Kalte Gräber

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durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Elizabeth Heiter nimmt den Leser mit auf eine nervenaufreibende Reise in die Welt der Serienmörder.

Jeder Fundort erzählt eine Geschichte. Und diese lässt FBI-Profilerin Evelyn Baine das Blut in den Adern gefrieren. Die Leichen zweier entsetzlich misshandelter junger Frauen, senkrecht bis zum Hals im feuchten Waldboden eingegraben. Die Gesichter zerstört durch Witterung und wilde Tiere.
Das Werk des "Totengräbers von Bakersville".

Scheinbar willkürlich macht er Jagd auf junge Frauen und hortet ihre Leichen. Evelyn weiß, um den Totengräber zu erwischen, muss sie ihm geben, was er will - und das ist sie selbst.


  • Erscheinungstag 10.03.2014
  • Bandnummer 1
  • ISBN / Artikelnummer 9783956493058
  • Seitenanzahl 320
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Elizabeth Heiter

Kalte Gräber

Aus dem Amerikanischen von Ivonne Senn

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2014 by MIRA Taschenbuch

in der Harlequin Enterprises GmbH

Deutsche Erstveröffentlichung

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

Hunted

Copyright © 2014 by Elizabeth Heiter

erschienen bei: MIRA Books, Toronto

Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II B.V./S.àr.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Thorben Buttke

Titelabbildung: Thinkstock/Getty Images, München

Autorenfoto: © Harlequin Enterprises S.A., Schweiz

ISBN eBook 978-3-95649-305-8

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

PROLOG

Er hätte den alten Mann töten sollen.

In der Sekunde, in der er erkannte, dass Harris ihn hatte vorbeigehen sehen, hätte er den alten Mann stellen müssen. Sich einfach von hinten anschleichen und ihm das Genick brechen. Stattdessen war er verschwunden. War eins mit dem Wald geworden und abgetaucht.

Und während er im Auto hockte und sich dafür verfluchte, von Harris gesehen worden zu sein, hatte der alte Mann sich weiter umgeschaut. Und etwas gefunden.

Eine wütende Tirade kreischte in seinem Kopf, während ein weiterer Streifenwagen mit heulenden Sirenen in Harris‘ Einfahrt einbog. All die Monate, in denen er den Wald ausgekundschaftet hatte, waren umsonst gewesen. All die Zeit, die er darauf verwendet hatte, den perfekten Ort zu finden, einen Ort, den nicht einmal Harris finden würde, vergeudet. Es war sein Geheimversteck gewesen, an dem er seine Trophäen hatte ausstellen, sich in seinem Triumph hatte sonnen können.

Und Harris vermasselte ihm alles. Verdammt! Warum hatte er den alten Mann nicht aufgehalten, als es noch möglich gewesen war?

Inzwischen gruben die Cops seine Frauen aus, transportierten sie ab. Inzwischen riefen die Cops das FBI. Genau wie vor drei Jahren.

Besorgnis stieg in ihm auf, vermischte sich mit der Wut, verschmolz mit der Schuld. Vor drei Jahren hatte er einen Fehler begangen. Einen einzigen Mord, den er bedauerte.

Doch abgesehen von Diana hatte ihn nie jemand verdächtigt. Und hier in Virginia kannte ihn niemand. Die Cops konnten anrufen, wen sie wollten, er hatte Vorkehrungen getroffen. Sie würden ihn nicht kriegen.

Und er war noch lange nicht fertig.

1. KAPITEL

„Baine. In mein Büro. Sofort!“

FBI Special Agent Evelyn Baine wirbelte an ihrem kleinen Arbeitsplatz des Großraumbüros mit dem Stuhl herum, doch ihr Boss hatte bereits die Tür zu seinem Büro hinter sich zugeworfen.

Sie zog ihr Jackett an, knöpfte es zu, um die Waffe an ihrer Hüfte zu verbergen, und straffte die Schultern. Dan Moores Ton störte sie nicht. Der ASAC – Special Agent in Charge – war ihr gegenüber immer so kurz angebunden. Eigentlich war es sogar ein gutes Zeichen, so früh in sein Büro gerufen zu werden. Es bedeutete, sie bekäme einen neuen Fall, für den sie ein Profil erstellen sollte.

Ihre Anspannung wuchs, als sie sich ihren Weg vorbei an den anderen Arbeitsplätzen in diesem unscheinbaren Gebäude in Aquia, Virginia, bahnte, in dem die Behavioral Analysis Unit (BAU), die Einheit für Verhaltensanalysen des FBI untergebracht war. Es war ihre liebste Zeit des Tages – morgens, bevor die meisten anderen Agents eintrudelten, bevor der Geruch nach angebranntem Kaffee und schaler Klimaanlagenluft über allem lag, wenn es nur sie und ihre Fälle gab.

Sie betrat Dans Büro. Er saß hinter seinem übergroßen Schreibtisch. Den Leiter der BAU umgab, wie üblich, eine Aura aus Stress, die seiner Haut einen gräulichen Ton verlieh und ihn seine Augenbrauen konstant über der Nasenwurzel zusammenziehen ließ. Heute wirkte er noch dazu erschöpft.

„Setz dich.“ Dan warf drei Magentabletten ein und spülte sie mit einem Schluck Kaffee hinunter. „Bist du je in Bakersville gewesen?“

„Nein, aber das liegt nördlich von hier, oder? Klein und ländlich?“ Sie beugte sich vor, bereit für eine weitere Chance, eine der schlimmsten Bedrohungen der Gesellschaft zur Strecke zu bringen. Bereit für eine weitere Chance, jemand anderem den Frieden zu schenken, der ihr selber nicht vergönnt war. „Was ist los?“

Dan runzelte die Stirn, vielleicht, weil er in dem zurückliegenden Jahr, trotz ihrer hohen Erfolgsquote, mit ihr immer noch nicht richtig warm geworden war. Vielleicht war ihm aber auch nur eine der Tabletten im Hals stecken geblieben.

Auch ohne eine Antwort auf ihre Frage erhalten zu haben, wusste Evelyn, dass in naher Zukunft schlaflose Nächte und ungezählte Überstunden auf sie warten würden. Wenn die Polizei es mit einem so schlimmen Problem zu tun hatte, dass sie es nicht selber lösen konnte, wandte sie sich an die BAU. Jeden Tag gingen im Büro per Fax unzählige Anfragen für die Erstellung eines Profils ein. Wenn ein Profiler tatsächlich dafür abgestellt wurde, bedeutete, dass es sich um ein ungewöhnliches und tödliches Problem handeln musste.

„Ganz früh heute Morgen wurden in einem Wald zwei Frauenleichen entdeckt“, sagte Dan. „In der Datei, die ich dir gemailt habe, findest du ein paar Vorabinformationen, aber nicht viele. Ich habe das meiste am Telefon erfahren, doch ich denke, es ist besser, wenn du direkt an den Tatort fährst und dir die Einzelheiten aus erster Hand berichten lässt. Bakersville will dich sofort vor Ort.“

„Sofort? Für nur zwei Morde?“ Vor einem Jahr wäre ihr diese Frage noch unsensibel erschienen, doch inzwischen war sie lange genug hier, um zu verstehen, dass Zeit ein Luxus war, über den die Agents der BAU nicht verfügten. Normalerweise musste etwas wirklich Großes passieren, bevor die BAU eingriff.

„Es ist ein seltsamer Fall. Die Polizei von Bakersville leitet die Ermittlungen. Sie haben uns als Berater angefordert. Police Chief Caulfield möchte auf der Stelle ein vorläufiges Persönlichkeitsprofil des Täters erstellt haben.“

Dan wandte sich seinem Computer zu – ein deutliches Zeichen dafür, dass Evelyn nun gehen sollte. „Wenn du Hilfe brauchst, bitte Greg, dich zu begleiten.“

Evelyn verbarg ihre Verärgerung. Greg Ibsen hatte sie vor einem Jahr in die Welt der Verhaltensanalysen eingeführt. Aber inzwischen war sie keine Anfängerin mehr. Sie brauchte niemanden, der ihre Arbeit überprüfte, nur weil sie die Jüngste, diejenige, mit der wenigsten praktischen Erfahrung, der Abteilung war. Sie hatte sich ihren Platz in der BAU verdient. Und sie riss sich jeden Tag den Hintern auf, um das zu beweisen.

„Sonst noch was?“

„Mach dich einfach an die Arbeit. Bakersville hat noch nie mit so etwas zu tun gehabt. Sie sind nicht dafür bereit, es mit diesem Killer aufzunehmen.“

Sie nickte und stand auf. „Ich mach mich gleich dran.“ Während sie sein Büro verließ, glitt ihr Blick wie automatisch zu der Pinnwand neben der Kaffeemaschine, an die alles geklebt wurde, was die Agents interessant fanden. Neben einem Artikel über eine neue Brain-Mapping-Technik und einer Liste mit den meistgesuchten Mördern des Landes hatte jemand ein Blatt Papier mit der Überschrift „Intensivtäter immer noch auf freiem Fuß“ gepinnt. Darunter hing ein mit dem Phantomzeichnungsprogramm erstelltes Bild von Dan.

Die Zeichnung war perfekt – der kuppelförmige Kopf mit der kahlen Stelle ganz oben, die zusammengekniffenen Lippen. Doch Dan hatte bis heute nicht erkannt, wer da zu sehen war. Und Evelyn hatte ganz gewiss nicht vor, diejenige zu sein, die ihn aufklärte.

Sobald sie wieder an ihrem Arbeitsplatz saß, überflog sie schnell die wenigen Informationen in der Datei, die Dan ihr gemailt hatte. Dann stand sie auf und schnappte sich ihre Aktentasche. Als sie sich herumdrehte, wäre sie beinahe mit Greg zusammengestoßen.

Er riss seinen Arm mit dem Becher ruckartig zurück, wobei der Kaffee überschwappte und sich auf seine Schuhe ergoss.

Sie verzog das Gesicht. „Tut mir leid, Greg.“

Er zuckte mit den Schultern, stellte den Becher beiseite und zog sein Jackett aus. Zu seinem klassischen Hemd trug er eine Krawatte mit einer Zeichentrickfigur drauf. „Kein Problem. Ich hätte ihn mir früher oder später sowieso irgendwo drüber geschüttet.“

Greg Ibsen war sieben Jahre länger in der BAU als sie, hatte Tausende Stunden mehr damit verbracht, komplizierte Profile zu erstellen. Und war immer noch der entspannteste Kollege in der Einheit – selbst nachdem man ihm die Betreuung der Neuen aufs Auge gedrückt hatte, die Dan von Anfang an nicht in seinem Team hatte haben wollen.

