Im Palast der sinnlichen Träume (Julia)
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Ein langer Arbeitstag auf der Entbindungsstation ging zu Ende, und Emma Kennedy sehnte sich nach einem faulen Abend auf dem Sofa, mit einem großen Eis vor dem Fernseher. Vielleicht sollte sie vorher noch was Anständiges essen, aber das Eis musste sein. Es war wieder mal einer jener berühmt-berüchtigten Tage gewesen.
Den ganzen Vormittag war nichts passiert, aber dann, Punkt zwölf, entschlossen sich plötzlich vier Frauen gleichzeitig zu entbinden. Eine davon ein ängstliches junges Mädchen, das besonders viel Zuwendung brauchte. Mit ihren vierundzwanzig Jahren war Emma nicht viel älter als die junge Mutter, aber zwischen ihr und dem gepiercten und tätowierten Teenager lagen Welten.
Bevor sie in ihre Wohnung hochging, nahm Emma die Post aus dem Briefkasten. Nichts Besonderes, nur die Telefonrechnung und ein Werbeprospekt. Sie war müde, aber zufrieden. Es war ein guter Tag gewesen. Was sie am meisten an ihrem Job liebte, war der Anblick der glücklichen jungen Mütter, wenn sie zum ersten Mal ihr Baby im Arm hielten. Immer aufs Neue erlebte sie die Geburt als ein Wunder, und es beglückte sie ungemein, bei diesem Wunder mitwirken zu können. Wenn sie an all die …
Plötzlich stockte sie. Vor ihrer Wohnungstür standen zwei Männer in dunklen Anzügen, die nicht gerade vertrauenerweckend aussahen. Rasch rekapitulierte sie ihre Kenntnisse in Selbstverteidigung. Ihr Blick huschte nach links und rechts, und sie überlegte, welcher Nachbar sie wohl am ehesten hören würde, wenn sie um Hilfe schrie.
Da wandte einer der Männer den Kopf. „Ms Kennedy? Ich bin Alex Dunnard vom Außenministerium, und das ist mein Kollege Jack Sanders. Hätten Sie einen Moment Zeit für uns?“
Während er sprach, zog er seinen Dienstausweis hervor. Der andere tat es ihm gleich. Okay, also Plan B, dachte Emma und trat zögernd näher. Die Ausweise sahen ziemlich offiziell aus, und sie konnte die Gesichter der beiden Männer auf den Fotos erkennen.
Alex Dunnard steckte den Ausweis in seine Jackentasche zurück und fragte mit einem verbindlichen Lächeln: „Dürfen wir mit in die Wohnung kommen, oder ist es Ihnen lieber, wenn wir uns im Café an der Ecke zusammensetzen?“
Nach kurzer Überlegung entschied Emma sich, die Männer hereinzubitten. Lange würde es wohl nicht dauern. Was konnte das Außenministerium schon von ihr wollen? Sie lebte ganz normal und bescheiden in ihrem kleinen Apartment am Stadtrand von Dallas. Bestimmt suchten die Männer jemand anders.
„Bitte, treten Sie ein.“ Sie schloss die Tür auf und machte Licht, denn es war bereits dämmrig. Dann ging sie voraus ins Wohnzimmer und deutete einladend auf das Sofa. „Nehmen Sie Platz.“ Sie selbst setzte sich in den Sessel gegenüber.
