Eiskalte Versuche

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Was weiß Isabella Abbott über die menschenunwürdigen Experimente, die seit Jahren ganz in ihrer Nähe durchgeführt werden? FBI-Agent Jack Dolan ermittelt und kommt dabei einem skrupellosen Täter auf die Spur ... Sieben Wissenschaftler fliehen aus Russland nach Amerika. Besessen von dem Gedanken, künstliches Leben zu erschaffen, setzen sie ihre dunklen Experimente heimlich fort. Die Versuche misslingen, bis auf den einen - Jahre später: FBI-Agent Jack Dolan ermittelt in einem seltsamen Todesfall. Alle Spuren führen in die White Mountains, zu der rätselhaft schönen Isabella Abbott und einem geheimen Labor ...


  • Erscheinungstag 10.12.2012
  • ISBN / Artikelnummer 9783955761622
  • Seitenanzahl 192
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Sharon Sala

Eiskalte Versuche

Roman

Aus dem Amerikanischen von
Elisabeth Schulte-Randt

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MIRA® TASCHENBUCH


MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Cora Verlag GmbH & Co. KG,

Axel-Springer-Platz 1, 20350 Hamburg

Deutsche Taschenbucherstausgabe

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

White Mountain

Copyright © 2002 Sharon Sala

erschienen bei: MIRA Books, Toronto

Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II B.V., Amsterdam

Konzeption/Reihengestaltung: fredeboldpartner.network, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Titelabbildung: by Corbis Images, Düsseldorf

Autorenfoto: © by Harlequin Enterprise S.A., Schweiz

Satz: D.I.E. Grafikpartner, Köln

ISBN 978-3-95576-162-2

www.mira-taschenbuch.de

eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

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1. KAPITEL

Er war dem Tod geweiht.

Frank Walton hegte diesen Verdacht schon seit einiger Zeit, aber erst im vergangenen Monat waren seine Ahnungen bestätigt worden. Zwar hätte er gern länger auf dieser Erde verweilt, doch hatte er sein Schicksal angenommen, so wie er allen Widerwärtigkeiten des Lebens ins Gesicht geblickt hatte und mit ihnen fertig geworden war.

Pack das Problem an und überwinde es. So lautete sein Leitspruch.

Zumindest hatte er bislang so gehandelt. Aber die Auseinandersetzung mit seinem bevorstehenden Tod würde er auf später verschieben. Im Augenblick beschäftigte ihn nur eine Sache. Er hatte Heimweh – nach dem Land seiner Geburt. Er wollte die vertrauten Menschen wiedersehen, die Sprache und die Musik noch einmal hören. Ein letztes Mal, bevor es zu spät war.

Aber er konnte nicht zurück. Für die, die ihn in seiner Vergangenheit gekannt hatten, war er bereits gestorben.

Trotzdem musste er herausfinden, ob das, was er erreicht hatte, diese Entscheidungen wert gewesen war. Er verspürte das Bedürfnis, seinen Blickwinkel zu verändern. Vielleicht wusste er dann, ob er richtig gehandelt hatte.

Zu diesem Zweck war er von Montana nach New York gekommen, nach Brighton Beach in Brooklyn. Mehr konnte er sich seinen Wurzeln nicht nähern, um noch einmal die Speisen zu schmecken, die er in seiner Kindheit gegessen hatte, und die Sprache des Landes zu hören, das seine Heimat gewesen war. Doch zwei Wochen in Brighton Beach hatten ihn wohl oder übel gelehrt, dass es zu spät war und er die Zeit nicht zurückdrehen konnte.

Mit einem Lächeln auf den Lippen verließ Frank das kleine Café, in dem er zu Abend gegessen hatte. Beim Verzehr des heißen dunkelroten Borschtsch und des köstlichen Brotes waren Erinnerungen an die Mahlzeiten in ihm wach geworden, die seine Mutter ihm an den kurzen, klirrend kalten Wintertagen in seiner russischen Heimat vorgesetzt hatte.

Obwohl mildes Septemberwetter herrschte, musste er nur die Augen schließen, und Eindrücke jener Zeit kehrten in allen Einzelheiten zurück: Er sah seinen Vater vor sich, der mit seiner Musette am offenen Feuer saß, zwischen den Liedern einen Schluck Wodka trank und selbst gedrehte Zigaretten rauchte, seine Brüder und Schwestern führten wilde Tänze auf und machten die hohen Sprünge der Kosaken nach, und über dem Getöse erscholl das Lachen seiner Mutter.

Gott, ja. Dies alles hatte er hinter sich gelassen, für einen höheren Zweck. Zumindest hatte er das in den dreißig Jahren, die mittlerweile vergangen sein mochten, ein ums andere Mal vor sich selbst wiederholt. Nun, am Ende seiner Tage, begann er sich zu fragen, ob die Opfer, die er gebracht hatte, sinnvoll gewesen waren. Was hatte er erreicht? Was hatten sie zusammen erreicht?

Drei Möwen kreisten kreischend über seinem Kopf und rissen Frank aus seinen Gedanken. Er blinzelte in die Nachmittagssonne, um die verwegenen Flugmanöver zu beobachten, mit denen die Vögel auf den Strand neben der Promenade niederstießen. In Montana gab es keine Seemöwen.

Durch das gelichtete Haar schien warm die Sonne auf seinen Schädel. Er sog die frische Luft ein und atmete mit einem Seufzer wieder aus. Zum ersten Mal in seinem Leben wünschte er sich, als sterblicher Mensch an eine höhere Macht glauben zu können, denn bis dort, wohin er gehen musste, würden die Sonnenstrahlen nicht reichen.

Ein paar Häuser weiter lehnte sich eine Frau aus einem Fenster im dritten Stock und schrie auf die Straße herunter. Ein Mann, der eben aus dem Eingang trat, blieb stehen und sah nach oben. Dann rief er etwas hinauf. Seine Rufe und die der Frau vermischten sich mit dem Brausen des Verkehrs, dem diffusen Stimmengewirr der Passanten und dem Lärm eines ganz normalen Werktages. Durch die Gitter auf dem Gehweg stiegen Dampfwolken hoch, die die kehligen Vokale und Konsonanten der russischen Sprache zu ihm hin zu tragen schienen. In Franks Ohren klangen diese Töne wie Musik. Er wollte zurückrufen – die Lieder seiner Jugend singen und tanzen, bis er erschöpft aufgeben musste. Aber diesen Teil seines Lebens hatte er vor zu langer Zeit hinter sich gelassen. Nicht einmal jetzt, da der Tod zum Greifen nah war, konnte er das Wagnis eingehen und sein wahres Selbst offenbaren.

Er schob die Hände in die Taschen und schlenderte weiter die Straßen entlang, zufrieden, wenigstens an diesem Ort weilen zu dürfen.

Wasili Rostow trat, vor dem Wind Schutz suchend, in eine Mauernische und zündete sich eine Zigarette an. Als das Ende aufglomm und der Tabak zu brennen begann, inhalierte er tief und wartete auf die Wirkung. Der Nikotinstoß kam schnell. Er benebelte seine Sinne und milderte die innere Anspannung. Rostow atmete den Rauch langsam durch die Nase wieder aus und wandte sich um. Der alte Mann, an dessen Fersen er sich geheftet hatte, war noch in Sichtweite. Also konnte er sich einen zweiten Zug aus der Zigarette leisten. Dann nahm er die Verfolgung wieder auf, immer einen Häuserblock Abstand haltend. Beim Gehen ließ er den Blick an den Schaufenstern entlangschweifen und begutachtete, was Amerika an Überfluss und Wohlstand zu bieten hatte. Nicht zum ersten Mal spielte er den Gedanken durch, wie es wäre, wenn er hier bliebe. Nachdem er seinen Auftrag ausgeführt hatte, natürlich. Er liebte seine Heimat, aber das nicht enden wollende Chaos in der Staatsführung stieß ihn ab – nichts war mehr wie früher. Damals, in der kommunistischen Sowjetunion, war er der jüngste und beste Geheimagent gewesen, angesehen in den höchsten Kreisen, stolz auf seinen Status als Mitarbeiter des KGB und stolz auf seinen gestählten Körper. Die Frauen hatten ihn angehimmelt, und Kollegen beneideten ihn. Seine Vorgesetzten hatten ihm rückhaltlos vertraut.

Heute tat Rostow nichts mehr. Das nannte man Ruhestand. Für ihn war es, als hätte man ihn begraben, bevor seine Zeit zu sterben gekommen war. Er fühlte sich noch stark, auch wenn er über sechzig war. Noch immer war sein Bauch flach und hart, und sein Gesicht hatte mit den Jahren an Ausdruckskraft gewonnen, statt alt zu wirken.

