Schicksalsnächte mit dem Highlander

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»Ich werde Eure Geliebte, so lange Ihr wollt, wenn Ihr mir danach helft, ins Kloster zu gehen.« Fassungslos hört Bowen, der neue Laird von Montgomery Keep, was die Hure seines Erzfeindes ihm vorschlägt. Glaubt Genevieve etwa, durch ihr schamloses Angebot seine Gunst zu erlangen? Oder verfolgt die Highlanderin einen niederträchtigen Plan? Doch warum ist ihr Blick so leer und verzweifelt? Bowen ahnt, dass sich hinter ihren schönen, aber gequälten Zügen ein grauenvolles Schicksal verbirgt - und merkt, dass sie ihn bereits tiefer berührt hat als je eine Frau zuvor …

»Eine gefühlvolle Highland-Romanze.«
Kirkus Reviews


  • Erscheinungstag 03.04.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783955768379
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. Kapitel

Wünschst du dir manchmal, in der Zeit zurückreisen zu können, und sei es nur einen flüchtigen Augenblick lang?«, fragte sich Genevieve McInnis flüsternd. Sie stand am Fenster des winzigen Turmgemaches, das man ihr vor über einem Jahr zugewiesen hatte.

Die Sommersonne stand hoch am Himmel und sank noch lange nicht gen Horizont, und dennoch spürte Genevieve die nahende Dunkelheit. Sie würde hereinbrechen, das wusste sie. Die Montgomerys würden nicht hinnehmen, dass einer Frau aus ihrem Clan Unrecht zugefügt worden war. Der gesamte McHugh-Clan – oder zumindest das, was davon übrig war – würde für Ian McHughs Schandtat büßen.

Sie hätte Angst empfinden sollen, aber sie hatte ihr Schicksal schon vor Langem als unausweichlich angenommen und damit auch den Umstand, dass sie womöglich sterben würde. Sie fürchtete den Tod nicht mehr so sehr wie früher. Es gab Schlimmeres als den Tod, wie sie hatte erfahren müssen. Manchmal erforderte das Leben weit mehr Mut. Einem neuen Tag entgegenzusehen, durchzuhalten – für solche Dinge brauchte man tatsächlich Kraft, viel mehr als fürs Sterben.

Der Wind frischte auf, wehte ihr kühl ins Gesicht und linderte das sengende Brennen der Sonne. Genevieve meinte, einen Nachhall ihrer Frage zu vernehmen, als hätte die Brise diese aufgegriffen und ihr wieder zugetragen.

Wäre sie Ian McHugh nur nie über den Weg gelaufen! Wäre sie doch nur in ihrer Kammer geblieben an jenem schicksalhaften Tag, da er an den Königshof gekommen und ihr umgehend verfallen war.

Doch seine Besessenheit war nicht auf sie beschränkt geblieben. Er war ein Sammler gewesen, hatte Frauen gesammelt. Sie waren für ihn Gegenstände, bloßer Besitz. Wie ein launisches Kind, das seine Lieblingsspielzeuge hortet, hatte er sich gebärdet. Wenn er Genevieve nicht besitzen konnte, so hatte er gemeint, dann sollte auch kein anderer Mann sie haben.

Mit Eveline Montgomery war es genauso gewesen. In ihrem Fall hatte er sich allerdings mit dem falschen Clan angelegt und mit dem Leben bezahlt. Graeme Montgomery hatte gerächt, was Ian an Eveline verbrochen hatte, und ihn vor den Augen des gesamten McHugh-Clans mit dem Schwert durchbohrt.

Nun zitterte der Clan vor der Rückkehr der Montgomerys. Ians Vater Patrick, der Laird – so lächerlich der Titel in diesem Fall anmutete –, hatte heute Morgen die Flucht ergriffen, weil er wusste, dass Graeme Montgomery Vergeltung üben würde. Und eben darum, um Vergeltung, hatte Genevieve in ihren Gebeten gefleht.

Endlich! Endlich durfte sie auf Freiheit zumindest hoffen.

Patrick war nur dem Titel nach Laird. Ian hatte sich schon in jungen Jahren rücksichtslos über ihn hinweggesetzt, hatte sämtliche Entscheidungen getroffen und seinen Vater tyrannisiert. Jahrelang hatte er anstelle seines Vaters geherrscht. Gefehlt hatte lediglich, dass Patrick offiziell abgedankt und Ian zu seinem Nachfolger ernannt hätte.

Inzwischen war der Clan zerrüttet. Viele waren geflohen, um dem unausweichlichen Blutbad zu entgehen. Andere waren nur geblieben, weil sie nirgendwo Zuflucht gefunden hätten.