„Ms Kennedy, wir sind auf Geheiß des Königs von Bahania hier“, begann Alex Dunnard. Während er weiterredete, dachte Emma noch über das Wort Geheiß nach. Nicht gerade ein gebräuchlicher Ausdruck. „Moment mal“, unterbrach sie ihn. „Sagten Sie, der König von Bahania?“
„Richtig. Er hat uns gebeten, Sie ausfindig zu machen und Ihnen eine Einladung für den Besuch in seinem Palast zu überbringen.“
Emma winkte lachend ab. Klar, was sonst? So etwas passierte ihr doch alle Tage. „Da sind Sie bei mir garantiert an der falschen Adresse. Das muss eine andere Emma Kennedy sein, die persönliche Beziehungen zu Seiner Königlichen Hoheit unterhält. Ich bestimmt nicht.“
Sie blickte sich in ihrer schlichten Behausung um. Eine kleine Finanzspritze wäre allerdings nicht zu verachten. Emma musste ihr Studentendarlehen zurückzahlen, und ihr zehn Jahre altes Auto brauchte dringend neue Reifen. Na, vielleicht käme sie ja beim nächsten Mal reich zur Welt.
Alex zog einen Zettel aus seiner Brusttasche. „Emma Kennedy“, las er vor, dann folgten ihre persönlichen Daten, die Namen ihrer Eltern und ihre Passnummer. Den Pass besaß sie seit ihrem achtzehnten Lebensjahr, als sie noch naiv und unschuldig war und geglaubt hatte … Ja, damals hatte sie so einiges geglaubt.
„Einen Moment.“ Sie stand auf und ging in ihr Schlafzimmer.
Ihr Pass lag in der Nachttischschublade. Sie nahm ihn an sich, kehrte ins Wohnzimmer zurück und bat Alex, die Nummer noch einmal vorzulesen. Sie stimmte.
„Das ist mir irgendwie unheimlich. Ich kenne den König von Bahania nicht. Ich bin nicht mal sicher, ob ich das Land auf der Karte finden würde. Hier muss wirklich ein Missverständnis vorliegen.“
„Der König lädt sie ein, zwei Wochen in seinem Land zu verbringen.“ Alex erhob sich. „Sein Privatjet steht bereit. Bahania ist ein wichtiger Partner unseres Landes, Ms Kennedy. Man bezeichnet Bahania und den Nachbarstaat El Bahar auch als die Schweiz des Nahen Ostens. Diese beiden fortschrittlichen Länder sind wirtschaftlich stabil und bilden einen Ruhepol in der von Krisen geschüttelten Region. Außerdem kommt von dort ein Großteil unseres Öls.“
Emma hatte zwar nur ein einziges Politikseminar am College belegt, aber sie war nicht dumm. Die Sache war klar. Wenn der König von Bahania eine junge texanische Krankenschwester einlud, die Ferien in seinem Land zu verbringen, erwartete die US-Regierung, dass sie die Einladung annahm.
Lief die Sache etwa auf eine Entführung hinaus? Aber das wäre nun wirklich zu albern.
„Sie können mich nicht zwingen“, behauptete Emma, mehr zu ihrer eigenen Beruhigung, denn Alex und sein Freund konnten sie zu allem Möglichen zwingen, das war ihr bewusst.
„Stimmt. Das würden wir auch niemals tun, aber unsere Regierung wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie der Bitte des Königs Folge leisteten.“ Sein Lächeln schien eingefroren. „Sie werden dort absolut sicher sein. Der König ist ein ehrenwerter Mann. In einem Harem landen sie bestimmt nicht“, versuchte er zu scherzen.
„Auf die Idee wäre ich auch nie gekommen“, fauchte sie. Ausgerechnet sie in einem Harem! Die Männer liefen nicht gerade in Scharen hinter ihr her. Einmal hatte sie sich verliebt, und das war ein Desaster gewesen. Rasch verscheuchte sie den unliebsamen Gedanken.
