Golden Dynasty - Brennender als Sehnsucht

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Unfassbar reich, unglaublich mächtig - und sie füllen die Titelseiten der Boulevardpresse. Nikki Besson weiß nur zu gut, wie die Welt der de-Vincent-Brüder aussieht. Denn als Tochter der Haushälterin ist sie gemeinsam mit ihnen aufgewachsen. Aber nie hätte sie gedacht, dass sie einmal auf das Anwesen in Louisiana zurückkehren würde, um selbst für diesen skandalumwitterten Clan zu arbeiten. Dorthin, wo sie sich in Gabriel verliebt hat - den sie seit der verhängnisvollen Nacht von damals nie wiedersehen wollte …

»Gefühlvoll und leidenschaftlich.«
Publisher’s Weekly

»Eine neue aufregende, sinnliche und fesselnde Geschichte. (…) Diese Serie wird mit jedem Teil besser und besser.«
Romantic Times Book Reviews


  • Erscheinungstag 03.06.2019
  • Bandnummer 2
  • ISBN / Artikelnummer 9783745750119
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für dich, Leser

Prolog

Nicolette Besson würde sterben.

Sie würde sich ernsthaft ertränken, wenn die de-Vincent-Brüder die Veranda nicht verließen. Also den Kopf unter Wasser halten und nie wieder hochkommen, denn auf gar keinen Fall würde sie sich in ihrem neuen Badeanzug vor ihnen zeigen.

Niemals.

Sie spähte über den Rand des Pools. Gut möglich, dass die Brüder nicht einmal eine Ahnung hatten, dass sie im Becken war, denn sie lag am flachen Ende auf den Knien und versteckte sich wie eine Idiotin.

Was hatten sie überhaupt dort zu suchen, zusammenhockend und flüsternd? So, wie sie die drei kannte, führten sie bestimmt nichts Gutes im Schilde.

Wenn ihr Daddy wüsste, dass sie hier draußen waren und sich wie immer um Lucian scharten, würde er sagen, dass sie Mumpitz ausheckten.

Was auch immer Mumpitz bedeutete.

Devlin war der älteste de Vincent und Gabriel der mittlere. Lucian war der jüngste der Brüder, und er steckte immer in Schwierigkeiten. Immer. Besonders, seit ihre Mutter gestorben und ihre Schwester verschwunden war. Devlin und Gabriel sahen genau wie ihr Vater aus, dunkelhaarig, und waren ebenso temperamentvoll, aber Lucian und seine Zwillingsschwester kamen nach ihrer Mom.

Sie hoffte wirklich, dass Lucians Freund nicht bei ihnen war. Parker Harrington war ihr nicht geheuer. Er … starrte sie ständig an. Was eigenartig war, weil er nicht besonders nett zu ihr war. Manchmal schaute er sie an, als sei sie es nicht wert, dieselbe Luft zu atmen wie er, und dann wieder blickte er sie an, als ob …

Nikki erschauderte. Darüber mochte sie nicht nachdenken.

Sie biss sich auf die Unterlippe, da der Zementrand des Pools ihr praktisch die Finger verbrannte. Wann würden sie endlich verschwinden? Ihre Mutter würde in der Küche bald fertig sein. Dann müsste sie aus dem Wasser kommen, sie würden sie sehen, und sie würde einfach sterben.

Oh Gott, warum in aller Welt war sie überhaupt in diesen Pool gestiegen? Sie konnte nicht einmal schwimmen! Doch alles hatte sich so heiß und klebrig angefühlt. Und sie hatte sich dabei gelangweilt, in einem der vielen Zimmer der Villa zu sitzen, nichts anzufassen und nirgendwo hinzugehen, weil Mr. de Vincent zu Hause war.

Mr. de Vincent hasste jede Art von Lärm, und Nikki veranstaltete nichts als Lärm. Jede Menge. Manchmal war sie so aufgeregt, dass sie vergaß, wo sie sich befand. Sie hatte sich nicht vorgestellt, ihre Schulferien mit Stillsitzen zu verbringen. Sie hatten …

Plötzlich warf Lucian den Kopf zurück und lachte schallend. Der Laut erschreckte sie, und sie spürte, wie ihre Lippen zuckten. Lucian hatte das beste Lachen. Es klang immer, als stünde er bloß Sekunden davor, etwas Verrücktes anzustellen – etwas, das sehr wahrscheinlich seinen Vater verärgern und ihre Eltern dazu bringen würde, nachsichtig den Kopf zu schütteln.

Was machten sie bloß?

Ihr Blick wanderte zu Devlin. Er stand da und starrte Lucian mit ausdrucksloser Miene an. Gabe allerdings grinste und schüttelte den Kopf, während Lucian merkwürdige Handbewegungen vollführte.

Gabe grinste dauernd.

Nikki fragte sich, ob Gabe ihr Holzreste aus seiner Werkstatt mitgebracht hatte. Das hatte er schon eine Weile nicht mehr getan, und es juckte sie in den Fingern, das neue Holzschnitz-Set zu benutzen, das ihre Eltern ihr zu Weihnachten geschenkt hatten. Sie lernte gerade, wie man Holzperlen schnitzte und aushöhlte, um sie auf eine Schnur zu ziehen und daraus eine Halskette oder ein Armband zu fertigen. Sie hätte Gabe jetzt fragen können, aber dann hätte er sie im Pool entdeckt, und das konnte sie nicht zulassen.

Wenn es einen Menschen gab, der sie nicht im Badeanzug sehen sollte, war es Gabe.

Vorsichtig und leise schob sie sich über den Boden des Pools, während das Wasser immer tiefer wurde. Ein plötzlicher Windstoß brachte den großen Sonnenschirm ins Wanken, und sie war mit einem Mal von Rosenduft aus dem nahe gelegenen Garten umgeben. Im Süden wurde der Himmel grau und wirkte bedrohlich. Ein Unwetter zog auf. Großartig. Vielleicht bräuchte sie sich gar nicht zu ertränken. Mit Glück würde ein Blitz sie erledigen.

Denn sie würde sich vor den Jungs ganz sicher nicht in ihrem blöden, zu großen Einteiler blicken lassen, den Mom ihr im Kmart gekauft hatte.

Auf gar keinen Fall.

Die drei de Vincents waren wie Brüder für sie – große Brüder. Also viiiel ältere. Jedenfalls behandelten Gabe und Lucian sie wie eine Schwester. Devlin allerdings nicht. Er benahm sich, als existiere sie nicht, und das war ihr nur recht, denn Devlin mochte auch keinen Lärm und lächelte nie. Absolut nie.

Nikki war zwar gerade sechzehn geworden, aber abgesehen davon, dass sie die meisten Jungs nervig fand, war sie sich nicht einmal sicher, was sie von ihnen hielt. Einmal hatte sie gehört, wie ihre Mom zu ihrem Dad gesagt hat, sie sei ein Spätzünder. Nikki verdrehte die Augen. Sie war doch kein Knallfrosch oder so.

Aber die de Vincents waren anders. Sie waren keine Jungs im wahrsten Sinne des Worts. Und alle, die Nikki kannte, fanden sie attraktiv. Schließlich hatte die große Schwester ihrer besten Freundin angeblich etwas mit Lucian gehabt und war nun vollkommen besessen von ihm.

Natürlich hätte Nikki das niemals zugegeben, doch sie dachte schon immer, dass Gabe heiß war. Es lag an seinem Haar. Er trug es länger als seine Brüder, schulterlang, und es wirkte dicht und weich. Außerdem weckte es in ihr merkwürdige Wünsche, wie zum Beispiel, es zu berühren.

Aber einfach so sein Haar anzufassen, wäre superkomisch gewesen.

Und sie bezweifelte stark, dass er das zu schätzen wüsste.

Nikki errötete, sowie sie feststellte, dass sie Gabe anstarrte. Er trug eine Jeans und ein weißes Hemd und war barfuß, obwohl die Bodenplatten unter seinen Füßen kochend heiß sein mussten.

Sie fand, dass er irgendwie hübsche Füße hatte.

Gabe hatte auch ein nettes Lachen. Und ein attraktives Lächeln. Er brachte Nikki jedes Mal dazu, es zu erwidern. Und er war freundlich. Er setzte sich immer zu ihr und fragte sie, wie die Schule war und was sie und ihre Freundinnen vorhatten. Er zeigte ihr, wie man ein eckiges Stück Holz in etwas Wunderschönes verwandeln konnte. Obwohl er wahrscheinlich jede Menge Besseres zu tun hatte, war er ihr Freund.

Die drei Brüder waren sehr unterschiedlich. Devlin war kalt. Lucian war übergeschnappt. Und Gabe war einfach nur …

Nikki unterdrückte ein Aufseufzen.

Er war, nun ja, alles.

Aus der Ferne hörte sie das Grollen des heranziehenden Gewitters und wusste, dass das Wetter schnell umschlagen konnte, aber sie blieb im Pool und konnte den Blick nicht von Gabe losreißen.

Er behandelte sie nie, als wäre sie minderwertig, weil ihre Eltern ihre Hausangestellten waren; so wie einige ihrer ignoranten Snobs von Freunden, wenn sie im Lauf der Jahre im Herrenhaus waren. Wie Parker. Wie Devlin so oft, falls er sich überhaupt herabließ, sie zu bemerken.

Sie wusste, dass Gabe am College eine feste Freundin gehabt hatte, weil er sie einmal, vor einigen Jahren, über Weihnachten mit nach Hause gebracht hatte. Sie hieß Emma, war wunderschön und nett, und Nikki … Gott, hatte sie sie gehasst.

Egal.

Gabe und Emma waren nicht mehr zusammen.

Nikki lächelte in sich hinein.

Sie schlich weiter am Rand des Pools entlang und blieb stehen, als sie spürte, dass sie den Boden unter den Füßen verlor. Das Becken wurde schnell tiefer, also musste sie vorsichtig sein, wenn sie nicht wirklich ertrinken wollte. Sie hielt sich am Rand des Beckens fest und bewegte sich weiter in den Pool hinein, näher an das Sprungbrett heran, das, soweit sie mitbekommen hatte, nur Lucian und Gabe benutzten. Sie stürzten sich hinunter, ohne Angst zu zeigen.

Nikki wünschte sich das. Keine Angst zu haben, wie …

Grellweißes Licht erfüllte die Welt, da in der Nähe ein Blitz in den Boden einschlug. Ein krachender Donnerschlag hallte durch die Luft, und ihr lief ein ängstlicher Schauer über den Rücken. Sie stieß einen schrillen Schrei aus, als die Wolken aufrissen. Starkregen ging nieder und spritzte von der Terrasse hoch, die den Pool und das Wasser umgab.

Auf keinen Fall durfte sie länger im Pool bleiben!

Sie hangelte sich am Rand entlang, stützte sich auf die Arme und begann sich hochzuhieven. Aus weit aufgerissenen Augen sah sie sich hektisch um, als nicht weit vom Becken entfernt noch ein Blitz einschlug.