Ironischerweise war der Grund, warum er aufs Abstellgleis geschoben worden war, nicht sein Alter. Schuld waren seine Schwierigkeiten, sich auf dem neuesten Stand der technischen Entwicklungen zu halten. Ein Spion, der sein Handwerk zeitgemäß ausüben wollte, musste mit allem umgehen können, vom Laser bis zum Computerchip, und das hatte Rostow überfordert. Also hatte er Tag für Tag in Spelunken herumgesessen, zusammen mit Männern, denen ein ähnliches Schicksal widerfahren war. Abends hockte er in seiner Einzimmerwohnung und sah sich auf einem Schwarzweißgerät mit Fünfundvierziger-Bildröhre das Programm des Staatsfernsehens an, während durch den Spalt unter der Eingangstür die Kochdünste seines Nachbarn drangen, wenn dieser Kohl und Kartoffeln kochte.

Rostow und seiner Familie hatte die Ära der Sowjetunion nur Gutes gebracht. Der Kommunismus hatte sein Land stark gemacht. Als er unterging, war seine Welt in Schutt und Asche versunken, in Stücke geschlagen wie die Berliner Mauer. In den Jahren nach dem Zusammenbruch hatten die Menschen auf den Straßen gestanden und ihre Habe verkauft, um nicht verhungern zu müssen. Viele verloren ihr Dach über dem Kopf. Die langen Schlangen vor Bäckereien und Lebensmittelgeschäften ließen sich noch schwerer ertragen, weil die wenigen Dinge, die es gab, von denen weggekauft wurden, die das nötige Geld hatten.

Mittlerweile hatten sich die Verhältnisse gebessert, aber wie früher würden sie nie wieder sein. Für Rostow hatte das Wort Demokratie einen obszönen Beiklang und war wie ein Fluch. Die Mafia besaß mehr Macht als die Regierung. Rostow hatte gelernt, sich in die Verhältnisse zu fügen; das war es, was er am besten konnte. Der Tagesablauf, den er sich angewöhnt hatte, bot keine großen Aufregungen, aber er genoss in seinem Ruhestand eine Behaglichkeit, die er nicht einmal als Kind gekannt hatte.

Dann, vor einer Woche, hatten sie vor seiner Tür gestanden. Vier säuerlich blickende Männer, die ihm auftrugen, unverzüglich seinen Koffer zu packen. Innerhalb weniger Stunden erhielt er die Befehle; man stattete ihn mit amerikanischem Geld und einem Mobiltelefon aus, und er wurde in ein Flugzeug nach New York gesetzt. Der Grund für seine Reaktivierung brachte Rostow beinahe zum Lachen. Man hatte ihn gewählt, weil er ein Teil der Vergangenheit war. Seine Reise nach Amerika diente nur einem Zweck: Er sollte ein Gespenst finden.

Gut. Jetzt war er hier und folgte einem alten Mann, dessen Schultern schlaff herabhingen und der eine Vorliebe für Borschtsch zu haben schien. Wie ein Geist wirkte der Alte nicht, aber nach der Gesichtsfarbe zu urteilen, würde er bald einer sein.

Im Augenblick wartete er an einer Kreuzung. Rostow blieb ebenfalls stehen und wandte sich dem Schaufenster des Juweliergeschäfts neben sich zu. Passanten mussten glauben, dass sein Interesse den Edelsteinen und Perlen in der Auslage galt; in Wahrheit diente ihm die Scheibe als Spiegel für den Fußgängerüberweg.

Rostow verharrte in seiner Betrachterpose, bis die Ampel auf Grün sprang und das Warnsignal aufblinkte. Er fuhr herum und hastete, Fahrzeugen geschickt ausweichend, über die Straße. Dann verlor er sich wieder im Strom der Passanten, mit dem auch der alte Mann sich bewegte.

Man hatte ihn informiert, dass sein Zielobjekt ein gewisser Frank Walton sei. Angeblich ein im Ruhestand lebender Botaniker aus Braden in Montana, der nach Brighton Beach gekommen war, um Urlaub zu machen. Aber Wasili Rostow war nicht ohne Grund aus seinem geruhsamen Dasein als Pensionsempfänger gerissen und nach Amerika geschickt worden. Das Foto in seiner Tasche gehörte zu dem Geheimnis, das hinter diesem Auftrag steckte. Heute Abend würde er dem alten Mann von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten. Wenn seine Vermutungen stimmten, würde man den Namen Wasili Rostow bald mit neuer Ehrfurcht aussprechen.

Frank legte seinen Nassrasierer neben das Waschbecken, kniff die Augen zusammen und betrachtete sein Gesicht im Spiegel, bevor er sich für glatt rasiert erklärte. Er hatte Schmerzen im Bauch – das war der Krebs, der seine inneren Organe auffraß. Aber er würde der Krankheit nicht erlauben, ihm den bevorstehenden Abend zu verderben. Der Portier hatte ihm von einem wunderbaren Restaurant erzählt, nur wenige Straßenzüge vom Hotel entfernt, das zur Unterhaltung seiner Gäste eine Varietévorstellung bot. Die Gelegenheit, mehr Musik aus seiner Heimat zu hören, war zu verlockend, und er wollte sie sich nicht entgehen lassen. Ohne auf den nagenden Schmerz zu achten, trocknete er sich das Gesicht ab, verteilte nach Latschenkiefern duftendes After Shave auf der Haut und kehrte ins Zimmer zurück, wo er sich fertig ankleidete.

Morgen würde er wieder in Montana sein, zurück bei seinen Freunden und bei Isabella. Der Gedanke an das Mädchen zauberte ein Lächeln auf seine Lippen – er sah ihre dunklen lachenden Augen vor sich und das herzförmige Gesicht. Isabella war die Tochter, die er nie gehabt hatte. Sie sagte Onkel zu ihm, wie zu allen Freunden Samuels.

Samuel Abbott war Isabellas Vater. Er hatte von Anfang an die Gruppe geführt. Frank runzelte die Stirn und blickte zum Telefon. Seine zu einem Lächeln hochgezogenen Mundwinkel senkten sich. Die Freunde waren dagegen gewesen, dass er Braden verließ, und er hatte es nicht geschafft, ihnen den Grund für seine Reise begreiflich zu machen. Von der Krebserkrankung wussten sie nichts. Er würde ihnen später davon erzählen – wenn sich der Schmerz nicht länger verbergen ließ.

Frank sah noch einmal zum Telefon. Er sollte sich melden und den Daheimgebliebenen mitteilen, dass er morgen zurückflog. Dann warf er einen Blick auf seine Armbanduhr und entschloss sich anders. Es war schon spät. Er musste sich beeilen, denn er hatte einen Tisch reservieren lassen, und den Anfang der Vorstellung wollte er auf keinen Fall versäumen.

Er tat den Gedanken an den Anruf ab. Er war nicht wirklich erforderlich. Morgen um diese Zeit würde er längst wieder zu Hause sein. Dann konnte er nach Herzenslust reden.

Minuten später durchquerte er die Hotelhalle und trat auf die Straße hinaus. Mehr als ein Dutzend Menschen standen am Gehsteigrand und versuchten, ein Taxi anzuhalten. Frank warf einen prüfenden Blick auf seine Armbanduhr und runzelte die Stirn. Wenn er länger warten müsste, würde er zu spät kommen. Das Restaurant lag zwanzig Straßenzüge von hier. In seinem geschwächten Zustand eine gewaltige Entfernung; trotzdem entschied er sich, zu Fuß zu gehen.

Der Septemberabend war mild, und es herrschte lebhafter Verkehr. Nachdem die Sonne untergegangen war, hatte sich die Luft so weit abgekühlt, dass das Gehen angenehm war. Frank war offensichtlich nicht der Einzige, der sich zu einem Spaziergang entschlossen hatte. Sogar in dieser Nebenstraße waren viele Passanten unterwegs. Mit hoch erhobenem Kopf und die Schultern straff nach hinten gedrückt, schritt Frank voran. Für eine Weile gestattete er sich die Vorstellung, wieder jung und stark zu sein – und zurück in der Heimat.

Fünf Straßenzüge von seinem Ziel entfernt hörte er jemanden einen Namen rufen. Zuerst achtete er nicht darauf und ging weiter. Dann vernahm er den Namen wieder.

Vaclav Waller. Jemand hatte laut Vaclav Waller gerufen.