„Es ist eine große Ehre“, erklärte Alex wichtigtuerisch. „Als persönlicher Gast des Königs werden Sie in dem berühmten Rosa Palast wohnen. Der ist wirklich beeindruckend, glauben Sie mir.“
Emma ließ sich wieder in ihren Sessel sinken. „Nicht so schnell bitte, okay? Können wir diese absolut irreale Situation einmal ganz nüchtern betrachten? Ich bin Krankenschwester. Ich verdiene meinen Lebensunterhalt damit, Babys auf die Welt zu helfen. Falls der König nicht zufällig eine schwangere Frau hat, warum, um Himmels willen, sollte er an mir interessiert sein? Mein Leben ist völlig unspektakulär. Sie müssen mich verwechseln.“
Alex ließ sich nicht beirren. „Zwei Wochen, Ms Kennedy. Ist denn das zu viel verlangt? Sie würden unserem Land wirklich einen großen Dienst erweisen.“
Jetzt versuchte der Mann auch noch, ihr ein schlechtes Gewissen einzureden. Diese Taktik konnte sie überhaupt nicht leiden. Darin waren ihre Eltern Weltmeister gewesen.
„Ich werde Sie nach Bahania begleiten“, fügte Alex hinzu. „Sobald Sie sicher untergebracht sind, fliege ich zurück nach Washington.“ Er machte eine kleine Pause. „Betrachten Sie es als Gelegenheit, einen zauberhaften Urlaub zu verbringen. Wenn wir in einer Stunde starten, sind wir morgen Nachmittag schon in Bahania.“
Sie fuhr hoch. „Jetzt sofort soll ich mitkommen?“
„Ja, bitte.“
Emma ließ den Blick von einem zum anderen wandern und wurde den Verdacht nicht los, die beiden würden sie auch gegen ihren Willen mitschleppen, falls sie sich querstellte.
Zweieinhalb Stunden später saß Emma in einer luxuriösen Privatmaschine und betrachtete unter sich die verschwindenden Lichter von Dallas. Ihr großer Koffer war im Frachtraum verstaut, eine kleine Reisetasche stand zu ihren Füßen, und ihr gegenüber saß Alex Dunnard.
Das Ganze war so schnell gegangen, dass Emma es erst einmal verdauen musste. Irgendwie hatte Alex sie dazu gebracht, im Krankenhaus anzurufen und um Urlaub zu bitten. Dann hatte sie ihren Eltern die Nachricht auf Band gesprochen, sie sei mit einer Freundin verreist. Die Notlüge war Alex’ Idee gewesen, damit ihre Eltern sich keine Sorgen machten.
In Windeseile hatte sie gepackt, geduscht und sich umgezogen. Anschließend war sie in eine schon bereitstehende Limousine gestiegen, und jetzt saß sie in einem weichen Veloursledersitz in einem luxuriösen Jet. Falls dies doch ein Kidnapping war, hatte der Auftraggeber auf jeden Fall Stil.
Eine junge Frau in Uniform trat neben sie. „Guten Tag, Ms Kennedy, ich bin Aneesa und freue mich, Sie auf dem Flug nach Bahania begleiten zu dürfen.“ Sie ratterte die Ankunftszeit und die Menü- und Getränkeauswahl herunter und erwähnte einen Zwischenstopp in Spanien.
„Hinten gibt es eine Schlafkabine mit separatem Bad“, ergänzte sie lächelnd.
„Wunderbar“, sagte Emma und versuchte, lässig zu klingen, als ob ihr so etwas jeden Tag passieren würde.
„Soll ich jetzt das Abendessen servieren?“, fragte Aneesa.
„Hm, ja, warum nicht?“
Nachdem die Stewardess wieder im abgeteilten Servicebereich verschwunden war, wandte Emma sich an Alex.
„Wollen Sie mir nicht erzählen, was hier wirklich vor sich geht?“
„Ich habe Ihnen alles gesagt, was mir bekannt ist.“
„Und Sie wissen wirklich nicht mehr?“
„Nein.“
Seufzend blickte Emma auf die immer kleiner werdenden Lichter hinab und fragte sich, ob sie Texas wohl jemals wiedersehen würde. Doch dann beschloss sie, das Beste aus der Situation zu machen, und widmete sich der Liste mit den Unterhaltungsangeboten.
