist. Charlotte Vane ist Vergangenheit. Sie spielt für mich keine Rolle mehr. Sie hat sich dafür entschieden, Wenbury zu heiraten. Wenn sie meine Rückkehr aus Frankreich abgewartet hätte, wäre sie ohne Frage meine Viscountess geworden. Der frühzeitige Tod meines Bruders kam für alle unerwartet, nicht zuletzt für mich. Ich habe ihn weder um seine führende Stellung in der Familie beneidet, noch jemals den Titel angestrebt. Das Schicksal hat es dennoch so gewollt, dass ich zum Erben wurde. Wenn mein Bruder einen Sohn und keine Tochter gezeugt hätte, würde ich mich glücklich schätzen, den Besitz für meinen Neffen bis zu dessen Mündigkeit zu verwalten. Trotzdem muss ich zugeben, dass ich die Vorteile, die mir der Titel gewährt, durchaus genieße. Ich glaube aber auch, dass ich meine Pflichten gewissenhaft und mit Rücksicht auf alle erfülle, deren tägliches Auskommen von meinen Entscheidungen abhängt. So fühle ich mich auch verpflichtet, eines Tages zu heiraten. Doch ich kann dir vergewissern, dass Liebe dabei keine Rolle spielen wird. Solange meine zukünftige Braut, wer auch immer sie sein mag, sich zu jeder Zeit wie eine Dame verhält und mich mit einem Erben versieht, werde ich ihr nicht mit törichten Ansprüchen begegnen. Im Großen und Ganzen kann sie ihre eigenen Wege gehen, so wie ich es meinerseits zu tun gedenke.“

Charles’ Entsetzen über die unverhohlene Gleichgültigkeit war nicht zu überhören, als er erwiderte: „Ich kann nicht glauben, dass die Dame, die du eines Tages zur Braut erwählst, dir so wenig bedeuten wird. Vielleicht gelingt es dir, den Großteil der feinen Gesellschaft glauben zu machen, du seist kalt und teilnahmslos, mir jedoch kannst du nichts vormachen. Ich erinnere mich genau, wie viel dir Charlotte Vane bedeutet hat. Ich weiß, zu welch tiefen Gefühlen du fähig bist.“

„Fähig war“, verbesserte der Viscount ihn in einem unheilvoll ruhigen Tonfall. „Anders als du, Charles, bin ich kein Romantiker mehr. Diesen Unsinn überlasse ich den Gelegenheitsdichtern. Ich suche in einer Ehe nicht nach Liebe. Die geschätzte Lady Wenbury hat mir vor acht Jahren eine sehr wertvolle Lektion erteilt. Ich habe gelernt, mich vor allzu zärtlichen Gefühlen zu schützen. Nein, ich wäre zufrieden mit einer Frau, die sich stets schicklich verhält und ihre Pflichten als meine Viscountess erfüllt.“

Es lag eine Bestimmtheit in der tiefen, angenehmen Stimme, die niemandem entgangen wäre. Schon gar nicht Charles Gingham, der das Glück hatte, seit fernen Kindertagen der engste Freund Lord Finchams zu sein. Daher war Charles nicht übermäßig überrascht, als der Viscount den Inhalt seines Kruges hinunterspülte, sich erhob und ihn aufforderte, jetzt besser aufzubrechen, um den Beginn des Faustkampfes nicht zu verpassen.

Das Marktstädtchen Deerhampton glich an diesem sonnigen Herbsttag einem geschäftigen Bienenstock. Es sollte nicht nur ein Faustkampf auf einem Feld am Rand des kleinen Ortes stattfinden, sondern zugleich eine Pferdemesse auf einer der angrenzenden Wiesen. Die Besucher, die von einer oder beiden Attraktionen angelockt worden waren, drängten sich auf der überfüllten Hauptstraße. Ihre Scherze und ihr fröhliches Gelächter vermischten sich mit den Rufen der Straßenhändler, die ihre Ware anpriesen. Vor dem Wirtshaus wurden polternd schwere Bierfässer von einem Wagen abgeladen. So war es nicht verwunderlich, dass dem Viscount, der gerade auf die Straße trat, ein einzelner Aufschrei entging. Dieser Aufschrei hätte ihn jedoch vor einer Gefahr warnen sollen. Erst als jemand gegen ihn prallte und ihn gegen die Wand des Wirtshauses stieß, erkannte er, wie gefährlich nah ihm eines der großen Bierfässer gekommen war. Er sah das Fass gerade noch an sich vorbeirollen, als er den jungen Burschen entdeckte, der ihn zur Seite gestoßen hatte und dabei selbst zu Fall gekommen war.

„Du liebe Güte, Ben! Bist du in Ordnung?“, erkundigte sich Charles, der noch rechtzeitig aus dem Wirtshaus getreten war, um Zeuge des Vorfalls zu werden.

„Ich bin offenkundig besser weggekommen als mein furchtloser Retter hier“, antwortete Lord Fincham.

Er ergriff den dünnen rechten Arm des jungen Mannes, um ihn auf die Füße zu ziehen. Dabei bemerkte er, dass Blut vom linken Knie des Burschen auf dessen Stiefel tropfte. „Hier, nimm das, Junge!“

Er drückte ihm ein feines Batisttaschentuch in die erstaunlich schlanken Hände und beobachtete, wie der junge Bursche sich damit das blutende Bein verband. „Bist du noch an anderen Stellen verletzt?“

„N…nein, ich glaube nicht, Sir“, antwortete der Junge mit unwirscher, heller Stimme, hob seinen Dreispitz vom Kopfsteinpflaster auf, zupfte ein welkes Blatt von dessen Krempe und sah schließlich zu ihm auf.

Überrascht blinzelte der Viscount, als er in die strahlendsten veilchenblauen Augen blickte, die er je gesehen hatte. Umgeben von langen schwarzen Wimpern wären sie eine Zierde für jede Dame gewesen, im Gesicht eines jungen Mannes hingegen erschienen sie fast verschwendet.