Er ließ sich auf seinen Stuhl fallen und sagte: „Vielleicht könntest du an einem der nächsten Tage einfach mal ausschlafen. Damit wir anderen neben dir nicht immer so faul wirken.“ Der amüsierte Ton verriet ihr, dass er es nicht ganz ernst meinte.

Evelyn drehte den schmalen, mit einem Diamanten besetzten, Goldring an ihrem Finger. Er hatte einst ihrer Großmutter gehört und Evelyn nahm ihn niemals ab. Wenn ihre Grandma gewusst hätte, wie viel sie arbeitete, hätte sie ihr das Gleiche geraten, was Greg ihr oft nahelegt: Such dir ein Hobby.

Doch ihre Grandma hätte verstanden, warum sie das nicht tat. Sie war diejenige, die Evelyns Welt wieder aufgebaut hatte, nachdem ihre beste Freundin Cassie Byers entführt worden war. Sie war die Einzige, die Evelyns Drang verstand, sie selbst jetzt noch, siebzehn Jahre später, finden zu wollen.

Sie schob die Erinnerungen an die Frau, die sie aufgezogen hatte und nun intensiver Pflege bedurfte, beiseite und linste um die halbhohe Wand, die ihren Arbeitsplatz von Gregs abtrennte. Anders als ihre leeren Wände waren seine mit Bildern seiner Frau Marnie und ihren Adoptivkindern Lucy und Josh gepflastert. „Dan hat mir gerade einen neuen Fall gegeben. Ich bin quasi schon weg.“

„Echt? Worum geht’s?“

„Ein Serienmörder.“

Gregs Augenbrauen zogen sich zusammen. „Wirklich? Und du fährst jetzt an den Tatort?“

Die Einheit war bekannt für ihre präzisen Profile über Serienmörder, doch inmitten der Analyse von terroristischen Bedrohungen und der Interpretation des Verhaltens von Feuerteufeln, Bombenlegern und Kinderschändern erhielten sie oft nicht die höchste Priorität.

„Dan meinte, es wäre ein seltsamer Fall.“ Und angesichts der Fälle, mit denen sie es üblicherweise zu tun hatten, sagte das eine ganze Menge aus.

„Seltsam, hm? Wenn du wieder zurück bist, will ich alles darüber hören.“

„Klar. Dan meinte sowieso, dass ich dich um Unterstützung bitten sollte.“

„Was? Die kleine Lady kann es nicht alleine mit dem großen bösen Serienmörder aufnehmen?“, scherzte Greg. „Wusstest du nicht, dass Frauen in der BAU nicht zugelassen sind?“

Evelyn wünschte, Dans Einstellung würde sie nicht stören. Doch das tat sie. „Du weißt doch, wie gerne ich die Regeln breche.“

Greg lachte auf, weil das genauso ein Witz war, wie die Behauptung, Evelyn wäre für die Arbeit als Profilerin nicht geeignet. „Viel Glück mit dem Fall.“

„Danke“; sagte sie. Aber Glück hatte damit nichts zu tun.

Sie hatte den Großteil ihres Lebens auf diesen Job hingearbeitet, und sie war eine verdammt gute Profilerin. Wie auch immer der Fall aussehen, wie hinterlistig der Kriminelle auch sein mochte, sie würde ein Profil erstellen, dass ihn seiner gerechten Strafe zuführen würde.

Das Polizeirevier von Bakersville, Virginia, thronte auf einem kargen Stück Land. Das ausgeblichene Backsteingebäude mit den verwitterten Fenstern wirkte inmitten der hundert Jahre alten Kiefern, die es von drei Seiten umgaben, irgendwie fehl am Platz. Es lag an der Hauptstraße, die durch den Ort führte, direkt neben einem altmodischen, kleinen Café und einer Ansiedlung von Wohnhäusern.

Evelyn hängte sich die Aktentasche über die Schulter und stapfte die Stufen zum Eingang des Reviers hinauf. Drinnen wimmelte es vor uniformierten Beamten. Zwei von ihnen flankierten einen aufgebrachten Gefangenen in Handschellen, der offensichtlich wegen Trunkenheit verhaftet worden war. Andere wirkten nervös und angespannt, was vermutlich auf die am Morgen entdeckten Leichen zurückzuführen war.

Evelyn ging zum Empfangstresen, an dem ein junger Officer saß. „Evelyn Baine. Operative Fall-Analystin. Chief Caulfield erwartet mich.“

Der Officer schaute sie fragend an, und Evelyn merkte, wie sich ihr Nackenhaar sträubte. Doch sie riss sich zusammen. Bakersville war ländliches Gebiet, und trotz der umliegenden größeren Städte hauptsächlich von Weißen bewohnt. Mit ihrer dunkelbraunen Haut, die sie von ihrem aus Zimbabwe stammenden Vater geerbt hatte, und den meergrünen Augen von Seiten ihrer irisch-englischen Mutter, fiel sie definitiv auf.

Als sie hinzufügte: „Ich bin vom FBI“, ließ der Officer seinen Blick skeptisch von ihren in einem ordentlichen Knoten zusammengefassten Haaren über ihren gut sitzenden Anzug zu ihren robusten Pumps gleiten. Dann schaute er sich mit zusammengekniffenen Augen ihren Dienstausweis an.

Schließlich nickte er, und sie steckte den Ausweis wieder in die Innentasche ihres Blazers, den sie dann kurz an der Seite, an der sie die Waffe trug, ein wenig nach unten zog. Ihre teure Kleidung sorgte ab und zu für argwöhnische Blicke, doch sie stärkte ihr Selbstbewusstsein, wenn Evelyn zu einem Tatort gerufen wurde und dort sofortige Glaubwürdigkeit vermitteln musste.

„Hier entlang“, sagte der Officer und führte sie durch einen großen Raum, in dem weitere Polizisten an Schreibtischen saßen oder geschäftig hin und her liefen.

Zwischendrin verlangten ein paar hysterische Zivilisten zu wissen, was es mit den Gerüchten um die Morde auf sich hatte. Erstaunt hörte Evelyn, dass einer von ihnen, ein korpulenter Mann mit Bart, ViCAP erwähnte, das Violent Criminal Apprehension Program, die Datenbank des FBI, dank derer Übereinstimmungen in ungelösten Kriminalfällen gefunden werden konnten. Sie schaute sich um.

Der blauäugige Mann sprach mit einem Officer, dessen unsicherere Haltung und die roten Wangen ihn eindeutig als Neuling auswiesen. „Ich glaube nicht, dass wir damit arbeiten“, sagte er und zuckte mit den Schultern.

Evelyn ermahnte sich beim Zusammentragen der Informationen für das Profil, daran zu denken, dass noch niemand die Morde mit anderen Verbrechen abgeglichen hatte. Die meisten Kleinstädte waren nicht an ViCAP angeschlossen. Sobald sie den Fundort der Leichen sah, würde sie sagen können, ob es sich um Ersttaten des Mörders handelte. Wenn dies nicht der Fall war, würde sie sich in die Datenbank einloggen und gucken, ob sie irgendwelche Spuren von ihm vor seiner Ankunft in Bakersville finden konnte.

Der Officer, der sie begleitete, klopfte an eine Tür mit der Aufschrift „Police Chief Tanner Caulfield“, dann ließ er sie allein.

„Herein“, sagte jemand mit unverkennbarem Südstaatenakzent.

Für einen Polizeichef war der Mann, der hinter der Tür an seinem Schreibtisch saß, sehr jung. Er erhob sich und Evelyn sah, dass er einen guten Kopf größer war als sie – wobei sie mit knapp eins sechzig nicht gerade zu den großen Frauen zählte. Er wirkte, als wäre er auf der Highschool Linebacker im Footballteam gewesen, dem es jedoch an Masse gefehlt hatte, um es in die Collegeauswahl zu schaffen.

Evelyn streckte ihm die Hand hin. „Ich bin Evelyn Baine von der Einheit für Verhaltensanalysen des FBI. Ich bin hier, um Sie in Ihren Mordermittlungen zu unterstützen.“

Er zog seine dichten Augenbrauen zusammen und starrte einen Moment auf ihre zierliche Hand mit den kurzen, unlackierten Fingernägeln, bevor er sie vorsichtig nahm, als hätte er Angst, er könne sie zerbrechen. „Tut mir leid. Sie sehen nicht aus wie ein Agent.“

„Tatsächlich?“, gab Evelyn zurück. Diese Reaktion kannte sie inzwischen zur Genüge, und doch frustrierte es sie jedes Mal. „Wie sehen Agents denn aus?“

„Größer. Sie haben einen Schreibtischjob oder?“

Diese Annahme nervte sie noch mehr, doch das vergangene Jahr, in dem sie diversen Strafverfolgungsbehörden mit ihren Fähigkeiten behilflich gewesen war, hatte sie gelehrt, damit umzugehen. Er würde sie nur dann respektieren, wenn er glaubte, dass sie auch außerhalb eines Büros ihre Frau stehen konnte. „Bevor ich zur BAU gewechselt bin, habe ich fünf Jahre in der Einheit für Gewaltverbrechen des FBI gearbeitet.“

Tanners Augenbrauen schossen nach oben. Er musterte sie ein wenig genauer, während er sich wieder auf seinen Stuhl sinken ließ. „Sie werden ein Profil des Mörders erstellen, richtig? Etwas, das uns sagt, wie wir den Dreckskerl finden können?“

„Das stimmt. Es ist meine Aufgabe, die verhaltensbezogenen Beweise zu finden, die der Täter unbewusst am Tatort hinterlassen hat.“ Das hatte sie an ihrem Job schon immer fasziniert – anhand von Hinweisen, von denen der Täter selbst nicht einmal wusste, dass er sie hinterlassen hatte, aus einem Unbekannten einen identifizierbaren Mörder zu machen. „Anhand dessen kann ich Ihnen sagen, wo Sie ihn finden können und wie sie beim Verhör vorgehen sollten, sobald Sie ihn verhaftet haben.“

„Okay“, sagte Tanner langsam. „Was genau meinen Sie mit verhaltensbezogenen Beweisen?“

„Der Tatort hilft mir, zu erkennen, wie er denkt, nach was er in seinen Opfern sucht, warum er tötet.“

„Aha.“ Tanner klang, als wenn er nicht ganz verstand, wie Profiling funktionierte, aber das machte nichts.