Eine halbe Stunde später wurde das Dinner serviert. Es schmeckte offenbar vorzüglich, so schnell, wie Alex das Essen verschlang. Emma jedoch rührte keinen Bissen an und lehnte auch den Wein ab. Sie betrachtete ihren Reisegefährten. Ein gut angezogener Mann von Mitte bis Ende vierzig, nett aussehend, verheiratet – zumindest trug er einen Ehering. Mehr würde sie wohl nicht herausbekommen, so zugeknöpft, wie er sich gab.
Trotz der komfortablen Schlafkabine machte Emma kaum ein Auge zu. Am anderen Morgen stockte ihr schier der Atem vor Aufregung, als das Flugzeug zur Landung ansetzte und sie unter sich die fantastische Landschaft erblickte. Türkisblaues Wasser brandete an einen blendend weißen Strand, dahinter breitete sich eine weiße Stadt aus, in der üppig grüne Parks kleine Farbkleckse setzten und die allmählich in eine endlose, sandfarbene Wüste überging.
Beim Aussteigen war Emma förmlich geblendet von dem hellen Licht. Ein Mann in Uniform begrüßte sie mit einer Verbeugung. „Willkommen in Bahania, Ms Kennedy“, sagte er. „Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt.“
„Danke“, murmelte sie und fragte sich, ob alle Leute hier so höflich waren. An diese Art von Zuvorkommenheit könnte sie sich glatt gewöhnen.
Alex eskortierte sie zu einer großen Limousine, wo eine Flasche Champagner im Eiskübel und ein Blumenstrauß auf sie warteten.
„Ist der für mich?“ Emma riss erstaunt die Augen auf.
„Für mich wohl kaum“, erwiderte Alex spöttisch.
Emma schnupperte an den Rosen. Als Alex die Flasche aufmachen wollte, schüttelte sie den Kopf. „Ich habe kaum geschlafen, und bei der Zeitverschiebung und dem veränderten Klima wäre Alkohol absolut tödlich.“ Ihr war schon schwindlig genug von all dem Neuen.
Nachdem sie das Flughafengelände verlassen hatten, wies Alex sie auf die Sehenswürdigkeiten der Stadt hin. Sie fuhren durch das Bankenviertel und an dem alten Basar vorbei, dann passierten sie die berühmten Strände von Bahania. Emma hörte höflich zu, bedauerte jedoch zunehmend, hergekommen zu sein. Sicher, es war wunderschön, aber was sollte sie in diesem fremden Land?
Außer dem Mann neben ihr und dem König, den sie nicht kannte, wusste kein Mensch, wo sie sich aufhielt. Nicht gerade eine beruhigende Feststellung. Hoffentlich hatte sie nicht den größten Fehler ihres Lebens begangen. Aber nun war es ohnehin zu spät, Emma blieb also nichts anderes übrig, als das Beste aus der Situation zu machen.
Eine halbe Stunde später rollte die Limousine an uniformierten Wachposten vorbei durch ein offenes Tor. Emma erblickte weitläufige, gepflegte Rasenflächen, und dann kam der berühmte Rosa Palast in Sicht.
„Das darf doch alles nicht wahr sein“, staunte sie mit angehaltenem Atem.
Vor einem riesigen Tor kam die Limousine zum Stehen.
„Wir sind da“, verkündete Alex gut gelaunt.
Emma sah ihn an. „Und was passiert jetzt?“
„Jetzt werden Sie gleich den König kennenlernen“, erwiderte Alex, kurz angebunden wie immer.
Tolle Auskunft, dachte Emma. Falls sie nach der Reise einen Fragebogen ausfüllen musste, würde sie sich über den Mangel an Informationen beschweren.
Alex stieg aus und reichte Emma die Hand. Sie strich ihren Rock glatt und holte tief Luft. Trotz der warmen Nachmittagssonne fröstelte sie.
