Im Palazzo der heimlichen Träume (Julia 2430)
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Prinz Vittorio D’Marburg von Andachstein hatte alles so leid. Auch wenn er gerade auf dem Weg zu der exklusivsten Karnevalsfeier Venedigs war – er kam einfach nicht gegen die Frustration an, die sich tief in ihn eingegraben hatte.
Lag es vielleicht nur an dem eisigen Nebel, der sich an diesem Februartag über die Stadt gelegt hatte, dass seine Stimmung so gedrückt war? Die magische Stadt verschwand im dichten Dunst, und das ausgerechnet jetzt, wo sich Schwärme von farbenfroh kostümierten Männern und Frauen in den Straßen und auf den schmalen Brücken drängten. Doch der Nebel schien der guten Laune und der Lebensfreude, die der Karneval mit sich brachte, keinen Abbruch zu tun.
Es war, als wäre die ganze schwimmende Stadt entfesselt und zum Feiern entschlossen, Nebel hin oder her. Vittorio bahnte sich mit wehendem Mantel den Weg durch den nicht enden wollenden Strom feierfreudiger Menschen. Doch seine Laune verschlechterte sich mit jedem Schritt.
Aus irgendeinem Grund teilte sich die Menge vor ihm, doch er machte sich nicht weiter Gedanken darüber. Vielleicht lag es an seinem goldbesetzten Kriegerkostüm aus blauem Leder oder an seiner kampfeslustigen Ausstrahlung. Warum auch immer, es war, als würden sie den brodelnden Ärger in seinem Blick bemerken.
Seine Augen verrieten ihn immer. Vittorio hatte schon als Kind damit aufgehört, sich hinter Masken verstecken zu wollen. Es hatten ohnehin stets alle gewusst, dass er es war, der sich dahinter verbarg.
Vor dem alten Brunnen auf dem Platz, auf dem sich der Palazzo de Marigaldi befand, verlangsamte Vittorio seine Schritte. Normalerweise hätte er erleichtert sein müssen, der tobenden Menge zu entkommen, doch sein Vater hatte bei seinem Anruf vor wenigen Augenblicken allzu erfreut verkündet, dass zufälligerweise Contessa Sirena Della Corte, die Tochter eines seiner ältesten Freunde, bei dem Fest zugegen sein würde. Vittorio schüttelte den Kopf.
Zufälligerweise.
Sie sah das bestimmt so. Die Frau war eine in Designerkleider gehüllte Schlange, die es auf einen Adelstitel abgesehen hatte. Und trotz Vittorios Protest hatte sein Vater sie auch noch ermutigt, ihre aussichtslosen Bemühungen fortzusetzen.
Kein Wunder, dass er seit dem Anruf seines Vaters keine Lust mehr auf die Party hatte, obwohl er seinem alten Freund Marcello versichert hatte, dass ihn nichts davon abhalten könne, heute Abend dabei zu sein.
Dio.
Er war in dem Glauben nach Venedig gekommen, dass der traditionelle Karneval eine willkommene Abwechslung zu der lähmenden Stimmung im Palast sein würde. Doch die Erwartungen des alternden Fürsten Guglielmo schienen ihm hierher gefolgt zu sein – genau wie Contessa Sirena.
Seine nächste Braut, wenn es nach seinem Vater ginge.
Doch nach seiner ersten gescheiterten Ehe hatte Vittorio nicht vor, sich noch einmal vorschreiben zu lassen, mit wem er das Ehebett teilte.
Immer mehr Menschen drängten sich in den Straßen, und deren Feierlaune passte so gar nicht zu seinen düsteren Gedanken. Ihm lag die Welt zu Füßen, doch gleichzeitig verfolgte ihn sein Schicksal. Er war ein Mann, der es gewohnt war, seine eigenen Entscheidungen zu treffen, aber er war dazu verdammt, sein Erbe antreten und den Anforderungen anderer nachkommen zu müssen.