In diesem Moment, während sie gerade eins ihrer Beine aus dem Pool gezogen und auf die glitschigen Fliesen gesetzt hatte, drehten die Brüder sich um.

Gabe trat vor, an den Rand der Veranda, auf der er trocken und sicher war. »Nic?«

Als ihre Blicke sich trafen, keuchte sie. Oh nein. Sie trug nicht nur ihren Badeanzug, sondern sah dazu noch aus wie eine ersoffene Katze, die versuchte, aus dem Pool zu klettern! Ernsthaft, sie wäre am liebsten gestorben

Noch ein explosiver Donnerschlag. Es klang, als stürze um sie herum der Himmel ein. Schließlich ging alles ganz schnell: Ihr Fuß rutschte ab, und ehe sie sich’s versah, verschlang das Wasser sie mit Haut und Haaren.

Der Schock lähmte ihren Verstand. Sie war zu überrumpelt, um den Mund zu schließen, und schluckte große Mengen Wasser, während sie im Becken versank und über ihr das Wasser wirbelte.

Ihre Lungen brannten und pfiffen, und sie kniff die Augen zusammen. Sie versuchte, an die Oberfläche zu gelangen, doch sie schien nur weiter in die Tiefe zu gleiten. Panik ergriff sie, während sie unter Wasser um sich schlug. Ihr Po berührte den Grund des Pools; ein weicher Aufprall, der dennoch durch ihren ganzen Körper rann.

Fest schloss sie die Augen und schüttelte hektisch den Kopf, da das Brennen in ihrer Brust ihren Hals hinaufkroch und über ihren Hinterkopf lief. Sie fühlte sich eigenartig, als liefen tausend Feuerameisen über ihre Haut und …

Plötzlich legten sich Hände um ihre Oberarme. Ein Arm schlang sich um ihre Taille. Sie spürte, wie sich jemand kräftig abstieß, und dann schoss sie schnurgerade nach oben. Ihr Kopf brach durch die Wasseroberfläche. Regen prasselte ihr ins Gesicht, aber sie riss dennoch den Mund auf, um Luft zu bekommen. Doch sie konnte nur husten und Wasser von sich geben.

Jemand zerrte sie an den Rand des Pools, und dort erwartete sie noch ein Paar Hände, das sie packte und aus dem Wasser zog. Keuchend fiel sie auf die Knie. Neben ihr spritzte Wasser auf. Noch einmal legten sich Arme um ihre Taille und hoben sie hoch. Die Welt drehte sich um sie, und sie fühlte, wie sie auf die überdachte Veranda getragen wurde. Jemand ließ sie behutsam hinunter und drehte sie sofort auf die Seite.

Sie spürte einen kräftigen Schlag auf den Rücken. »Komm schon, Nic. Spuck es aus. Mach schon. Raus mit dem Wasser, Nic.«

Sie erkannte die Stimme – wusste, wem sie gehörte, weil nur ein einziger Mensch sie Nic nannte. Aber das Wasser kam hoch, und sie spie gefühlt einen ganzen Ozean aus.

»So ist es gut.« Die Hand rieb ihr jetzt den Rücken, statt das Wasser aus ihren Lungen herauszuprügeln. »Das war’s.«

Endlich konnte Nikki atmen, ohne zu ersticken. Sie drehte sich auf den Rücken und schaute direkt in Augen, die die Farbe der See vor der Küste hatten; ein endloses Blaugrün.

Gabe.

»Geht’s dir gut?«, fragte er. Mit jeder Sekunde, die sie schwieg, wirkten seine schönen Augen besorgter. »Ich mache mir langsam Sorgen, Sweetheart.«

Sweetheart.

Er hatte sie noch nie Sweetheart genannt.

Lucian beugte sich über Gabes Schulter. »Hat sie sich den Kopf gestoßen?«

Jemand fluchte, und sie zuckte zusammen.

»Dev«, meinte Lucian seufzend und warf einen Blick hinter sich, wo, wie sie vermutete, Devlin stand.

Gabe sah sie immer noch an. Seine Hand ruhte auf ihrer Schulter, und sie wusste, dass sie etwas sagen musste, bevor noch jemand ihre Eltern holte. »Ich … Ich habe mir den Kopf nicht gestoßen.«

Erleichterung trat auf Gabes Miene. »Gott sei Dank.« Er ließ die Schultern sinken, und in diesem Moment wurde ihr klar, dass sein weißes Hemd durchnässt war und an seiner Haut klebte. Unter dem Hemd konnte sie alle möglichen interessanten Muskeln erkennen. »Du hast mir eine Höllenangst eingejagt, Nic.«

Dann wurde ihr richtig bewusst, was gerade passiert war.

Gabe hatte sie gerettet.

Oh Gott, er hatte sie wirklich vor dem Ertrinken bewahrt!

Er lächelte sie an und schüttelte den Kopf, sodass ihm feuchte Haarsträhnen ins Gesicht flogen. »Dir geht’s doch gut, oder?«

Sie nickte und überlegte, dass sie sich wahrscheinlich aufsetzen sollte. »Du hast mich gerettet.«

Sein Grinsen wurde breiter. »Bin ich jetzt dein Held?«

»Ja«, flüsterte sie und nickte schließlich noch für den Fall, dass er an ihr zweifelte. Er war vollkommen zu ihrem Helden geworden.

Leise lachte Gabe.

»Herrgott«, stieß Devlin knurrend hervor und verschränkte die Arme, als er in ihr Blickfeld trat. »Das wäre das Letzte, was wir gerade gebrauchen können. Dass sie sich in diesem verdammten Pool ertränkt. Was hast du überhaupt hier zu suchen? Dieser Pool und dieses Haus gehören dir nicht und sind nicht dein verfluchter Spielplatz.«

Sie riss die Augen auf. Tränen brannten in ihrer Kehle, und sie schrumpfte innerlich auf dem heißen Stein zusammen. Er würde ihren Eltern davon erzählen – und seinem Vater. Der würde dann ihre Eltern maßregeln.

Gabe wandte ruckartig den Kopf. »Devlin.«

»Die kleine Idiotin kann nicht einmal schwimmen«, erwiderte Devlin, und sie spürte, wie gegen ihren Willen Tränen aufstiegen. Sie war keine Idiotin, aber er hatte recht. Sie konnte nicht einmal schwimmen. »Herrgott«, murrte er noch einmal. »Livie und Richard wissen doch, dass sie das Gör nicht herumlaufen lassen sollen, wenn Vater …«

»Das reicht jetzt. Ernsthaft.« Gabe ließ ihre Schulter los und drehte sich zu seinem älteren Bruder um. »Es war ein Unfall. Jetzt ist es vorbei. Nic geht es gut. Also halt den Mund oder hau ab. Ist mir egal, wohin du gehst, Hauptsache, du bist nicht hier.«

Lucian zog die Augenbrauen hoch und sah aus, als stünde er kurz vor einem Lachanfall. Nikki unterdrückte ein Aufkeuchen. Sie hatte noch nie, nie gehört, dass Gabe Devlin in diesem Ton angesprochen hatte.

Niemand redete so mit Devlin.

Gabe wandte sich wieder zu ihr um. Seine Schultern wirkten angespannt. »Ich muss dir wohl das Schwimmen beibringen, was?«

Und dann passierte es.

In diesem Moment und an dieser Stelle.

Nicolette Besson verliebte sich Hals über Kopf, und sie wusste – war sich ganz einfach tief im Herzen sicher –, dass sie eines Tages Gabriel de Vincent heiraten würde, und sie würden bis in alle Ewigkeit glücklich sein.

Sie würde ihm gehören.

Weil er bereits ihr gehörte.

1. Kapitel

Sechs Jahre später …

Es kostete Gabriel de Vincent seine ganze Selbstbeherrschung, zurückzutreten und nichts zu tun. Einfach dort zu stehen und zuzusehen, wie er weggebracht wurde. Aber das musste sein, weil Gabe es versprochen hatte und er versuchte, ein Mann zu sein, der zu seinem Wort stand.

Manchmal gelang ihm das nicht. Und wenn das geschah, verfolgte dieses Scheitern ihn bis spät in die Nacht, doch dieses Mal würde er sein Wort nicht brechen.

Er hatte ihnen drei Monate ohne Unterbrechung versprochen.

Diese Zeit würde er ihnen zugestehen.

Sein Kiefer schmerzte, so fest biss er die Zähne zusammen, während die Rothchilds wieder das Restaurant betraten. Er schaute ihnen so lange nach, bis er sie nicht mehr sehen konnte. Erst dann betrachtete er das Stück Papier.

Kaum dass er auf die Zeichnung eines Welpen auf einem Stück blauem Tonpapier hinuntersah, überfiel ihn eine üble Mischung von Emotionen. Traurigkeit. Stolz. Hilflosigkeit. Hoffnung. Zorn, wie er ihn noch nie gespürt hatte. Er hatte keine Ahnung, wie ein Mensch all das auf einmal fühlen konnte, aber so war es.

Er verzog die Mundwinkel. Die Zeichnung zeugte eindeutig von Talent. Eine echte Begabung. Anscheinend war die künstlerische Gabe der de Vincents noch vorhanden.

Sein Blick glitt über die in klobiger Handschrift geschriebenen Worte. Er hatte sie schon dreimal gelesen, konnte sie jedoch kein viertes Mal ertragen. Nicht gerade jetzt. Er faltete das Papier nicht zusammen, da er Knicke vermeiden wollte, stattdessen trug er es vorsichtig zu seinem Wagen zurück.

»Gabriel de Vincent.«

Als er die vage vertraute Stimme hörte, runzelte er die Stirn und drehte sich um. Hinter einem Transporter trat ein Mann hervor. Eine dunkle, eckige Sonnenbrille schirmte die Hälfte seines Gesichts ab, doch Gabe erkannte ihn.

Er seufzte. »Ross Haid. Wie komme ich zu der Ehre, Sie in Baton Rouge zu sehen?«

Der Reporter des Advocate schenkte ihm sein schiefes Grinsen, das, wie Gabe vermutete, sein Markenzeichen war und ihm wahrscheinlich Zugang zu Orten und Veranstaltungen verschaffte, an und in die er verdammt noch mal nicht hingehörte. »Unsere Zentrale ist hier. Wie Sie sehr wohl wissen.«

»Ja, aber Sie arbeiten von New Orleans aus, Ross.«

Er zog eine Schulter hoch und trat auf Gabe zu. »Ich musste zur Zentrale. Der Buschfunk hat mir verraten, dass ein de Vincent in der Stadt ist.«

»Ja klar.« Gabe nahm ihm das keine Sekunde ab. »Und Sie haben rein zufällig gehört, dass ich in diesem Restaurant war?«

Ross’ Lächeln wurde noch einen Hauch breiter, und er strich sich über das blonde Haar. »Nee. Reines Glück, dass ich Sie hier gesehen habe.«

Bullshit. Ross schnüffelte Gabes Familie nun schon ungefähr zwei Monate hinterher. Er versuchte ständig, einen von ihnen zu erwischen, wenn sie zum Essen ausgingen oder eine Veranstaltung besuchten, und tauchte bei fast jedem verdammten Event auf, bei dem sie anwesend waren. Allerdings fiel es Ross zu Hause in New Orleans schwer, an sie heranzukommen. Nun ja, er hatte Probleme, sich an denjenigen heranzumachen, mit dem er wirklich reden wollte, nämlich Gabes älteren Bruder.