Denn sie verstand Tanner. In ihrer Arbeit ging es nicht nur darum, ein Profil der Täter zu erstellen. Es ging auch darum, die Menschen zu analysieren, die sie beraten sollte. Die meisten wandten sich erst ans FBI, wenn sie vollkommen verzweifelt waren – und vielen von ihnen behagte es gar nicht, um Hilfe bitten zu müssen. Sie hatte schnell gelernt, dass die richtige Einschätzung des örtlichen Ermittlungsleiters ihren Job erheblich vereinfachte.

Fünf Minuten in Tanners Büro, mehr brauchte sie nicht, um herauszufinden, dass er sehr stolz auf seine Position war und sich schon vor dem Auftauchen eines möglichen Serienmörders für unterqualifiziert gehalten hatte. Solange sie sein Ego in Takt ließ, würde er ihr nur zu bereitwillig zuhören.

„Fangen wir also an.“ Energie pulsierte durch Evelyns Adern. Zeit, einen weiteren Täter an die Wand zu nageln. Er würde überhaupt nicht wissen, wie ihm geschah.

„Können Sie mir das Profil schon geben?“

Ohne mehr zu wissen, als dass es zwei Morde gegeben hatte? Hielt Tanner sie für eine Hellseherin? „Ich fürchte, so funktioniert das nicht.“

„Wie funktioniert es dann?“

„Haben Sie Männer am Fundort? Dann lassen Sie uns dort anfangen. Ich möchte mich gerne mit ihnen unterhalten.“

Tanner runzelte die Stirn. „Das ist kein schöner Anblick, Agent Baine.“

Evelyn nickte. Als Frau war sie diese Reaktion gewohnt. „Vertrauen Sie mir. Ich habe vermutlich schon Schlimmeres gesehen.“

„Okay. Ich bringe Sie hin.“

Evelyn folgte ihm nach draußen zum Streifenwagen, und zehn Minuten später erklärten sie Jack Harris, dass sie sich zu den anderen Polizisten auf seinem Grundstück gesellen würden.

„Er sollte wissen, dass ich zurück bin“, sagte Tanner, als er den Wagen wendete. „Wir wollen nicht, dass er uns für Eindringlinge hält und auf uns schießt.“

Evelyn warf einen Blick zurück auf den alten Mann, der ihnen von seiner Haustür aus nachschaute. Er sah aus, als könne er ohne Hilfe nicht mal gehen, geschweige denn eine Waffe abfeuern.

„Warum fahren wir mit dem Auto? Wie groß ist sein Grundstück denn?“

„Ziemlich groß.“ Tanner trat aufs Gaspedal.

Er bog auf die Straße ab und fuhr den Weg zurück, den sie gekommen waren. Dann schwenkte er überraschend links auf eine schmale Schotterstraße ein. Er bremste ab und der Streifenwagen rumpelte langsam über den unebenen Weg, der so schmal war, dass die Äste links und rechts über den Lack kratzten.

Schließlich blieb er hinter mehreren anderen Streifenwagen und dem Van des Rechtsmediziners stehen. Der Wald schien sie verschluckt zu haben. Große Eichen, Hickorybäume und Kiefern machten es der Sonne beinahe unmöglich, bis auf den Boden durchzudringen. Evelyn folgte Tanner tiefer in den finsteren Wald.

„Kommen in diese Gegend hier viele Leute?“

„In den Wald?“, gab Tanner zurück. „Nein. Harris hat hier vierzig Hektar, die er mit seiner Schrotflinte bewacht. Er ist derjenige, der die Leichen gefunden hat, und das auch nur, weil er glaubte, einen Eindringling gesehen zu haben.“

„Näher als bis dahin, wo wir geparkt haben, kommt man mit einem Fahrzeug also nicht an den Fundort heran?“

„Genau.“

„Dann kennt der Mörder die Gegend. Und er ist nicht auf der Suche nach Aufmerksamkeit.“

„Nicht?“

Evelyn hatte keine Ahnung, wie tief sie noch in den Wald hineingehen würden, doch noch konnte sie die Polizisten am Tatort nicht hören. „Er hatte nicht erwartet, dass die Leichen gefunden würden. Das heißt, er ist nicht darauf aus, in den Medien zu erscheinen.“

„Sie könnten Ihre Meinung ändern, wenn Sie die Leichen gesehen haben“, murmelte Tanner.

Evelyn verkniff sich eine Antwort. Es war egal, in welchem Zustand sich die Leichen befanden. Der Fundort erzählte seine eigene Geschichte. Und dieser hier verriet ihr bereits, dass sie es mit einem Mörder zu tun hatten, der seine Privatsphäre schätzte, der vorsichtig und ausgeglichen war. Ihn aufzuspüren wäre keine leichte Aufgabe.

„Da sind wir“, sagte Tanner schließlich und zeigte nach vorne.

Ein Stück vor ihnen war ein Absperrband um Bäume gespannt. Dahinter waren Polizisten bei der Arbeit. Zwei Männer in schwarzen Jacken, auf deren Taschen Rechtsmedizin stand, trugen eine Bahre.

Evelyn beschleunigte ihre Schritte. Ihre Absätze sanken in den Boden ein, der vom Regen der letzte Woche noch feucht und trotz des nahenden Frühlings von einer dicken Schicht verrottenden Laubs bedeckt war. Sie wollte den Fundort so originalgetreu wie möglich sehen.

Aber je näher sie kam, desto mehr erkannte sie, dass das nicht mehr möglich war. Die Polizisten bewegten sich achtlos in dem abgesperrten Areal umher. Sich in Erinnerung zu rufen, dass diese Männer es nicht oft mit einem Mord zu tun hatten, half auch nicht.

Frust überkam sie. „Ihre Officer zertrampeln mögliche Beweise.“

„Wir sind nicht inkompetent.“ Tanner schloss zu ihr auf. „Wir haben Fotos gemacht, bevor ich meine Männer hingeschickt habe, um sie auszugraben.“

In der Fallakte war erwähnt worden, dass die Opfer nur teilweise begraben gewesen waren. Außerdem waren Schnittwunden erwähnt worden, die so speziell waren, dass sie durchaus die Signatur des Mörders sein konnten. „Sind beide Leichen schon ausgegraben worden?“

Tanner deutete auf den Fundort. „Sehen Sie selber.“

Als zwei Polizisten zur Seite traten, tat sie es. „Scheiße“, flüsterte sie.

Ein Schädel ragte aus dem Boden. Nur ein Schädel, an dem sich teilweise noch lange braune Haare befanden. Der Mörder hatte ein senkrechtes Loch gebuddelt und sein Opfer hineingesteckt und es dann mit so viel Erde zugeschüttet, dass das Kinn der Frau auf dem Boden ruhte. Tiere und das Wetter hatten sie so zugerichtet, nachdem der Mörder von ihr abgelassen hatte.

Sie hatten gerade das andere Opfer herausgezogen, weshalb Evelyn wusste, dass sich unter dem Kopf noch ein Körper befand. Die Leiche lag auf dem offenen Leichensack, in dem sie später in die Rechtsmedizin transportiert werden würde.

Bis zum Kopf eingegraben zu werden, war nicht die einzige Demütigung, die diese Frauen hatten erleiden müssen. Die Ausgegrabene war eng in Plastikfolie gewickelt worden, die der Rechtsmediziner ein Stück zurückgeschoben hatte. Die Frau war nackt und ihre farblose Haut rutschte von den Knochen. Sie war mit kreisförmigen Blutergüssen übersät, die nie verheilt waren, da sie vorher umgebracht worden war. Mitten auf der Brust – quer über ihre Brüste – hatte der Mörder einen Kreis in ihr nun faulendes Fleisch geschnitten.

Die Tatsache, dass Evelyns Reaktion nicht daraus bestand, ihr Frühstück von sich geben zu wollen, sondern näher zu treten und die Einzelheiten genauer zu mustern, die ihr einiges über den Mörder verrieten, war ein Zeichen dafür, dass sie im letzten Jahr viel zu viele Tatorte besichtigt hatte. Trotzdem verspürte sie ihm Herzen den vertrauten Stich, der sie daran erinnerte, wie es sich angefühlt hatte, jemanden Geliebtes zu verlieren.

Wenigstens waren diese beiden Leichen gefunden worden. Wenigstens gab es für deren Familien Gewissheit. Das war etwas, das ihr und Cassies Familie bisher versagt geblieben war.

Tanner stellte sich neben sie. Er schluckte und versuchte, nicht zu würgen. „Was bedeutet das?“

Sie wusste es nicht. Aber Dan hatte recht. Dieser Fall war seltsam. Warum stellte er die Opfer aus, wenn er nicht auf Aufmerksamkeit aus war? Die nicht eingegrabenen Köpfe waren schockierend, etwas, das sie von einem Mörder erwartete, der sich an die Presse wenden und mit seinen Taten angeben würde.

Doch dieser Killer hatte es für sich allein getan. Was bedeutete, dass er in der Nähe war. Und dass er hierher zurückkam, um die Opfer zu besuchen.

„Wer ist der Rechtsmediziner?“, fragte sie Tanner statt einer Antwort.

Er zeigte auf einen untersetzten Mann in Gummistiefeln, der düster dreinschaute.

„Wie lange sind die beiden schon tot?“, rief sie ihm zu, woraufhin sich mehrere Polizisten zu ihr herumdrehten, die alle leicht grün um die Nase waren. Ihre neugierigen Blicke blieben an ihr hängen, wanderten von ihren Haaren zu ihren matschverkrusteten Schuhen.