Zu gern wäre er davongelaufen – fort von seinem Schicksal und von der Party. Vittorio hatte keine Lust darauf, sich mit Sirena auseinanderzusetzen, er hatte keine Lust auf ihre plumpen Annäherungsversuche und ihr aufgesetztes Schmollen darüber, dass er ihre allzu offensichtlichen Reize ignorierte.
Doch es kam nicht infrage, wegzubleiben. Marcello war sein ältester Freund und Vittorio hatte ihm versprochen, dass er da sein würde.
Auf einmal fiel Vittorio etwas ins Auge. Es leuchtete zinnoberrot aus der vorbeiziehenden Menge hervor. Er sah ein Knie, ein stolz gerecktes Kinn – die Erscheinung wirkte wie ein klar konturiertes Porträt, dessen Hintergrund in verschwommenen Aquarellfarben gehalten war.
Konzentriert kniff er die Augen zusammen und bahnte sich den Weg durch die Menge. Als er näher kam, sah er lockiges Haar über eine Schulter wallen, als die fremde Frau ihren Kopf drehte und zur Brücke sah. Suchend musterte sie jeden Vorbeigehenden durch den kurzen schwarzen Schleier, der die obere Hälfte ihres Gesichtes bedeckte.
Sie wirkte verloren. Allein. Wahrscheinlich war sie eine Touristin, die sich in dem Gewirr von Straßen und Kanälen nicht auskannte.
Energisch wandte Vittorio sich ab. Das war nicht sein Problem. Schließlich wurde er erwartet. Und doch ertappte er sich dabei, wie er ebenfalls den Platz mit dem Blick absuchte. Niemand sah aus, als würde er eine Person vermissen und nach ihr Ausschau halten. Niemand sah aus, als gehörte er zu dieser fremden Frau.
Wieder blickte er in ihre Richtung und versuchte, sie erneut zwischen den reich verzierten Masken und kunstvollen Perücken und Federn auszumachen. Zunächst konnte er sie nicht finden und glaubte, sie sei verschwunden, doch schließlich entdeckte er sie hinter einer Gruppe von Harlekinen, an deren Narrenkappen Glöckchen läuteten. Sie hob eine Hand an den verführerisch roten Mund, bevor sie resigniert die Schultern hängen ließ.
Dann entfernte sie den Schleier und strich scheinbar enttäuscht ihr Haar zurück. Dabei rutschte ihr Cape herunter, unter dem ein Korsagenkleid aus Satin und ihre bloße Schulter zum Vorschein kamen. Fröstelnd legte sie sich den Umhang wieder um.
Ganz offensichtlich hatte sie sich verirrt. Und war allein. Ihre unschuldige Schönheit und ihre Verwundbarkeit rührten ihn auf eine seltsame Weise.
Und plötzlich war seine Langeweile wie weggeblasen.
Sie hatte sich in Venedig verirrt. Rosa Ciavarro schlug das Herz bis zum Hals, als sie sich aus dem Strom der Kostümierten herauskämpfte und an einer freien Stelle am Rand des Kanals vor der Brücke stehen blieb, um Atem zu schöpfen und sich umzusehen.
Sie suchte nach einem Anhaltspunkt, der ihr verriet, wo sie war, doch als sie schließlich den Namen des Platzes entdeckte, half dieser ihr auch nicht weiter. Und die Vorbeikommenden danach zu mustern, ob ein bekanntes Gesicht dabei war, erwies sich als müßig. Es war unmöglich zu erkennen, wer sich hinter den Masken all der Harlekins und Kolumbinen, Teufel und anderen düsteren Gestalten verbarg.
Die düsteren Gestalten waren ganz passend. Immerhin hatte sich der Abend, auf den Rosa sich so sehr gefreut hatte, binnen Minuten in einen Albtraum verwandelt.
Als sie zum nebelverhangenen Himmel hinaufsah, wich ihre Panik einer tiefen Resignation. Sie schlang die Arme um sich, seufzte tief und gestand sich ein, dass es sinnlos war, weiterzusuchen. Es wurde Zeit, dass sie der Wahrheit ins Gesicht sah.