Man brauchte kein Genie zu sein, um zu wissen, was los war. Irgendwie hatte Ross gehört, dass Gabe hier war, und deswegen war er rein zufällig hier aufgekreuzt. Normalerweise steckte er Ross’ ständige Fragerei gut weg. Zum Teufel, irgendwie mochte er diesen Kerl sogar und respektierte seine Verbissenheit. Aber nicht, solange Ross hier war und sich etwas, von dem Gabe nicht wollte, dass ein Reporter davon erfuhr, nur wenige Meter entfernt aufhielt.

Ross nahm seine Sonnenbrille ab und musterte Gabes Auto. »Netter Wagen. Ist das einer der neuen Porsche 911er?«

Gabe zog die Augenbrauen hoch.

»Das Familiengeschäft muss gut laufen. Andererseits läuft es immer gut, oder? Die de Vincents haben altes Geld. Sie bilden das eine Prozent von dem einen Prozent Superreicher.«

Gabes Familie war eine der ältesten und ließ sich bis in die Gründerzeit des ehrwürdigen Staats Louisiana zurückverfolgen. Inzwischen besaßen sie die einträglichsten Ölraffinerien im Golf von Mexiko und kauften auf der ganzen Welt Immobilien und Hightech-Firmen, und sobald sein älterer Bruder heiratete, würden sie auch einen der größten Reedereikonzerne der Welt kontrollieren. Also ja, die de Vincents waren reich, doch den Porsche und fast alles, was Gabe besaß, hatte er mit Geld bezahlt, für das er gearbeitet hatte. Nicht von dem Vermögen, das ihm bei seiner Geburt in den Schoß gefallen war.

»Einige Leute behaupten, Ihre Familie hätte so viel Geld, dass die de Vincents über dem Gesetz stünden.« Ross setzte seine Sonnenbrille wieder auf. »Scheint so zu sein.«

Dafür hatte Gabe wirklich keine Zeit. »Was immer Sie wollen, können Sie nicht einfach aufhören, um den heißen Brei herumzureden, und einfach damit herausrücken? Ich wollte irgendwann im Verlauf des nächsten Jahres noch nach Hause.«

Das Lächeln des Reporters verblasste. »Da wir nun einmal beide hier sind und es sonst verdammt schwierig ist, mit jemandem von Ihnen zu reden, will ich mit Ihnen über den Tod Ihres Vaters plaudern.«

»Da bin ich mir sicher.«

»Ich glaube nicht, dass es Selbstmord war«, fuhr Ross fort. »Und wie praktisch, dass Chief Cobbs, der wollte, dass beim Tod Ihres Vaters in Richtung Mord ermittelt wurde, zufällig bei einem Autounfall gestorben ist.«

»Ist das so?«

Ross strahlte so viel Frustration aus, dass es fast so laut zu hören war wie die verdammten Zikaden. »Ist das alles, was Sie mir dazu zu sagen haben?«

»So ziemlich«, antwortete Gabe grinsend. »Das, und dass Sie eine überschäumende Fantasie besitzen, aber ich bin mir sicher, das haben Sie schon mal gehört.«

»Ich glaube nicht, dass meine Fantasie auch nur annähernd ausreicht, um mir all das vorzustellen, in dem die de Vincents ihre Finger haben.«

Wahrscheinlich nicht.

»Okay, ich werde Sie nicht nach Ihrem Vater oder dem Chief fragen.« Ross trat von einem Fuß auf den anderen, während Gabe die Fahrertür öffnete. »Ich habe auch interessante Gerüchte über einen Teil des Personals auf dem Anwesen der de Vincents gehört.«

»So langsam bekomme ich das Gefühl, Sie stalken uns.« Gabe legte die Zeichnung mit der Vorderseite nach unten auf den Beifahrersitz. »Wenn Sie über das Personal sprechen wollen, müssen Sie mit Dev reden.«

»Devlin hat nie Zeit, sich mit mir zu unterhalten.«

»Klingt nicht, als wäre das mein Problem.«

»Jetzt scheint es das aber zu sein.«

Gabe lachte humorlos, fasste in den Innenraum und griff sich seine dunkle Brille von der Sonnenblende. »Glauben Sie mir, Ross, es ist nicht meine Sorge.«

»Das glauben Sie vielleicht im Moment, doch das wird sich ändern.« Am Kiefer des Mannes zuckte ein Muskel. »Ich habe vor, jedes einzelne der verdammten Geheimnisse aufzudecken, die die de Vincents seit Jahren hüten. Ich werde eine Story schreiben, die nicht einmal Ihre Familie mit ihrem Geld unter den Teppich kehren kann.«

Kopfschüttelnd setzte Gabe seine Sonnenbrille auf. »Ich mag Sie, Ross. Sie wissen, dass ich noch nie ein Problem mit Ihnen hatte. So, das nur mal vorab. Doch Sie müssen schon besseres Material anbringen, denn das eben war verdammt klischeehaft.« Er legte die Hand auf den Rahmen der Autotür. »Und Ihnen ist doch klar, dass Sie nicht der erste Reporter sind, der angelaufen kommt und meint, er könnte ein paar Leichen aus unserem Keller ausgraben und uns als das bloßstellen, wofür zur Hölle er uns hält. Und Sie werden nicht der letzte sein, der daran scheitert.«

»Ich scheitere nicht«, erklärte Ross. »Niemals.«

»Jeder scheitert einmal.« Gabe ließ sich auf den Fahrersitz sinken.

»Nur die de Vincents nicht?«

»Das haben Sie gesagt, nicht ich.« Gabe sah zu dem Reporter. »Möchten Sie einen ungebetenen Rat? Ich an Ihrer Stelle würde mir eine andere Story suchen.«

»Ist das nun die Stelle, an der Sie mir raten, dass ich gut aufpassen soll?« Die Aussicht schien Ross auf merkwürdige Art zu erfreuen. »Mich warnen? Weil Leute, die sich mit den de Vincents anlegen, verschwinden – oder Schlimmeres?«

Gabe grinste selbstgefällig und drehte den Zündschlüssel. »Klingt, als bräuchte ich Ihnen das nicht zu erklären. Anscheinend wissen Sie schon, wie so etwas läuft.«

Nikki stand mitten in der stillen, sterilen Küche der de-Vincent-Villa und sagte sich, dass sie nicht dieselbe kleine Idiotin war, die sich vor sechs Jahren draußen im Pool fast ertränkt hätte.

Und ganz bestimmt war sie nicht die dumme Gans, die sich jahrelang restlos zum Narren gemacht hatte, indem sie einem erwachsenen Mann nachgelaufen war. Etwas, das zu einer der schlimmsten Ideen geführt hatte, die sie in der Geschichte ihrer dummen Ideen je gehabt hatte.

Nikki konnte auf eine bemerkenswerte Reihe von nicht besonders klugen Entscheidungen zurückblicken. Ihr Dad sagte, sie hätte einen etwas verwegenen Zug und käme nach Pappy, ihrem Großvater, doch Nikki zog es vor, den de Vincents die Schuld an ihrer unbesonnenen Tat zu geben. Sie hatten dieses wirklich bizarre Talent, alle um sie herum zum Leichtsinn zu verleiten.

Ihre Mutter behauptete, dass Nikki die meisten falschen Entscheidungen traf, weil sie ein gutes Herz habe.

Nikki hatte die Angewohnheit, Streuner aufzulesen – Straßenkatzen, herrenlose Hunde, hier und da eine Eidechse, sogar eine Schlange und auch Menschen. Sie war sentimental und hasste es, wenn jemand, der ihr wichtig war, litt, und häufig ließ sie sich zu sehr auf fremder Leute Probleme ein.

Deswegen sah sie auch in der Weihnachtszeit nicht fern, denn dann liefen immer diese herzzerreißenden Videos über frierende Tiere oder Kinder, die in vom Krieg zerrütteten Ländern hungerten. Aus diesem Grund hasste sie auch alles um Silvester herum und blies in der Woche zwischen Weihnachten und dem ersten Januar Trübsal.

Sie hatte sich nicht groß verändert, seit sie zum letzten Mal durch dieses Haus gegangen war. Sie hatte ihre Gefühle immer noch nicht im Griff, was Tiere betraf, die ihr nicht gehörten – deswegen half sie auch ehrenamtlich im hiesigen Tierheim aus. Noch immer konnte sie niemandem den Rücken kehren, der Hilfe brauchte, und fand sich immer wieder in merkwürdigen Situationen wieder. Aber leichtsinnig? Verwegen?

Das war sie nicht mehr.

Nicht, seit sie zum letzten Mal in diesem Haus gewesen war, kurz bevor sie das College besuchte. Vor vier Jahren war das gewesen, und nun war sie zurück. Nichts hatte sich verändert, und doch war alles anders.

»Alles in Ordnung, Schatz?«, fragte ihr Vater.

Sie drehte sich um und stellte fest, dass ihr Vater vor der Tür zu der weitläufigen Küche stand. Sie riss sich aus ihren Gedanken und setzte für ihn ein strahlendes Lächeln auf. Oh Gott, ihr Dad begann so alt auszusehen, wie er war, und das machte ihr Angst – tatsächlich jagte es ihr schreckliche Furcht ein. Ihre Eltern hatten sie spät bekommen, aber sie war erst zweiundzwanzig und wollte sie gern noch fünfzig Jahre oder so um sich haben.

Nikki wusste, dass es nicht so kommen würde.

Besonders jetzt nicht mehr.