So ging es auch Genevieve.

Wohin hätte sie sich wenden sollen?

Ihre Angehörigen hielten sie für tot. Sie glaubten, sie wäre ums Leben gekommen, als sie sich auf dem Weg zu ihrem Bräutigam befunden hatte und mitsamt ihrer Eskorte in einen Hinterhalt geraten war. Ian McHugh war über die Gruppe hergefallen und hatte jeden Mann und jede Frau abgeschlachtet, die Genevieve zur Festung ihres Verlobten begleitet hatten. Anschließend hatte er Genevieve zu seiner Burg verschleppt und geschworen, dass kein anderer Mann sie je besitzen werde.

Diesen Schwur hatte er gehalten.

Sie berührte die Narbe, die sich über ihre linke Wange zog. Als Tränen in ihr aufstiegen, schloss sie die Augen. Weinen half ihr nicht weiter. Über Tränen und Selbstmitleid war sie längst hinaus.

Als sie Ian zurückgewiesen hatte – wie damals bei Hofe –, war er wutschnaubend auf sie losgegangen. Er hatte ihr sein Messer durchs Gesicht gezogen und bei Gott geschworen, dass kein Mann sie je begehrlich ansehen werde.

Auch dieser Schwur hatte sich bewahrheitet. Kein Mann konnte sie anblicken, ohne vor Entsetzen zu erschaudern. Zu oft hatte sie erlebt, wie ihr Gegenüber zurückschreckte, sobald sie sich ihm zuwandte und die Narbe sichtbar wurde.

Letztendlich hatten sich ihre Zurückweisungen ohnehin als müßig erwiesen, denn Ian hatte sich einfach genommen, was er hatte haben wollen – wieder und wieder, bis sie sich nicht mehr gewehrt hatte. Bis sie seelisch und körperlich erschöpft gewesen war und sich betäubt ergeben hatte.

Dafür hasste sie sich. Scham und Erniedrigung waren ihre ständigen Gefährten, wichen nie von ihrer Seite. Nun, da Ian tot war, wollte sie nur noch fort von diesem Ort.

Aber wohin?

Wohin sollte sie nur gehen?

Abermals schloss sie die Augen und versuchte ihr banges Herz mit reiner Willenskraft zu beruhigen. Die Erinnerung an das durchlebte Grauen schnürte ihr die Luft ab, aber sie wusste, dass es damit bald ein Ende haben würde.

Die Tür zu dem engen Gefängnis, das ihr als Gemach diente, flog auf, und Taliesan humpelte so rasch sie konnte auf sie zu, das Gesicht vor Schmerz und Angst verzogen. »Was sollen wir nur tun?«, flüsterte sie. »Gewiss sind wir verloren. Der Montgomery-Laird wird kein Erbarmen zeigen. Nicht nach allem, was Ian und dessen Vater der Montgomery-Frau angetan haben.«

Taliesan war eine Cousine von Patrick McHughs verstorbener Gemahlin. Der gesamte McHugh-Clan setzte sich aus entfernten Verwandten sowie einer Bande Außenseiter zusammen, die sich hinzugesellt hatten, nachdem sie aus ihren eigenen Clans verstoßen worden waren. Taliesan war das einzige freundliche Gesicht inmitten der Feindseligkeit, die Genevieve vonseiten der übrigen Clan-Mitglieder entgegenschlug.

Was sie getan hatte, um diesen Hass zu entfachen, war ihr ein Rätsel. Schließlich war Genevieve keineswegs freiwillig hier. Nie hatte sie einem McHugh auch nur ein Haar gekrümmt – umgekehrt sah es hingegen anders aus.

Unwillkürlich fuhr sie zusammen, als die Worte »Hure« und »Dirne« in ihrem Kopf widerhallten. Derlei Beleidigungen musste sie regelmäßig über sich ergehen lassen, und längst vermochten Schmerz und Schmach ihr nichts mehr anzuhaben.

Sie war das, was Ian McHugh aus ihr gemacht hatte, mehr nicht. Sie würde nicht die Schuld für die Taten eines anderen auf sich laden. Auch würde sie nicht ihr Leben lang etwas beklagen, das sie nicht ändern konnte. »Hast du in Erfahrung gebracht, ob sie sich nähern?«

Taliesan nickte, und ihre Augen verdunkelten sich vor Furcht. »Ja, habe ich. Die Wache hat es gerade erst verkündet. Die Streitmacht der Montgomerys ist auf dem Weg hierher, aber es ist schlimmer als erwartet, denn sie haben die Armstrong-Krieger an der Seite. Sie rücken gemeinsam an.«

»Heilige Jungfrau«, flüsterte Genevieve entsetzt. »Sie werden uns alle umbringen.«

Das war das Letzte, was sie wollte. Bei Gott, sie hatte Ian den Tod gewünscht. Einen langsamen, grauenvollen Tod, um den Graeme Montgomery sie betrogen hatte, als er Ian kurzerhand mit dem Schwert aufgespießt hatte. Für jemanden wie Ian war diese Art des Ablebens bei Weitem zu schnell und zu schmerzlos gewesen.