Nur zögerlich löste er sich von dem ungewöhnlichen Anblick. Er bat seinen Freund, den Wirt ausfindig zu machen, und wandte sich wieder seinem seltsamen Retter zu. „Wohnst du hier im Ort? Falls dem so ist, kann dich mein Kutscher nach Hause fahren, sobald sich die Wirtsleute um deine Verletzungen gekümmert haben.“

„Bitte keine Umstände, Sir. Das ist nichts weiter als ein Kratzer“, widersprach der Junge, doch der Viscount blieb eisern.

„Das ist das Mindeste, das ich für jemanden tun kann, der mich so selbstlos vor Schaden bewahrt hat. Ah, da ist ja unser Mann!“

Er warf dem Gastwirt eine glänzende goldene Guinee zu und bat ihn, sich um den Jungen zu kümmern und ihm jeden erdenklichen Wunsch zu erfüllen. Angesichts solcher Großzügigkeit führte der Wirt den etwas zögerlichen jungen Gast bereitwillig in die Schankstube. Der Viscount sah ihnen mit gerunzelter Stirn nach.

„Stimmt etwas nicht, Ben? Du selbst bist nicht verletzt, oder?“

„Was …?“ Nur widerwillig wandte sich Lord Fincham wieder dem Geschehen zu. „Nein, überhaupt nicht, Charles“, versicherte er dem Freund, während sie die Straße hinuntergingen. „Es ist nur … der junge Kerl … Hast du zufällig seine Augen gesehen?“

„Nein, das kann ich nicht behaupten. Was war denn damit nicht in Ordnung? Hat er etwa geschielt?“

Erneut legte der Viscount die Stirn in Falten. „Nein, sie waren in der Tat vollkommen! Es waren die auffälligsten Augen, die ich in meinem ganzen Leben gesehen habe.“

„Dann wird er bestimmt vielen Mädchen den Kopf verdrehen, wenn er älter ist“, bemerkte Charles, den das Thema nicht sonderlich interessierte. Seine Aufmerksamkeit galt etwas ganz anderem. „Schau, der Faustkampf scheint schon anzufangen! Lass uns versuchen, noch einen guten Platz zu ergattern.“

Als der Viscount am späten Nachmittag zu dem Wirtshaus zurückkehrte, dachte er nicht mehr an den Vorfall und an seinen jugendlichen Retter. Er verabschiedete sich von seinem Freund, der nur eine knappe Meile von Deerhampton entfernt wohnte, und trat unverzüglich die Heimreise nach London an.

Perkins, sein Kutscher, ließ die Peitschenschnur über den Köpfen der Pferde knallen, sodass sich die gut gefederte Reisekutsche unverzüglich in Bewegung setzte. Rasch ließen sie das Städtchen, das in rötliches Abendlicht getaucht war, hinter sich. Lord Fincham schaute gedankenverloren aus dem Fenster auf die schon leicht herbstlich gefärbte Landschaft. Er überlegte, wie er sich an diesem Abend am besten die Zeit vertreiben könnte. Plötzlich erblickte er eine einsame Gestalt, die mit einem kleinen Handkoffer die Straße entlangging und dabei missmutig Laub mit den Schuhen aufwirbelte. Weshalb diese Person sofort sein Interesse auf sich gezogen hatte, blieb ihm im Nachhinein ein Rätsel. Vielleicht war es die Haltung der schlanken Schultern oder der flüchtige Anblick eines leicht verblichenen Dreispitzes gewesen, die ihn hatten aufmerken lassen. Jedenfalls fasste er, ohne eine weitere Sekunde zu zögern, seinen Gehstock am silbernen Griff und klopfte energisch gegen das Kutschendach.

Im Handumdrehen reagierte Perkins und brachte die Räder der Kutsche zum Stehen. Der Viscount lehnte sich aus dem offenen Fenster, um zu sehen, wie die zierliche Gestalt die Kutsche einholte.

Als der junge Bursche näher kam, erkannte er den Reisenden in der Kutsche und rief überrascht: „Ach, du lieber Himmel! Sie sind das, Sir!“

Der Junge wirkte unordentlicher, als der Viscount ihn in Erinnerung hatte. Seine Kleidung war nun verdreckt und Schmutzstreifen überzogen sein Gesicht. Außerdem machte er einen ausgesprochen erschöpften Eindruck, als ob er schon eine beachtliche Zeit gelaufen wäre.

Lord Fincham verspürte einen Anflug von Ärger, den er nur auf sein schlechtes Gewissen zurückführen konnte, und rief gereizter als beabsichtigt: „Nun, jetzt steh doch nicht herum und lass meine Pferde auf ihren Kandaren kauen!“

Einen Moment lang zögerte der Junge, dann kletterte er ins Kutscheninnere und nahm dem Viscount gegenüber Platz. Den Handkoffer stellte er so vorsichtig neben sich ab, als würde er all sein Hab und Gut enthalten.

Was vermutlich der Fall ist, überlegte Lord Fincham, bevor sich sein jugendlicher Begleiter erkundigte, wohin er unterwegs sei. „Wichtiger ist wohl, wohin du unterwegs bist“, gab der Viscount zur Antwort. „Als wir … nun … zusammengestoßen sind, nahm ich fälschlicherweise an, du würdest in dem Städtchen wohnen.“