Gewaltsam verdrängte sie diese Gedanken. »Ja. Ich bin nur … Es ist komisch, nach so langer Zeit wieder hier zu sein. Die Küche ist anders.«

»Sie ist vor ein paar Jahren renoviert worden«, erklärte er. Anscheinend wurde das Anwesen ständig umgebaut. Kein Wunder. Wie oft hatte dieses Haus eigentlich schon gebrannt, seit es erbaut worden war? Nikki hatte den Überblick verloren. Ihr Vater holte tief Luft, und die Linien um seinen Mund traten deutlicher hervor. Er wirkte so erschöpft. »Ich weiß nicht, ob ich dir das schon gesagt habe, aber danke.«

Sie tat den Satz mit einer Handbewegung ab. »Du brauchst dich nicht bei mir zu bedanken, Dad.«

»Doch.« Er trat zu ihr. »Du bist aufs College gegangen, um etwas Besseres als das hier zu machen – etwas Besseres als Essen zu kochen und einen Haushalt zu führen. Um etwas Besseres zu werden.«

Um seinetwillen fühlte sie sich beleidigt. Sie verschränkte die Arme und schaute in seine müden Augen. »An Kochen und dem Führen eines Haushalts ist nichts verkehrt. Es ist gute, ehrliche Arbeit. Mit dieser Arbeit habt ihr mir das College finanziert, oder etwa nicht, Dad?«

»Wir sind sehr stolz auf unsere Stellung, versteh mich nicht falsch. Doch deine Mutter und ich haben all die Jahre dafür gearbeitet, dass du einen anderen Beruf ergreifen kannst.« Er seufzte. »Deswegen bedeutet es uns viel, dass du heimgekommen bist, um uns zu unterstützen, Nicolette.«

Nur ihr Dad und ihre Mom riefen sie mit ihrem vollen Namen. Alle anderen sprachen sie mit Nikki an. Bis auf einen gewissen de Vincent. Er, und nur er, nannte sie Nic.

Ihre Eltern arbeiteten schon seit lange vor ihrer Geburt für die de Vincents, eine der reichsten Familien in den Staaten und wahrscheinlich auf der Welt. Es war eigenartig gewesen, in diesem Haus aufzuwachsen und in so viele merkwürdige Dinge eingeweiht zu sein – Dinge, von denen die Öffentlichkeit keine Ahnung hatte und um die zu erfahren viele Menschen große Summen gezahlt hätten. Und für sie war es, als stünde sie mit jedem Fuß in einer anderen Welt; mit einem in einer, die voll mit geradezu absurdem Reichtum war, und mit dem anderen mitten in der Arbeiterklasse.

Ihr Vater war im Grunde ein Butler, obwohl sie immer den leisen Verdacht gehegt hatte, dass ihr Vater auch … Sachen für die de Vincents erledigte, die ein Butler normalerweise nicht tat. Ihre Mutter kümmerte sich darum, dass der Haushalt reibungslos lief und bereitete das Essen zu. Ihre Eltern waren gern für die Familie tätig, und sie wusste, dass beide vorgehabt hatten, bis zu ihrem Todestag weiterzuarbeiten, aber ihre Mom …

Nikki spürte einen schmerzhaften Druck auf der Brust. Ihrer Mom ging es nicht gut. Es war so schnell passiert und scheinbar aus dem Nichts gekommen. Das gefürchtete K-Wort.

»Ehrlich, das ist perfekt. Ich habe meinen Abschluss, und so habe ich Zeit, mir zu überlegen, wie es weitergehen soll.« Mit anderen Worten: was zur Hölle sie wirklich mit ihrem Leben anfangen wollte. Sich einen Job suchen oder ihren Master machen? Sie war sich noch nicht sicher. »Und ich will bei euch sein, während Mom das alles durchstehen muss.«

»Ich weiß.« Sein Lächeln geriet ein wenig ins Wanken, und er wischte sich eine hellbraune Haarsträhne aus dem Gesicht. »Wir hätten auch eine Vertretung anstellen können, solange deine Mutter …«

»Nein, hättet ihr nicht.« Bei dem bloßen Gedanken lachte sie. »Mir ist bestens bekannt, wie eigenartig die de Vincents sind. Ich weiß, dass ihr beide sie immer schützen wollt. Ich habe gelernt, den Mund zu halten und nichts zu sehen, was nicht für mich bestimmt ist. So braucht ihr euch nicht darum zu sorgen, jemand Neues könnte nicht den Mund halten und sehen, was er nicht sehen soll.«

Ihr Dad zog eine Augenbraue hoch. »Vieles hat sich verändert, Schatz.«

Sie schnaubte und musterte die weißen, grau geäderten Arbeitsplatten aus Marmor. Mom hatte sie während einer ihrer Chemobehandlungen über einige dieser Veränderungen ins Bild gesetzt. Was hatten sie schließlich sonst zu reden, während sie mit Gift vollgepumpt wurde, das hoffentlich nur die Krebszellen in ihrer Lunge umbringen würde?

Über Dinge, die sich in dem Anwesen der de Vincents verändert hatten.

Zuerst einmal hatte sich vor ein paar Monaten der Patriarch der Familie, Lawrence de Vincent, erhängt. Eine Tat, die sie schockiert hatte, weil sie immer den Eindruck gehabt hatte, der Mann könnte eine Atombombe überleben.

Und Lucian de Vincent hatte anscheinend eine Freundin, die bei ihm wohnte, und die beiden würden bald in ein eigenes Haus ziehen. Die Vorstellung, dass Lucian sesshaft werden wollte, war fast noch verrückter. Der Lucian, an den sie sich erinnerte, war der Inbegriff eines Frauenhelden gewesen. Als unverbesserlicher Playboy hatte er im ganzen Staat Louisiana und darüber hinaus eine Spur aus gebrochenen Herzen zurückgelassen.

Seine Freundin kannte sie noch nicht, da die beiden auf irgendeiner Reise waren; die Reichen schienen selten so etwas wie einen festen Terminplan zu haben. Sie hoffte nur, dass seine unbekannte Freundin nett und ganz anders als Devlins Verlobte war.

Obwohl Nikki die de Vincents seit vier Jahren nicht gesehen hatte, erinnerte sie sich an Sabrina Harrington und ihren Bruder Parker.

Sabrina war ein Jahr, bevor Nikki aufs College gegangen war, mit Devlin zusammengekommen, und das war ein Jahr voll abfälliger Bemerkungen und ziemlich verächtlicher Blicke gewesen. Doch mit Sabrina kam Nikki zurecht. Wenn sie noch dieselbe Frau war wie früher, konnte sie so gemein wie eine in die Ecke getriebene Klapperschlange sein, aber normalerweise gehörte Nikki nicht zu den Menschen, denen sie Beachtung schenkte.

Doch Parker?

Nikki unterdrückte einen Schauer, denn sie wollte ihren Vater, der sie mit Argusaugen beobachtete, nicht beunruhigen.

Parker hatte sie oft so angestarrt, wie sie es sich von Gabe wünschte; besonders, nachdem sie genug Mut aufgebracht hatte, um den einteiligen Badeanzug gegen einen Bikini auszutauschen.

Und Parker … hatte sie nicht nur angesehen.

Sie holte tief Luft. Sie hatte nicht vor, an Parker zu denken. Er war keinen einzigen Gedanken wert.

Ihre Mutter hatte sie nicht nur über Lawrence’ Tod und Lucians neue Liebe aufgeklärt. Sie hatte Nikki auch die ganze Geschichte mit der wiederaufgetauchten und dann erneut verschwundenen Schwester erzählt. Sie wusste, dass die Öffentlichkeit keine Ahnung davon hatte. Sie kannte nicht alle Einzelheiten, allerdings war Nikki klar, dass sich alles so hochdramatisch abgespielt haben musste, wie es typisch für die de Vincents war.

Ebenfalls wusste sie, dass sie besser keine Fragen deswegen stellte.

Ihr Vater trat zurück. »Die Jungs sind alle unterwegs.«

Danke, Gott.

»Devlin müsste heute Abend zum Essen zurück sein. Er hat es gern, wenn es um sechs fertig ist. Ich glaube, Ms. Harrington wird ihn begleiten.«

Tja, ihr Dank an Gott hatte gerade fünf Sekunden vorgehalten. Sie widerstand dem Drang, die Augen zu verdrehen und ein Würgen auszustoßen. »Okay.«

»Gabriel ist noch in Baton Rouge, das ist zumindest das Letzte, was ich gehört habe.« Ihr Vater fuhr fort, sie über die Terminpläne der Brüder zu informieren. Währenddessen überlegte sie, was Gabe in Baton Rouge trieb. Nicht, dass es sie interessierte. Es war ihr vollkommen gleichgültig, doch sie fragte sich, ob es mit seiner Holzschnitzerei zu tun hatte.

Der Mann war talentiert mit den Händen.

Wirklich talentiert.

Ihre Wangen liefen heiß an. Die unerwünschte Erinnerung daran, wie sich seine schwieligen Handflächen anfühlten, versetzte ihr einen Stich in die Brust. Nein. Daran will ich nicht denken. Auf gar keinen Fall.

Überall im Haus waren Beispiele für Gabes Können zu sehen – die Möbel sowie die Decken- und anderen Zierleisten, sogar in der Küche. Alle Holzteile hatte Gabe entworfen und angefertigt. Als kleines Kind hatte sie die Idee begeistert, ein Stück Holz zu nehmen und daraus etwas anderes zu machen, ein echtes Kunstwerk. Im Lauf der Zeit war es für Nikki zu einem Hobby geworden.

Angefangen hatte es an einem langen Nachmittag im Herbst, als sie zehn war und Gabe draußen angetroffen hatte, wo er an einem Holzstück schnitzte. Aus Langeweile hatte sie ihn gebeten, es ihr zu zeigen. Statt sie zu verscheuchen, hatte Gabe ihr kleine Holzstücke gegeben und sie gelehrt, wie man mit einem Schnitzmesser umging.

Sie hatte sich schließlich ziemlich gut darauf verstanden, doch seit über vier Jahren hatte sie keinen Holzmeißel mehr angerührt.

Nikki konzentrierte sich erneut auf das, was ihr Vater ihr erzählte.

»Momentan sind wir ein wenig unterbesetzt«, erklärte ihr Dad. »Also sehe ich viel Staubwischen in deiner unmittelbaren Zukunft. Devlin ist seinem Vater sehr ähnlich.«

Na toll.

Ihrer Meinung nach war das kein Kompliment.

»Liegt es an den Geistern?«, fragte sie halb im Scherz. »Vertreiben sie das Personal?«

Ihr Vater warf ihr einen scharfen Blick zu, aber sie wusste genau, dass ihre Eltern überzeugt davon waren, dass es Gespenster im Haus gab. Sie kamen noch nicht einmal bei Nacht hierher, wenn kein dringender Notfall vorlag. Keiner der Angestellten hätte das getan, und jeder in der Stadt kannte die Legenden über das Land, auf dem das Anwesen der de Vincents stand. Und wer hatte noch nicht von dem Fluch der de Vincents gehört?

Sie war in der Vergangenheit so oft in dieser Villa gewesen, dass sie ein paar eigenartige Vorfälle beobachtet und Dinge gehört hatte, die unerklärlich waren. Außerdem war sie praktisch in der Umgebung von New Orleans aufgewachsen. Sie glaubte an das Übernatürliche, doch im Gegensatz zu ihrer Freundin Rosie, die sie am College kennengelernt hatte, war sie nicht besessen von allem, was paranormal war. Nikki handelte nach der Theorie, dass Geister einem nichts anhaben konnten, wenn man ihre Existenz ignorierte, und bis jetzt war sie damit wunderbar gefahren.