In dem verzweifelten Versuch, ihre Freundinnen wiederzufinden, hatte sie zu viele Brücken überquert und war zu oft abgebogen, und es bestand keine realistische Hoffnung mehr, dass sie jetzt noch aufeinandertreffen würden.
Es war der letzte Abend des Karnevals, und es wäre die einzige Möglichkeit gewesen, an einer der großen Feiern teilzunehmen, doch nun hatte sie sich verirrt und stand allein irgendwo in Venedig am Rande einer Brücke im dicken Nebel.
Rosa zog das dünne Cape enger um sich. Wie kalt es war! Unruhig trat sie von einem Fuß auf den anderen, um ihre Beine aufzuwärmen, und wünschte, sie hätte etwas Wärmeres angezogen als dieses dünne Korsagenkleid. Etwas, was besser zur Jahreszeit passte. Am besten etwas Gefüttertes. Und Thermounterwäsche darunter.
„Du wirst die ganze Nacht lang tanzen“, hatte Chiara entgegnet, als Rosa in Erwägung gezogen hatte, sich dem winterlichen Wetter entsprechend zu kleiden. „Glaub mir, du wirst eingehen vor Hitze, wenn du etwas Wärmeres anziehst.“
Doch nun kroch ihr die feuchte Kälte die Beine empor. Ihr war so furchtbar kalt! Zum ersten Mal seit Jahren spürte sie, dass ihr die Tränen kamen.
Rosa schniefte. Eigentlich war sie nicht weinerlich. Schließlich war sie mit drei großen Brüdern aufgewachsen, die sich gnadenlos über sie lustig gemacht hätten, wenn sie geweint hätte. Als Kind hatte sie stoisch all die blauen Flecken und Kratzer, die aufgeschlagenen Knie und Ellbogen ertragen, die sie sich bei den gemeinsamen Abenteuern geholt hatte.
Sie hatte auch nicht geweint, als ihre Brüder ihr das Fahrradfahren auf einem viel zu großen Rad hatten beibringen wollen, mit dem sie eine Schotterstraße hinuntergesaust und gegen einen alten Feigenbaum gerast war. Kurz darauf hatten diese ihr geholfen, auf ebenjenen Baum zu klettern, nur um sich dann aus dem Staub zu machen, sodass sie allein hatte zusehen müssen, wie sie wieder herunterkam. Das letzte Stück war sie gestürzt, aber auch diese Blessuren hatte sie ohne Klagen ertragen.
Aber sie hatte sich nie zuvor an dem für sie wichtigsten Abend des Jahres allein in den labyrinthartigen Straßen Venedigs verirrt – ohne ihre Eintrittskarte und ohne jegliche Möglichkeit, ihre Freundinnen zu kontaktieren. In diesem Fall hätten ihre Brüder sicher Verständnis für ihre Tränen.
Vor allem, wenn sie gewusst hätten, wie viel das Ticket gekostet hatte.
Rosa schloss die Augen, als ihre Resignation bitterer Reue wich. Sie hatte sich so sehr auf heute Abend gefreut. Auf den kostbaren freien Abend mitten in der Karnevalszeit. Darauf, einmal nicht nur irgendeine Hotelangestellte zu sein, die den Touristen hinterherräumte. Sich endlich einmal selbst zu vergnügen, anstatt den anderen beim Feiern zuzusehen.
All das viele Geld!
Was für eine Verschwendung!
Und sie allein war schuld an dem, was ihr passiert war.
Als Chiara ihr angeboten hatte, ihr Telefon und ihr Ticket in ihrer Tasche aufzubewahren, hatte Rosa das für eine gute Idee gehalten. Immerhin wollten sie alle auf dieselbe Party. Und es war tatsächlich kein Problem gewesen – bis ihnen auf einer schmalen Brücke ein Schwarm Engel mit ausladenden weißen Flügeln entgegengekommen war und sie zurückgedrängt hatte, wodurch sie von ihren Freundinnen getrennt worden war.