„Die hier vielleicht einen Monat. Die andere, die noch im Boden steckt, vermutlich eine Woche oder zwei. Eine genauere Aussage ist derzeit schwer zu treffen. Die letzten Wochen herrschte hier ungewöhnlich warmes Wetter, was den Verwesungsprozess beschleunigt hat. Näheres kann ich erst sagen, wenn ich sie auf dem Tisch hatte.“

„Waren sie so lange eingraben oder sind sie erst kürzlich hierher verfrachtet worden?“

Er nickte zu dem immer noch im Boden steckenden Opfer. „Ich schätze, dass sie seit ihrem Tod hier sind.“

Sie wandte sich wieder an Tanner. „Gibt es irgendwelche Hinweise darauf, dass sie hier umgebracht worden sind?“

„Bislang nicht.“

„Also handelt es sich wirklich nur um den Fund-, aber nicht den Tatort.“ Sie trat ein Stück näher an das in dem Leichensack liegende Opfer heran. Der Oberkörper war mit dem Blut verschmiert, das aus der kreisförmigen Wunde auf ihrer Brust ausgetreten war. Ein leichter Schmutzrand zog sich um ihren Hals, wo die Plastikfolie ihn nicht bedeckt hatte. „Er hat sie gereinigt, bevor er sie hergebracht hat“, sagte sie.

„Wissen Sie auch, warum?“

„Warum er tötet? Um ein akkurates Profil zu erstellen, brauche ich auch Informationen über die Opfer. Aber eines kann ich Ihnen sagen. Das…“ Sie zeigte auf den aus dem Boden ragenden Schädel. „… ist wirklich ungewöhnlich.“

Sie betrachtete den Kopf mit zusammengekniffenen Augen und dachte darüber nach, was der Mörder mit dieser Symbolik ausdrücken wollte. Seitdem sie beruflich in die Gehirne von Serienmördern einzudringen versuchte, hatte sie eine Verdorbenheit kennengelernt, von deren Existenz sie nicht einmal in ihren tiefsten Albträumen etwas geahnt hatte. Doch dieser Fall hatte etwas besonders Gruseliges an sich.

Ein unheilvolles Gefühl packte sie und jagte ihr einen eiskalten Schauer über den Rücken. Sie versuchte es abzuschütteln und legte Zuversicht in ihre Stimme. „Normalweise sieht man so etwas bei Leichen, die an halbwegs öffentlichen Orten abgelegt werden. Dass er das hier in der Einsamkeit gemacht hat, zeigt uns, dass es ihm nicht um den Showeffekt geht. Er versucht nicht, die Welt zu schockieren oder in Schrecken zu versetzen. Das Ausstellen ist etwas Persönliches. Es hat eine besondere Bedeutung für ihn.“

„Welche?“, wollte Tanner wissen.

„Das weiß ich nicht.“ So etwas hatte sie noch nie zuvor gesehen. „Aber sobald ich es herausgefunden habe, verrät sie mir, wie er denkt.“

Sie trat näher an die immer noch eingegrabene Leiche heran, kniete sich direkt neben sie und spürte den Stich, als der Gestank der Verwesung ihr in die Nase stieg. Wut über die Gefühllosigkeit des Mörders brandete in ihr auf. Sie wusste bereits, dass der Mörder sich daran ergötzt hatte, das Leben dieser Frau in seinen Händen zu halten; er hatte es genossen, sie betteln zu hören, auch wenn nichts, was sie gesagt hatte, etwas an ihrem bevorstehenden Tod ändern konnte.

Sie hörte, dass Tanner hinter ihr leise fluchte. „Wie er denkt? Er ist ein beschissener Irrer, der sich gerne im Wald versteckt und Frauen aufschlitzt.“

Den Blick immer noch auf den brünetten Frauenkopf gerichtet, erwiderte Evelyn: „Wenn Sie glauben, er sei verrückt, irren Sie sich. Dieser Fundort ist ordentlich und nicht chaotisch, wie es der Fall wäre, wenn wir es mit einem im medizinischen Sinne verrückten Täter zu tun hätten. Er hat allerdings eine dissoziale Persönlichkeitsstörung.“

Tanner schnaubte. „Ja, ich nehme an, dass einer, der zu so etwas imstande ist, keine Unmengen an Freunden hat.“

„Oh, er könnte durchaus Freunde haben“, korrigierte sie ihn. „Er empfindet keinerlei Empathie für andere, aber er kann sie vortäuschen. Ich brauche nicht erst auf die Autopsieergebnisse zu warten, um Ihnen sagen zu können, dass es sich hierbei um einen sexuell orientierten Serienmörder handelt. Er ist intelligent, anpassungsfähig und extrem methodisch. Er genießt es, der Polizei und seinen Opfer ein Schnippchen zu schlagen.“

Gänsehaut breitete sich an ihrem gesamten Körper aus, als sie auf das starrte, was zu ihren Füßen von dem Opfer übrig geblieben war. Sie wusste, wenn sie nicht schnell genug handelte, würde es eine weitere Tote geben. „Er wird nicht leicht zu fassen sein.“

„Ist das nicht Ihre Aufgabe? Uns seine Verhaftung zu erleichtern?“

Evelyn blieb neben dem Opfer hocken, schaute jedoch zu ihm auf. „Stimmt. Und um die zu erledigen, muss ich in seinen Kopf eindringen, die Welt durch seine Augen sehen. Also, erzählen Sie mir von den Opfern. Haben Sie sie schon identifiziert?“

Tanners Miene verhärtete sich. Ein kalter, entschlossener Schleier senkte sich über seine Augen. „Ja. Die Frau hier in der Erde ist vermutlich Barbara Jensen. Bei dem blonden Opfer im Leichensack handelt es sich definitiv um Mary Ann Pollak – wir haben sie anhand der Tätowierung auf ihrem Knöchel identifiziert. Beide verschwanden im letzten Monat. Sie haben seit Jahren in Bakersville gelebt. Mary Ann hat erst vor wenigen Monate geheiratet.“

„Welche Gemeinsamkeiten haben sie?“

Tanners massive Schultern bewegten sich nach oben. „Soweit ich weiß, keine. Sie hatten vollkommen unterschiedliche Berufe und Interessen. Familien und Freunde sagten, dass sie einander nicht kannten – außer vielleicht vom Sehen. Die einzige Gemeinsamkeit, die ich erkenne, ist die, dass sie von einem Psychopathen umgebracht wurden.“

„Sahen sie einander ähnlich?“

„Nun, sie waren ungefähr gleich alt. Und sie waren beide weiß.“

Opfer von gleichem Alter und gleicher Hautfarbe waren für Serienmörder üblich, doch er würde nach etwas anderem, nach einem speziellen Typ suchen. „Wie sieht es mit Augenfarbe oder Statur aus? Oder irgendetwas anderes?“

Tanner überlegte kurz und schüttelte dann den Kopf.

Evelyn dachte ebenfalls nach. Wenn dieser Mörder nicht nach körperlichen Attributen suchte, musste es etwas anderes geben. Etwas, das sie noch nicht sah.

„Sie sind sehr kurz vor dem Zeitpunkt entführt worden, an dem sie nach Aussage des Rechtsmediziners getötet worden sind“, fügte Tanner hinzu.

Evelyn schaute wieder zu der Frau, die im Boden steckte. Der Mörder hielt sie also nicht lange fest. Das verriet ihr, dass die Darstellung der Leichen für ihn mindestens genauso wichtig war wie das Töten – wenn nicht sogar wichtiger.

Aber noch wurde sie nicht schlau daraus, was es mit dieser Zurschaustellung der Toten auf sich hatte. Die Verspannung in ihren Schultern verstärkte sich. „Erzählen Sie mir, wie sie entführt wurden.“

„Wie schon gesagt, sind wir ziemlich sicher, dass es sich bei der noch vergrabenen Frau um Barbara handelt. Sie ist zuletzt in einem Supermarkt gesehen worden. Ein paar Stunden später meldete ihr Ehemann sie als vermisst. Wir haben ihr Auto mit einem platten Reifen auf dem Parkplatz des Supermarkts gefunden, doch weit und breit kein Zeichen von ihr. Mary Ann wurde das letzte Mal gesehen, als sie das Haus einer Freundin verließ. Das war gegen elf Uhr nachts. Ihr Auto fanden wir hinter der nächsten Straßenecke.“

Sie schaute ihn an. „Reifenschaden?“

„Nein.“

„Was können Sie mir noch sagen?“

„Die beiden hatten keine Feinde. Wir haben niemanden gefunden, der Mary Ann oder Barbara Böses wollte.“

Natürlich nicht. Diesen Morden lag keines der üblichen Motive wie Rache zugrunde. Wenn dem so wäre, wäre die Lösung des Falles nur eine Frage von solider Polizeiarbeit: Die Person suchen, die einen Grund hatte, den Frauen zu schaden, und sie solange bearbeiten, bis sie ein Geständnis ablegte. In so einem Fall wäre die Erstellung eines Profils reine Zeitverschwendung.

Serienmorde waren jedoch ganz andere Verbrechen. Normale Motive galten hier nicht, und normale Untersuchungsmethoden griffen nicht. Nur deshalb gab es ihren Job. Profiler sahen Tatorte mit anderen Augen.

„Sie werden den Mörder nicht finden, indem Sie im Leben der Opfer nach Menschen suchen, die einen Groll gegen sie hegten“, sagte sie. „Sie kannten ihn nicht – oder wenn, dann nur sehr oberflächlich.“

„Also habe ich unnötig Zeit vergeudet?“ Tanners Miene spiegelte Verärgerung, doch darunter sah sie auch Bedauern.

„Als sie vermisst gemeldet wurden, haben Sie das Richtige getan. Doch jetzt, wo wir davon überzeugt sind, es mit einem Serientäter zu tun zu haben, müssen wir einen anderen Weg einschlagen.“

„Tut mir leid“, sagte er so leise, dass sie es kaum hörte.

Sie war nicht sicher, ob er mit ihr oder mit Barbara sprach, doch sie antwortete trotzdem. „Es ist nicht Ihre Schuld.“ Er war ein Polizist, kein Profiler, also gab es keinen Grund, warum er wissen sollte, wie ein Serienkiller dachte. Manchmal spät in der Nacht, wenn sie einen Fall nicht aus dem Kopf bekam, wünschte sie sich, es auch nicht zu wissen.

Doch sie hatte diesen Beruf gewählt, als sie zwölf Jahre alt gewesen war. Als ihre Welt um sie herum zusammengebrochen war. Und jetzt war es das Einzige, worin sie richtig gut war. Das Einzige, wo sie etwas bewegen konnte.