Andererseits hatte Nikki dieses Haus nur einmal in ihrem Leben bei Nacht betreten, und das war ganz und gar nicht gut ausgegangen. Vielleicht funktionierte das mit dem Ignorieren der Geister doch nicht, denn sie dachte oft, dass sie von einem der Gespenster, die angeblich durch die Flure streiften, besessen gewesen war und sich deswegen in jener Nacht so verhalten hatte.

Nikki kannte die Abläufe in der Villa, da sie den größten Teil ihrer Sommerferien hier verbracht und ihrer Mom zugeschaut hatte, daher machte sie sich gleich an die Arbeit, nachdem ihr Vater sie allein gelassen hatte.

Das Wichtigste zuerst: feststellen, wie viel Personal sie im Haus hatten. »Unterbesetzt« war sehr nett ausgedrückt. Die einzigen Angestellten, die sie noch hatten, waren ihr Vater, der Gärtner, der scheinbar ständig den Rasen mähte oder frischen Mulch verteilte, der Chauffeur der de Vincents und Mrs. Kneely, eine ältere Frau, die schon die Wäsche machte, seit Nikki ein kleines Mädchen gewesen war.

Beverly Kneely hatte ihre eigene Wäscherei und kam nur dreimal die Woche ins Herrenhaus, um sich um die Tischwäsche und die Kleidung zu kümmern.

Laut Bev, die sie in dem großen Hauswirtschaftsraum im hinteren Teil des Hauses antraf, wo sie Kleidung, die in die Reinigung musste, zusammenpackte, hatten im Lauf der letzten paar Monate fast alle gekündigt.

»Also, damit ich das richtig verstehe …« Nikki strich sich ein paar Strähnen zurück, die aus dem Knoten, zu dem sie ihr Haar aufgesteckt hatte, entwischt waren. »Das Küchenpersonal ist weg, und die Hausmädchen auch?«

Bevs üppige Brust hob sich. »Seit drei Monaten sind nur doch deine Eltern übrig. Ich glaube, die viele Arbeit hat die arme Livie aufgerieben.«

Zorn stieg in Nikki auf. Hatten die de Vincents denn nicht bemerkt, wie schmal ihre Mutter geworden war, wie erschöpft sie war? Wie schnell sie außer Atem geriet? »Warum haben die de Vincents keine Aushilfen eingestellt?«

»Dein Vater hat es versucht, allerdings wagt sich niemand aus der Gegend auch nur in die Nähe der Villa; nicht nach dem, was passiert ist.«

Sie runzelte die Stirn. »Sie meinen Lawrence? Was er getan hat?«

Bev band die Plastiktüten zu. »Das war schon schlimm genug. Aber das war nicht der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat.«

Nikki hatte keine Ahnung, wovon sie redete. »Tut mir leid. Ich glaube, ich bin nicht auf dem neuesten Stand über all das verrückte Zeug, was geschehen ist. Was war sonst noch?«

Bev sah sich in dem Raum um, zog die Augenbrauen hoch und lief zum Nebenausgang. »Du weißt, dass die Wände hier Ohren haben. Wenn du wissen willst, was hier los war, frag deinen Vater oder einen der Jungs.«

Sie schürzte die Lippen. Auf keinen Fall würde sie die Jungs fragen.

An der Tür blieb Bev stehen. »Ich glaube, Devlin wird nicht glücklich mit dem sein, was du anhast.«

»Was stimmt denn nicht mit meinen Sachen?« Sie trug eine Jeans und ein schwarzes T-Shirt. Auf keinen Fall würde sie sich anziehen wie ihre Mom oder ihr Dad. Sie war gern bereit, ihre Eltern zu unterstützen, aber eine Uniform zu tragen ging zu weit.

Nikki sah an sich hinunter und erblickte das Loch knapp unterhalb des Knies. Laut seufzte sie.

Wahrscheinlich würde Devlin ein Problem mit dem Loch haben, doch Nikki hätte gern gehört, was verdammt noch mal in diesem Haus passiert war, um fast das gesamte Personal zu vertreiben.

Etwas musste vorgefallen sein.

Nicht nur, weil die de Vincents außerordentlich gut zahlten, sondern auch, weil ihr Vater ihr nicht davon erzählt hatte.

Und das hieß, dass es etwas wirklich Übles war.

2. Kapitel

Gegen ein Uhr mittags war Nikki mit dem Wohnzimmer neben dem Büro im ersten Stock fast fertig. Sie staubte gerade die Stühle ab, die das ernsthaft nicht brauchten, als sie ein Prickeln im Nacken spürte. Sie wischte sich eine leichte Schweißschicht von der Stirn, richtete sich auf und drehte sich zur Tür um.

Dort stand Devlin de Vincent.

Seine Anwesenheit erschreckte sie so, dass sie fast ihren Lappen fallen ließ. Sie wich zurück und stieß gegen ein schweres Möbelstück, das direkt aus dem viktorianischen Zeitalter hätte stammen können.

O Mann.

Im Lauf der Jahre hatte sie in den Klatschzeitschriften Fotos von Devlin gesehen, aber während dieser Zeit war sie ihm nicht mehr persönlich begegnet.

Er ähnelte seinem Vater so sehr, dass es ihr kalt über den Rücken lief. Dunkles, kurz gehaltenes Haar. Auf eine eisige und vollkommen distanzierte Weise sah er gut aus. Er trug eine lange Hose und ein Button-down-Hemd, als komme er gerade aus einer wichtigen geschäftlichen Besprechung, obwohl sie September hatten und es immer noch teuflisch heiß war.

Als Kind hatte sie immer etwas Angst vor dem ältesten der de-Vincent-Brüder gehabt, der inzwischen auf die Vierzig zugehen musste.

Aber Nikki war kein Kind mehr.

Er richtete den Blick auf sie und musterte sie so, dass sie sich vorkam wie ein Möbelstück, bei dem er sich fragte, ob er es behalten oder lieber auf dem Dachboden verstauen sollte, wo wichtige, mächtige Persönlichkeiten es nicht zu Gesicht bekämen. »Hallo, Nikki. Es ist eine Weile her.«

Nikki umklammerte den Lappen und zwang sich zu einem unverbindlichen Lächeln. »Hi, Dev.«

Emotionen spiegelten sich in seiner Miene wider, als sie die Abkürzung seines Namens gebrauchte. Ob Verärgerung oder Belustigung, da war sich Nikki nicht sicher. Bei Devlin wusste man nie.

»Danke, dass du einspringst und hilfst, während deine Mutter unabkömmlich ist«, erklärte er mit einer Stimme, die so flach war wie seine Persönlichkeit. »Ich hoffe, sie fühlt sich schon besser.«

»Sie … Sie hält sich tapfer«, antwortete sie.

»Deine Mutter ist eine sehr starke Frau. Wenn jemand diese Krankheit besiegen kann, dann sie.«

Das war wahrscheinlich das Netteste, was sie je aus Devlins Mund gehört hatte.

Wieder ließ er den Blick über sie schweifen. »Ich weiß, dass du lange fort warst, am College und alles, aber ich bin mir sicher, dass du noch weißt, dass unsere Angestellten Uniform tragen und keine zerlumpten Jeans.«

Und schon ruinierte er den guten Eindruck wieder, indem er Captain Schwachkopf de Vincent spielte und klang, als wäre er achtzig statt knapp vierzig.

Nikki richtete sich gerade auf. »Die Jeans ist tatsächlich neu.«

»Du hast sie so gekauft?« Ein höhnischer Ausdruck trat auf sein Gesicht. »Vielleicht solltest du dein Geld zurückverlangen.«

Sie presste die Lippen zusammen und widerstand dem Drang, ihm den Mittelfinger zu zeigen. »Tut mir leid. Man hat mir gesagt, ich bräuchte keine Uniform zu tragen.«

Das stimmte nicht unbedingt, aber egal.

Er neigte den Kopf, eine Bewegung, die ihr früher auch an seinem Vater aufgefallen war. »Verstehe. Dann kannst du vielleicht etwas in deiner Garderobe finden, das nicht aussieht, als würden wir der Hilfskraft weniger als den Mindestlohn bezahlen. Besonders, da du bezahlt wirst. Du tust das nicht umsonst.«

Heftig sog sie den Atem ein. Der Hilfskraft. Das Haus mochte ein wenig anders aussehen, und vielleicht war Lucian ein bekehrter Playboy, aber Devlin war immer noch derselbe. »Ich bin mir sicher, dass ich etwas finde, das deine Billigung findet.«

Da war es wieder. Das kurze Aufflackern einer Emotion, das verschwunden war, bevor Nikki sich einen Reim darauf machen konnte.

Dann stand Devlin bei ihr im Raum, nur einen oder zwei Meter von ihr entfernt. Ihre Augen weiteten sich leicht. Wie in aller Welt konnte er sich so schnell und lautlos bewegen?

War er zum Teil ein Geist?

Wohl eher ein Teufel. Schließlich war das sein Spitzname – den ihm die Klatschpresse verliehen hatte. Devil – der Teufel.

Jetzt stand er direkt vor ihr, und Nikki war nicht allzu groß. Nur knapp eins achtundsechzig, und da fiel es schwer, sich nicht von dem Mann eingeschüchtert zu fühlen, der über ihr aufragte. »Höre ich da einen rebellischen Unterton, Nicolette

Ach, Gott.

Innerlich verfluchte sie sich selbst und Devlin, dann setzte sie das strahlendste Lächeln ihres Lebens auf. »Ich hoffe nicht. Das war mein Ernst. Ich habe wirklich schönere Hosen. Welche, von denen ich mir sicher bin, dass sie dir zusagen.«

Aus seinen de-Vincent-Augen schaute er sie durchdringend an. »Das freut mich zu hören.«

Okay. Er klang nicht erfreut. Ganz und gar nicht.

Er senkte den Kopf, und sie spürte, wie sich an ihrem ganzen Körper die Härchen aufstellten. »Ich würde deinem Vater nicht gern von deiner Einstellung erzählen.«

Das hätte Nikki auch nicht gern.

»Weißt du noch, was beim letzten Mal passiert ist? Dem einzigen Mal?«, fragte er. »Ich schon.«

Und ob sie sich erinnerte. Da war sie siebzehn gewesen und hatte sich an der Hausbar bedient, als ihre Mutter nicht hinsah, und den höllisch teuren Scotch getrunken; und alles, um zu beweisen, dass sie kein kleines Mädchen mehr war. Im Rückblick war ihr klar, dass sie sich wirklich wie ein kleines Kind benommen hatte, aber das war nicht der Punkt. Sie war Devlin blöd gekommen, als er ihr verboten hatte, Gabe überall nachzulaufen wie ein »ausgesetzter, hungriger Welpe«.

Mit Worten konnte er wirklich gut umgehen.