„Oh, nein, Sir! Ich habe mich nur im Ort umgesehen, während ich auf die Ankunft der Postkutsche nach London gewartet habe.“ Die feinen Gesichtszüge des Burschen wirkten mit einem Mal bekümmert und kleinlaut gestand er: „Bedauerlicherweise war die Frau des Gastwirts besonders freundlich. Sie hat sich nicht nur um meine kleine Verletzung gekümmert, sondern auch darauf bestanden, dass ich etwas esse. Und da ich seit dem Frühstück noch keinen Bissen zu mir genommen hatte, konnte ich der Wildpastete und dem Teller Fleischbrühe einfach nicht widerstehen. Als ich schließlich zum Postgasthof am anderen Ende des Ortes zurückkehrte, war die Postkutsche bereits eine halbe Stunde zuvor abgefahren. Der Wirt des Postgasthofs riet mir, einen Kutschbetrieb am Stadtrand aufzusuchen. Doch als ich den endlich fand, war auch diese Kutsche längst fort. Ich beschloss daher, weiterzulaufen und einen geeigneten Gasthof zu suchen, wo ich die Nacht verbringen könnte.“

„In diesem Fall hast du Glück, mein Kind, denn ich bin ebenfalls auf dem Weg nach London und kann dich absetzen, wo du auch willst.“

„Oh, vielen Dank, Sir! Das ist sehr liebenswürdig!“

Das Lächeln, das diese Entgegnung begleitete, war so bezaubernd, dass der Viscount regelrecht erbebte. Erneut kam ihm eine verblüffende Möglichkeit in den Sinn, die ihm schon bei ihrer ersten Begegnung kurz durch den Kopf geschossen war.

Er lehnte sich gegen die samtbezogene Sitzpolsterung und musterte mit leicht verengten Augen seinen jugendlichen Begleiter. Dessen Haar, das ebenso schwarz war wie sein eigenes, war im Nacken mit einem Band zusammengebunden. Der Hals war weiß und wirkte grazil. Unter dem Dreispitz neigte der Junge das zarte Gesicht leicht zur Seite, sodass der Viscount einen Blick auf das Profil mit den hohen Wangenknochen, der kleinen geraden Nase und dem wohlgeformten Mund werfen konnte. Ein warmer Gehrock von guter Qualität verdeckte den Oberkörper, doch man konnte die schlanken, ebenmäßigen Glieder darunter erkennen, die in Kniebundhosen und verschmutzten Strümpfen steckten.

„Du musst mir noch verraten, wohin du genau willst, mein Kind“, sagte Lord Fincham, während er mit einem zufriedenen Schmunzeln von den kleinen Füßen seines Gegenübers, die in schmalen Schnallenschuhen steckten, hochschaute.

„Wenn Sie mich einfach an einem ordentlichen Gasthaus absetzen könnten, wäre ich Ihnen ausgesprochen dankbar, Sir.“

„Wärst du das“, brummte er, derweil er erneut einen neugierigen Blick auf die zierliche Figur seines Begleiters warf. „Ja, ich bin mir sicher, dass wir uns … nun … auf ein Ziel einigen werden“, fügte er hinzu. Dann sah er, wie die junge Person ihren Koffer öffnete, die schlanken Finger in dessen Inneres schob und eine überraschend prall gefüllte lederne Geldbörse hervorzog.

„Was halten Sie für eine angemessene Bezahlung, Sir?“

Einen Moment lang wusste er nicht, ob er lachen oder sich ärgern sollte. Das konnte das Kind nicht ernst meinen! Gewiss war das Mädchen in Jungenkleidung nicht so naiv, ihm die Kutschfahrt bezahlen zu wollen? Oder etwa doch?

Die Erfahrung hatte Lord Fincham gelehrt, dem schönen Geschlecht mit Misstrauen zu begegnen. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund genoss diese faszinierende kleine Person, an deren wahrem Geschlecht er nicht länger zweifelte, jedoch sein Vertrauen. Dass es sich um ein Mädchen handelte, stand für ihn außer Frage. Wenn es das Theater unbedingt fortsetzen wollte, würde er das Spiel eben mitspielen – zumindest fürs Erste.

„Stecke deine Geldbörse wieder ein, mein Kind!“, befahl er ihr, erneut barscher als beabsichtigt. Der Grund dafür war vermutlich, dass er sich über seine eigene Unentschlossenheit ihr gegenüber ärgerte. „Ich verlange keine Bezahlung“, stellte er in freundlicherem Ton klar. „Angesichts des Dienstes, den du mir heute erwiesen hast, ist es das Mindeste, was ich tun kann.“

Gerade als er dies sagte, kamen ihm Zweifel an der Zufälligkeit ihrer ersten Begegnung. War alles so unschuldig, wie es ausgesehen hatte? Oder war der ganze Vorfall sorgfältig von einem seiner dekadenten Bekannten in Szene gesetzt worden, um sich mit ihm einen Scherz zu erlauben? Ein weiteres Mal war er aus unerklärlichen Gründen bereit, seiner Begleiterin einen Vertrauensvorschuss zu gewähren.

„Da wir einander noch länger als eine Stunde Gesellschaft leisten werden, möchte ich mich lieber vorstellen. Ich bin Fincham, Lord Fincham.“

Da sie angesichts der Tatsache, ein so bedeutendes Mitglied des Hochadels vor sich zu haben, weder Fassungslosigkeit noch Aufregung zeigte, wurde er erneut misstrauisch. Hatte sie etwa bereits gewusst, wer er war?

„Und wie lautet dein werter Name?“

Sie zögerte kurz. „George, Mylord, George … äh … Green.“

Der Viscount unterdrückte ein Lächeln. „Gut, Master Green, bist du sicher, dass ich dich nicht besser bei einem deiner Verwandten in London absetzen soll?“

„Ganz sicher, Mylord, denn dort kenne ich niemanden. Aber wenn Sie mich, wie zuvor erwähnt, an einem anständigen Gasthaus, das nicht zu teuer ist, absetzten, stünde ich für immer in Ihrer Schuld.“

Hoffnungsvoll sah sie ihn an. War sie eine derart begnadete Schauspielerin oder war ihre Dankbarkeit echt? Zu seinem eigenen Unbehagen konnte er noch kein abschließendes Urteil fällen. „Das sollte kein Problem darstellen“, willigte er schließlich ein. „Allerdings würde ich vorher gern wissen, weshalb du nach London willst.“

Die Antwort kam prompt. „Ich will mir eine Anstellung suchen, Mylord.“

Skeptisch hob er eine Braue. „Wirklich? Und welche Art von Posten erhoffst du dir?“

Sie zuckte mit den schlanken Schultern. „Das habe ich mir noch nicht genau überlegt. Vielleicht wäre eine Dienstbotenstellung für mich am besten geeignet – zum Beispiel als Lakai.“

Erneut hob Lord Fincham kritisch eine Braue. „Wie alt bist du denn, mein Kind?“

Sie senkte den Kopf und flüsterte mit ihren zarten Lippen: „Fünfzehn, Mylord.“

Das entsprach eindeutig nicht der Wahrheit. Und sofern er sich nicht völlig täuschte, hatte sie diese Lüge nur höchst unwillig geäußert. Interessant … wirklich, sehr interessant!