Vor dem Palast standen ein paar livrierte Männer, offenbar Bedienstete, aber niemand, der wie ein König aussah. Ehe sie Alex darauf ansprechen konnte, nahm sie neben sich eine Bewegung wahr. Sie drehte den Kopf zur Seite und sah einen Mann aus dem Schatten treten. Er war groß, dunkel und gut aussehend und kam ihr irgendwie bekannt vor. Dann fiel die Sonne direkt auf sein Gesicht, und ihr Herz machte einen Satz. Das war doch nicht möglich …
Plötzlich spürte sie, wie ihre Hände und Füße kribbelten, dann drehte sich alles um sie, und ihr wurde schwarz vor Augen.
Prinz Reyhan blickte seinen Vater tadelnd an. „Das war deine Idee.“
Bedienstete eilten herbei, um der ohnmächtigen Emma zu helfen, aber Reyhan stoppte sie mit einer einzigen gebieterischen Handbewegung. Er ging neben Emma in die Hocke, nahm ihr Handgelenk und fühlte ihren Puls.
„Ruft den Arzt“, befahl er. Irgendjemand lief los.
„Sie ist nicht mit dem Kopf aufgeschlagen.“ Eine junge Frau war neben ihn getreten und berührte sanft Emmas Stirn. „Ich habe gesehen, wie sie gefallen ist, Eure Hoheit.“
„Danke. Sind ihre Zimmer fertig?“
Die Frau nickte.
Reyhan hob Emma hoch. Bleich und schlaff hing sie in seinen Armen. Er betrachtete ihre langen Wimpern und ihren vollen, sinnlichen Mund. Das dichte rote Haar umrahmte in lockeren Wellen ihr Gesicht. So weit war sie die Emma, die er kannte. Bestimmt hatte sie auch noch die elf Sommersprossen auf Nase und Wangenknochen. Das wusste er so genau, weil er tatsächlich einmal nachgezählt hatte, wie er sich schmunzelnd erinnerte. Ob sie sich ansonsten sehr verändert hatte? Noch während er sich diese Frage stellte, merkte er, dass er das eigentlich gar nicht wissen wollte.
Er trug Emma ins Innere des Palastes, das sie mit angenehmer Kühle umfing. Der König folgte ihm auf den Fersen. „Wenigstens hat sie dich erkannt.“
„Ja – und war offenbar riesig begeistert.“
„Vielleicht ist sie vor Glück ohnmächtig geworden.“ Doch daran schien König Hassan selbst nicht recht zu glauben, wie seine zweifelnde Miene erkennen ließ.
Reyhan gab keine Antwort. Vor sechs Jahren hatte er Emma zum letzten Mal gesehen, und in all den Jahren hatte sie keinen Versuch unternommen, mit ihm in Kontakt zu treten. Möglicherweise erinnerte sie sich gar nicht mehr an ihn.
Die Gästezimmer befanden sich in der oberen Etage. Reyhan stieß die Tür zu der Suite auf, die er für Emma hatte herrichten lassen. In der Ecke stand abwartend ein Hausmädchen.
„Erkundige dich bitte, wann der Arzt kommt“, wies er das Mädchen an, während er Emma sanft auf das Sofa bettete. Er setzte sich neben sie, nahm ihre eiskalte Hand, hob sie an die Lippen und wärmte sie mit seinem Atem. „Emma“, rief er leise. „Wach auf.“
Sie bewegte leicht den Kopf und stöhnte.
„Der Arzt kommt in einer Viertelstunde, Eure Hoheit“, informierte ihn das Mädchen.
„Danke. Bring mir bitte ein Glas Wasser.“
„Ja, sofort.“
„Jemand anders hätte sie hochtragen können“, meldete sich der König zu Wort.