»Ich weiß es noch.« Ihr Lächeln verblasste langsam. »Zu meiner Verteidigung, ich war leicht alkoholisiert und daher nicht vollständig für meine Handlungen verantwortlich.«

Er zog eine dunkle Augenbraue hoch.

Sie straffte die Schultern. »Außerdem bin ich deinem Bruder nicht nachgelaufen, deswegen war ich ein wenig beleidigt.«

»Du hast an meinem Bruder geklebt wie eine minderjährige Seepocke, ohne die leiseste Ahnung, warum ein erwachsener Mann nicht das geringste Interesse an einem Teenager hat.«

Heiliger Scheiß, er hatte es tatsächlich gesagt. Sie hatte nicht gedacht, dass er es so direkt ansprechen würde.

»Ich …« Jepp. Darauf wusste Nikki absolut nichts zu erwidern.

Denn es stimmte. Alles war wahr.

Seit Gabe sie aus dem Pool gerettet und vor Devlin in Schutz genommen hatte, hatte sie praktisch jede freie Minute damit zugebracht, Gabe zu stalken und seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Aus irgendeinem idiotischen Grund war ihr der Altersunterschied nicht so wichtig erschienen, als sie jünger war.

Gott, sie war so dumm gewesen.

Es war vollkommen verrückt von ihr gewesen, nicht zu erkennen, dass der Altersunterschied sehr, sehr wichtig war, so riesig wie er war. Als er sie aus dem Pool gezogen hatte, war Gabe sechsundzwanzig gewesen. Zehn Jahre älter als sie und ein erwachsener Mann, und sie war gerade mal sechzehn gewesen. Igitt.

Doch in ihrem dummen, hormongesteuerten Teenagerhirn hatte sie sich eingebildet, dass Gabe sich Hals über Kopf in sie verlieben würde, sobald sie achtzehn war.

Bei Gott, Gabe hatte keine einzige Andeutung gemacht, dass er auf eine Art an sie dachte, die unpassend und illegal gewesen wäre, doch sie … Nun ja, sie war jung und dumm und zum ersten Mal in ihrem Leben verliebt gewesen.

»Kann ich ehrlich zu dir sein, Nikki?«

Sie blinzelte. »Natürlich.«

»Ich war gar nicht glücklich darüber, dass du deine Mutter vertrittst, während sie krank ist.«

Wow. Was sollte sie darauf sagen? Danke?

»Aufs College zu gehen war das Beste, was du für dich tun konntest, denn wenn du geblieben wärest, hättest du dich in eine Menge Schwierigkeiten gebracht.« Er hielt kurz inne. »Oder meinen Bruder.«

Nun, sie war nicht schnell genug abgehauen, um das zu vermeiden.

Ihr Gesicht begann zu glühen, als stünde es in Flammen.

Devlin senkte den Kopf. »Ich hoffe, du machst nicht da weiter, wo du aufgehört hast.«

Nikki wurde der Mund trocken, und ihr Herz tat einen schweren Schlag. »Ich weiß nicht, wovon du redest.«

»Du weißt, dass das nicht stimmt.« Seine Stimme klang täuschend leise. »Von dem Moment an, in dem du erkannt hast, dass du dir etwas aus Jungs machst, bist du jedes Mal, wenn Gabe hier war, in diesem Haus herumstolziert.«

Ihr Gesicht würde gleich ernstlich abbrennen, denn auch das war die Wahrheit. Sie hatte fast alles getan, um sich Gabes ungeteilte Aufmerksamkeit zu sichern. Manchmal hatte das geklappt, doch für gewöhnlich nicht.

»Und die Schwimmstunden?«, fuhr er zu ihrem großen Entsetzen fort. Eigentlich hatte sie keine Lust, diese Erinnerung zu vertiefen. Bisher hatte sie sich noch nicht einmal überwinden können, den Pool auch nur anzusehen. »Sie waren nicht so schlimm, als du noch den Körper eines unterentwickelten Jungen hattest.«

Oh mein Gott!

»Doch je älter du wurdest, umso knapper wurden deine Badeanzüge.« Sein Gesicht wirkte immer noch absolut emotionslos. »Wir alle haben das gesehen, ob wir wollten oder nicht. Obwohl wir es nicht hätten sehen sollen.«

Mit einem Mal war sie wieder diese Sechzehnjährige, die sich am liebsten im Pool ertränkt hätte. »Ich war noch ein Teenager, Devlin.«

»Und jetzt bist du – was? Zweiundzwanzig?« Er hatte richtig geraten. »Auch nicht viel älter. Du bist immer noch ein Mädchen, aber immerhin eines, das inzwischen volljährig ist.«

Sie verschränkte die Arme vor der Brust, damit sie ihm nicht den Lappen ins Gesicht warf, und holte mehrmals tief Luft, bis sie sich sicher war, dass sie nicht fluchen würde. »Ich bin kein Teenager mehr, der für einen älteren Mann schwärmt. Glaub mir.«

»Vergib mir, wenn ich das nicht tue.«

Mehrere Sekunden lang starrte sie ihn an und wusste nicht, was sie damit anfangen sollte. »Ich habe keinen Schimmer, was ich darauf sagen soll.« Sie hatte wirklich keine Ahnung. »Ich bin nicht wegen Gabe hier, sondern um meine Eltern zu unterstützen. Wenn es so ein großes Problem ist, dass ich hier bin, dann müsst ihr jemand anderen einstellen. Ich bin mir sicher, mein Vater hätte Verständnis dafür.«

Devlin schwieg einen Moment. »Du weißt … wie hier alles läuft. Dir ist klar, was wir erwarten.«

»Ja.« Sie wünschte, ihr Gesicht würde zu brennen aufhören und dass dieses Gespräch schon vorüber wäre.

Der älteste der de Vincents musterte sie aufmerksam. »Das Letzte, was mein Bruder gerade gebrauchen kann, ist eine weitere Komplikation.«

Eine weitere Komplikation? Was? Ihr Magen überschlug sich. »Was soll das heißen? Hat er ein Problem?«

Das war offensichtlich die falsche Reaktion, denn er kniff die Augen zusammen. Doch sie bereute ihre Frage nicht. Sie fühlte sich zwar immer noch wie eine absolute Närrin, wenn sie an Gabe dachte, und sie freute sich nicht gerade auf ein Wiedersehen mit ihm, aber sie mochte ihn immer noch.

Natürlich tat sie das.

Gabe war vollkommen tabu. Das war er immer gewesen und würde es immer sein, aber sie waren einmal … Freunde gewesen. Trotz des Altersunterschieds hatte er sie respektiert. Er war nett zu ihr gewesen, hatte ihr immer Smoothies mitgebracht und sie mit unterschiedlichen Geschmäckern überrascht. Manchmal hatte er sie selbst gemacht. Dann wieder hatte er sie in ihrem Lieblingsladen gekauft, wenn er aus der Stadt nach Hause kam und wusste, dass sie da war. Er war für sie dagewesen, mehr als einmal.

Doch sie hatte das alles ruiniert, daher hatte Devlin wirklich keinen Grund, sich Sorgen zu machen, sie hätte Pläne bezüglich Gabes Person. Er würde sie nicht mit offenen Armen empfangen, und Nikki würde alles tun, was in ihrer Macht stand, um ihm so weit wie menschenmöglich aus dem Weg zu gehen.

»Ich hoffe, wir verstehen uns«, sagte Devlin, ohne ihre Frage zu beantworten.

»Ja.«

Er stand immer noch dicht vor ihr. »Gut zu wissen.«

Langsam nickte Nikki und klammerte sich an die unwahrscheinliche Hoffnung, dass dieses grauenhaft peinliche Gespräch vorüber war und sie sich ein paar Minuten irgendwo verkriechen konnte, um sich für ihre vergangenen Vergehen wiederholt zwischen die Beine zu boxen.

»Dev«, rief jemand vom Gang her. »Wo zur Hölle steckst du?«

Als sie die Stimme hörte, blieb ihr fast das Herz stehen. Nein. Oh mein Gott, bitte nicht.

»Wenn man vom Teufel spricht«, murmelte Devlin halblaut. Er wandte den Blick zur Decke, während Nikki kurz davor stand, zu hyperventilieren und ohnmächtig zu werden. »Gabe. Ich wusste nicht, dass du heute nach Hause kommst.«

»Planänderung.« Die Stimme kam näher.

Hektisch schaute sich Nikki nach einem Versteck um. Würde es komisch aussehen, wenn sie einen Hechtsprung unter das hochbeinige Sofa machte, auf dem nie jemand saß? Ja. Ja, das würde es, aber sie war noch nicht bereit, Gabe zu begegnen.

Nicht nach dieser Unterhaltung.

Doch es war zu spät.

Sie konnte sich nirgendwo verstecken, und Devlin war dabei, sich umzudrehen. Sie konnte die Tür nicht sehen, weil Devlin ihr den Blick versperrte, aber trotzdem kniff sie die Augen zu.

Ich kann das.

Es ist nichts Besonderes.

Ich bin kein Teenager mehr.

Aber ihre Motivationsrede an sich selbst half ihr nicht viel weiter.

»Was tust du hier drinnen?«, fragte Gabe, und bei Gott, seine Stimme klang genauso wie in ihrer Erinnerung. Tief. Weich. Leicht akzentuiert. »Oh, du hast Gesellschaft.« Er stieß ein schockiert wirkendes Lachen aus. »Tut mir leid, wenn ich störe.«

Bei der Vorstellung, Devlin und sie könnten zusammen sein, hätte sie fast gelacht, doch sie unterdrückte es, weil es wahrscheinlich ein wenig übergeschnappt geklungen hätte.

»Ja, ich habe Gesellschaft.« Devlin trat beiseite. Sie konnte ihn nicht sehen, weil sie immer noch die Augen fest geschlossen hielt, aber sie spürte, wie Devlin sich bewegte.

Schweigen.

Und dann …

»Heilige Scheiße.«

3. Kapitel

Nikki öffnete die Augen, und sofort wünschte sie, sie hätte sie geschlossen gehalten, denn jetzt sah sie ihn.

Es hatte ewig gedauert, bis sie überhaupt erlaubt hatte, ein Foto von ihm anzusehen. Vielleicht hätte sie das tun sollen, denn dann hätte sie nicht gleichzeitig Lust gehabt, ihn anzuspringen wie ein tollwütiger Affe und aus dem Zimmer zu rennen.

Sie konnte den Blick nicht von ihm losreißen.

Gott, Gabe war … Er war auf diese ungekünstelte männliche Art schön. Er sah aus wie in ihrer Erinnerung, aber irgendwie war da auch mehr. Wenn überhaupt, kam er ihr größer vor, seine Schultern wirkten breiter und sein Bizeps und seine Unterarme definierter als früher.