Und als sie es endlich geschafft hatte, sich zwischen den geflügelten Gestalten durchzukämpfen und wieder auf die Brücke zu kommen, waren Chiara und die anderen schon im Nebel und den Menschenmassen verschwunden. Rosa war über die Brücke geeilt und hatte versucht, ihre Freundinnen einzuholen. Sie war mit Leuten zusammengestoßen, die Kopfbedeckungen aus Muschelschalen oder Narrenkappen mit Glocken getragen hatten, oder Ballkleider, deren Röcke die gesamte Breite der Gasse einnahmen. Mittlerweile war sie schon so lange herumgeirrt, dass sie keine Ahnung mehr hatte, wo sie war – zumal sie erst seit Kurzem in Venedig lebte. Und es war unwahrscheinlich, dass Chiara sie jetzt noch wiederfand.
Rosa konnte genauso gut nach Hause in die winzige Kellerwohnung gehen, in der sie mit Chiara wohnte – wenn sie die überhaupt wiederfand. Aber irgendwann würde sie schon dort ankommen. Seufzend nahm sie ihre Maske ab. Sie konnte nichts gebrauchen, was ihre Sicht einschränkte und es ihr noch schwerer machte, sich zurechtzufinden. Und die Maske war ohnehin überflüssig geworden, jetzt, wo sie auf keine Party mehr gehen würde.
Als sie sich das Haar zurückstrich, verrutschte ihr Umhang und entblößte ihre Schulter. Fröstelnd zog sie das dürftige Cape wieder um sich, um so viel Wärme wie möglich zu erhalten.
Gerade als sie beschlossen hatte, sich auf den Heimweg zu machen, fiel ihr ein Mann auf, der an dem Brunnen mitten auf dem Platz stand. Ein großer, breitschultriger Mann in einem blauen Kostüm. Und dieser Mann sah unverwandt in ihre Richtung.
Sein Blick jagte ihr einen Schauer über den Rücken.
Rosa sah sich irritiert um – denn warum hätte sein Blick ihr gelten sollen? Doch hinter ihr war außer dem Kanal und einer alten Steinmauer nichts zu sehen. Nervös wandte sie sich wieder um und hob den Blick gerade so weit, dass sie sehen konnte, dass er direkt auf sie zukam und dass die Umstehenden vor ihm zur Seite wichen.
Sollte sie die Flucht ergreifen oder es mit ihm aufnehmen? Doch sie hatte wohl keine Wahl. Er näherte sich ihr mit großen Schritten und ihre Füße gehorchten ihr nicht mehr. Wer immer er war und was immer er vorhatte – sie hatte schon zu lange reglos auf der Stelle verharrt, um ihm jetzt noch zu entkommen.
Dann stand er vor ihr, ein Hüne in einem blauen goldbesetzten Lederkostüm, das kantige Gesicht von schulterlangem Haar umrahmt. Mit seiner hohen Stirn, der markanten Nase und den leuchtend blauen Augen sah er sehr Respekt einflößend aus. Nein, das war nicht einfach nur ein Krieger im Kostüm. Das war ein Herrscher. Oder ein Gott. Ihr Mund wurde trocken, als sie ihn ansah, aber vielleicht lag das nur an der Wärme, die von ihm auszugehen schien.
„Can I help you?“, fragte er mit einer tiefen Stimme, die zu seiner Größe passte. Sein Englisch hatte einen Akzent, der darauf hindeutete, dass es nicht seine Muttersprache war. Ihr Herz klopfte wie verrückt, und sie brachte keinen Ton hervor – egal in welcher Sprache.
Jetzt legte er den Kopf ein wenig schief und kniff die Augen zusammen. „Vous-êtes perdu?“, versuchte er es noch einmal auf Französisch.