Sie flehte den Himmel an, dass ihre Sünden nicht den Untergang aller nach sich ziehen mochten. Sie wollte doch nur eine einzige Chance, die Aussicht auf Freiheit. Sie wollte leben, statt in Angst und Demütigung dahinzudämmern. Das war nicht zu viel verlangt, oder?

»Was tun wir jetzt, Genevieve?«, fragte Taliesan, heiser vor Furcht.

Genevieve straffte entschlossen die Schultern, den Kopf hoch erhoben. »Wir sollten uns um die Frauen und Kinder kümmern. Die Männer werden sich für Ians Frevel verantworten müssen, daran lässt sich nichts ändern. Uns bleibt nur, auf die Gnade der Montgomerys und der Armstrongs zu hoffen und zu beten, dass sie sich barmherzig zeigen.«

Sie eilte an Taliesan vorbei, trat durch die Tür und wandte sich um. »Nun komm!«, drängte sie. »Lass uns die anderen zusammenrufen. Wenn wir schon unserem Verderben ins Auge blicken müssen, sollten wir wenigstens Haltung bewahren. Falls es den Männern dieses Clans an Mut dafür fehlt, müssen eben wir Frauen dem Feind entgegentreten.«

Auch Taliesan straffte sich und reckte das Kinn. »Ja, du hast recht.«

Genevieve verlangsamte ihren Schritt, damit die hinkende Taliesan mithalten konnte, und stülpte sich die Kapuze ihres Umhangs über, um ihr Gesicht zu verbergen.

Sie würde die Frauen und Kinder des Clans in einer Kammer versammeln und den Montgomery-Laird um Gnade anflehen.

Ihr kam in den Sinn, dass sie diesem Clan nicht das Geringste schuldete, dass sie die Gelegenheit ergreifen und fliehen könnte, um zu erlangen, was ihr verwehrt worden war.

Freiheit.

Aber es gab keinen Ort, an den sie hätte gehen können. Sie würde nirgends Zuflucht finden, und sie hatte weder Geld noch Essen, um zu überleben.

Vielleicht … vielleicht erbarmte sich der Montgomery-Laird ihrer und ließ sie in ein Kloster gehen. Dort würde sie ihre Tage in Frieden zubringen können und nicht länger von einem Unhold geknechtet werden, der versessen darauf gewesen war, sie zu vernichten.

2. Kapitel

Bowen Montgomery trieb sein Pferd zum Galopp an und preschte die letzte Anhöhe hinauf, die ihnen die Sicht auf die Burg der McHughs nahm. Neben ihm ritt sein Bruder Teague. Befremdlich war, dass sie von Aiden und Brodie Armstrong flankiert wurden.

Sowohl mancher Montgomery als auch der eine oder andere Armstrong mochten sich im Grabe umdrehen angesichts der Vorstellung, dass sich die beiden Clans verbündet hatten, um ein gemeinsames Ziel zu verfolgen. Allerdings war es nicht irgendein Ziel – es ging um eine Frau, die beiden Seiten lieb und teuer war.

Nämlich um Eveline Montgomery, Gemahlin von Graeme Montgomery und Tochter von Tavis Armstrong, dem Laird des Armstrong-Clans, der bis vor wenigen Tagen der Erzfeind der Montgomerys gewesen war.

Nach wie vor wusste Bowen nicht recht, was er von dem Ganzen halten sollte. Lieber hätte er es allein mit Patrick McHugh aufgenommen und ihn festgesetzt, bis Graeme entschieden hatte, was mit dem Hundesohn geschehen sollte. Für Teague und ihn wäre die Sache ein Leichtes gewesen; dafür brauchten sie diese Armstrong-Tölpel nicht. Allerdings lag es Bowen fern, einen Krieg anzuzetteln, solange Eveline nach ihrer Tortur der Ruhe bedurfte.

Seine Schwägerin war tapfer, aber keine Frau war so unerschütterlich, dass sie durch die Misshandlung durch ein Ungeheuer wie Ian McHugh nicht Schaden genommen hätte.

»Hast du einen Plan?«, brüllte Teague über das Donnern der Hufe hinweg.