Die Zeit hatte es gut mit ihm gemeint. Gabe war jetzt zweiunddreißig, und das einzige Anzeichen dafür waren die feinen Lachfalten in den Winkeln seiner verblüffenden seegrünen Augen. Seine hohen, kantigen Wangenknochen zeigten die klassischen de-Vincent-Züge, genau wie seine vorspringende Nase und dieser volle, volle Mund.

O Mann, er trug sein Haar immer noch lang; das tiefbraune, fast schwarze Haar streifte gerade eben seine Schultern. Ein leichter Bartschatten lag über seinem kräftigen Kinn, als hätte er sich einen oder zwei Tage nicht rasiert. Er war viel legerer gekleidet als sein Bruder und trug eine dunkle Jeans und ein hellblaues Baumwollhemd, das er lässig vorn in die Hose gesteckt hatte. Und er war barfuß.

Bei dem Anblick musste sie lächeln.

Gabe lief immer barfuß.

»Nic?« Er trat um einen Stuhl herum und starrte sie an, als wäre er nicht sicher, dass sie es wirklich war.

Während Gabe größtenteils wie früher aussah, hatte sich Nikki in den letzten vier Jahren verändert. Sie war nicht mehr das achtzehnjährige Mädchen, das tränenüberströmt vor ihm geflüchtet war.

Einen oder zwei Meter vor ihr blieb er stehen und sah sie immer noch an, als wäre sie ein Produkt seiner Fantasie. Er ließ den Blick von dem inzwischen verrutschten Haarknoten auf ihrem Kopf bis zu ihren Sneakern mit dem Lama-Druck schweifen. Er musterte sie ganz anders als sein Bruder vorhin. Sie konnte praktisch spüren, wie sein Blick an ihren jetzt viel runderen Hüften und volleren Brüsten hängen blieb. Eine köstliche, unerwünschte und unerwartete Hitzewelle durchlief sie.

Böse Nikki. Böse. Böse.

Er konnte sie ruhig anstarren, wie sie es sich immer gewünscht hatte, aber es hatte heute nichts mehr zu bedeuten. Er war für sie nur eine dumme Teenager-Schwärmerei. Das war alles.

Deswegen musste sie sich zusammenreißen.

Sie hob die offene Hand und wedelte verlegen mit den Fingern, als ihre Blicke sich wieder trafen. »Hey.«

»Hey?«, wiederholte er, blinzelte langsam und stellte dabei lächerlich lange Wimpern zur Schau.

Nikki schluckte heftig und probierte es noch einmal. »Hi?«

Neben ihr seufzte Devlin laut.

»Ist etwas passiert?« Gabes Blick wanderte zwischen seinem Bruder und ihr hin und her. »Ist etwas mit Livie?«

Langsam wandte Nikki sich Devlin zu. Er hatte Gabe nicht davon erzählt? »Ich springe während Moms Behandlung für sie ein. Wusstest du nicht …?«

So, wie Gabe sie anstarrte, war offensichtlich, dass er keine Ahnung hatte, und Nikki konnte sich nicht erklären, warum Dev ihn über diesen durchaus wichtigen Punkt im Unklaren gelassen hatte.

»Nein.« Gabe klang kurz angebunden. »Niemand hat mir etwas gesagt.«

Das war mehr als peinlich. Sie warf Gabe einen verstohlenen Blick zu und wandte ihn dann rasch ab. Er starrte sie immer noch an.

»Ich glaube, Nikki hat noch viel Arbeit vor sich«, warf Devlin ein.

Sie stürzte sich auf dieses Stichwort wie auf die letzte Schwimmweste der Titanic, setzte ihre Beine in Bewegung und richtete den Blick fest auf die Tür. Doch als sie an Gabe vorbeiging, konnte sie nicht anders. Es war, als hätte sie ihre Augäpfel nicht unter Kontrolle.

Sie warf ihm einen Blick zu und stellte fest, dass er sie immer noch ansah. Sie war sich nicht einmal sicher, ob er bis zu diesem Punkt schon geblinzelt hatte. »Schön, dich zu sehen, Gabe.«

Da.

Sie hatte es gesagt, als ob es ihr ernst wäre, obwohl das nicht ganz stimmte.

Erst zweimal in seinen zweiunddreißig Lebensjahren war Gabe wahrhaft sprachlos gewesen.

Das war eine dieser Gelegenheiten.

Er starrte immer noch vollkommen und restlos schockiert die Tür an, durch die Nic hinausgegangen war. »War sie das wirklich?«

Dev stieß einen Laut aus, der eine Kreuzung zwischen einem Lachen und einem Husten war. »Die kleine Nikki ist nicht mehr so klein, was?«

So klein war sie beim letzten Mal auch nicht mehr gewesen, als Gabe sie gesehen hatte, aber sie hatte nicht so ausgesehen. Verdammt, sie hatte definitiv nicht diese Kurven gehabt.

Was zur Hölle? Hatte er das ernsthaft gerade gedacht?

Abscheu stieg in ihm auf. Er würde nicht – konnte nicht – an ihre Brüste oder ihren Hintern denken. Nicht einmal einräumen, dass sie, danach zu urteilen, wie dieses Shirt über ihrer Brust spannte und wie eng diese Jeans saß, reichlich von beidem hatte …

Verdammt.

Auch egal, dass sie inzwischen über zwanzig war – so gerade eben.

Aber, Mist, Nic war immer schon ein hübsches Mädchen gewesen. Dürr und schrecklich linkisch, aber … jetzt war sie verdammt noch mal wunderschön.

Er hätte fast gelacht.

Dieser dumme Ausdruck vom Spätzünder kam ihm in den Kopf, aber es stimmte. Ihr Gesicht war voller geworden, während sie fort gewesen war, und passte endlich zu diesen großen braunen Augen und dem breiten, ausdrucksvollen Mund.

Sie war immer hübsch gewesen, aber jetzt war sie gefährlich und atemberaubend.

Gabe konnte nicht glauben, dass sie hier war. »Konnten wir niemand anderen einstellen?«

Denn jede andere Person wäre eine bessere Wahl gewesen.

Dev zog eine Augenbraue hoch und verschränkte die Arme. »Wie du weißt, hatten wir in letzter Zeit Probleme, Personal zu halten.«

Wohl wahr.

»Und aufgrund dessen, was hier passiert ist, konnte ich praktisch nicht ablehnen, als Richard die Idee aufgebracht hat, Nikki könnte ihre Mutter vertreten. Sie wollte ohnehin nach Hause kommen. Außerdem steckt sie ihre Nase nicht in unsere Angelegenheiten und kann den Mund halten.«

Gabe biss die Zähne zusammen. Schweigen konnte Nic allerdings. Er hob eine Hand und fuhr sich durchs Haar. Was zur Hölle …? Er hatte aufrichtig keine Ahnung, wie er mit dieser neuesten Entwicklung umgehen sollte. Als hätte er ausgerechnet jetzt noch ein weiteres verdammtes Problem in seinem Leben gebraucht.

Er hatte ehrlich geglaubt, er würde Nic nie wiedersehen, jedenfalls nicht aus der Nähe. Vielleicht aus einiger Entfernung, denn Distanz war sicher.

Mist.

Wie alt war sie jetzt?

Rasch rechnete er nach. Zweiundzwanzig. Demnächst hatte sie Geburtstag, im November. Dann würde sie dreiundzwanzig. Verdammt. Wenn er an sich selbst in diesem Alter dachte, erinnerte er sich an Partys und ans Vögeln. Das schien in einem anderen Leben gewesen zu sein.

Eine vollkommen blöde Frage stieg in ihm auf. Bastelte sie immer noch kleine Armbänder und Halsketten aus Holz? Er hoffte es. Dieses Mädchen war ein Naturtalent.

»Wird das ein Problem sein?«, fragte Dev mit weicher Stimme.

Er runzelte die Stirn und ließ die Hand sinken. »Nein. Warum sollte es?«

»Gute Frage.«

Er sah seinen älteren Bruder aus zusammengekniffenen Augen an. Dev konnte unmöglich Bescheid wissen. Er war an diesem verkorksten Wochenende vor vier Jahren, an dem Gabe den zweitgrößten Fehler seines Lebens gemacht hatte, nicht einmal hier gewesen.

Aber seinem Bruder entging sehr wenig.

»Du hast so eigenartig und stark reagiert, als du sie gesehen hast«, wandte Dev ein.

»Ich war überrumpelt.« Verdammt wahr. »Hatte nicht damit gerechnet, dass sie hier sein würde. Ich dachte, Livie wäre etwas zugestoßen.«

Dev beobachtete ihn einen Moment schweigend. »Ich dachte, du kommst erst am Donnerstag zurück.«

»Das war der Plan.« Gabe seufzte, warf noch einen Blick zur Tür. Verdammt. »Aber ich habe beschlossen, den Besuch abzukürzen.«

»Läuft es nicht gut für uns in Baton Rouge?«

Gabe schüttelte den Kopf. So beschissen es auch war – und Gott, es war wirklich verkorkst –, dachte er gerade nicht einmal an seinen Aufenthalt in Baton Rouge. Nachdem er Nic gesehen hatte, hatte er keinen Gedanken dafür übrig. »Kann ich ihnen nicht einmal übel nehmen. Sie haben mir einen Gefallen getan, indem sie mich überhaupt angerufen haben, aber nach fünf Jahren werden sie mir nicht einfach erlauben, in ihr Leben hineinzuplatzen.«

»Wir können sie zwingen.«

Gabe warf ihm einen scharfen Blick zu. »Zum Teufel, nein. Du mischst dich da nicht ein, Dev. Das ist mein Leben. Das ist mein Scheiß, mit dem ich mich auseinandersetzen muss. Es hat nichts mit der Familie zu tun.«

»Es hat alles mit uns zu tun. William ist …«

»Nein.« Gabe hielt Devs Blick stand und fühlte etwas Kaltes in seiner Brust aufsteigen. »Ich gehe damit um, wie es mir am besten erscheint. Es hat nichts mit dir zu tun.«

An Devs Kiefer zuckte ein Muskel, ein seltenes Anzeichen von Emotionen; und einen Moment glaubte Gabe, er würde das Thema nicht fallen lassen. »Da fällt mir ein«, sagte er, »als ich Baton Rouge verlassen habe, bin ich über Ross Haid gestolpert.«

Nur ein Hauch von Verärgerung spiegelte sich auf Devs Gesicht wider. »Lass mich raten. Er wollte über Vater reden?«

»Und über den Chief. Und warum wir Probleme damit haben, Personal zu finden.«

»Natürlich«, murmelte Dev. »Er wird ziemlich lästig, was heißt, dass wir …«

»Ihn ignorieren müssen«, erwiderte Gabe und hielt dem Blick seines Bruders stand. »Wir müssen ihn ignorieren. Irgendwann sucht er sich ein anderes Thema. Mehr brauchen wir nicht zu tun.«

»Genau das wollte ich sagen.« Ein leichtes Lächeln umspielte Devs Mundwinkel, und Gabe hätte gewettet, dass er log. »Übrigens, Sabrina kommt heute Abend zum Essen.«

Shit.