Frank geriet ins Stolpern, dann erstarrte er – die Angst, sich umzudrehen, war ebenso groß wie die Angst, es nicht zu tun. Bevor er sich bewegen konnte, kam von rechts ein Mann aus einem engen Häuserdurchgang auf ihn zu. Er sagte etwas. Erst jetzt begriff Frank, dass der Mann russisch mit ihm sprach.

„Entschuldigen Sie bitte“, entgegnete er und spielte den Ahnungslosen. „Meinen Sie mich?“

Die Antwort kam in makellosem Englisch.

„Haben Sie etwas anderes geglaubt, alter Mann?“

Wasili Rostow trat ins Licht, und Frank Walton erschauerte. Er wusste nicht, wer der Bursche war, aber er kannte die Sorte. Den kalten, leidenschaftslosen Blick hatte er in jungen Jahren oft genug gesehen, um zu wissen, wo er den Mann einordnen musste, der ihn jetzt musterte. Mit dem Begreifen kam die Erkenntnis, dass sie ihn gefunden hatten – nach all diesen Jahren, da er beinahe am Ende seines Lebens stand.

„Ich glaube, Sie verwechseln mich“, murmelte Frank und ging weiter. Nach drei Schritten packte der Kerl seinen Arm.

„Ich irre mich nicht“, sagte Rostow, wieder auf Russisch. „Wir unterhalten uns jetzt.“

Bevor Frank um Hilfe rufen konnte, hatte der Mann ihm ein Messer an die Kehle gesetzt und ihn gewaltsam in den dunklen Häuserdurchgang gezerrt, aus dem er gekommen war. Noch immer auf Russisch, befahl er Frank mit scharfer unterdrückter Stimme, sich still zu verhalten, und drückte die Klinge fester gegen seinen Hals.

Eine plötzliche stechende Empfindung genügte Frank, um zu wissen, dass der Mann seine Haut geritzt hatte und Blut austrat. Die Angst ließ ihn augenblicklich verstummen, dann stieg Zorn in ihm hoch. Er mochte alt sein und dem Tod geweiht, aber bedrohen ließ er sich nicht – heute ebenso wenig wie damals und auch nicht von Gestalten der Sorte, zu der sein Angreifer gehörte.

„Ich weiß, wer Sie sind“, sagte der Mann.

Frank antwortete auf Englisch: „Keine Ahnung, wovon Sie reden.“

Das stechende Gefühl an seiner Kehle steigerte sich zu Schmerz.

„Lügen hat keinen Sinn, Alter. Ich kenne Sie aus Minsk. Damals hatte ich den Auftrag, Sie während eines Symposiums für Mediziner zu überwachen. Sie stammen aus Georgien und haben in Moskau studiert. 1969 wurden Sie für den Nobelpreis vorgeschlagen, und 1970 kamen Sie angeblich bei einem Flugzeugabsturz über den südöstlichen Küstengewässern der Vereinigten Staaten von Amerika ums Leben.“

Frank unterdrückte ein Stöhnen. Er konnte sich nicht erklären, wie es zu seiner Entdeckung gekommen war, aber die Verantwortung trug nur er selbst. Jemand musste ihn erkannt haben. Er war nach Brighton Beach gereist, um sich an seine Herkunft zu erinnern, und hatte damit das Kartenhaus zum Einsturz gebracht, das seine Existenz gewesen war.

„Was wollen Sie?“ fragte er. „Ich habe Geld. Nehmen Sie meine Brieftasche. Sie steckt im Innenfutter meiner Jacke.“

Rostow fluchte. „Ich will nicht Ihre Dollars, Alter. Ich will die Wahrheit.“

Frank kniff die Augen zusammen. Dieses Mal hatte der Mann englisch gesprochen. Kaufte er ihm seine Geschichte mittlerweile ab, oder spielte er nur Katz und Maus mit ihm?

„Ich weiß nicht, von welcher Wahrheit Sie sprechen“, sagte er. „Nehmen Sie mein Geld und lassen Sie mich gehen. Ich will keinen Ärger.“

In diesem Moment raste ein Auto an der Sackgasse vorbei. Gleichzeitig war Sirenengeheul zu hören, das rasch näher kam. Rostow verstärkte seinen Griff.

Der Mann wird nervös, bemerkte Frank. Höchstwahrscheinlich waren die Cops hinter jemand anderem her, doch vielleicht konnte er die Situation für sich ausnutzen.

„Die Polizei kommt“, behauptete er. „Man hat gesehen, wie Sie mich in diesen Häuserdurchgang gezerrt haben. Lassen Sie mich gehen. Ich werde nichts verraten. Ich bin ein alter Mann und froh, wenn ich meine Ruhe habe.“

„Mit Ihrer Ruhe ist es vorbei“, sagte Rostow. „Spätestens wenn wir in Moskau sind. Dann können Sie reden, so viel Sie wollen … bei meinen Vorgesetzten.“

Aus dem Augenwinkel bekam Frank mit, wie der Mann eine Hand in die Jackentasche schob. Er wusste, was jetzt kam. In der Tasche befand sich eine Injektionsnadel mit einer Droge, die ihn bewusstlos machen würde. Die Entscheidung zu treffen kostete ihn nur einen Moment. Ja, er hatte die Heimat vor seinem Tod noch einmal sehen wollen, aber nicht auf diese Art. Dass er sterben würde, stand fest. Ob es früher oder später geschah, spielte keine Rolle mehr.

Bevor Rostow begriff, was passierte, war Frank Waltons Hand hochgeschnellt, und der alte Mann hatte ihm mit überraschender Kraft das Messer entwunden. Er holte aus und rammte sich die Klinge selbst in die Brust.

Rostow stieß einen verblüfften Laut aus. Jäh wich er einen Schritt zurück, aber zu spät. Der Schaden war geschehen.

„Was haben Sie getan?“ schrie er, als Frank Walton zu Boden sank.

Frank schmeckte Blut in seinem Mund. „Ich habe den Informanten umgebracht“, murmelte er und atmete langsam aus. So also fühlte sich das Sterben an. Alle Gedanken hörten auf. Hatte er dem Krebs doch noch ein Schnippchen geschlagen.

Zwei weitere Polizeiautos jagten an der Einmündung des Häuserdurchgangs vorbei. Offenbar verfolgten sie den Wagen von vorhin, aber Rostow war nervös. Er hatte den Alten falsch eingeschätzt und war von ihm hereingelegt worden.

Er ging in die Hocke, nahm dem Toten eilig alle persönlichen Gegenstände ab und wischte mit Waltons Taschentuch seine Fingerabdrücke vom Messer. Er musste sich beeilen, denn er hatte keine Lust, in dem Durchgang gesehen zu werden, während er sich über die am Boden liegende Gestalt beugte. Schließlich warf er das Messer in eine nicht weit entfernt stehende Mülltonne und verschwand über den Zaun am Ende der Sackgasse.

Fünf Straßenzüge weiter nahm er das Geld und die Papiere aus Waltons Brieftasche, steckte die Hotelschlüssel des Toten ein und warf die leere Lederbörse in den Abfallkorb an einer Bushaltestelle. Die Leiche würde nicht vor dem nächsten Morgen gefunden werden, und die Identifizierung würde einige Zeit in Anspruch nehmen. Zuversichtlich, dass die Polizei den Toten für das Opfer eines Raubüberfalls halten würde, machte er sich auf den Weg zu Franks Hotel. Der verrückte Alte hatte seine Pläne gründlich durcheinander gebracht. Entweder musste Rostow nun seinen Vorgesetzten anlügen oder eingestehen, dass er zu alt für diese Arbeit war.

Erst als er an der nächsten Kreuzung auf Grün wartete, wurde ihm bewusst, dass der Alte seine letzten Worte russisch gesprochen hatte, fließend und akzentfrei.

Mit einem Fluch auf den Lippen überquerte Rostow die Fahrbahn. Er konnte nur hoffen, in Waltons Hotelzimmer etwas zu finden, womit sich die Mächtigen bei Laune halten ließen, die zu Hause über ihn bestimmten.

Wenige Minuten später betrat er die Lobby des Georgian. Ziemlich sicher, dass niemand von ihm Notiz nahm, ging er zum Aufzug. Da er dem Alten mehr als einmal gefolgt war, wusste er, wo dessen Zimmer sich befand. Im sechsten Stock trat er aus der Kabine. Der Korridor war leer. Rostow verlor keine Zeit und steuerte geradewegs auf die Nummer 617 zu.

Sobald er die Tür hinter sich geschlossen hatte, machte er sich daran, den Raum gründlich zu durchsuchen. Er hoffte, etwas zu finden, das ihm eine Antwort auf die Frage gab, warum Vaclav Waller seinen eigenen Tod inszeniert und womit er sich in den vergangenen dreißig Jahren beschäftigt hatte. Alles, was er fand, waren ein paar altmodische Kleidungsstücke und ein Flugticket nach Braden in Montana. Der Flieger ging morgen Vormittag um neun Uhr fünfundvierzig.