„Ein wenig jung für einen Lakaien“, bemerkte er, weiterhin gewillt, auf ihr Spiel einzugehen. „Willst du nicht lieber als Page arbeiten?“

„Page“, wiederholte sie nachdenklich. „Ja, das könnte gehen.“

Großer Gott, das konnte nicht ihr Ernst sein! Im Handumdrehen würde man ihr wahres Geschlecht entdecken. Wahrscheinlich hatte er ihr mit seinem Vorschlag einen Bärendienst erwiesen …

Er lehnte sich wieder gegen die samtene Rückenlehne und wurde von ungewöhnlich heftigen Gewissensbissen geplagt. Noch immer wusste er seine geheimnisvolle Reisebegleiterin nicht einzuordnen. Eine solche Unentschlossenheit passte gar nicht zu ihm, denn er galt als guter Menschenkenner. Selbst wenn er sich bei der ersten Begegnung noch kein eindeutiges Bild von einer Person machen konnte, erwiesen sich seine ersten Einschätzungen zumeist als richtig.

George Green jedoch gab ihm tatsächlich Rätsel auf. Allein seine Sprache legte nahe, dass das Mädchen nicht aus den unteren Schichten stammte. Er nahm sogar an, dass sie eine umfangreiche Bildung genossen hatte. Was zum Teufel dachte sie sich also dabei, sich in ein solches Abenteuer zu stürzen? Wenn sie diese Maskerade nicht zum Spaß veranstaltete, war sie wahrscheinlich von zu Hause fortgelaufen – vielleicht, um einem unliebsamen Verehrer oder einer arrangierten Ehe zu entfliehen. Wenn ich noch annähernd bei Verstand bin, nehme ich ihren Vorschlag an und setze sie beim ersten anständigen Gasthof ab, sobald wir London erreicht haben, dachte er. Obgleich ihm diese Überlegung vernünftig erschien, wusste er bereits, dass er sich nicht daran halten würde.

Wieder ertappte er sich dabei, wie er sie beobachtete. Ja, entsprechend gekleidet wäre sie fraglos ein verflucht hübsches Mädchen … nein, ein geradezu wunderschönes, verbesserte er sich im Stillen. Gewiss ist sie älter als fünfzehn … Achtzehn oder vielleicht neunzehn, entschied er. Und ganz eindeutig war sie kein einfältiges junges Ding. Offenbar wusste sie genau, was sie tat. Ihrem verwegenen Rollentausch lag eine bestimmte Absicht zugrunde. Darauf hätte er sein Leben verwettet! Von welcher Seite aus er die Sache auch betrachtete, es ließ sich nicht leugnen: Er fand das Mädchen und die ganze Situation faszinierend und höchst amüsant. Solche Empfindungen hatte er schon seit Langem nicht mehr verspürt, und er war begierig, herauszufinden, wer und was sie war!

„Ich bin erfreut, festzustellen, dass du nicht von Natur aus zu Geschwätzigkeit neigst, Master Green. Dennoch glaube ich, ein wenig Konversation wäre statthaft, selbst wenn wir uns nicht gut kennen.“

Diese Aufforderung veranlasste sie, ihre intensive Betrachtung der Landschaft zu unterbrechen. „Ich bitte um Verzeihung, Mylord. Es ist nur so, dass ich London noch nie zuvor besucht habe. Schon den Weg dorthin finde ich sehr interessant – gerade jetzt, wo die Bäume sich so wunderschön färben.“

„Ich hingegen habe diese Strecke schon zahllose Male und zu jeder Jahreszeit bereist und finde sie eher ermüdend“, entgegnete er. „Ich würde es bevorzugen, ein wenig mehr über dich zu erfahren.“

Der vorsichtige Blick, den sie ihm zuwarf, entging ihm keinesfalls. Jedoch beschloss er, dem keine Beachtung zu schenken. „Warum zum Beispiel hältst du dich allein in einer Gegend auf, die dir nach eigenen Angaben fremd ist? Weshalb begleitet dich kein Verwandter?“

„Meine Eltern sind beide tot, Mylord.“

Da sie ihn bei diesen Worten fest angesehen hatte, war er bereit, ihrer Aussage Glauben zu schenken. Ja, er konnte immer deutlicher spüren, wann sie ihm etwas vormachte und wann sie die Wahrheit sagte.

„Und es ist niemand mehr da, der sich für dein Wohlergehen verantwortlich fühlt, mein Kind? Kein Freund oder entfernter Verwandter?“

„Nein, Mylord.“

Ihre Antwort weckte sein Interesse. Sofern sie wieder die Wahrheit gesprochen hatte – was er zu glauben geneigt war –, musste er ihr Alter höher ansetzen, als er ursprünglich angenommen hatte. Vermutlich war sie wenigstens einundzwanzig. Außerdem bedeutete ihre Antwort, dass sie vermutlich nicht vor einem unliebsamen Ehearrangement floh. Dies jedoch warf wiederum die Frage auf, was stattdessen der Grund für ihre Verkleidung war. Mit jeder Meile, der sie sich der Stadt näherten, wuchs seine Neugier.