Reyhans Augen verengten sich. „Niemand außer mir rührt meine Frau an.“
„Das ist sechs Jahre her, Reyhan. Bestehst du wirklich immer noch auf deinem Ehevertrag?“
Emma hatte das Gefühl, gegen eine starke Strömung anzuschwimmen. Aber statt Wasser musste sie Luft durchstoßen, um an die Oberfläche zu kommen. Gedanken formten sich halb und lösten sich wieder auf, ihr ganzer Körper war schwer wie Blei. Irgendetwas war mit ihr geschehen. Aber was?
An ihrem Mund spürte sie eine kühle, glatte Fläche. Gleichzeitig drang eine tiefe, männliche Stimme an ihr Ohr. „Trink das.“ Unwillkürlich öffnete sie die Lippen. Wasser rann in ihren Mund, und sie schluckte es dankbar hinunter. Jetzt fühlte sie sich schon viel besser. Emma öffnete die Augen.
Unglaublich, er war es wirklich! Und sie dachte schon, ihre Fantasie hätte ihr einen Streich gespielt. Emma spürte die Wärme und Kraft, die von ihm ausgingen, während er ihre Hand hielt und seine Hüfte sich sanft gegen ihren Oberschenkel drückte. Der Blick aus seinen dunklen Augen hielt sie gefangen. Genauso war es damals auch immer gewesen.
Reyhan. Hatte sie den Namen laut ausgesprochen oder nur gedacht?
Sie blinzelte, als könnte sie sein Bild damit verscheuchen. Sechs Jahre war es her, seit er sie verführt und dann fallen gelassen hatte. Damals hatte sie sich in ihr Zimmer verkrochen und sich die Augen ausgeweint. Irgendwann hatte sie dann die Hoffnung aufgegeben, ihn jemals wiederzusehen.
„Na, da bist du ja wieder. Früher bist du doch nie ohnmächtig geworden.“
Wie kam er zu einer solchen Bemerkung? Er kannte sie doch überhaupt nicht. Nicht wirklich jedenfalls.
„Sicher war die Reise zu anstrengend für dich. Hast du überhaupt schlafen können?“ Reyhan gab sich ganz als fürsorglicher Gastgeber.
Emma war verblüfft über seinen entspannten Ton. Als wäre nichts passiert. Als wäre es nur ein paar Tage her, seit sie sich zuletzt gesehen hatten.
Langsam stieg die Wut in ihr hoch, aber sie war zu schwach, ihre lang aufgestauten Gefühle auf ihn zu entladen. Empört funkelte sie ihn an.
Reyhan berührte leicht ihre Wange. „Du hast nicht gut geschlafen, das sehe ich an den Ringen unter deinen Augen. Aber das überrascht mich nicht. Du kanntest den wahren Grund deiner Reise nicht, da warst du sicher nervös.“
Obwohl Emma sich maßlos über ihn ärgerte, zeigte ihr Körper eine ganz andere Reaktion. Während er mit dem Daumen sachte über ihre Unterlippe strich, durchströmte sie eine heiße Welle der Lust.
Aber nein, sie würde jegliches Gefühl ignorieren. Das Einzige, was sie sich zu empfinden erlaubte, war Verachtung. Sie würde ihm die kalte Schulter zeigen.
Er lächelte verhalten. „Ich weiß, du würdest mir am liebsten die Augen auskratzen.“ Mit blitzenden Augen betrachtete er ihre Hand. „Aber du hast ja gar keine Krallen.“
Unversehens küsste er ihre Finger. Wieder spürte sie die warme Berührung seines Mundes bis in die Zehenspitzen. Sie schmolz vor Wonne förmlich dahin und hätte am liebsten wohlig aufgeseufzt.
„Hör sofort damit auf.“ Abrupt entriss Emma ihm ihre Hand und verschränkte die Arme. Jetzt galt es, die Fassung wiederzuerlangen. Die letzten vierundzwanzig Stunden waren ein einziges Rätselraten gewesen, und sie fühlte sich völlig erschöpft.