Rostow hielt einen Augenblick inne und dachte nach. Dann huschte ein schwaches Lächeln über seine ernsten Züge. Er hatte Waltons Ausweis. Sein Foto gegen das eigene auszuwechseln war eine Kleinigkeit; dann konnte er mit Waltons Ticket nach Braden fliegen.

Er nickte zufrieden, ließ das Ticket in seiner Jackentasche verschwinden und begann, Waltons Sachen zu packen. Besser, er verhinderte, dass die Hotelverwaltung aufmerksam wurde, weil der alte Mann nicht wieder auftauchte. Dazu musste er nur den Zimmerschlüssel auf dem Bett liegen lassen und dafür sorgen, dass Frank Waltons Gepäck verschwand. Dann nahm man im Hotel an, er sei abgereist. Die Übernachtungskosten wurden über die Kreditkarte abgerechnet, die am Tag der Anmeldung vorgelegt werden musste. Niemand dachte sich etwas dabei, wenn der Gast nicht mehr persönlich erschien.

Weniger als eine Stunde später war Zimmer 617 geräumt und Rostow hatte das Hotel verlassen. Alles, was einen Hinweis auf Frank Waltons Anwesenheit in Brighton Beach hätte geben können, befand sich in seinem Besitz.

Als er bei der Arbeit erschien, hatte Detective Mike Butoli einen üblen Kater und Schmerzen in seinem gebrochenen Zeh. Der Kaffee, den er sich im Coffeeshop an der Ecke geholt hatte, war zu dünn. Heute Morgen hätte er eine Portion von dem Gebräu brauchen können, das sein alter Herr immer gekocht hatte, dazu einen guten Schuss „Katermörder“. Dann würde er den Tag vielleicht halbwegs durchstehen. Aber sein Vater war seit Jahren tot, und er musste allein durch die Hölle der Ausnüchterung, nachdem er gestern Abend einen schwachen Moment gehabt hatte.

Dieses Mal hatte er fast sechs Monate ohne Alkohol durchgehalten. Er war wütend auf sich selbst, der Versuchung nicht widerstanden zu haben. Wenn er trank, hatte er Aussetzer. Deswegen erinnerte er sich nicht an die Reihenfolge – hatte er sich zuerst den Zeh gebrochen und dann einen Drink gekippt oder umgekehrt? So, wie er sich fühlte, spielte es keine Rolle mehr. Sein gottverdammter Fuß tat fast so weh wie sein Schädel.

„He, Butoli. Sie sehen zum Erbarmen aus.“

Butoli warf Larry Marshall einen finsteren Blick zu und überlegte, ob er den ekelhaften Kaffee auf das saubere weiße Hemd dieses Angebers schütten sollte. Er entschied sich dagegen. Wie der Mann überhaupt bis zum Detective hatte aufsteigen können, war ihm ein Rätsel.

„Ausgerechnet Sie müssen das sagen“, brummte er, stellte den Styroporbecher auf dem Schreibtisch ab und zog das Jackett aus.

„Machen Sie sich’s nur nicht zu gemütlich“, sagte Marshall. „Flanagan hat nach Ihnen gefragt.“

Butoli fuhr auf dem Absatz herum und ging humpelnd zum Büro seines Vorgesetzten.

„Lieutenant, Sie wollten mich sprechen?“

Barney Flanagan blickte auf und runzelte die Stirn. Butoli war ein verdammt guter Polizist, wenn er trocken war. Aber etwas sagte ihm, dass sein Detective gestern Abend einen „schwachen Moment“ gehabt hatte.

„Sind Sie betrunken?“ knurrte er.

„Nein, Sir. Jetzt nicht mehr.“

„Warum lehnen Sie sich dann gegen meine Tür, zum Teufel? Stehen Sie gerade, Mann.“

„Ich habe mir den Zeh gebrochen. Gerader kann ich nicht stehen.“

Flanagan murmelte etwas Unverständliches und schob eine Akte über den Schreibtisch.

„Die Müllabfuhr hat einen Toten in dem Häuserdurchgang hinter Ivana’s Bar and Grill gefunden. Machen Sie sich an die Arbeit.“

Butoli nahm wortlos die Akte und hinkte zur Tür zurück.

„Butoli!“

Er blieb stehen und drehte sich um. „Ja, Sir?“

„Mich interessiert es einen Dreck, was Sie in Ihrer Freizeit machen, aber wenn Sie im Dienst sind, lassen Sie das Trinken bleiben, oder ich kriege Sie am Arsch.“

Butoli drehte sich der Magen um. Gott, er brauchte etwas Stärkeres als Kaffee.

„Lieutenant, im Augenblick ist, wie Sie ihn zu nennen belieben, mein Arsch der einzige Körperteil, der nicht wehtut. Ich würde es bedauern, wenn ihm etwas zustieße.“

Flanagan grinste breit. „Das Leben ist unberechenbar. Jetzt suchen Sie den Mörder. Nehmen Sie Marshall mit.“

„Aber mein Partner ist Evans.“

„Seit gestern Abend nicht mehr. Sein Vater ist gestorben. Er ist nach Tennessee gefahren. Für mindestens eine Woche.“

Butoli stöhnte. „Verdammt, Lieutenant. Nicht Marshall. Er ist ein Angeber.“

„Mag sein. Wenigstens ist er nüchtern. Und jetzt an die Arbeit. Reißen Sie sich zusammen, Mann.“

Butoli unterdrückte einen Fluch und humpelte an seinen Schreibtisch.

„He, Marshall. Wir haben ’ne neue Leiche. Nehmen Sie Ihr Notizbuch und kommen Sie. Sehen wir uns den Steifen mal etwas genauer an.“

„Das nennt man sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz“, beschwerte sich Marshall. Er griff sich seine Pistole, die auf dem Schreibtisch lag, und schob sie in sein Schulterholster.

„Wollen Sie damit sagen, Sie sind schwul?“ fragte Butoli.

Marshalls Nasenflügel bebten. „Nein.“

„Dann war das keine sexuelle Belästigung, sondern ein Witz. Übrigens, Sie fahren.“

Sie gingen zum Aufzug. Marshall grinste.

„Warum ich? Sind Sie zu betrunken?“

„Noch nicht“, entgegnete Butoli, während er auf das Loch wies, das er vorn in einen seiner besten Slipper geschnitten hatte. „Hab mir gestern Abend den Zeh gebrochen.“

„Zu schade, dass es nicht der Kopf war“, murmelte Marshall vor sich hin. Sie hatten das Gebäude verlassen und waren auf dem Weg zum Parkplatz.

„Das habe ich gehört“, sagte Butoli.

„Gut. Wenigstens sind Ihre Ohren in Ordnung“, erwiderte Marshall, öffnete schwungvoll die Tür auf der Fahrerseite und setzte sich hinter das Steuer. „Wohin fahren wir?“

„Häuserdurchgang hinter Ivana’s Bar and Grill.“ Butoli ließ sich ächzend in den Sitz fallen und griff nach dem Sicherheitsgurt.

Larry Marshall startete den Wagen und fuhr an. Dabei trat er das Gaspedal bis zum Anschlag durch und freute sich nicht wenig, als er merkte, dass Mike Butolis Gesicht eine grünliche Farbe bekam.

White-Mountain-Friedhof in Braden, Montana – am selben Tag

Ein scharfer Windstoß hob den Saum von Margaret Watsons Kleid und zerrte an der breiten Krempe des schwarzen Hutes, den sie für diesen Anlass gewählt hatte. Mit einer Hand den Rocksaum festhaltend, mit der anderen den Hut, wandte sie sich an ihre beste Freundin Harriet Tyler. Sie senkte die Stimme und richtete den Blick auf die junge in Schwarz gekleidete Frau, die neben dem offenen Grab saß.

„Das arme Ding. Nach dem Tod ihres Vaters hat sie niemanden mehr. Keinen Ehemann. Keine Kinder. Sie steht ganz allein da mit diesem großen Hotel so weit weg von der Stadt.“

Harriet sah zu der Frau hinüber, von der Margaret gesprochen hatte.