Sie wischte sich die Hände ab und erhob sich, um den Polizisten mit den Schaufeln Platz zu machen, die anfingen, Barbara auszugraben. Sie würde warten, bis sie es mit eigenen Augen sah, doch sie wusste jetzt schon, dass Barbara mit merkwürdigen blauen Flecken übersät wäre und eine kreisförmige Schnittwunde in der Brust hätte.

„Ich nehme an, über die Todesursache können wir noch nichts sagen?“

„Bei Mary Ann vermutet der Rechtsmediziner stumpfe Gewalteinwirkung gegen den Schädel, doch bei Barbara ist davon nichts zu erkennen. Genaueres kann er erst sagen, wenn er die Autopsien durchgeführt hat.“

„Was ist mit den Hämatomen? Irgendeine Ahnung, woher die stammen?“

„Nein.“ Der Rechtsmediziner, der inzwischen zu ihnen getreten war, richtete seinen durchdringenden Blick auf Evelyn. „Ich kann nur sagen, sie sind nicht von Fäusten verursacht worden. Sie stammen von verschiedenen Objekten, denn sie haben alle unterschiedliche Formen und Größen.“

Evelyn schaute sich Mary Ann näher an. Die Flecken auf ihrem Körper waren meistens rund, doch der Rechtsmediziner hatte recht. Die Kreise waren nicht gleichmäßig. Sie weckten den Eindruck, der Mörder habe der Frau die Schmerzen aus reinem Vergnügen zugefügt und sie hätten es hier mit einem Sadisten zu tun. Doch irgendetwas daran fühlte sich falsch an.

Als die Polizisten sich an die Arbeit machten, ging Evelyn ein paar Schritte zurück und ließ ihren Blick über die unendliche Weite und Einsamkeit des Waldes schweifen. Sie dachte an die beiden Opfer, die hier zurückgelassen worden waren. „Nur zwei Wochen Abstand“, murmelte sie.

„Was?“, fragte Tanner.

„Mary Ann und Barbara sind mit einem Abstand von zwei Wochen entführt worden. Vorausgesetzt, das hier ist Barbara. Und jetzt sind wieder zwei Wochen vergangen.“

Tanners Gesicht war mit einem Mal kalkweiß. Er wippte auf den Fersen vor und zurück. „Halten Serienmörder sich an solche Muster?“

„Normalerweise ja. Aber zwei Wochen zwischen den Morden ist eine sehr kurze Zeit.“ Evelyn betrachtete die umliegende Szenerie genauer, die Spielwiese des Mörders. „Nicht viel Zeit, um ein potenzielles Opfer zu finden, auszuspionieren und zu töten.“

Röte stieg in Tanners Wangen, über seine Ohren bis in den Haaransatz. „Vor zwei Tagen ist eine weitere Frau vermisst gemeldet worden.“

„Was?“

Er scharrte mit den Schuhen im Laub. „Wir glauben nicht, dass es einen Zusammenhang gibt. Sie ist nicht aus Bakersville, sondern aus Kensington. Ihr Mann hat der Polizei von Kensington erzählt, dass sie nach einem Streit wütend aus dem Haus gelaufen ist.“

Evelyn versuchte, sich ihre Frustration nicht anmerken zu lassen. „Und warum glauben Sie, dass es keinen Zusammenhang gibt? Weil Sie sie hier nicht bei den anderen begraben gefunden haben?“

„Nein, weil das nicht das erste Mal ist, dass sie sich so verhält. Ihr Mann hat ihr Verschwinden erst nach vierundzwanzig Stunden gemeldet.“

„Was meinen Sie damit, es ist nicht das erste Mal?“

„Offensichtlich verlässt sie jedes Mal, wenn sie sich mit ihrem Mann streitet, mit einer Freundin die Stadt. Diese Freundin ist derzeit im Urlaub und geht nicht ans Handy, aber der Ehemann sagt, die Chancen stehen gut, dass seine Frau bei ihr ist.“

Mit einem frei herumlaufenden Serienmörder in der Gegend war Evelyn nicht gewillt, irgendwelche Risiken einzugehen. „Sie sollten sich mit der Polizei von Kensington in Verbindung setzen, sie über Ihre Ermittlungen informieren.“

Tanner schien angesichts dieses vermeintlichen Befehls eine scharfe Entgegnung auf der Zunge zu liegen, also frage Evelyn schnell: „Wie weit sind wir vom Auto bis hierher gelaufen?“

Der Themenwechsel überraschte ihn, doch er antwortete trotzdem. „Ungefähr eine Viertelmeile.“

„Und es gibt keinen anderen Weg hierher?“

Tanner zuckte mit den Schultern und stieß den Atem aus. „Falls es den gibt, dann kennt selbst Harris ihn nicht. Und er wohnt schon sein ganzes Leben auf diesem Grundstück. Vor ihm gehörte es seinen Eltern.“

„Eine Viertelmeile ist ein langer Weg, um zwei Leichen zu transportieren. Haben Sie irgendwelche Reifenspuren im Matsch gefunden?“

„Nein. Definitiv nichts.“

„Also hat er sie nicht mit einer Schubkarre hergebracht.“

„Vermutlich nicht. Aber ist es wirklich wichtig, wie er sie hierher geschafft hat?“, wollte Tanner wissen. „Sollten wir uns nicht darauf konzentrieren, ihn zu finden?“

„Wenn der Täter seine Opfer eine Viertelmeile getragen hat, dann ist er sehr stark. Eine tote Frau ist nicht nur schwer, sondern auch unhandlich, vor allem, wenn die Totenstarre schon eingesetzt hat.“

Interesse funkelten in Tanners Augen auf. „Und?“

„Und er muss größer als seine Opfer sein und mehr wiegen. Er musste wissen, dass er aller Voraussicht nach nicht gestört würde, wenn er sie begrub. Denn wenn er eine Viertelmeile tief im Wald gesehen worden wäre und die Polizei wäre aufgetaucht, hätte er in Schwierigkeiten gesteckt. Wie sollte er entkommen? Und stellen Sie sich einmal vor, wie lange er hierfür gebraucht haben muss.“ Sie deutete auf Barbara, die erst teilweise ausgegraben war, obwohl drei Cops daran arbeiteten.

Als Tanner den Mund öffnete, wusste sie genau, was er sagen würde, also kam sie ihm zuvor. „Er wollte damit durchkommen. Man hört oft, dass Serienmörder tief in ihrem Inneren geschnappt werden wollen, doch das ist meist Bullshit. Dieser Kerl hat Spaß. Er will nicht in Handschellen oder mit einer Kugel im Schädel enden. Er will damit durchkommen. Er will weiter töten.“

„Glauben Sie, dass er es ausschließlich auf Frauen aus Bakersville abgesehen hat?“

„Ich denke, er jagt dort, wo er lebt.“

Tanner schwankte, sein Unbehagen war ihm deutlich anzusehen. „Bakersville ist eine kleine Stadt, Agent Baine. Ich kenne hier so ziemlich jeden.“

Bakersville würde nie wieder so sein wie vorher. Sie war in anderen Städten gewesen, in denen die Einwohner glaubten, Serienmörder sähen aus wie Monster und kein Mitglied ihrer Gemeinde würde solch dunkle Verlangen verbergen. Einst hatte sie sogar selber in so einer Stadt gewohnt.

Und das Monster dort hatte ihr Leben in Fetzen gerissen.

„Der Mörder erscheint seinen Mitmenschen als völlig normal. Er ist kein Fremder. Und er ist kein Amateur. Das hier sind nicht seine ersten Morde.“ Evelyn bedachte Tanner mit ihrem Profilerblick, der ihn warnte, dass es erst noch viel schlimmer kommen würde, bevor es besser werden konnte. „Der Mörder wird nicht aufhören, bis wir ihn stoppen.“

2. KAPITEL

„Greg!“, rief eine tiefe Stimme, beinahe schon unerträglich laut durch den ansonsten stillen Raum voller BAU-Agents.

Gregs Kopf tauchte über der Trennwand von seinem Arbeitsplatz auf, der Blick leicht abwesend, als wenn er immer noch ganz in Gedanken wäre.

Evelyn erkannte die Stimme. Gregs Cousin Gabe Fontaine, der in der Nachbarstadt Quantico arbeitete.

„Wieso bist du so früh?“, fragte Greg, als Gabe seinen Schreibtisch erreichte.

Wie immer, wenn sie nebeneinanderstanden, konnte Evelyn sich auch jetzt wieder vorstellen, wie Greg vor zehn Jahren ausgesehen haben musste. Gabe war größer, breiter und blonder, doch die Verwandtschaft war nicht zu übersehen.

„Das Abseiltraining musste abgebrochen werden, weil es technische Probleme mit dem Helikopter gab“, erwiderte Gabe.

Gabe war Mitglied des Hostage Rescue Teams des FBI, das für Geiselrettungen zuständig war. Genau wie BAU gehörte auch das HRT zu der sogenannten Critical Incident Response Group, einer Einsatzgruppe, die gegründet worden war, um schnellstmöglich im ganzen Land auf Krisensituationen reagieren zu können. Während die Agents der BAU normalweise von ihrem Schreibtisch aus arbeiteten und versuchten, sich in die Gehirne gestörter Mörder hineinzuversetzen, zogen die HRT-Agents ihre Kevlarwesten an und rückten aus, um sich Geiselnehmern und Terroristen von Angesicht zu Angesicht zu stellen.

Evelyn wirbelte mit ihrem Stuhl herum und stieß gegen ein paar muskulöse Beine. Tatsächlich, während Gabe in Gregs Arbeitsnische verschwunden war, hatte sein Teamkollege Kyle McKenzie sich von hinten an sie herangeschlichen. Es überraschte sie, dass sie seine Anwesenheit nicht gespürt hatte. Sie arbeitete allein unter Männern, doch wenn die HRT-Agents vorbeikamen, schien der Testosteronlevel um ein Vielfaches zu steigern.

„Hey Evelyn.“ Kyle zwinkerte ihr zu und ließ ein Lächlen aufblitzen, das seine Grübchen zum Vorschein brachte. „Hast du etwa versucht, mich umzufahren?“

Sofort stieg ihr die Röte in die Wangen. Ohne Zweifel war das sein Modus Operandi bei Frauen. Aufgrund seiner stechend blauen Augen und dem lässigen Lächeln hatte er vermutlich mehr Dates pro Woche, als sie in den letzten Jahren gehabt hatte.