Energisch setzte sie sich auf und rutschte ein Stück von Reyhan ab. „Ich will jetzt endlich wissen, was los ist. Was soll ich hier? Und vor allem, was machst du hier?“
Bevor er antworten konnte, sprang plötzlich eine cremefarbene Angorakatze auf Emmas Schoß. Verdutzt starrte sie das Tier an. Katzen im Palast?
Reyhan griff nach dem Tier und beförderte es auf den Boden. Die Katze funkelte ihn indigniert an und stolzierte davon.
„Hast du eine Katzenallergie?“, erkundigte er sich.
„Nein, wieso?“
„Das ist gut, denn der Palast ist voll von diesen Viechern. Sie gehören meinem Vater.“
Seinem Vater? Emma rieb sich die Schläfen und überlegte, ob sie Lust hatte, ihn nach seinem Vater zu fragen. Irgendwie fürchtete sie sich vor der Antwort. Denn so verrückt es ihr auch vorkam, sie ahnte, dass Reyhan irgendwie mit dem König von Bahania verwandt war.
Während sie von dem Wasser trank, dass er ihr gereicht hatte, musterte sie ihn unauffällig. An seine dunklen, geheimnisvollen Augen konnte sie sich am besten erinnern. Damals hatte sie gedacht, wenn sie in seinen Augen lesen könnte, würde sie wissen, was er für ein Mensch ist. Aber die wenigen Wochen, die sie zusammen gewesen waren, hatten nicht genügt, ihn wirklich kennenzulernen.
Wieder drohte die Traurigkeit sie zu überwältigen. Um sie zu vertreiben, rief sie sich in Erinnerung, was Reyhan ihr angetan hatte. Lieber wollte sie wütend sein. Wut machte sie stark, und Stärke konnte sie jetzt gut gebrauchen.
„Keine Ahnung, welches Spiel du spielst, aber ich werde nicht mitspielen. Ich will sofort nach Hause. Bitte ruf Alex an. Er soll mich zum Flughafen zurückbringen.“
„Dein Begleiter vom Außenministerium hat den Palast bereits verlassen. Er verbringt die Nacht in einem Strandhotel und reist morgen früh ab.“
Ihre Wut verwandelte sich in Panik. Alex reiste ab? Dann war sie also ganz allein hier im Palast. Allein in diesem Land … mit Reyhan?
Emma überlegte, ob sie fliehen oder sich mit List und Tücke aus der Affäre ziehen sollte. Noch immer war ihr schwindlig, Flucht kam also nicht infrage. Blieb das Durchmogeln, worin sie nie sonderlich gut gewesen war.
„Was soll ich hier?“, wiederholte sie. „Warum hat der König mich eingeladen?“
Reyhan blickte sie gedankenvoll an. Sein schönes Gesicht war wie in Stein gemeißelt. „Errätst du es nicht?“, fragte er leicht amüsiert. „Der König ist mein Vater, und es ist auch meine Einladung.“
Er stand auf und eröffnete beinahe feierlich: „Ich bin Prinz Reyhan, drittältester Sohn von König Hassan von Bahania.“
Sie blinzelte ihn verständnislos an. Das glaubte sie einfach nicht.
„Ein P…Prinz?“, stammelte sie. Nein, niemals. Sie hatten sich doch im College kennengelernt. Sie waren zusammen ausgegangen. Dann hatte er sie verführt und sie schrecklich verletzt. So benahm sich kein Prinz.
„Der König findet, dass es Zeit für mich ist, zu heiraten. Aber das kann ich nicht, denn ich bin schon verheiratet. Mit dir.“
Jetzt begriff sie überhaupt nichts mehr. „Aber ich …“ Sie schluckte. „Das war doch alles nur ein Spiel.“
Sie erinnerte sich an die Stille auf der Karibikinsel, die sanfte Brise, das Meeresrauschen vor ihrem Hotelzimmer. Reyhan hatte vorgeschlagen, zusammen wegzufahren, und sie war einverstanden gewesen, denn sie konnte ihm einfach nichts abschlagen. Mit ihren achtzehn Jahren war sie sehr viel unschuldiger, als er vermutlich annahm. Sie hatte sich geschämt, ihm zu sagen, dass sie noch nie mit einem Mann zusammen gewesen war.