Ihr Französisch war noch dürftiger als ihr Englisch, weshalb sie gar nicht erst versuchte, auf einer der beiden Sprachen zu antworten. „Non parlo francese“, erwiderte sie und hatte das Gefühl, atemlos zu klingen – aber wie sollte sie auch anders klingen, wo sie unverhofft vor einem derart atemberaubenden Mann stand?
„Sie sind Italienerin?“, fragte er auf ihrer Sprache zurück.
„Sì“, antwortete sie, bemüht, selbstbewusst zu wirken. „Warum haben Sie mich beobachtet?“
„Reine Neugierde.“
Rosa schluckte. Sie kannte diese Frauen, die allein am Straßenrand standen und warteten, und konnte sich schon vorstellen, warum er auf eine Frau, die allein auf einem Platz stand, neugierig war.
Sie sah an ihrem kurzen Kleid und ihren Beinen in den zarten Nylons herunter. Bestimmt sah sie aus wie eine Bordsteinschwalbe, aber … „Das ist eine Verkleidung. Ich bin keine … Sie wissen schon.“
Einer seiner Mundwinkel verzog sich – es war nur eine winzige Bewegung, und doch veränderte sie seinen Gesichtsausdruck auf wunderbare Weise. „Es ist Karneval. Da ist niemand, der er zu sein scheint.“
„Und wer sind Sie?“
„Mein Name ist Vittorio. Und Sie sind …?“
„Rosa.“
„Rosa“, wiederholte er mit leicht schief gelegtem Kopf.
Es klang so sinnlich, wie er mit seiner samtenen Stimme ihren Namen aussprach, dass ihr fast ein wenig schwindelig wurde. Doch sicher lag das nur am Plätschern des Wassers an die Kanalwand und an dem über ihre Haut streichenden kühlen Nebel.
„Es ist mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen“, sagte er und streckte ihr eine Hand entgegen.
Zögernd musterte Rosa die große Hand.
„Ich beiße nicht“, versicherte er.
Sie blickte auf und sah, dass seine Mundwinkel noch ein Stück weiter nach oben gewandert waren und seine blauen Augen einen warmen Glanz bekommen hatten. Doch es störte sie nicht, dass er über sie zu lachen schien. Denn es veränderte sein Gesicht auf wundersame Weise und gab etwas über den Mann preis, der sich hinter der kriegerischen Maske verbarg. Also war er doch ein Normalsterblicher … und nicht etwa irgendein Gott, der aus dem Nebel emporgestiegen war.
Zögernd nahm sie seine Hand und spürte, wie seine Wärme auf ihre Hand überging, als seine Finger sich um ihre schlossen. Es war eine angenehme Wärme, die sich plötzlich in ihrem ganzen Körper ausbreitete und ein wohliges Gefühl tief in ihr auslöste. Ein Gefühl, das sie nicht kannte und das sie auf irritierende Weise beunruhigte.
„Ich muss weiter“, erklärte sie und entzog ihm ihre Hand. Es fühlte sich an wie ein schmerzhafter Verlust, seine Wärme nicht mehr zu spüren.
„Wo müssen Sie hin?“
Sie sah über ihre Schulter hinweg zur Brücke. Das Gedränge hatte sich gelichtet, die meisten Leute waren anscheinend bei ihrem Ziel angekommen, und es waren nur noch ein paar Nachzügler unterwegs. Wenn sie jetzt weiterging, würde ihr vielleicht immerhin warm werden. „Ich muss zu einer Party.“
„Wissen Sie denn, wo diese Party ist?“
„Ich werde sie schon finden“, antwortete Rosa und versuchte, zuversichtlich zu klingen, obwohl sie nicht die leiseste Idee hatte, wo die Feier stattfand. Und selbst wenn sie den Ort durch wundersame Fügung finden sollte – sie hatte kein Ticket mehr, um hineinzukommen.