Schließlich hielt die Kutsche vor einer stattlichen und zugleich eleganten Villa am Berkeley Square. Die geheimnisvolle Begleiterin des Viscounts zeigte sich jedoch keineswegs beeindruckt, als sie hinter ihm aus der Kutsche stieg. Sie wirkte eher beunruhigt, wenn nicht gar ein wenig verärgert, als sie erkannte, dass sie vor seinem Stadthaus standen. Lord Fincham indes hatte einen vorläufigen Entschluss gefasst.

„Sie hatten doch versprochen, mich bei einem Gasthof abzusetzen, Mylord!“

„An ein solches Versprechen kann ich mich nicht erinnern, mein Kind“, erwiderte er und warf ihr einen arroganten Blick zu. „Ich kann zu gegebener Zeit einen meiner Diener anweisen, dich dorthin zu bringen, wenn du das wirklich möchtest. Zunächst will ich dir einen Vorschlag unterbreiten … allerdings nicht hier auf der Straße, wo Gott und die Welt uns zuschauen.“

Er achtete nicht weiter darauf, ob seine Begleiterin ihm ins Haus folgte. Noch bevor er seine Ankunft durch das Betätigen des auf Hochglanz polierten Türklopfers angekündigt hatte, öffnete sich die Eingangstür wie von Geisterhand, und der Viscount betrat gleichmütig das Vestibül. Drinnen übergab er seinen Umhang und den Hut an den Butler, der ihm dienstbeflissen zur Hand ging.

„Bringen Sie Rotwein und zwei Gläser in die Bibliothek, Brindle, und geben Sie der Köchin Bescheid, dass ich heute nicht ausgehen werde.“ Nach dieser Anweisung begab er sich in einen Raum, dessen Wänden durch gut gefüllte Bücherschränke, die bis zur Zimmerdecke hinaufreichten, verdeckt waren. Wie er erwartet hatte, war ihm das Mädchen in Jungenkleidung auf dem Fuße gefolgt.

Erst nachdem die Tür hinter ihnen geschlossen wurde, drehte er sich zu ihr und musterte sie aufmerksam. Zwar hatte sie den Dreispitz abgenommen, ihn aber nicht dem Butler übergeben. Mit der rechten Hand hielt sie den Griff ihres kleinen Koffers fest umschlossen. Daraus ließ sich zweierlei schließen: Erstens kannte sie die korrekte Verhaltensweise gegenüber einem Höhergestellten und zweitens schien sie sich nach wie vor ausgesprochen unwohl zu fühlen. Als sie sich unverhohlen weigerte, Platz zu nehmen, drängte er sie nicht weiter und machte es sich in einem Sessel bequem. Von dort beobachtete er sie, wie sie sich im Raum umschaute und das Gemälde, das den Ehrenplatz über dem Kamin einnahm, genauer betrachtete.

„Das ist Ihre Familie, nicht wahr, Mylord?“

„Ja, in der Tat, mein Kind. Der hochgewachsene Gentleman hatte das Glück, mein Vater zu sein. Meine Mutter, obgleich keine Schönheit, wie du selbst feststellen magst, besaß eine Menge Verstand und Charme. Ich bin das jüngere Kind, das den Hund festhält. Mein Bruder ist bereits verstorben.“

Er sah, wie sich ihre dünnen schwarzen Brauen zusammenzogen. „Mein aufrichtiges Beileid, Mylord. Ist es erst kürzlich geschehen?“

Offensichtlich interessierte das Mädchen sich nicht für die Geschehnisse in der feinen Gesellschaft, sonst hätte sie diese Frage nicht gestellt. „Er starb vor etwa acht Jahren nach einem Sturz vom Pferd.“

Bevor sie etwas entgegnen konnte, öffnete sich die Tür, und sein Butler, der schon seit langer Zeit der Familie Fincham zu Diensten war, trat ein.

„Sie können das Tablett einfach hier abstellen, Brindle. Wir bedienen uns dann selbst. Ich werde läuten, wenn ich Sie wieder benötige. In der Zwischenzeit wünsche ich, nicht gestört zu werden.“

Der Butler war zu erfahren, um sich auch nur eine Spur von Überraschung über den seltsamen Gast seines Herrn anmerken zu lassen. Mit einer steifen Verbeugung verließ er das Zimmer und schloss beinah geräuschlos die Tür hinter sich.

„Komm her, mein Kind“, befahl Lord Fincham und seufzte, als seine Anweisung einfach ignoriert wurde. „Ich kann dir versichern, dass ich dir kein Leid zufügen will. Ich möchte nur einen Blick auf deine Hände werfen.“

Erschrocken hob das Mädchen die anmutig geschwungenen Brauen. „Meine Hände, Sir? Wozu?“

Der Viscount sah gereizt in das jugendliche Antlitz. „Sei gewarnt! Wenn ich mich entscheiden sollte, dir eine Anstellung anzubieten – entgegen aller Vernunft, sollte ich wohl hinzufügen – erwarte ich, dass meinen Aufforderungen ohne Widerrede Folge geleistet wird. Und nun komm her!“

Diesmal kam sie seinem Befehl unverzüglich nach. Sanft ergriff er die Hand, die ihm entgegengestreckt wurde, und tastete nach seinem Monokel. Dann musterte er die schlanken, feingliedrigen Finger und die kurzen, sauberen Nägel. „Ich vermute, du bist keine harte Arbeit gewohnt.“

Er ließ das zierliche Handgelenk los, nahm die Weinkaraffe, die auf dem Tisch neben seinem Sessel stand, und füllte zwei Gläser. „Da ich mir vorstellen kann, dass du deinen Durst seit Stunden nicht löschen konntest, darfst du gern Platz nehmen und mir auf ein Glas Wein Gesellschaft leisten.“

Obgleich ihre Miene noch immer skeptisch wirkte, schien es ihr offenkundig nicht ungehörig, in der Gesellschaft eines Aristokraten etwas zu trinken. Dieses Verhalten steigerte erneut seine Neugier.