Und was die unüberlegte Heirat anbelangte – der Anwalt ihrer Eltern hatte behauptet, die Ehe sei ungültig.
Reyhans dunkle Augenbrauen zogen sich zusammen. „Was war ein Spiel?“
„Na, unsere sogenannte Hochzeit“, gab sie zurück. „Das hast du doch nur gemacht, damit ich mit dir ins Bett gehe.“
Kaum waren die Worte heraus, begriff sie, dass sie besser geschwiegen hätte. Reyhan straffte die Schultern. „Ich bin der Erbe des Königs von Bahania.“ Aus seiner Stimme klangen Stolz und die Sicherheit, Generationen von Königen hinter sich zu wissen. „Ich wollte dir meinen Namen und meinen Schutz anbieten. Was das andere anbelangt, das war kaum der Rede wert.“
Emma rutschte tiefer in die Kissen. Zu ihrer Beklommenheit gesellte sich Demütigung. Sosehr sie auch all die Jahre versucht hatte, die gemeinsamen Nächte zu vergessen, verfolgte sie doch die Erinnerung. Nicht, dass es ihre Schuld gewesen wäre. Schließlich war sie noch Jungfrau gewesen. Er hätte es besser wissen müssen.
„Bist du sicher, dass die Ehe gültig ist?“, fragte sie. „Der Anwalt meiner Eltern sagt Nein.“
„Dann irrt er. Du bist meine Frau. Und jetzt, in meinem Land und in meinem Haus, wirst du mir bitte den nötigen Respekt erweisen. Habe ich mich klar ausgedrückt?“
Vielleicht sollte sie doch lieber die Flucht ergreifen. „Reyhan, ich …“
Ehe sie ihren Satz zu Ende bringen konnte, kam eine sehr hübsche, zierliche junge Frau herein. „Was musste ich da hören? Emma ist da und bei deinem Anblick in Ohnmacht gefallen. Stimmt das?“
Reyhan wandte sich um und funkelte sie missbilligend an.
Die junge Frau verdrehte belustigt die Augen. „Ja, ja, ich weiß. Du bist beleidigt. Aber vergiss nicht, ich habe deinem älteren Bruder eine Tochter geschenkt. Du musst also nett zu mir sein.“
„Ich frage mich, was Sadik an dir findet.“
Mit einem schelmischen Augenzwinkern erwiderte sie: „Ich habe ihn verhext.“
Emma dachte schon, zu allem Überfluss noch Zeugin eines handfesten Familienkrachs zu werden. Umso irritierter war sie, als Reyhan die junge Frau plötzlich strahlend anlächelte und ihr einen Kuss auf die Stirn drückte.
„Kümmerst du dich darum?“, bat er hoffnungsvoll.
„Meinst du Emma oder die Situation? Also, wenn du mich fragst, ich finde, du bist es, um den man sich kümmern muss.“ Bevor er widersprechen konnte, hob sie die Hand. „Ich tue mein Bestes. Und jetzt lässt du uns am besten allein. Ich werde Emmas Fragen beantworten und ihr helfen, sich hier einzuleben. Du kannst inzwischen deinen Charme etwas aufpolieren.“
Reyhan hob in gespielter Entrüstung die Brauen. „Aber ich bin doch sehr charmant.“
„Oh ja, aber dieses ‚Ich-bin-Prinz-Reyhan-von-Bahania‘-Getue geht einem allmählich auf die Nerven. Glaub mir, damit kommt Sadik bei mir überhaupt nicht an.“