„Sie haben keine Ahnung, wo die Party ist und wie man hinkommt.“
Rosa wollte widersprechen, doch es war ihm anzusehen, dass er genau wusste, dass sie log. Also zog sie ihren Umhang fester um sich und sah ihn herausfordernd an. „Und wennschon?“
„Es ist kein Verbrechen, sich zu verlaufen. Manche würden sogar sagen, dass es dazugehört, sich in Venedig zu verlaufen.“
Rosa sagte nichts. Wenn man ein Handy dabei und nicht sein letztes Geld für das Ticket ausgegeben hätte, wäre es vielleicht nicht weiter schlimm, sich in Venedig zu verlaufen. Sie hingegen zitterte vor Kälte.
„Sie frieren“, stellte er fest, und bevor sie irgendetwas erwidern konnte, hatte er ihr seinen Umhang um die Schultern gelegt.
Erst wollte sie protestieren. Denn auch wenn sie neu in der Stadt war – sie war nicht so naiv zu glauben, dass dieser Mann keine Gegenleistung für seine Hilfe erwartete. Doch sein schwerer Umhang war so wundervoll warm. Und von dem geschmeidigen Leder ging ein männlicher Duft aus – sein Duft. Sie sog die herbe, würzige Mischung tief ein. Es fühlte sich gut an, so eingekuschelt zu sein.
„Grazie“, sagte sie und spürte, wie die Wärme allmählich in ihre eiskalten Beine zurückkehrte. Eine Minute lang würde sie diese Wärme genießen, um die Kälte aus ihrem Körper und ihrer Seele zu vertreiben. Aber dann würde sie dem Mann seinen Umhang zurückgeben und versuchen, nach Hause zu finden.
„Gibt es jemanden, den Sie anrufen können?“
„Ich habe mein Telefon nicht bei mir.“ Sie sah die Maske in ihrer Hand an und kam sich dumm vor.
„Kann ich jemanden für Sie anrufen?“, fragte er und zog ein Telefon aus einer Tasche an seinem Gürtel.
Einen kurzen Augenblick lang flackerte Hoffnung in Rosa auf. Doch das war nur von kurzer Dauer. Sie wusste Chiaras Nummer nicht auswendig. Verzagt schüttelte sie den Kopf. „Ich weiß die Nummer nicht …“
Er steckte das Telefon wieder ein. „Und Sie wissen nicht, wo die Party stattfindet?“
Plötzlich fühlte sich Rosa ganz matt. Erschöpft von der Achterbahnfahrt der Gefühle und diesen Fragen, die nur noch deutlicher machten, wie planlos und naiv sie gewesen war. Dieser Fremde wollte ihr nur helfen, und er hatte ja recht damit, dass sie keine Ahnung hatte, wo die Party war, aber musste er ihr das jetzt so deutlich vor Augen halten? Am liebsten wollte sie jetzt nur nach Hause in ihr Bett und sich die Decke über den Kopf ziehen. Und diesen Abend für immer vergessen.
„Es ist nett, dass Sie mir helfen wollen. Aber müssen Sie nicht langsam weiter?“
„Doch.“
Sie sah ihn herausfordernd an. „Also?“
Nebelschwaden strichen um sie herum. Sicher fror die Frau in ihren viel zu dünnen Kleidern. Sie zitterte bereits vor Kälte, tat aber so, als wäre alles in Ordnung und als brauchte sie keine Hilfe.
„Kommen Sie mit“, schlug er vor.
Die Worte waren ihm einfach so herausgerutscht, doch sobald sie ausgesprochen waren, musste er feststellen, dass dieser Vorschlag in mehrerlei Hinsicht richtig gewesen war. Sie hatte sich verirrt und war allein in Venedig, und sie war schön mit ihren großen hellbraunen Katzenaugen und den hohen Wangenknochen. Ihre vollen geschminkten Lippen wirkten wie eine Einladung. Er erinnerte sich daran, wie ihre bloße Schulter unter dem Umhang kurz hervorgeblitzt hatte, und an ihre von dem Oberteil des Kleides aus minderwertigem Satin nur dürftig bedeckten Brüste. Und ihm kam ein erheiternder Gedanke.