Sie bemühte sich um eine schlagfertige Antwort. „Ich muss wohl noch ein wenig an meinem Schwung arbeiten.“

Kyle lachte auf. Genau wie Gabe trug er, was sie das Actionhelden-Outfit nannte. Während in ihrem Schrank fast ausschließlich Anzüge zu finden waren, trugen HRT-Agents Cargohosen und T-Shirts, wenn sie zur Arbeit gingen.

Als er näherkam, erwiderte sie seinen bohrenden Blick, schaute ihm direkt in die Augen, die ihren Blick einen Tick zu lange festhielten, dann verfluchte sie sich im Gedanken dafür, ihn gereizt zu haben. Er war sowieso schon viel zu verführerisch, wenn er sie nur aufzog. Wenn sie ihn jetzt noch ermutigte und er ein bisschen mehr aufdrehte, würde sie ihm dann noch widerstehen können? Sie wandte den Blick ab. „Hi McKenzie.“

„Alle nennen mich Mac.“ Erinnerte er sie, wie jedes Mal, wenn er die BAU besuchte.

Und Evelyn ignorierte es. Sein ständiges Flirten brachte sie aus dem Gleichgewicht. Im Gegensatz zu anderen Männern, die versuchten, sich an sie ranzumachen, ließ er sich von der Tatsache, dass sie eine Waffe trug und einen Blick aufsetzen konnte, der abgebrühte Killer gestehen ließ, nicht einschüchtern. Ihn bei seinem vollen Nachnamen zu nennen, verschaffte ihr das dringend benötigte Gefühl von Distanz.

Denn ebenfalls anders als bei anderen Männern, die sie anmachten, lief sie bei ihm Gefahr, ihre Bedenken in den Wind zu schießen. Doch dazu war ihr ihre Karriere zu wichtig. Eine Beziehung mit einem Agenten konnte Anlass für eine Versetzung sein, und sie hatte zu lange, zu hart dafür gearbeitet, dahin zu kommen wo sie nun war, um das zu riskieren.

Sie rollte mit ihrem Stuhl ein Stück näher an ihren Schreibtisch zurück.

„Mac will nie mit zum Lunch, außer ich komme hierher“, fuhr Gabe fort. „Ich denke, er steht auf dich, Greg.“

Evelyn musste nicht hinsehen, um zu wissen, dass Greg die Augen verdrehte. Ernst zu sein war Gabe so fremd, wie ihr die Kollegen mit Witzen zu unterhalten.

„Vielleicht hat Evelyn Lust, uns zu begleiten.“ In Gregs Stimme lag ein leicht amüsierter Unterton, obwohl Evelyn nicht wusste, warum.

Ihr lag schon ein „Okay“ auf der Zunge. Doch dann fiel ihr Blick auf die BAKBURY-Akte auf ihrem Monitor– die FBI-Abkürzung für den Bakersville Burial Killer. Sie dachte daran, in welcher Frequenz der Mörder zuschlug, und sagte stattdessen: „Ich habe …“

Kyle schnitt ihr das Wort ab. „Zu viel zu tun.“ Er zeigte auf ihren Computer. „Der ist auch noch da, wenn du vom Lunch zurückkommst. Du musst hier mal raus, etwas Spaß haben.“

Gabe sah Kyle vorwurfsvoll an, und Evelyn fragte sich, ob der Grund dafür war, dass er glaubte, das Wort Spaß käme in ihrem privaten Wörterbuch nicht vor.

Damit lag er gar nicht so falsch. Sie würde es nicht riskieren, einen Fall in den Sand zu setzen, und bei diesem war der Faktor Zeit besonders wichtig. Außerdem hatte sie ein Auge auf Dans Job geworfen. Sie bräuchte vielleicht noch zehn Jahre oder länger, aber als Chef würde sie die Entscheidung darüber haben, welche Fälle die Abteilung bearbeitete, auch bei den wenigen alten, ungeklärten Fälle, denen sie sich immer wieder widmeten. Jeder Fall wurde Ernst genommen, aber sie war der BAU beigetreten, um einen ganz bestimmten zu lösen.

Also zuckte sie entschuldigend mit den Schultern und sagte: „Ich habe tatsächlich zu viel zu tun.“ Sie hatte sogar ihren üblichen Morgenlauf ausgelassen, um früher anfangen zu können, was sich als gute Idee erwiesen hatte, da der Bakersville-Fall ziemlich komplex zu sein schien.

Kyle wollte ihr gerade widersprechen, da tauchte Dan an ihrem Tisch auf.

„Wie lief der Termin in Bakersville?“

„Gut.“ Da sie wusste, dass ihm das nicht reichen würde, fügte sie hinzu: „Ich arbeite gerade an dem Profil.“

Dan nickte und warf Gregs Kumpanen dann einen finsteren Blick zu. Er hatte nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass er es nicht mochte, fremde Agenten in Aquia zu sehen.

Evelyn nahm an, jedes Mal, wenn einer der HRT-Agents zu Besuch kam, kehrte er in sein Büro zurück und nahm eine doppelte Dosis Säureblocker.

„Wenn du das Profil mit mir durchgehen willst, ich habe heute Nachmittag Zeit.

Während Dan wieder in sein Büro ging, versuchte Evelyn, ihren Kiefer zu entspannen. Warum schlug Dan ihr immer vor, sich Hilfe für ihre Profile zu suchen? Selbst jetzt noch, wo sie schon ein ganzes Jahr in der Abteilung war? Was würde ihn davon überzeugen, dass sie qualifiziert genug war?

„Immer noch der FNG, Evelyn?“, fragte Kyle und benutzte damit den FBI-Slang für Fucking New Guy. Eigentlich waren damit Agents gemeint, die frisch aus der Ausbildung kamen, aber manchmal wurde er auch für solche benutzt, die neu in einer Sondereinheit waren.“

„Sieht so aus.“

„Dan mag es einfach nicht, dass Evelyn der Ruf als Naturtalent im Profiling vorauseilte, bevor sie anfing, für ihn zu arbeiten“, erklärte Greg.

„Wirklich?“ Gabe streckte den Kopf über die Trennwand zwischen ihren Schreibtischen und grinste sie an. „Wie kommt‘s?“

„Ist mir auch ein Rätsel“, antwortete Evelyn und versuchte unberührt zu klingen.

„Ach komm schon.“ Gabe schlug den gleichen schmeichelnden Tonfall an, den er benutzte, um Greg Informationen zu entlocken, die dieser ihm eigentlich nicht geben wollte. „Ich liebe gute Rätsel.“

„Ich hatte Glück“ log sie. Über ihre Vergangenheit zu sprechen fiel ihr schwer – sogar an ihre Vergangenheit zu denken fiel ihr schwer.

Sie war bei der BAU, weil sie beinahe ihr ganzes Leben darauf hingearbeitet hatte. Sie war kein Naturtalent im Profiling. Sie studierte die Techniken, seitdem sie zwölf war. Seitdem ihre beste Freundin entführt wurde. Aber sie hatte nie mit Greg oder sonst jemandem aus ihrer Einheit über Cassie sprechen können.

Vielleicht weil sie, wenn sie darüber sprach, sich die Wahrheit eingestehen musste – dass die Wahrscheinlichkeit groß war, dass Cassies Fall nie aufgeklärt werden würde.

„Die Rätsel, die Evelyn umgeben, machen sie nur interessanter.“ Kyle zwinkerte ihr zu.

Evelyn rutschte auf ihrem Stuhl herum und versuchte, seinem aufmerksamen Blick auszuweichen. Sie konnte verurteilten Mördern gegenübersitzen und ihre Angst, ihren Ekel verbergen und sie glauben machen, sie bewundere ihre Gerissenheit, damit sie ihr die Verstecke der Leichen verrieten. Wieso also schien ausgerechnet der attraktive Kyle McKenzie jeden ihrer Gedanken lesen zu können?

Greg war danach, Geschichten zu erzählen, und dann gab es nichts, was ihn davon abhalten konnte. „Evelyn ist offenbar mit der Fähigkeit geboren worden, Menschen zu analysieren, während wir anderen das mühsam lernen mussten. Also nahm man sie als jüngstes Mitglied in der BAU auf, von dem ich je gehört habe. Während sie dem FBI-Regionalbüro in Houston zugeteilt war, hat sie einen Serienvergewaltiger in den Reihen der Polizei aufgedeckt.“

„Wirklich?“ Gabe hob die Augenbrauen beinahe schon zeichentrickartig an. „Und dann hat die BAU gleich nach dir gerufen?“

„Nicht ganz. Ich habe mich beworben wie jeder andere auch.“ Ein kleines Lächeln erschien auf ihren Lippen. „Aber der Fall hat mir dabei definitiv geholfen.“

Kyle lächelte amüsiert. „Kommt schon. Wenn sie uns die ganze Geschichte erzählt, nimmt das den geheimnisvollen Zauber, der sie umgibt.“

Evelyn spürte, wie sich ihre Mundwinkel heben wollten, doch sie hielt das Lächeln zurück, damit Greg nicht noch weiter erzählte.

„Bist du sicher, dass du nicht mit zum Lunch kommen willst?“, fragte er, während er sein Jackett über einem Kaffeefleck auf dem Hemd zuknöpfte.

Sie wäre gerne mitgegangen, zwang sich jedoch, den Kopf zu schütteln. „Seit dem letzten Opfer in meinem Fall sind zwei Wochen vergangen, was der Zeitrahmen des Täters zu sein scheint. Mit jeder Minute, die wir ihn nicht finden, wächst die Wahrscheinlichkeit, dass er wieder zuschlägt.“

Und sie war noch weit davon entfernt, ein echtes Profil von einem Mörder fertig zu haben, der seinen Opfern Kreise in die Brust ritzte und sie dann bis zum Hals eingrub. Sie wandte sich wieder ihrem Computer zu.

„Viel Spaß, Greg. Wiedersehen, Gabe. McKenzie.“

Als er am Morgen zur Arbeit aufgebrochen war, hatte Greg Ibsen nicht damit gerechnet, den Nachmittag auf einer Beerdigung zu verbringen. Aber nun war er hier, das graue Sakko zugeknöpft, um die Mickey-Maus-Krawatte zu verbergen, die seine Tochter Lucy für ihn herausgesucht hatte – und den üblichen Kaffeefleck auf seinem Hemd.