„Haben Sie das denn ernst gemeint, als Sie sagten, Sie hielten nach einem Bediensteten Ausschau?“, fragte sie, bevor sie in sehr damenhafter Weise an ihrem Wein nippte.

„Sonst hätte ich es nicht geäußert, mein Kind. Doch bevor wir uns auf irgendetwas einigen … Wer hat dir deine Erziehung zuteilwerden lassen?“

Sie lächelte verschmitzt, bevor sie antwortete: „Der ehemalige Pfarrer unserer Gemeinde, Sir. Meine Mutter war viele Jahre lang seine Köchin und Haushälterin und er hatte mich gern.“

„Und dein Vater?“

„Ich habe ihn nie kennengelernt und er wusste nichts von meiner Existenz. Er war Soldat, Sir, und starb für sein Vaterland, kurz nachdem ich geboren wurde.“

Er betrachtete sie über den Rand seines Glases hinweg und dachte darüber nach, was sie bisher über sich erzählt hatte. Es konnte gut sein, dass sie die Wahrheit sprach. Falls sie jedoch die illegitime Tochter einer Person von Stand war, konnte ihre Mutter die Geschichte von dem gefallenen Vater auch erfunden haben, um den Anschein von Ehrbarkeit zu wahren. Zweifelsohne besaß das Mädchen eine ruhige Würde, die keinesfalls unecht oder aufgesetzt wirkte. Sie selbst hielt ihre Herkunft offenkundig für tadellos. Aber wie passte das zu der Jungenkleidung, die sie trug?

Er beschloss, fürs Erste nicht weiter mit Fragen in sie zu dringen, und sagte: „Ich denke, du könntest die Pflichten eines Pagen erfüllen. Wenn du die Stellung annimmst, lasse ich dir morgen einen neuen Anzug anfertigen.“

Sie ließ keine besondere Freude über das Angebot erkennen. Eher misstrauisch fragte sie: „Aber wozu benötigen Sie einen Pagen, Sir? Sind Sie verheiratet?“

„Was hat das bitte damit zu tun?“ Er warf ihr einen verärgerten Blick zu. „Nein, zufällig bin ich nicht verheiratet. Warum fragst du?“

Erneut bemerkte er, dass ihre Mundwinkel argwöhnisch zuckten. „Nun, weil Pagen normalerweise von Ladies eingestellt werden, Sir.“

„Nicht immer“, widersprach er und lächelte grimmig. „Ich bin bereit, dich anzustellen, weil ich große Lust verspüre, einen gewissen Bekannten zu ärgern. Es wird ihn sehr verdrießen, wenn er dich zum ersten Mal sieht.“

„Wirklich, Mylord?“

„Ganz sicher, mein Kind! Und jetzt kannst du direkt mit deinen Aufgaben beginnen, indem du am Klingelzug neben dem Kamin ziehst.“

Da sie der Aufforderung sofort Folge leistete, ging er davon aus, dass sie die Stellung angenommen hatte. Nachdenklich saß er da, bis der Butler erschien.

„Das Kind, das Sie da vor sich sehen, Brindle, ist mein neuer Page.“

Nicht mehr als eine leicht angehobene graue Braue verriet die Verwunderung des Butlers. Seit er im Dienst der Familie stand, war noch niemals ein Page eingestellt worden.

„Gibt es ein freies Zimmer im Dienstbotentrakt?“

„Keines, das zurzeit nicht als Speicherraum genutzt wird, Mylord. Er kann heute Nacht mit in der Knechtekammer schlafen, würde ich vorschlagen, oder vielleicht teilt er sich besser das Zimmer mit James, dem Lakaien. Das ist ein wenig größer.“

Der Viscount legte die Stirn in Falten. „Nein, einstweilen kann er das kleine Zimmer bewohnen, in dem meine Nichte übernachtet, wenn sie zu Besuch hier ist.“ Erneut sah er den Butler direkt an. „Hören Sie zu, Brindle. Ich möchte, dass Sie morgen mit dem Jungen losgehen und ihm neue Kleidung kaufen und was er sonst noch an Sachen benötigt. Bis dahin soll er etwas zu essen bekommen, und Sie sorgen dafür, dass ihm ein Sitzbad auf das Zimmer gebracht wird. Lassen Sie ihn dann dort allein, bis er läutet. Haben Sie das verstanden? Sein Essen bringen Sie ihm ebenfalls auf einem Tablett nach oben. Wecken Sie ihn morgen früh nicht auf. Er besitzt genug Verstand, um selbst in die Küche hinunterzufinden.“

„Jawohl, Mylord. Haben Sie sonst noch einen Wunsch?“

„Ja, Sie können Ronan zu mir lassen, damit er mir für den Rest des Abends Gesellschaft leistet.“

Als das Mädchen ihm schüchtern eine gute Nacht wünschte, reagierte der Viscount nur mit einem Nicken. Auch wenige Minuten später, als leise die Tür geöffnet wurde, bemerkte er dies kaum. Erst als sein Lieblingsjagdhund durch die Bibliothek auf ihn zusprang, wurde er kurz aus seinen Gedanken gerissen und erwiderte die freudige Begrüßung des treuen Tieres.