Sirena würde sie hassen.
War das allein nicht schon Grund genug?
Verwirrt riss sie die Augen auf. „Scusa?“
„Kommen Sie mit“, wiederholte er. Schon begann ein Plan in seinem Kopf Form anzunehmen – ein Plan, der für sie beide von Vorteil wäre.
„Nicht doch. Sie waren ohnehin schon viel zu nett.“
„Es geht nicht darum, nett zu Ihnen zu sein. Sie würden mir einen Gefallen tun.“
„Wie das? Wir sind uns doch eben zum ersten Mal begegnet. Wie sollte ich Ihnen einen Gefallen tun können?“
Er bot ihr seinen Arm, und das Leder seines Ärmels knarrte. „Nennen Sie es einen glücklichen Zufall. Denn ich muss auch zu einem Maskenball, aber ich habe keine Begleiterin für heute Abend. Wenn Sie mir also die Ehre erweisen würden, mich zu begleiten …“
Lächelnd schüttelte sie den Kopf. „Ich habe doch schon erklärt, dass das nur eine Verkleidung ist. Ich habe nicht hier gestanden, um mich jemandem aufzudrängen.“
„Sie drängen sich nicht auf. Ich frage nur, ob Sie heute Abend mein Gast sein mögen. Sie hatten doch ohnehin vor, heute auszugehen.“
Er griff nach der Maske, die sie in den Händen hielt, mit denen sie gleichzeitig seinen Umhang an den Oberkörper drückte. Rosa blieb nichts anderes übrig, als ihn gewähren zu lassen, wenn sie das Cape nicht loslassen wollte.
„Schließlich dürfen Sie doch nicht die wichtigste Nacht des Karnevals verpassen“, erklärte er und drehte ihre Maske in den Händen.
Es war nicht zu übersehen, dass sie der Gelegenheit, heute Abend doch noch zu feiern, kaum widerstehen konnte, auch wenn ihr deutlich anzumerken war, dass sie Bedenken hatte.
Vittorio lächelte. Vorhin hatte er schlechte Laune gehabt, die man ihm sicher angesehen hatte. Aber er konnte charmant sein, wenn es sein musste – egal ob es um politische Ränkespiele oder um eine Frau ging. „Wie gesagt, es ist ein glücklicher Zufall. Für uns beide. Und Sie könnten meinen Umhang ein bisschen länger behalten.“
Unsicher sah sie ihn mit ihren großen, von langen Wimpern umrahmten Augen an. Wieder erstaunte es ihn, wie verwundbar sie wirkte. Sie war ganz anders als die Frauen, mit denen er normalerweise zu tun hatte. Unwillkürlich musste er an Sirena denken – die selbstsichere, egozentrische Sirena, die selbst in einem Becken voller Haifische nicht verwundbar aussehen würde. Rosa war das komplette Gegenteil davon.
„Er ist schön warm“, sagte sie. „Danke.“
„Ist das ein Ja?“
Sie atmete tief durch, nagte unentschlossen an ihrer Unterlippe und nickte schließlich zaghaft lächelnd. „Warum nicht?“
„Ja, warum nicht!“
Ohne zu zögern, bot er ihr den Arm, und sie gingen gemeinsam über die Brücke. Vittorios Laune hatte sich erheblich gebessert. Denn auf einmal sah er dem Abend, den er so schnell wie möglich hatte hinter sich bringen wollen, hoffnungsvoll entgegen. Nicht nur, weil er Sirena so ihre Überraschung heimzahlen konnte. Sondern vor allem, weil er mit einer schönen Frau durch eine der schönsten Städte der Welt spazierte und die Nacht noch jung war.
Und wer wusste schon, wo sie enden würde?
Rosas Herz klopfte wie verrückt, als der gut aussehende Mann ihr seinen Arm bot, um sie durch die Menschenmenge zu führen, und sie hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten.