Neben ihm stand Evelyn stocksteif und behielt ihre Umgebung im Blick. Ihr teurer Anzug war etwas weiter geschnitten, um die Waffe zu verbergen, die sie immer an der Hüfte trug, und ihr schwarzes Haar war wie immer zu einem ordentlichen Knoten zusammengebunden. Sie war ganz im Profiler-Modus, der Blick geschärft, die Miene starr.

Barbara Jensen, die offiziell als zweites Opfer in dem Fall identifiziert worden war, den man Evelyn am Vortag übertragen hatte, war im engsten Familienkreis beigesetzt worden. Auf Mary Ann Pollaks Beerdigung hingegen fühlte sich der Friedhof überfüllt an. Was bedeutete, dass sie in der Menge unsichtbar waren. Genau wie der Mörder.

Evelyn hatte Greg gebeten, sie zu begleiten, weil sie dann weniger auffallen würde. Vor allem weil sie mit ihrer dunklen Haut unter all den Weißen sowieso schon heraus stach.

„Siehst du was?“, fragte sie ihn jetzt.

„Niemanden, der aussieht, als gehöre er nicht hierhin.“ Kein Mann, der alleine zu sein schien. Niemand, der Traurigkeit im Gesicht, aber Freude in den Augen trug.

Evelyn glaubte, der Mörder hatte schon einmal gemordet, bevor er nach Bakersville gekommen war, und wenn das stimmte, standen die Chancen gut, ihn hier anzutreffen. Anfangs hielten sich Serienmörder von riskanten Veranstaltungen wie Beerdigungen fern, doch die Erfahreneren unter ihnen tauchten oft auf, um noch einmal das Gefühl zu erleben, welches sie während der Tötung ihrer Opfer empfunden hatten.

Aber nicht alle von ihnen mochten Beerdigungen. Manche kehrten lieber zum Ablageort der Leichen zurück. Und andere hatten sich weit genug im Griff, dass sie sich gänzlich von so etwas fernhielten. „Vielleicht ist er nicht hier.“

„Ja, vielleicht.“ Evelyn klang nicht überzeugt.

Wenn sie irgendein anderer Profiler aus der Einheit wäre, wüsste er, was sie gerade dachte. Dass der Mörder keine Nachrichten an Polizei oder Presse geschickt hatte. Dass er – zumindest soweit sie wussten – kein neues Opfer entführt hatte. Die Wahrscheinlichkeit, dass er hier war, war also groß.

Doch da es sich um Evelyn handelte, konnte sie genauso gut an etwas völlig anderes denken. Etwas völlig anderes das mit dem Fall zu tun hatte. Sie schien jede wache Stunde damit zuzubringen, über ihre Fälle nachzudenken. Und vermutlich die meisten schlafenden Stunden auch.

Er hatte das schon früher bei Agents gesehen, die neu zur BAU kamen und es nicht schafften, Job und Privatleben zu trennen. Das führte immer unweigerlich irgendwann zum Burn-out, manchmal sogar zu schwerwiegenderen psychischen Problemen.

Ein ganzes Jahr lang war sie jetzt in der BAU, und sie und Greg waren Freunde geworden. Doch trotzdem wusste er kaum etwas über ihr Privatleben. Er vermutete, dass sie nie eine gesunde Work-Life-Balance kennengelernt hatte. Sie war zu getrieben, wurde zu offensichtlich noch von irgendeiner Tragödie ihrer eigenen Vergangenheit verfolgt. Er fragte sich, wie lange sie noch so weitermachen und den Job über alles stellen konnte, bevor sie ihren Preis dafür würde zahlen müssen.

„Bist du sicher, dass die andere nicht damit zusammenhängt?“, fragte er leise, während er Evelyn folgte, die weiter vor in Richtung des Rabbis ging.

Sie wusste sofort, was er meinte. Obwohl niemand sie lesen konnte, stünde ihr auch gut eine Karriere als Gedankenleserin offen. Was ohne Zweifel mit ein Grund war, warum sie zu den begnadetsten Profilern gehörte, die er je getroffen hatte.

„Ich habe mit ihrem Mann gesprochen. Er sagte, es wäre ihm peinlich, dass er überhaupt die Polizei angerufen hat“, flüsterte Evelyn.

Nach allem, was sie ihm erzählt hatte, war Carla Bridgemoor aus Kensington, einer nahegelegenen Kleinstadt verschwunden und nicht wieder aufgetaucht. Da der Mörder nicht darauf aus war, dass die Leichen gefunden wurden, fragte Greg sich, warum Evelyn so sicher war, dass Carla nicht sein derzeitiges Opfer war.

Er musste die Frage jedoch nicht stellen, weil Evelyn sie auch so beantwortete. „Wir versuchen immer noch, Carlas Freundin zu erreichen, aber alle sind sicher, dass sie bei ihr ist. Außerdem hat er seine letzten beiden Opfer zusammen begraben, als wenn er zurückkommen und sie besuchen wollte. Ich schätze, wen er sich Carla geschnappt hätte, hätten wir sie ebenfalls in der Nähe gefunden.“

Während sie sprach, drängte Evelyn weiter in die Menge, um sich weitere Gesichter der Anwesenden ansehen zu können.

Aber niemand kam ihnen verdächtig vor. Die meisten Menschen hatten rot geränderte Augen, die Köpfe im Gebet gesenkt. Manche weinten ungehemmt, suchten Halt bei Freunden und Familie.

Als der Rabbi aufhörte zu sprechen, wandten die Trauernden sich einander zu, um sich zu umarmen und zu trösten.

„Es ist grauenvoll“, wimmerte eine Frau hinter ihnen. „Sie war so jung. Einem Mörder über den Weg zu laufen …“

Greg stimmte ihr schweigend zu. In seinem Beruf hatte er zu viele Opfer gesehen, deren Wege sich mit denen von Mördern gekreuzt hatten. Was ihn an diesem Fall am meisten erschrak, war, dass er, nachdem er Evelyns Aufzeichnungen gelesen hatte, überhaupt kein Gefühl für den Mörder entwickeln konnte. Köpfe, die tief im Wald zu Schau gestellt wurden, ergaben für ihn keinen Sinn – vor allem nicht im Zusammenhang mit den anderen verhaltensbezogenen Beweisen.

Er hätte an Nekrophilie gedacht, doch dafür waren die Leichen zu früh entsorgt worden. Die logische Annahme bezüglich der Köpfe war die, dass der Mörder sie nicht mit begraben hatte, damit er zurückkehren und sich an seine Taten erinnern konnte. Doch tief in den Wäldern war kein guter Ort, wenn man wollte, dass die Leichen intakt blieben. Wenn es dem Killer jedoch um die weitere Demütigung ging, die Leichen von Tieren zernagen zu lassen, warum hatte er dann den Großteil der Körper eingegraben?

Nein, hier ging es um etwas anderes, etwas, das mit den Köpfen zu tun hatte. Dem war er sich sicher. Er wusste nur noch nicht, was es war.

Hoffentlich verstand Evelyn das Vorgehen des Mörders besser als er, denn da nur zwei Wochen zwischen den Morden lagen, blieb ihr nicht viel Zeit, ihn aufzuspüren.

Die Presse hatte die Geschichte überall auf die Titelseiten gebracht und dem Unbekannten auch schon einen klangvollen Namen verpasst: der Totengräber von Bakersville. Das könnte den Mörder abtauchen lassen – oder ihn zu neuen Taten anspornen, um diesen Namen weiterhin in den Schlagzeilen zu lesen.

Auf der Straße vor dem Friedhof warteten bereits Reporter. Er wich den Fotografen und Kameramännern aus, als er mit Evelyn zusammen dem Strom der Trauernden folgte, die zu ihren Autos zurückkehrten.

Als sie seinen vom Bureau zur Verfügung gestellten Ford Taurus erreichten, blieb Evelyn an der Tür stehen und ließ ihren Blick über die Menge schweifen. Er stellte sich neben sie und tat so, als warte er auf jemanden.

Sie beobachteten, bis nur noch die engste Familie übrig war, und niemand sah so aus, als gehöre er nicht hierhin. Sie stiegen ein, und Greg mutmaßte: „Vielleicht ist er gar nicht auf den Friedhof gekommen. Vielleicht hat er irgendwo eine Stelle gefunden, von wo aus er alles beobachten konnte, ohne selbst gesehen zu werden.“

„Ja, vielleicht.“ Dadurch wie sie antwortete, wusste er, dass sie von seiner Theorie nicht überzeugt war. „Dieser Kerl ist so vorsichtig. Es gab keinerlei Spuren am Fundort. Nichts. Es ergibt durchaus Sinn, dass er nicht riskieren wollte, gesehen zu werden.“

Greg warf ihr einen kurzen Blick zu, während er den Wagen durch die Seitenstraßen manövrierte. „Aber?“

„Aber mein Bauchgefühl sagt mir: Er war da. Mein Bauchgefühl sagt mir: Es gefällt ihm, im Schutze der Menge zuzuschauen. Es sagt mir, dass er gut genug dafür ist, sowas abzuziehen.“

Sie knetete die Hände in ihrem Schoß, ein sicheres Zeichen dafür, dass sie an ihrem Profil zweifelte – etwas, das beinahe niemals vorkam.

„Er muss sich gut mit der Ermittlungsarbeit der Polizei auskennen“, fuhr sie fort. „Und die Tatsache, dass zwischen den beiden Entführungen nur zwei Wochen lagen und wir jetzt schon den siebzehnten Tag haben, macht mir Sorgen.“

„Du meinst, er ist weitergezogen?“

„Nein. Aber warum hält er sich nicht an sein Muster?“

„Ist das eine rhetorische Frage?“, wollte Greg wissen. Beide kannten die Gründe, warum ein Mörder von seinem Muster abwich.

Er hatte es mit der Angst bekommen, machte sich Sorgen, dass ihm jemand aus seinem Umfeld auf die Schliche gekommen war, oder er war wegen irgendetwas anderem verhaftet worden. Vielleicht war auch sein Auslöser – was immer in ihm den Tötungswunsch ausgelöst hatte – verschwunden. Zumindest für den Moment.