„Na, ganz allein ist sie nicht“, antwortete sie, ebenfalls im Flüsterton. „Sie hat noch ihre Onkel, die auch dort wohnen.“

Margaret zog die Nase kraus. „Nun ja, es sind nicht wirklich ihre Onkel.“

Harriet zuckte die Schultern. „Mag sein. Aber ich glaube nicht, dass Blutsverwandtschaft das einzige Familienband ist. Die Männer waren Sam Abbotts Freunde und seine Kollegen. Sie leben in Abbott House, so lange ich zurückdenken kann. Als Isabella, Samuels Frau, starb, haben sie sich um das kleine Mädchen gekümmert, als wäre es die eigene Tochter. Wer könnte ihr verdenken, dass sie diese Männer als ihre Onkel betrachtet?“

Margaret schnaubte abfällig. Ihre ganze Haltung drückte Missbilligung aus. „Es erscheint mir einfach nicht richtig“, raunte sie. „Alle diese allein stehenden Männer. Dass nicht wenigstens einer von ihnen irgendwann mal geheiratet hat!“

Harriet verzog das Gesicht zu einem belustigten Lächeln. „Du bist immer noch sauer, weil Samuel Abbott deine Gefühle nicht erwiderte.“

„Ich weiß überhaupt nicht, was du meinst“, sagte Margaret spitz. „Und jetzt sei still. Der Pfarrer will ein Gebet sprechen.“

Isabella Abbott fühlte sich wie betäubt. Ohne den festen Druck von Onkel Davids Hand auf ihrer Schulter hätte sie glauben können, dass sie träumte. Während der vergangenen Viertelstunde hatte sie den Erdklumpen auf der Schuhspitze des Geistlichen angestarrt, um nicht den glänzenden Bronzesarg über dem offenen Grab sehen zu müssen.

Ihr Vater war tot. Das Ende war so schnell gekommen. Eben noch hatte er gelacht und geredet und in der nächsten Sekunde mit schmerzverzerrtem Gesicht die Hand aufs Herz gepresst. Obwohl zwei Ärzte erste Hilfe geleistet hatten, war er gestorben, bevor der Rettungswagen eintraf. Während der vergangenen drei Tage hatte er aufgebahrt im Begräbnisinstitut gelegen. Nun waren sie hier, um Abschied zu nehmen und ihn zur letzten Ruhe zu betten.

Isabella hob den Blick von der Schuhspitze des Pfarrers und betrachtete den Berg weißer Rosen auf dem Sarg. Sie atmete tief und zitternd ein. Vor ihre Augen schob sich ein Schleier.

Oh Daddy … wie soll ich ohne dich weiterleben?

David Schultz starrte auf den mächtigen Bronzesarg. Er spürte seine achtundsiebzig Jahre. Nicht mehr lange und ihn erwartete das gleiche Schicksal. Sie alle würde es treffen. Dann war Isabella allein. Seine Unruhe und seine Besorgnis wuchsen noch, als er den Arm fester um ihre Schulter legte. Samuels Tod war für sie alle ein Schock gewesen. Nun mussten sie sich den neuen Verhältnissen anpassen, und er hasste Veränderungen.

Plötzlich hörte er das Amen des Geistlichen. Die Beerdigungsgäste setzten sich in Bewegung, und Isabella stand von ihrem Sitz auf. David erhob sich ebenfalls. Um sich blickend, suchte er ihre anderen Onkel. Er hätte sich keine Sorgen machen müssen. Alle waren da – und umringten Isabella, sie standen neben ihr und hinter ihr; bereit, sie zu beschützen, wie es immer gewesen war, seit dem Tag ihrer Geburt.

„Geht es, Liebes?“

Isabella blickte hoch in das vertraute Gesicht von Onkel David und nickte.

„Ich denke schon.“ Sie versuchte, unter Tränen zu lächeln. „Aber ich sorge mich um Onkel Frank. Wenn er bei seiner Heimkehr erfährt, dass Daddy tot ist, wird das ein Schock für ihn sein.“

„Es ist seine eigene Schuld. Er hat uns nicht gesagt, wie wir ihn erreichen können“, sagte David, noch immer verstimmt über das große Geheimnis, das sein langjähriger Freund um diese Reise gemacht hatte.

„Ich weiß. Aber es ist trotzdem schlimm. Er wird ein schlechtes Gewissen haben“, vermutete Isabella.

„Das sollte er auch“, beteiligte sich Thomas Mowry an dem Gespräch und schloss Isabella in die Arme.

Sie erlaubte ihrem Onkel Thomas, sie mit seiner Wärme zu umfangen, doch der Augenblick war viel zu kurz. Die anderen Beerdigungsgäste sammelten sich um sie und wollten ihr Beileid aussprechen. Isabella nickte in die Richtung von Onkel David.

David trat rasch vor und hob die Hand.

„Liebe Anwesende“, sagte er. „Wir danken Ihnen für Ihr zahlreiches Erscheinen und die große Anteilnahme. Samuel lebte gern in dieser Gemeinde. Er mochte die Menschen hier. Aber jetzt fürchte ich, dass Isabella erschöpft ist, und wir bringen sie besser nach Hause. Sie hat mich gebeten, Ihnen mitzuteilen, dass in Abbott House der Tisch für Sie gedeckt ist. Bitte fühlen Sie sich herzlich eingeladen. Sie sind uns willkommen.“

Isabella versuchte zu lächeln. Sie holte tief Luft und ließ sich zu dem wartenden Wagen führen. Augenblicke später waren sie unterwegs. Der Friedhof verschwand hinter ihnen, und sie fuhren auf den White Mountain zu. Dort, am Fuß des Berges, war sie zu Hause.

Sie schloss die Augen und dachte an die Stunden, die vor ihr lagen. Bis sie ihre Pflichten als Gastgeberin erfüllt hatte, würde es dunkel sein. Dann endlich konnte sie sich ihrer Trauer hingeben.

2. KAPITEL

Isabella trat aus ihrem Zimmer. Die Standuhr in der Lobby schlug zur vollen Stunde. Es war Mitternacht, und sie konnte noch immer nicht einschlafen. Zum Glück war das Hotel fast leer. Nur zwei Gäste waren seit dem Begräbnis ihres Vaters eingetroffen, um in Abbott House zu übernachten. Isabella hatte es nicht übers Herz gebracht, sie abzuweisen.

Ihr tat der Kopf weh. Die Augen waren vom Weinen geschwollen. Jedes Mal, wenn sie die Lider schloss, sah sie den Sarg ihres Vaters, wie er in das Grab gesenkt wurde. Es war ihr unmöglich, zur Ruhe zu kommen, während ihr Vater zwei Meter unter der Erde lag.

Aber nicht die Trauer trieb sie aus dem Bett, sondern Hunger. Sie hatte Schuldgefühle und schämte sich fast. Zum ersten Mal seit drei Tagen hatte sie wirklich das Bedürfnis, etwas zu essen.

Die Privaträume der Familie befanden sich im Erdgeschoss, hinter der Halle mit der großen Treppe. Isabella bog aus dem Korridor um die Ecke und verharrte vor den Stufen unter dem Gemälde, das auf halber Höhe im Aufgang hing. Es war ein überlebensgroßes, in Öl gemaltes Porträt, auf das der Blick fiel, sobald man das Hotel betrat. Isabella stand im Halbdunkel und betrachtete nachdenklich die Frau darauf, die auch Isabella geheißen hatte: ihre Mutter, die bei der Geburt ihrer einzigen Tochter gestorben war. Für Isabella war sie kaum mehr als ein Gesicht und ein Name.

Nur die Frisur und die Kleidung müssten anders sein, dann könnte das Bild mich selbst darstellen, dachte sie und starrte nach oben. Dann musste sie seufzen. In der stillen Halle klang das Geräusch wie ein Windhauch.

Bis auf eine undeutliche Sehnsucht nach etwas, das sie nie gekannt hatte, besaß sie keine Gefühlsbindung an diese Frau. Ihr Vater hatte das Bildnis nie ansehen können, ohne dass ihm die Augen feucht wurden. Bei dem Gedanken an ihn schlang Isabella die Arme um ihren Oberkörper, damit sie nicht in Tränen ausbrach. Zumindest etwas Gutes hatte dieser Albtraum. Ihre Eltern waren nun vereint.

Ihr Magen knurrte. Sie löste den Blick von dem Porträt und machte sich auf den Weg in die Küche. Die riesigen Hotelkühlschränke waren voll mit Resten vom Vortag. Sie konnte auswählen, was sie essen wollte. Sie holte einen Teller aus dem Geschirrschrank und füllte ihn mit einem Stück kaltem Brathuhn und einer kleine Portion Nudelsalat. Als sie die Besteckschublade öffnete, um eine Gabel herauszunehmen, quietschte das Scharnier. Bei dem Geräusch fuhr sie zusammen. Die Zimmer der Onkel befanden sich im obersten Stockwerk, zwei Treppen höher, aber es geschähe nicht zum ersten Mal, wenn einer von ihnen sie bei einem Mitternachtsmahl in der Küche ertappte.