Er hatte ihr gesagt, dass er Vittorio hieß, aber das änderte nichts daran, dass er ein Wildfremder war. Und nun ging er mit ihr zu irgendeinem Maskenball. Mehr wusste sie nicht. Normalerweise wäre ihr so etwas viel zu abenteuerlich vorgekommen, und sie konnte sich ihren übereilten Entschluss, ganz gegen ihre Gewohnheit alle Vorsicht in den Wind zu schlagen, absolut nicht erklären.
„Warum nicht?“, hatte sie auf seine Einladung hin gefragt, obwohl ihr jede Menge Gründe einfielen, die dagegensprachen, sein Angebot anzunehmen.
Noch nie hatte sie in ihren vierundzwanzig Jahren etwas so Unüberlegtes und Leichtsinniges getan. Ihre Brüder würden der Beschreibung sicher noch „etwas so Dummes“ hinzufügen.
Aber abgesehen davon hatte es dem Abend eine neue Wendung gegeben – er war ungemein aufregend geworden. Und in ihren Adern prickelte es vor freudiger Erwartung.
„Es ist nicht weit“, erklärte Vittorio. „Ist dir noch kalt?“ Wie selbstverständlich war er nun zum vertraulichen Du gewechselt.
„Nein.“
Ganz im Gegenteil. Sein Umhang war ein Bollwerk gegen die Kälte, und sein Arm, mit dem er sich bei ihr eingehakt hatte, bot ihr Halt. Rosa war so aufgeregt, als habe sie sich auf eine Abenteuerreise mit unbekanntem Ziel begeben. Unbekannt wie ihr Begleiter.
Verstohlen sah sie zu ihm auf, während er sie weiter schnellen Schritts durch die schmalen Gassen führte. Er schien es eilig zu haben, an sein Ziel zu kommen. Es wirkte fast, als habe er zu viel Zeit mit ihr auf dem Platz verbracht, die er nun wieder aufholen musste. Sie kamen an einer Straßenlaterne vorbei, die sein von dichtem schwarzem Haar umrahmtes Gesicht erhellte und seine markanten Züge betonte.
„Wir sind gleich da“, sagte er und sah zu ihr herunter.
Als sie in seine blauen Augen sah, verstärkte sich ihre Aufregung, und ein wohliges Glühen breitete sich in ihrem Inneren aus.
Mit einem Mal geriet Rosa ins Straucheln, doch er fing sie auf, und der magische Moment war vorbei. Sicherheitshalber nahm sie sich vor, ihm lieber nicht zu oft in die Augen zu sehen. Zumindest nicht beim Gehen.
„Hier entlang.“ Vittorio führte sie in eine schmale Gasse, die von der belebteren Straße wegführte. Auf einer Seite war die Gasse vom alten Mauerwerk eines Palazzos gesäumt, auf der anderen von einer Backsteinmauer. Mit jedem Schritt entlang des dunklen Weges wurden die Geräusche der Stadt leiser, bis Rosa schließlich nur noch ihr heftig klopfendes Herz hörte. Nein, nicht nur ihr Herz … ihrer beider Schritte hallten in der engen Gasse wider, und dann kam noch das Schwappen des Wassers dazu. Vor ihnen spiegelte sich fahles Licht auf einer unsteten Fläche. Aber das bedeutete …
In diesem Moment begriff sie, dass der Weg an einem Kanal endete.
Es war eine Sackgasse.
Der Schreck, der Rosa nun in die Glieder fuhr, machte ihre Vorfreude augenblicklich zunichte. Sie war freiwillig mit einem Mann mitgegangen, von dem sie nichts außer dem Vornamen wusste. Wenn es überhaupt sein Name war.
„Vittorio“, hob sie stockend an, verlangsamte ihren Schritt und versuchte, ihren Arm aus seiner Armbeuge zu befreien. „Ich glaube, ich habe es mir anders überlegt …“
„Scusi?“ Er blieb stehen und wandte sich zu ihr um. Im Dämmerlicht hatte sein Gesicht mit den funkelnden Augen plötzlich etwas Dämonisches.