„Dieser Mörder ist gerissen, Greg.“

„Okay. Wie sieht dein nächster Schritt aus?“

Er spürte Evelyns Blick, als er auf den Parkplatz des Polizeireviers von Bakersville einbog, wo er sie absetzte. „Ich muss der Polizei von Bakersville schnellstmöglich ein Profil übergeben. Sie brauchen proaktive Vorschläge, wie sie dieses Arschloch fassen können. Aber Bakersville hatte den letzten Mordfall vor fünf Jahren, und der war eindeutig gewesen. Diese Polizisten sind keine Gegner für unseren Mörder.“

Vielleicht nicht, aber Evelyn war es. In diesem ersten Jahr in der BAU hatte sie nicht jeden Mörder, Vergewaltiger, Brandstifter, Kinderschänder oder Terroristen geschnappt, dessen Fall auf ihrem Tisch gelandet war. Aber sie war näher dran als jeder andere Agent.

„Du findest ihn“, versicherte er ihr.

Sie schenkte ihm ein halbherziges Lächeln, was bei ihr so viel wert war wie ein breites Grinsen. „Das habe ich vor.“

Langsam jedoch verschwand das Lächeln, bis ihre Lippen zu einer harten Linie zusammengepresst waren. „Der Mörder mag vielleicht noch nicht wieder zugeschlagen haben, aber an einer Sache zweifel ich kein bisschen. Er hat sich sein nächstes Opfer bereits ausgesucht. Und wer auch immer sie ist, ihr bleibt nicht mehr viel Zeit.“

Zorn brannte in seiner Brust, als die Trauergäste einer nach dem anderen an den Sarg tragen und ein Gebet sprachen. Diese Hure. Wenn sie die Wahrheit wüssten, würden sie jetzt nicht für sie beten.

Er brannte darauf, sich zu ihnen zu gesellen, mit den Händen über den kalten Stahl zu gleiten, der ihren Körper umgab, anstatt nur mit ihrem Schmuckstück zu spielen, das er sich am Morgen in die Jackentasche gesteckt hatte.

Mary Anns Ehemann wandte sich weinend vom Sarg ab, und die Wut verstärkte sich. Wut über Fehler, an die er jetzt nicht denken durfte.

Er bemühte sich, eine Miene voll falscher Trauer zu tragen, kämpfte dagegen an, an dem Schnurrbart zu zupfen, dessen Kleber seine Oberlippe jucken ließ. Widerstand dem Drang, vorzutreten und den Sarg zu berühren.

Der Drang wurde stärker, verschlang ihn, bis er den schließlich den Blick abwenden musste.

Dabei bemerkte er sie. Sie sah so beherrscht aus in ihrem teuren Anzug, den sie vermutlich extra für die Beerdigung ihrer Freundin gekauft hatte. Ihr Mann stand neben ihr, versuchte, sie zu trösten, doch sie ignorierte ihn, als er ihr treu durch die Menschenmenge folgte. Sie war wie all die anderen. Und sie verdiente es, bestraft zu werden.

Der Zorn in seiner Brust verlagerte sich, setzte sich tief in seinem Bauch zur Ruhe und breitete sich dann nach allen Seiten aus. Verwandelte sich in etwas anderes. In Vorfreude.

Sie war die Eine. Ihr kühles Äußeres forderte ihn heraus, ihr die Kontrolle zu entreißen, sie um ihr Leben betteln zu lassen und es ihr dann trotzdem zu nehmen. Er konnte sie bereits vor sich sehen, in den Wäldern, ihr Kopf für ihn zur Schau gestellt. Nur für ihn.

Seine Lippen zitterten vor Verlangen zu lächeln, doch er konnte sich auch beherrschen. Er würde zuschauen. Warten. Der Moment in dem er zuschlug würde kommen. Später.

Haggarty’s war einer der Orte, die Evelyn normalerweise mied. Der laute Pub mit dem gedämpften Licht war ein berüchtigter Singletreff, doch eine ihrer Freundinnen, mit denen sie sich heute traf, kam gerne hierher, wenn sie auf der Suche nach einem neuen Typen war.

Seitdem Evelyn in die Nähe von D.C. zurückgezogen war, traf sie sich einmal im Monat mit Audrey Foster und Josephine Carlyle, ihren Zimmergenossinnen vom College. Sie waren der Mittelpunkt ihres Soziallebens, und sie sagte den Termin niemals ab, außer sie musste die Stadt wegen eines Auftrages verlassen.

Doch heute, mit den Kopfschmerzen, die kurz nach dem Besuch einer Pressekonferenz in Bakersville eingesetzt hatten, wünschte Evelyn, sie hätte abgesagt. Gerade, als sie darüber nachdachte, ihre Freundinnen anzurufen, kam Jo herein.

Ihr schwarzes Kleid umschmiegte ihre üppigen Kurven, die Stilettos ließen sie größer wirken als die eins siebenundsechzig, die sie war, und ihr Make-up betonte ihre großen braunen Augen. Mit wiegenden Hüften und wallendem Haaren kam Jo auf die Sitzecke zu, die Evelyn reserviert hatte, und strahlte dabei ein Selbstbewusstsein aus, das Männer ihre Unterhaltung vergessen und ihr einfach nur hinterher starren ließ.

„Evelyn! Wie geht‘s?“ Jo setzte sich auf die Bank und winkte den Kellner heran. Als er angeeilt kam, bestellte sie einen Cocktail.

Jos Wirkung auf die Männerwelt entlockte Evelyn ein Lächeln. „Gut. So wie immer.“

Um Jos Mund bildeten sich kleine Sorgenfalten. „Zu viele Verbrecher, zu wenig Zeit?“

„So in der Art. Ich habe gerade einen besonders schwierigen Fall. Wie geht es dir?“

Jo winkte ab. „Ach, Arbeit ist Arbeit.“ Jo schrieb die Reden für einen Senator, was, wie sie gerne sagte, eine totale Verschwendung ihres Englischstudiums war. „Dusty und ich haben uns getrennt.“ Sie zog die Nase kraus. „Habe ich dir von Dusty erzählt?“

„Du bist mit jemandem namens Dusty ausgegangen? Vielleicht war das das Problem“, sagte Audrey, die in diesem Moment an den Tisch kam.

Evelyn verschluckte sich beinahe vor Lachen, doch Jo nickte nachdenklich. „Du schlägst vor, meine neueste Datingregel sollte sein, nie mit einem Mann auszugehen, dessen Namen ich nicht im Bett laut schreien wollte?“

Audreys Grinsen ließ Evelyn immer daran denken, wie sie wohl als Kind ausgesehen haben musste – lauter Sommersprossen und ein leicht schiefer Schneidezahn anstatt der eleganten Frau, die sie jetzt war. „Das ist doch mal ein Filter, um seine Dates auszusortieren.“ Sie ließ sich mit einem Seufzer auf die Bank sinken.

„Langer Tag?“, fragte Jo.

„Buchhalter sind es nicht gewohnt, den ganzen Tag auf den Beinen zu sein.“ Nach ihrer Hochzeit mit Mike Foster, einem orthopädischen Chirurgen aus reichem Haus, hatte Audrey ihren alten Job gegen ihren Traum eingetauscht und war nun stolze Besitzerin eines Ladens für exotische Blumen und Pflanzen.

„Ich glaube, Evelyn hat ihr Stresslimit auch erreicht“, sagte Jo.

„Oh?“ Audrey schaute Evelyn an.

„Stress gehört dazu, wenn man seine Tage damit verbringt, Serienmörder zu fangen“, gab Evelyn zurück.

„Wenn du dich noch in diesem Jahrhundert auf ein Date einlassen würdest, hättest du vielleicht auch mal die Chance, dich zu entspannen.“ Jo grinste, um der Bemerkung die Schärfe zu nehmen. „Hatte ich erzählt, dass mein Bruder und Faith sich scheiden lassen?“

Jo schaute sie erwartungsvoll an, doch Evelyn hatte jahrelange Übung darin, ihre Gefühle zu verbergen.

Während der Zeit auf dem College hatte sie sich in Jos älteren Bruder Marty verliebt und ihre eigene Regel gebrochen, sich niemals zu sehr auf einen Mann einzulassen. Doch ein paar Jahre später hatte Marty sie gegen Faith eingetauscht und es anscheinend nie bereut.

Audreys Blick wanderte zwischen ihnen beiden hin und her. „Wie kommt’s?“

„Ich schätze, er hat gemerkt, dass er einen Fehler gemacht hat.“ Jo wartete, bis sie bestellt hatten, dann fügte sie hinzu: „Er hat nach dir gefragt, Evelyn.“

Evelyns Magen fing sofort an zu brennen; mit einem Mal hatte sie überhaupt keinen Hunger mehr. „Das ist lange her, Jo.“

„Ja, das ist es. Er hat sich verändert. Er wohnt während der Scheidung bei mir. Wenn alles vorbei ist, bleibt er vielleicht in D.C., anstatt nach New York zurückzugehen.“

„Ich will ihn nicht sehen.“ Das Dröhnen in Evelyns Kopf verstärkte sich, je mehr der Schmerz in ihrer Brust zunahm, während sie sich daran erinnerte, wie Marty einfach aus ihrem Leben verschwunden war. Genau so, wie es jeder früher oder später unausweichlich tat.

Jeder außer ihrer Großmutter. Und Jo und Audrey, die bei ihr waren, seitdem sie nervös und völlig überwältigt das erste Mal ihr gemeinsames Zimmer im Wohnheim in Georgetown betreten hatte. Sie hatten den Kontakt beibehalten, als sie auf die Uni gegangen war, während ihrer Zeit auf der FBI-Academy und ihren kurzen Ausflug ins Regionalbüro in Houston. Jetzt, wo sie wieder in der Nähe von D. C. war, waren die beiden ihre Rettungsleine in die Welt außerhalb der BAU.

Jo trank einen großen Schluck von ihrem Cocktail. „Okay, ich … Nun, ich denke, er versteht langsam, was für ein Idiot er war und wie unmöglich er dich damals behandelt hat.“ Sie zuckte mit dem Schultern. „Ich dachte nur, dass ich es dir sagen sollte.“

Evelyn legte eine Hand an ihre Schläfe. „Das ist doch alles Schnee von gestern.“

Bevor Jo etwas erwidern konnte, sagte Audrey: „Kennst du die?“

Sie schaute zum Eingang des Pubs, wo zwei Männer sich einen Weg durch die Gäste auf sie zu bahnten.

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