„Soll ich dem Mädchen wirklich Unterschlupf gewähren, Ronan?“, murmelte Lord Fincham, denn dies war die Frage, die ihn am meisten beschäftigte. „Ich kenne sie doch kaum.“

Der Hund, der sich zufrieden zu Füßen seines Herrn auf dem Teppich niederstreckte, wackelte mit einem Ohr, während der Viscount ein wenig grimmig lächelte. „Allerdings ist es dieser rätselhaften kleinen Person eindeutig gelungen, mein Herz zu rühren. Eine beachtliche Leistung, alter Junge, das kann ich dir sagen! Aber ist es nicht dumm von mir, ihr ein solches Vertrauen entgegenzubringen?“ Er überlegte einen Moment, bevor er laut bekannte: „Bei dir habe ich es vor fast drei Jahren genauso gehandhabt, obwohl man mir versicherte, aus dir würde nie ein guter Jagdhund werden. Du hast mir das Vertrauen, das ich damals in dich gesetzt habe, mehr als vergolten. Ich frage mich, ob sie das auch tun wird.“

Er schaute zu seinem Lieblingshund hinunter. „Ich bin schon gespannt, wie du auf das verkleidete Mädchen reagierst, das nun im Bett meiner Nichte schlafen wird. Immerhin findest du nicht gerade viele Leute sympathisch, oder, Ronan? Zunächst einmal muss ich mir Gewissheit verschaffen, ob sie wirklich so unschuldig ist, wie sie zu sein scheint. Bis morgen früh fällt mir bestimmt ein, wie ich dabei am klügsten vorgehe. Ja, ich werde die Nacht nutzen, um darüber nachzudenken. Dann werden wir weitersehen.“

2. KAPITEL

Wenn er in der Stadt residierte, gehörte es zu Lord Finchams Angewohnheiten, morgens spät aufzustehen, und der folgende Tag stellte keine Ausnahme dar. Selbstverständlich waren alle Mitglieder seines Haushaltes, nicht zuletzt der Kammerdiener, schon lange auf den Beinen, um die Wünsche Seiner Lordschaft jederzeit erfüllen zu können. Nachdem er etwas gegessen und sich aus dem großen Himmelbett im Herrenschlafzimmer erhoben hatte, stand wie immer ein Sitzbad im Ankleidezimmer für ihn bereit.

Anders als viele seiner Zeitgenossen hatte der Viscount stets höchsten Wert auf seine Körperpflege gelegt. Da er die Sitte, unangenehme Gerüche mittels starker Parfüme zu überdecken, zutiefst verabscheute, badete er seit jeher regelmäßig – eine Angewohnheit, die zunehmend populär wurde, seit Beau Brummell, der ungekrönte König des guten Geschmacks, die Londoner Gesellschaft bereicherte.

Der Dandy hatte im Hinblick auf die Mode der Gentlemen neue Maßstäbe gesetzt, die von vielen jüngeren Mitgliedern der feinen Gesellschaft nachgeahmt wurden – allerdings mit sehr unterschiedlichem Erfolg. Lord Fincham jedoch ließ sich von den neuesten Geziertheiten nicht beeinflussen, was vermutlich seinem beharrlichen und stolzen Charakter zuzuschreiben war. Jedenfalls hatte er noch nicht die schlichte Eleganz übernommen, die von Brummell propagiert wurde.

Der Viscount trug weiterhin Samt, Seide und Brokat. Seine Garderobe wies reich bestickte Gehröcke in kraftvollen Farben auf. Nach wie vor bevorzugte er Kniebundhosen und band sein langes Haar im Nacken mit einem schwarzen Samtband zusammen.

In der Tat stellte Lord Finchams kräftiges dunkles Haar eine Herausforderung für seinen peniblen Kammerdiener dar. Nicht ein einziges Mal in den sieben Jahren, in denen Napes ihm diente, hatte er zur Puderdose greifen dürfen. Ebenso überflüssig war der Versuch, seinen Herrn zu überreden, eine Perücke aufzusetzen. Ansonsten hatte Napes allerdings nichts an Seiner Lordschaft auszusetzen und war insgeheim stolz, sich um die Kleidung eines Körpers kümmern zu dürfen, der wahrhaftig ohne Makel war. Schultern, Brust und Taille waren wohlproportioniert, und die langen Beine waren so gerade und muskulös, dass nie etwas verdeckt oder kaschiert werden musste.

Nachdem Lord Fincham sich das Haar selbst gewaschen hatte, ließ er sich von Napes einen Krug warmen Wassers über den Kopf gießen und lehnte sich dann genüsslich zurück, um ein wenig länger als sonst zu entspannen. Für den kurzen verbleibenden Rest des Vormittags hatte er noch keine Pläne. Einen Moment lang sah er Napes, der im Ankleidezimmer einige abgelegte Kleidungsstücke ordnete, verträumt zu. Dann konzentrierte er sich wieder auf das, was ihn vor dem Einschlafen in den frühen Morgenstunden beschäftigt hatte.

„Sagen Sie, Napes, hatten Sie schon das Glück, die Bekanntschaft unseres neuen Bediensteten zu machen?“

„Ja, in der Tat, Mylord“, antwortete der Diener in einem gleichgültigen Tonfall, der ein völliges Desinteresse an dem Neuankömmling verriet.

Dies wunderte den Viscount nicht übermäßig, denn sein Diener reagierte nur lebhafter, wenn es um Fragen der Bekleidung ging. „Hat der Junge schon gefrühstückt?“

Napes schaute ihn überrascht an. „Ich glaube schon, Mylord. Ich habe ihn vor einer Weile in der Küche mit der Köchin plaudern hören. Haben Sie noch einen Wunsch, Mylord? Andernfalls würde ich jetzt die schmutzige Kleidung in die Waschstube bringen und umgehend mit frischer Wäsche zurückkehren.“

Aus den Augenwinkeln beobachtete der Viscount, wie der Diener zur Tür ging. „Ja, tun Sie das, Napes. Aber schicken Sie den Jungen mit der Wäsche zu mir und kommen Sie dann selbst auch zurück. Ich habe den Wunsch, mich heute richtig lange einzuweichen.“

Etwa zehn Minuten später hörte Lord Fincham ein leises Klopfen an der Tür. Lächelnd bat er herein. Sein neuer Page betrat mit zwei vorsichtigen Schritten den Raum, bevor er wie angewurzelt stehen blieb. Die weit aufgerissenen veilchenblauen Augen des Mädchens verrieten eine Mischung aus Verlegenheit und Ungläubigkeit, dann senkte es den Blick und starrte zu Boden.