Sie lauschte einen Moment, ob sich Schritte näherten, hörte aber nur das Ticken der Standuhr und atmete erleichtert auf. Für heute wollte sie kein Wort mehr reden – nicht einmal mit ihren Onkeln.

Isabella ging hinaus auf die rückwärtige Veranda und setzte sich auf die oberste Stufe der Treppe. Den Teller auf dem Schoß, begann sie zu essen. Die Nudeln im Salat waren al dente gekocht, genau richtig, und die Vinaigrette schmeckte würzig. Isabella schluckte den ersten Bissen hinunter. Das Essen füllte wohlig ihren Magen, und sie atmete langsam ein. Das Schuldgefühl, ein irdisches Bedürfnis zu befriedigen, verflüchtigte sich. Sie gestand sich ein, dass ihr der Salat schmeckte. Während sie weiteraß, ließ sie den Blick zu dem hohen Gipfel schweifen, dessen Silhouette sich jenseits der Gartenanlagen des Hotels in den Himmel erhob.

White Mountain.

So lange sie zurückdenken konnte, war dieser Berg die Kulisse gewesen, vor der sich ihr Leben abgespielt hatte. Irgendwann, in ferner Vorzeit, waren unter gewaltigem Druck und unvorstellbarer Hitze die tektonischen Platten tief in der Erde in Bewegung geraten. Sie hatten sich an die Oberfläche geschoben, und eine Gebirgskette war aufgefaltet worden, zu der auch der White Mountain gehörte.

Isabella hatte sich oft gefragt, wie er zu seinem Namen gekommen war. Das Felsgestein war tiefschwarz, und dunkle Wälder bedeckten die steilen Flanken bis auf halbe Höhe. Die Vermutung ihres Vaters war, der Berg hätte seinen Namen wohl in den Wintermonaten erhalten, weil er dann meist von Schnee bedeckt war.

Nach einer Weile bemerkte Isabella, dass ihr Teller leer war. Beim Aufstehen stellte sie fest, dass auch ihre Traurigkeit nachgelassen hatte. Sie wollte lächeln, aber ihre Lippen mochten die Bewegung nicht mitmachen. Ihren Vater hätte es gefreut, sie essen zu sehen. Er war immer der Meinung gewesen, dass die Welt mit leerem Magen zu düster aussah.

Nach einem letzten Blick auf den Gipfel kehrte sie ins Haus zurück und schloss leise die Verandatür hinter sich. Sie stellte Teller und Gabel in die Spülmaschine und beschloss, in ihr Zimmer zurückzukehren. Ein Leben ohne ihren Vater würde nicht leicht für sie werden, aber sein Tod war eine unabänderliche Tatsache, die sie hinnehmen musste. Die Onkel gehörten alle der Generation ihres Vaters an. Isabella wollte nicht an den Tag denken, an dem sie auch diese ihr nahe stehenden Menschen für immer verlieren würde. Jetzt betrübte sie am meisten, dass Onkel Frank die Nachricht vom Ableben ihres Vaters noch bevorstand. Er würde erschüttert sein und sich schuldig fühlen, dass er ihr bei diesem schweren Schicksalsschlag nicht hilfreich zur Seite gestanden hatte. Isabella wünschte, er würde endlich zurückkommen oder wenigstens anrufen. So lange war er noch nie fort gewesen.

Ein paar Augenblicke später betrat sie ihr Zimmer und legte sich wieder ins Bett. Es dauerte nur wenige Minuten, bis sie, von Erschöpfung überwältigt, einschlief.

Detective Mike Butoli stellte seinen unverletzten Fuß auf die Bordsteinkante und stemmte sich aus dem Autositz hoch. Dann trat er vorsichtig einen Schritt zurück, um die Wagentür zuzuschlagen, und humpelte los zum Labor der Spurensicherung. Die Gerichtsmedizin hatte die Autopsie an dem Getöteten, dessen Fall er bearbeitete, noch immer nicht vorgenommen. Über die Verzögerung ärgerte er sich.

Ein unbekannter Toter in einer Gasse von Brighton Beach wurde nicht mit Vorrang behandelt. Es lagen noch mehr namenlose Leichen in den Kühlkammern. Trotzdem wog für Butoli dieser eine Fall schwerer als andere. Sie hatten die Fingerabdrücke des Toten in den Computer gegeben und gehofft, etwas über ihn zu finden. Auf Vorschlag von Lieutenant Flanagan hatten sie die Daten außerdem an Interpol weitergeleitet. Wegen der hohen Zahl russischer Einwanderer in Brighton Beach konnte man fast immer damit rechnen, fündig zu werden.

Butoli war seit fast zwei Jahrzehnten bei der Polizei, die letzten zwölf Jahre als Detective. Er hatte mehr menschliche Niedertracht und Verdorbenheit zu sehen bekommen, als für einen einzelnen Menschen zumutbar schien. Seine Fälle pflegten ihm schon lange nicht mehr an die Nieren zu gehen.

Dieser jedoch war auf dem besten Wege dazu.

Vielleicht lag es daran, dass sein schmerzender Schädel und der gebrochene Zeh darum wetteiferten, welcher Körperteil ihm die größeren Qualen bereiten konnte. Oder seine Schuldgefühle machten ihn anfällig; immerhin war er sechs Monate trocken gewesen und dann wieder rückfällig geworden. Als er gestern Abend in dem Häuserdurchgang gestanden und in das Gesicht des Alten gesehen hatte, war ihm unwillkürlich die Frage durch den Sinn gegangen, welche Lebensreise hinter diesem Menschen lag, der nun sein Ende in einer schmalen Gasse von Brighton Beach gefunden hatte.

Jedenfalls hatte er wieder eine unbekannte Leiche; das Opfer einer Gewalttat, für die es keine Zeugen gab. Er musste klären, wie der Tote hieß und was ihn nach Brighton Beach geführt hatte. Nachdem er von der Gerichtsmedizin hängen gelassen worden war, betrat er die Räume der Spurensicherung mit größerer Zuversicht. Vielleicht hatte er Glück, und die Analyse der Proben vom Tatort brachte ihn ein Stück weiter.

Da er erwartet wurde, ging er ohne anzuklopfen in das Labor und steuerte geradewegs auf einen kleinen Mann mittleren Alters zu, der an seinem Schreibtisch saß und Daten in den Computer eingab.

„He, Yoda. Was haben Sie für mich?“

Malcolm Wise hatte sich längst an seinen Spitznamen gewöhnt, wenn auch nicht ohne Widerstreben. Schließlich konnte er nichts dafür, dass die Natur ihm mehr Ähnlichkeit mit dem Jedimeister aus dem „Krieg der Sterne“ verliehen hatte als mit seinen eigenen Eltern. Wise klickte das Symbol für Speichern an, bevor er Butoli seine Aufmerksamkeit widmete.

„Sie humpeln ja“, stellte er fest.

„Mein Zeh ist gebrochen.“

Wise grinste. „Ich frage besser nicht, wie das passiert ist.“

„Donnerwetter, Mann. Sie enttäuschen mich. Ich dachte, Yoda wüsste die Antwort auf alle Fragen.“

„Lassen Sie den Blödsinn“, sagte Wise. „Es gibt eine Menge Frauen, die finden, dass kleine Männer mit Glatze sexy sind.“

„Dann danke ich Gott, dass ich als Mann zur Welt kam“, gab Butoli zurück. „Was die Leiche betrifft … gibt es Spuren, die uns weiterhelfen?“

Wise stand auf und ging zu seinem Labortisch. „Das Messer, von dem die tödliche Stichverletzung stammt, lag in einer Mülltonne. Es ist russischer Herkunft.“

Butoli verdrehte die Augen. „Verdammt, Yoda. Die Leiche wurde in Brighton Beach gefunden. Dort wimmelt es von russischen Einwanderern. Geben Sie mir eine vernünftige Spur, mit der ich was anfangen kann.“

„Die Haut unter den Fingernägeln stammt nicht von dem Toten.“

Butoli unterdrückte einen Fluch. Dann warf er sich ein paar Pfefferminzdragees in den Mund.

„Hinweise, die helfen könnten, den Namen des Toten festzustellen?“

Grinsend zog Wise eine Plastiktüte aus einem Karton und stieß sie über die Tischplatte.

Butoli fing die Tüte auf, bevor sie über die Kante rutschen konnte.

„Was ist das?“

„Das Hemd des Opfers.“

„Aha. Was soll daran Besonderes sein?“

„Der Name unter dem Etikett. Könnte vielleicht weiterhelfen.“

Butolis Augen leuchteten auf.