Konnte dieser Tag noch schlimmer werden?

Aber dann wusste er wenigstens, dass er nicht hier essen würde, denn nicht einmal auf einem anderen Planeten wäre er weit genug von Devs Verlobter entfernt. Moment. Ihm fiel etwas ein. »Wird Nic das Essen servieren?«

»Da wir nicht genug Personal haben, wird sie Mrs. Bessons Pflichten in vollem Umfang übernehmen.«

Und das bedeutete, dass sie das Abendessen servieren würde – Sabrina bedienen musste.

Verdammt.

Nikki stand vor dem großen Backofen, stützte beide Hände auf das Glasfenster und spähte hinein. Ihr knurrte der Magen. Das Schinken-Käse-Sandwich, das sie sich vor dem oberpeinlichen Gespräch mit Devlin gemacht hatte, hatte ihren hyperaktiven Magen nicht beruhigt. Ihr winziges Mittagessen war schon Stunden her.

Das Huhn duftete herrlich, nach Kräutern und Butter und Hausmannskost. Und so weit sie erkennen konnte, wurde die Haut perfekt knusprig.

Gott, es machte sie hungrig.

Außerdem erinnerte es sie an die vielen Nachmittage, an denen sie auf einem der Schemel in der Nähe gesessen und ihrer Mom dabei zugesehen hatte, wie sie für die de Vincents kochte. Zugegeben, die aktuellen Schemel waren neuer, in einem glatten grauen Design und mit dicken Sitzkissen. Doch in dieser Küche, in diesem Haus, fühlte sie sich wieder wie ein kleines Mädchen.

Eigenlob stank, aber Nikki war eine verdammt gute Köchin, und das hatte sie ihrer Momma zu verdanken. Sie kochte wirklich über alle Maßen gern, obwohl sie in ihrem Wohnheimzimmer in Tuscaloosa und auch in dem kleinen Apartment, das sie im letzten Studienjahr bewohnt hatte, nie dazu gekommen war. Wenn sie dann in den Ferien nach Hause kam, hatte sie es geliebt, mit ihrer Mom in der Küche zu stehen und Füllungen, Pasteten und anderes zuzubereiten.

Nur, dass diese Küche vollkommen anders war als die zu Hause. Sie war fast so groß wie das ganze Erdgeschoss ihres Elternhauses.

Sie legte die Nase an das warme Glasfenster. Wer brauchte eine so riesige Küche? Die de Vincents natürlich. Verdammt, das ganze Haus war gigantisch. Drei Stockwerke und zweigeschossige Flügel, die vom Hauptgebäude abzweigten, mehr Zimmer, als Nikki zählen konnte, und mehr Räume, als irgendjemand wirklich benutzen konnte.

Das Anwesen der de Vincents war immer wieder umgebaut und renoviert worden, doch es spiegelte den Stil einer Zeit, an die sich Teile des Südens immer noch verzweifelt klammerten. Jede Ebene war von den Veranden aus, die um das ganze Gebäude liefen, zugänglich, und sie wusste, dass die Brüder alle ihre privaten Wohnräume mit eigenem Eingang hatten, die praktisch Wohnungen darstellten. Diese Zimmerfluchten besaßen Wohnzimmer, Küchen, Schlaf- und Badezimmer. Ihre Privaträume waren wahrscheinlich größer als die Wohnungen der meisten Leute.

Laut ihrem Vater lebten Gabe und Dev im rechten Flügel und Lucian und seine Freundin im linken Flügel des Hauses. Alle anderen Zimmer dazwischen waren unbewohnt, genau wie die Zimmer ihrer Mutter und ihres Vaters. Sie hatten getrennte Schlafzimmer gehabt, und wahrscheinlich hatte keiner der Brüder diese Räume übernehmen wollen.

Glücklicherweise wurden ihre Zimmer nur einmal die Woche geputzt, und das war erst Freitag fällig. Sie freute sich ganz und gar nicht darauf, Gabes Räume zu betreten.

Als sie das letzte Mal dort war, hatte sie die Kette umklammert, die sie für ihn geschnitzt hatte, und …

Nikki errötete und zuckte zusammen.

Sie dachte an das unerwartete Wiedersehen am Nachmittag zurück. Gabe hatte sie angestarrt, als ob … Gott, sie war sich nicht einmal sicher. Aber es war nicht gut. Alles andere als das, und sie konnte nicht …

»Was machst du da?«

Sie quietschte, sprang vom Ofen zurück und fuhr herum. Das Herz schlug ihr bis zum Hals.

Gabe stand in der Tür zur Küche.

»Wieso macht ihr de Vincents das bloß, euch so leise an Leute anzuschleichen?«, verlangte sie zu wissen und legte eine Hand auf ihr galoppierendes Herz. »Mein Gott.«

Seine Lippen zuckten, als hätte er fast gelächelt, es sich dann aber anders überlegt. »So leise war ich gar nicht.«

»Ich habe dich nicht gehört.«

»Vielleicht, weil du ausgesehen hast, als würdest du versuchen, den Kopf in den Backofen zu stecken.«

Sie wurde rot. »Die Tür war geschlossen, das wäre also nicht besonders erfolgreich gewesen.«

»Nein.«

Als Nikkis Blick seinen traf, atmete sie zittrig ein. Schweigen breitete sich aus. Er sagte nichts. Sie auch nicht. Sie standen einfach da und starrten einander an. Er wirkte nicht wirklich feindselig, aber auch nicht gerade herzlich.

Ihre Schultern verspannten sich, als die Stille sich in die Länge zog.

»Das Essen riecht gut«, brach Gabe unvermittelt das Schweigen. »Brathähnchen?«

Sie fuhr ruckartig zusammen. »Ähm, ja.« Sie drehte sich zur Arbeitsplatte um, wo sie vorhin die Kartoffeln geschält hatte. »Mit Kartoffeln. Ich mache auch einen Salat, und es gibt Brötchen … mit Butter.«

Es gibt Brötchen … mit Butter?

Nikki musste sich große Mühe geben, nicht die Augen über sich selbst zu verdrehen.

Er trat vor, vielleicht dreißig Zentimeter oder einen halben Meter, blieb aber stehen, als nähere er sich einem tollwütigen Hund. Eine Sekunde verging. »Dein Haar …« Er neigte den Kopf zur Seite. »Es ist anders.«

»Ja, ist es.« Früher hatte ihr Haar ein ziemlich langweiliges Mittelbraun gehabt, aber dann hatte sie in Tuscaloosa einen tollen Friseur gefunden, der ihr braunes Haar mit einer komischen Technik namens Balayage in diese Mischung aus Blond- und Brauntönen verwandelt hatte. »Eigentlich sind das bloß Strähnchen und so.«

»Und so.« Sein Blick glitt über ihren Haarknoten.

Unbehaglich sahen sie sich in der Küche an. »Und meine Haare sind länger. Viel länger.«

Er zog die Augenbrauen hoch.

Erzählte sie ihm wirklich gerade von ihrer Haarlänge? Das war die steifste Unterhaltung, die sie je in ihrem Leben geführt hatte. Und das war … na ja, traurig. Sie warf ihm einen verstohlenen Blick zu. Früher war das nicht so gewesen. Damals, bevor … Bevor sie alles ruiniert hatte, hätte er sie aufgezogen und nach dem College gefragt. Er hätte mit ihr geredet, als könnte er es tatsächlich aushalten, sich im selben Raum wie sie zu befinden.

Von ihr aus hätte dieses Gespräch vorgestern vorbei sein können. Außerdem musste sie sich etwas ausdenken, um hier zu arbeiten, ohne Gabe über den Weg zu laufen. Das Haus war so groß, es müsste eigentlich möglich sein. »Ich muss wieder …«

»Das Gesicht vor die Ofentür halten?«

Ihre Schultern sackten nach vorn. »Eigentlich muss ich Kartoffeln kochen. Wenn du mich also entschuldigen würdest …« Sie begann, sich abzuwenden und betete, dass er einfach gehen würde.

»Das ist alles? Mehr hast du mir nicht zu sagen? Weil ich dir nämlich eine Menge zu erzählen habe«, erklärte er. »Nicht in einer Million Jahren hätte ich gedacht, dich hier noch einmal zu sehen.«

Nikkis erstarrte, als hätte jemand Zement über sie gegossen. Oh Gott. Ihr Hals zog sich zusammen.

»Wir müssen reden.«

»Nein«, erwiderte sie rasch. »Wir brauchen über gar nichts zu reden.«

»Bullshit.« Seine Stimme war so viel näher gekommen, dass sie sich instinktiv zu ihm umdrehte.

Gabe stand jetzt am Rand der wuchtigen Kücheninsel, nur noch knapp einen Meter von ihr entfernt. Sie trat zurück an die Arbeitsplatte. Ihr Herz hämmerte, und sie sah zur Küchentür.

»Niemand ist in der Nähe«, erklärte er, als lese er ihre Gedanken. Sie sah ihn wieder an. »Dev hat ein Meeting in seinem Büro auf der zweiten Etage, und dein Vater ist mit dem Gärtner unterwegs. Niemand kann uns hören.«

Eine eigenartige Mischung von Empfindungen überfiel sie. Eine war ein eisiger Schauer, der ihr übers Rückgrat lief. Und das andere ein scharfes, heißes Prickeln, das auf ihrer Haut tanzte.

Gabe kam weiter auf sie zu und blieb erst stehen, als er sich dicht vor ihr befand, nur noch ein paar Zentimeter von ihr entfernt. Sie atmete scharf ein und fing den frischen, sauberen Geruch seines Eau de Cologne auf. Es erinnerte sie an Gewitter, an jene Nacht.

Und das war das Letzte, woran sie denken wollte.

Wie sein Bruder war er mehr als einen Kopf größer als sie, sodass sie momentan seine Brust anstarrte. Gott sei Dank trug er ein Shirt.

»Ich … Ich will nicht reden«, stieß sie hervor.

»Aber ich.«

»Gabe …«

»Das bist du mir schuldig.«

Ein Ruck durchlief ihren Körper, und sie presste die Lippen zusammen. Er hatte recht. Sie war ihm ein Gespräch schuldig. »Okay.«

Noch einmal Schweigen.

Und dann fragte er so leise, dass sie beinahe nicht glaubte, ihn richtig verstanden zu haben: »Habe ich dir in jener Nacht wehgetan?«

Autor

Jennifer L Armentrout
<p>Ihre ersten Geschichten verfasste Jennifer L. Armentrout im Mathematikunterricht. Heute ist der bekennende Zombie-Fan eine internationale Bestsellerautorin und schreibt Fantasy- und Liebesromane für Jugendliche und Erwachsene – und denkt nicht mehr an die schlechten Mathenoten von damals.</p>
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