„V…verzeihen Sie, Mylord. Mr Napes versäumte es, mir zu sagen, dass Sie noch im Bad sind. Wo soll ich die Wäsche hinlegen?“

„Oh, leg sie da irgendwohin, mein Kind, und reiche mir das Handtuch“, erwiderte er teilnahmslos, während er sich mit Vorbedacht aus dem Wasser erhob. „Jetzt schau doch nicht so verschämt, Junge!“

Der sanfte Tadel reichte aus, um sie aufblicken zu lassen. Entsetzen und Fassungslosigkeit spiegelten sich in ihren zarten Gesichtszügen, als ihr Blick auf den Teil der Anatomie des Viscounts fiel, der sich zwischen Taille und Knien befand. Es folgte ein unterdrückter Aufschrei, der Stapel frisch gewaschener Hemden wurde in die Luft geschleudert und fiel wie ein Haufen Lumpen zu Boden. Anschließend floh Master Green aus dem Zimmer, als wäre der leibhaftige Teufel hinter ihm her.

Zutiefst belustigt über den Ausgang seines kleinen Experiments brach Lord Fincham in schallendes Gelächter aus, ohne darauf Rücksicht zu nehmen, ob sein seltsamer und äußerst schockierter Page es hören konnte.

„Das war sehr erhellend“, murmelte er, während er sich ein großes Handtuch umschlang und in sein Schlafzimmer zurückkehrte. „Auch wenn es nicht gerade schmeichelhaft war, wenn ich es mir recht überlege. Ich habe noch nie eine negative Reaktion auf meine männlichen Attribute erlebt! Wozu ein Page doch gut sein kann …“

„Entschuldigen Sie, Mylord.“ Lautlos wie eine Katze hatte sich Napes in das Zimmer geschlichen. Er blickte sich aufmerksam um, während er an den Frisiertisch trat, vor dem sein Herr bereits Platz genommen hatte. Als er begann, das feuchte Haar des Viscounts zu kämmen, verliehen ihm seine herabgezogenen Mundwinkel einen Ausdruck der Verdrießlichkeit.

Lord Fincham erkannte, dass sein Kammerdiener sich gekränkt fühlte und befürchtete, von dem neuen Pagen aus seiner Position verdrängt zu werden. Um dem verletzten Stolz des Dieners keine weitere Nahrung zu geben, machte er eine abweisende Handbewegung. „Ich habe nur laut nachgedacht, Napes“, versicherte er ihm. Nachdem der Kammerdiener mit der Frisur seines Herrn fertig war, verschwand er im Ankleidezimmer nebenan.

Der erstickte Schrei, der bald darauf folgte, kam für Lord Fincham nicht überraschend – ebenso wenig wie die anschließende kritische Bemerkung, dass ungelerntes Gesinde Kleidung von solch erlesener Qualität eigentlich nicht anfassen dürfe.

„Um Himmels willen, beruhigen Sie sich, Mann!“, befahl der Viscount. „Die verfluchten Hemden sind doch nicht ruiniert.“

„Nichtsdestotrotz muss der Junge lernen, sorgsamer mit Ihren Sachen umzugehen, wenn Sie … wenn Sie wollen, dass er einen Teil meiner Aufgaben übernimmt. Für ein solches Verhalten sollte man ihn bestrafen.“

Fincham rümpfte über diesen Rat nur die Nase und schaute zur Decke. „Seien Sie ganz sicher, Napes, das Kind wurde nicht eingestellt, um Sie zu ersetzen oder irgendeine Ihrer Pflichten zu übernehmen. Ich wollte heute Morgen nur sichergehen …“ Der Viscount hielt abrupt inne. „Ich wollte lediglich wissen, ob er gut geschlafen hat. Dennoch sind Ihre Bemerkungen nicht gänzlich unangebracht“, fügte er nachdenklich hinzu. „Läuten Sie nach Brindle!“

Während der Hausherr auf den Butler wartete, zog er sich an. Zwar erlaubte er seinem Kammerdiener, auch die kleinsten Flecken von der Kleidung zu entfernen und die Stiefel und Schuhe auf Hochglanz zu polieren, doch bis auf den Gehrock zog er es vor, sich allein anzukleiden und sich das Krawattentuch selbst zu binden.

„Sie haben mich rufen lassen, Mylord“, sagte der Butler, der gerade eintrat, als Napes dem Viscount in einen dunkelgrünen Gehrock half.

„Ja, Brindle.“ Er wandte dem Butler seine volle Aufmerksamkeit zu. „Hören Sie gut zu. Niemand, und das meine ich wortwörtlich, soll es wagen, meinen Pagen zu züchtigen. Wenn das Kind sich eines Fehlverhaltens schuldig macht …“, er musste lächeln, „… und ich nehme an, dies wird häufiger der Fall sein, sind allein Sie dazu befugt, ihn auf freundliche und verständnisvolle Art zu unterweisen. Falls er sich eine ernsthafte Verfehlung zu Schulden kommen lässt, möchte ich von Ihnen darüber in Kenntnis gesetzt werden. Ich werde mich dann persönlich darum kümmern.“ Er schwieg einen Moment, bevor er hinzufügte: „Ich werde höchst ungehalten, sofern meine diesbezüglichen Anweisungen missachtet werden. Haben Sie das verstanden?“

„Vollkommen, Mylord.“

„Und Sie auch, Napes?“

„Ja, Mylord.“

„Gut, dann können Sie jetzt wieder an Ihre Arbeit gehen. Und Sie, Brindle, finden bitte heraus, wo sich Master Green gerade aufhält, und bitten ihn, mich in der Bibliothek aufzusuchen.“

Autor

Anne Ashley
Die Engländerin schreibt historical romances und entspannt sich gerne in ihrem Garten. Diesen hat sie bereits öfter zugunsten des Fondes der Kirche in ihrem Dorf der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Mehr erfahren