„Sein Name? Auf einem Wäschezeichen?“

„Zumindest sein Nachname“, sagte Wise, „und die Abkürzung seines Vornamens. F. Walton. Jetzt müssen Sie nur noch jemanden finden, der vermisst wird und F. Walton heißt. Dann haben Sie das Rätsel gelöst.“

„Zumindest sein Nachname“, wiederholte Butoli und überlegte dabei, wer einem alten Mann ein Messer in die Brust rammen würde. „Noch mehr Hinweise, denen wir nachgehen könnten?“

Wise zuckte mit den Achseln. „Sie sind der Ermittler. Meinen vorläufigen Bericht habe ich eben an Ihr Büro gefaxt. Sie müssten ihn auf Ihrem Schreibtisch finden, wenn Sie zurückkommen. Einige der Tests dauern länger. Sobald alle Laborergebnisse vorliegen, teile ich sie Ihnen mit.“

Butoli klopfte dem kleinen Mann auf den Rücken.

„Danke, Yoda. Das ist die erste gute Nachricht seit zwei Tagen.“

Wise grinste von einem Ohr zum anderen. „Möge die Kraft mit Ihnen sein. Jetzt hauen Sie ab. Ich habe zu tun.“

Butoli verließ das Labor der Spurensicherung und hüpfte beim Gehen. Dieses Mal war nicht sein gebrochener Zeh der Grund. Der Tote hatte endlich einen Namen – wenn er auch unvollständig war. Als Nächstes würde er im Büro vorbeisehen, sich Marshall schnappen und ein Foto des Opfers. Dann würden sie noch einmal nach Brighton Beach fahren. Vielleicht erinnerte sich dort jemand an einen Mann, der Walton hieß. Zum Teufel. Am Ende war dieser Walton mit John Boy Walton verwandt. Wäre wirklich ein Ding!

Fünf Stunden später sank Butoli auf den Beifahrersitz. Larry Marshall setzte sich hinter das Steuer. Sie hatten fünfzehn Häuserblocks um den Fundort der Leiche abgeklappert und in allen Restaurants und Geschäften nachgefragt, ob jemand etwas über den alten Mann wusste. Ohne Ergebnis. Erst in dem kleinen russischen Restaurant neben einem Ramschladen waren sie schließlich fündig geworden.

Der Inhaber hatte stirnrunzelnd ihre Dienstmarken betrachtet, seine selbst gedrehte Zigarette ausgedrückt und einen kurzen Blick auf das Foto des Toten geworfen. Dann hatte er bedauernd den Kopf geschüttelt, ohne wieder aufzusehen.

Butoli war hartnäckig geblieben.

„Los, Mann. Sehen Sie sich das Bild noch einmal an. Jemand hat dem armen Kerl ein Messer ins Herz gerammt. Er ist einsam in einem finsteren Durchgang verreckt. Irgendwo wartet eine Familie, die sich große Sorgen um ihn macht. Ich verlange nicht, dass Sie den Täter identifizieren. Sie sollen mir nur sagen, ob Sie wissen, wer der Tote ist. Das ist das Mindeste, was er verdient. So, schauen Sie genau hin. Kommt Ihnen der Mann bekannt vor?“

Misstrauisch blinzelnd, hatte der Restaurantinhaber den Blick gehoben. Er war siebzehn gewesen, als er seine ersten Erfahrungen mit Vertretern der Staatsgewalt gemacht hatte, eine halbe Weltreise von hier entfernt, in einem Sowjetgefängnis. Er verspürte nicht das geringste Bedürfnis zur Zusammenarbeit. Aber der Polizist zeigte einen weniger bedrohlichen Gesichtsausdruck als die meisten seiner Kollegen. Als Butoli ihm das Foto wieder hinschob, zuckte er mit den Achseln und senkte den Blick darauf.

„Ja-a-a … vielleicht habe ich ihn doch schon mal gesehen … zwei- … dreimal. Er mochte meinen Borschtsch.“

„Ist er von hier?“

„Njet“, sagte der Restaurantinhaber, bestätigte das russische Wort auf Englisch und schüttelte den Kopf.

„Woher wissen Sie das?“ fragte Butoli.

„Einmal hat er mit einem Reisescheck bezahlt.“

„War jemand bei ihm?“

Wieder schüttelte der Inhaber den Kopf.

Larry Marshall lehnte sich weit über den Bartresen hin zu dem Russen, der nur durch die schmale Barriere aus Holz und Glas von ihm getrennt war. Der Mann wich einen Schritt zurück.

„Haben Sie eine Ahnung, wo er wohnte?“ feuerte Larry seine erste Frage ab.

Wieder schüttelte der Restaurantinhaber den Kopf. „Aber ich nehme an, nicht weit von hier.“

„Wie kommen Sie darauf?“ fragte Marshall.

„Er war alt … und krank, glaube ich.“

„Woher wollen Sie das wissen?“

Der Russe zuckte ein weiteres Mal mit den Achseln und blickte nervös um sich. Es war nicht gut für das Geschäft, wenn man zu freundlich mit der Polizei verkehrte.

„Seine Haut … sie hatte eine ungesunde Farbe. Aber nach einem Taxi hat er nicht gefragt. Deshalb dachte ich, sein Hotel wäre vielleicht in der Nähe.“

„Gute Schlussfolgerung“, lobte Butoli und steckte das Foto wieder ein. „Vielen Dank für Ihre Hilfe. Wenn Ihnen noch etwas einfällt … egal, was es ist, rufen Sie mich an.“

Er hatte dem Russen höflich lächelnd seine Karte gereicht, bevor sie das Lokal verließen.

„Nächster Punkt, Hotels und Pensionen.“ Marshall ließ den Motor an und lenkte den Wagen vom Bordstein weg.

„Vielleicht haben wir ja ein zweites Mal Glück“, sagte Butoli. „Aber einen Rat gebe ich Ihnen. Üben Sie keinen Druck auf diese Leute aus. Die meisten sehen keinen Grund, warum sie einem Vertreter des Gesetzes vertrauen sollten.“

Marshall strich sich übers Haar. Butolis Warnung ließ ihn kalt.

„Wir sind hier in Amerika. Wenn diesen Russen nicht passt, wie wir unsere Angelegenheiten regeln, sollen sie doch zurückgehen.“

Butoli tat der Zeh weh, und seine Geduld war am Ende. Er verspürte den überwältigenden Drang, Marshall einen Schlag auf den Hinterkopf zu verpassen, nur um zu sehen, was für ein Gesicht er machen würde. Stattdessen nahm er eine Schmerztablette ein und lehnte sich in seinen Sitz zurück.

Weniger als eine halbe Stunde später erfüllte sich Butolis Hoffnung. Der Empfangschef im Hotel Georgian erkannte das Gesicht auf dem Foto, bevor Larry Marshall sein Notizbuch herausziehen konnte.

„Ach, du lieber Himmel … ist er tot?“ fragte der Mann hinter dem Tresen.

Butoli nickte.

„Armer Kerl. Trotzdem bin ich froh, dass es nicht hier geschehen ist.“

Marshall grinste breit. „Kann ich verstehen. Nicht gut fürs Geschäft, wie?“

Der Angestellte wurde rot. „Entschuldigung. Das hätte ich nicht sagen sollen. Natürlich tut es uns Leid, dass Mr. Walton starb. Er war bestimmt ein netter Mensch. Aber Sie verstehen sicher …“

Butoli runzelte die Stirn. Bei der Leiche war kein Gepäck gefunden worden. Vielleicht lag hier das Motiv für die Tat. Menschen wurden für weniger als einen Koffer mit Kleidern umgebracht.

„Unter welchem Namen hat er hier gewohnt?“ fragte er. „Walton … Frank

Walton. Ich erinnere mich, dass ich ihn zum Spaß gefragt habe, ob er mit John Boy verwandt sei. Sie wissen … der aus dem Fernsehen.“

„Wann genau hat er sein Hotelzimmer wieder verlassen?“ fragte Butoli weiter.

Der Empfangschef wandte sich zum Computer und gab den Namen ein.

„Hier steht es. Gestern Vormittag.“

Butolis Stirnrunzeln vertiefte sich. Der Leichenbeschauer hatte mitgeteilt, der alte Mann sei wahrscheinlich zwischen neunzehn und einundzwanzig Uhr gestorben, vorgestern. Am nächsten Tag war die Leiche entdeckt worden. Zu dem Zeitpunkt, als das Zimmer gekündigt wurde, musste Walton also schon tot gewesen sein. Butolis Herz setzte einen Schlag aus.

„Sind Sie sicher? War er persönlich am Empfang, um sich abzumelden?“

Der Angestellte überflog den Bildschirm und hob den Blick.

„Ich war nicht im Dienst. Aber der Schlüssel wurde abgegeben und die Rechnung über die Kreditkarte beglichen, die er bei seiner Ankunft vorgelegt hat.“

„Seine Kreditkartennummer, die brauchen wir“, sagte Marshall.

Der Empfangschef legte die Stirn in Falten. „Ich bin nicht befugt zur Herausgabe …“

„Es geht darum, die Identität des Besitzers festzustellen und zu überprüfen, ob die Karte gestohlen wurde. Das verstehen Sie doch?“

Nach kurzem Zögern notierte der Angestellte die Nummer vom Bildschirm und reichte Marshall den Zettel.

„Wurde das Bett in seinem Zimmer benutzt?“ fragte Butoli.

Der Mann hinter dem Empfangstresen schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung. Diese Frage müssen Sie dem Zimmermädchen stellen.“

„Dann lassen Sie die betreffende Person herkommen.“ Butoli nickte. „Wir warten.“

„Sprechen Sie russisch?“ wollte der Hotelangestellte wissen.

„Nein“, erwiderte Butoli.

„Dann muss ich den Manager dazuholen. Sonst erreichen Sie gar nichts.“

„Sie sprechen nicht russisch?“ fragte Marshall.

„Ich bin kein Russe. Ich bin Slowake.“

„Was auch immer der Unterschied sein mag“, murmelte Marshall.

Kurze Zeit später befanden sie sich im Büro des Geschäftsführers und hielten mit seiner Hilfe eine ans Lächerliche grenzende Befragung ab. Es war allzu offensichtlich, dass der Mann die beiden Polizisten überall lieber gesehen hätte, nur nicht in seinem Haus. Er gab sich sehr zugeknöpft. Neben dem Manager stand mit eingezogenem Kopf das Zimmermädchen. Der jungen Frau war anzusehen, dass sie sich in großen Schwierigkeiten wähnte. Trotz der Versicherung, sie könne sich beruhigen, alles sei in Ordnung, hatte sie seit dem Betreten des Büros nur geweint.

„Was zum Teufel haben Sie bloß zu ihr gesagt?“ brummte Butoli.

Der Manager, der ebenfalls russischer Abstammung war, starrte ihn finster an.

„Gar nichts“, erwiderte er gereizt. „Sie zieht ihre eigenen Schlüsse.“

„Schön“, sagte Butoli. „Dann fragen Sie jetzt, ob sie Mr. Waltons Zimmer jeden Tag gesäubert und aufgeräumt hat.“

Der Manager übersetzte die Frage, und das Zimmermädchen nickte beflissen.

„Fragen Sie, ob er jemals Besuch hatte.“

Die kleine Frau schrumpfte noch mehr zusammen. Sie zuckte mit den Achseln, und ihre Stimme war sehr leise.

„Sie sagt, sie hätte immer nur ihn allein in dem Zimmer gesehen.“

Butoli nickte und lächelte die Hotelmitarbeiterin an. Er hoffte, ihr auf diese Weise begreiflich zu machen, dass sie nichts zu befürchten hatte. Sein Lächeln schien die beabsichtigte Wirkung zu verfehlen. Das Zimmermädchen schlug die Hände vor das Gesicht und weigerte sich, ihm in die Augen zu sehen.

„Allmächtiger“, brummte Butoli. Dann holte er tief Luft und machte weiter. „Hat sie das Zimmer auch an dem Morgen nach Waltons Abreise gereinigt?“

„Sie sagt Ja, aber es hätte nicht viel zu tun gegeben. Das Bett sei unbenutzt gewesen.“

Butoli merkte auf. „Was ist mit seiner Kleidung … mit seinem Gepäck? Waren die Sachen noch im Zimmer?“

Der Manager gab die Frage weiter und übersetzte die Antwort der Angestellten.

„Sie sagt, alles sei weg gewesen. Am Ende ihrer Schicht hätte sie den Zimmerschlüssel abgegeben, der auf dem Bett lag. So wird das bei uns gehandhabt“, fügte er zur Erklärung hinzu. „Viele Gäste nutzen unser Schnellbuchungssystem und melden sich über den Fernsehbildschirm vom Zimmer aus ab. Modernste Technik. Das Georgian ist das erste Haus in Brighton Beach.“

Butoli sah seinen Partner an. Marshalls Gesichtsausdruck sagte deutlich, dass ihm der gleiche Gedanke wie ihm selbst durch den Kopf ging. Jemand war in Frank Waltons Hotelzimmer zurückgekehrt und hatte alle Spuren seines Aufenthalts beseitigt. Aber warum?

Er seufzte. Der Fall war komplizierter als zuerst vermutet. Sie konnten nicht länger davon ausgehen, dass es sich um einen gewöhnlichen Raubüberfall mit Todesfolge handelte. Jemand hatte sich große Mühe gegeben, die baldige Identifizierung der Leiche zu verhindern. Bei dem Toten fehlten die Personalpapiere, das ganze Gepäck war aus dem Hotel geholt worden und das Zimmer gekündigt, wodurch der Eindruck entstand, dass der Gast abgereist war.

Aber warum?

Butoli steckte sein Notizbuch in die Jackentasche und reichte dem Manager seine Visitenkarte.

„Sagen Sie Ihrer Angestellten, wir sind dankbar für ihre Hilfe. Falls ihr noch etwas einfällt, das uns helfen könnte, den Mörder von Mr. Walton zu fassen, soll sie uns bitte anrufen.“

Der Geschäftsführer gab die Botschaft weiter.

Das Zimmermädchen sandte den anwesenden Männern einen entsetzten Blick zu, drehte sich auf dem Absatz herum und rannte zur Tür hinaus.

Butoli schüttelte den Kopf. „Wovor hat sie solche Angst?“

Der Manager gab sich keine Mühe, sein Schnauben zu unterdrücken. „Dass sie zurückgeschickt wird, natürlich.“

„Wohin zurück?“ fragte Butoli.

„Nach Russland.“

Marshalls Blick wurde schärfer. „Was? Beschäftigen Sie Illegale? Das ist verboten. Sie müssen die Leute melden bei …“

„Danke für Ihre Mitarbeit“, sagte Butoli, packte seinen Partner beim Arm und zerrte ihn aus dem Büro.

„Was soll das? Was machen Sie da?“ protestierte Marshall.

Butoli holte tief Luft und zählte im Geist bis zehn, bevor er sich eine einigermaßen sachliche Antwort zutraute.

„Marshall, tun Sie mir einen Gefallen und halten Sie ausnahmsweise Ihr dämliches Maul.“ Damit wandte er sich um und steuerte auf den Hoteleingang zu.

Larry Marshalls Gesicht verfärbte sich dunkelrot, aber er kam hinter ihm her nach draußen. „Leute wie Sie gefährden das System.“

„Mag sein“, brummte Butoli. „Aber Leute wie Sie sind dafür verantwortlich, dass es ein solches System überhaupt gibt. Meine Güte! Wir versuchen mit allen Mitteln, diese Menschen zu überreden, dass sie uns helfen, einen Mörder zu finden, und Sie drohen mit der Einwanderungsbehörde! Was zum Teufel haben Sie sich bloß dabei gedacht?“

Er warf die Hände in die Luft und marschierte zum Wagen.

Marshall folgte ihm und stieg ein. Er ließ den Motor an.

„Wohin?“ fragte er.

Butoli hatte ein finsteres Gesicht aufgesetzt. „Zurück in die Zentrale. Wir haben einen Namen für die Leiche und eine Kreditkartennummer. Das reicht, um die nächsten Angehörigen ausfindig zu machen.“

„Aber glauben Sie nicht, wir sollten …“

Der Ausdruck in Butolis Gesicht genügte, damit Marshall nicht weitersprach. Er fädelte sich in den Verkehr ein und bog an der nächsten Straßenkreuzung rechts ab.

Isabella reichte dem Paar, das sich eben angemeldet hatte, den Zimmerschlüssel. In den vielen Jahren, seit ihr Vater und Onkel David die White Mountain Fertility Clinic gegründet hatten, war sie solchen Paaren zu Hunderten begegnet. Ihre Sehnsucht nach einem eigenen Kind war so groß, dass sie bereit waren, alles nur Erdenkliche über sich ergehen zu lassen, damit ihr Wunsch in Erfüllung ging.

„Rechts neben dem Treppenhaus ist der Aufzug“, erklärte sie.

Autor

Dinah Mc Call
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