Bowen nickte knapp, hielt den Blick jedoch geradeaus gerichtet, während sie den Hügel hinaufjagten. Sein Plan war einfach: Patrick töten, Eveline rächen, die Burg an sich reißen und alle niedermetzeln, die sich seinen Befehlen widersetzten.

»Und wärst du so gütig, uns deinen Plan zu verraten?«, rief Teague gereizt.

Bowen zügelte sein Pferd, das zur Seite ausbrach und unruhig an der Klippe des steilen Abhangs entlangtänzelte. Auch Teague, Aiden und Brodie hielten an und musterten die unter ihnen liegende Burg.

»Ich habe vor«, setzte Bowen ruhig an, »Patrick mit dem Schwert zu durchbohren. Es beleidigt mich, dass er nach wie vor dieselbe Luft atmet wie wir. Er ist ein Lügner und Feigling.«

»Du hast recht«, pflichtete Brodie ihm mit finsterer Miene bei. »Er hat mir ins Gesicht gelogen, als er behauptete, nichts über den Verbleib meiner Schwester zu wissen, obgleich er wusste, dass sie in seinem Verlies saß und von seinem Bastard von Sohn gequält wurde.«

Aiden zog die Brauen zusammen und wies nach unten auf die Burg, während die übrigen Krieger der Montgomerys und der Armstrongs den Hügel erklommen und dabei einen beeindruckenden Anblick boten.

Ihre Waffen gleißten und blitzten im Sonnenlicht und gaben allen unten auf der Burg zu verstehen, dass gleich die Hölle über sie hereinbrechen würde. Die Montgomery-Kriegerschar war schon für sich genommen imposant und schlug selbst gestandene Krieger in die Flucht. Zusammen mit den Armstrongs besaßen sie eine Streitmacht, gegen die sich sogar die des Königs dürftig ausnahm.

Es war das erste und vermutlich einzige Mal, dass sich zwei derart mächtige Clans verbündet hatten.

»Hängt da etwa eine weiße Flagge vom Wachturm?«, fragte Aiden ungläubig, nach wie vor auf die Burg weisend.

Bowen richtete den Blick auf das im Wind flatternde Banner und kniff die Augen zusammen. »Sieht wie ein Bettlaken aus«, murmelte er.

»Ja, das glaube ich auch«, stimmte Teague zu.

»Es sind gleich zwei!«, rief Brodie und wies auf den Wachturm auf der anderen Seite des Tores.

Und tatsächlich, dort wurde soeben vom breiten Fenster des Steinturms aus ein zweites Laken entrollt, das umgehend vom Wind erfasst wurde und wild flatterte.

»Geben sie sich etwa kampflos geschlagen?«, fragte Aiden verwundert.

Bowen runzelte die Stirn. »Vielleicht ist das eine Finte.«

»Wenn, dann eine ziemlich dumme«, brummte Brodie. »Immerhin sind sie in der Unterzahl, und selbst wenn das Verhältnis ausgewogen wäre, wären sie uns unterlegen. Überrumpeln könnten sie uns womöglich, aber wir hätten sie im Nu zermalmt.«

»Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden«, meinte Teague achselzuckend.

Er zog sein Schwert und trieb sein Pferd voran.

Bowen stieß seinem Pferd ebenfalls die Fersen in die Flanken und setzte seinem Bruder nach.

Hinter ihm stießen Brodie und Aiden einen Schrei aus, der von den übrigen Kriegern aufgegriffen wurde, bis der Schlachtruf vom gesamten Hang widerhallte.

Als sie kurz vor dem weit geöffneten Tor waren, das in den Hof führte, stolperte ein Bengel heraus, der ein für seine schmächtige Gestalt viel zu großes Schwert umklammert hielt. An der Klinge war eine weiße Fahne befestigt, der man ansah, dass sie in aller Hast angefertigt worden war.

Ein Schwenken der Fahne erübrigte sich – die Hände des Knaben zitterten so sehr, dass der Stoff ohnehin heftig flatterte.

Bowen zügelte sein Pferd und starrte den Jungen so verächtlich wie fassungslos an. Der Bursche konnte nicht älter als sechs oder sieben sein. »Sie schicken ein Kind, um sich einer anrückenden Armee entgegenzustellen?«, brüllte er entgeistert.

Teague hatte es die Sprache verschlagen. Verblüfft und stumm beäugte er das Bild, das sich ihm bot, während Aiden und Brodie kopfschüttelnd einen Blick mit Bowen tauschten.

»Feiglinge«, zischte Brodie. »Nichts verachte ich so sehr wie einen Hasenfuß.«

»Bitte tut uns nichts.« Die Zähne des Jungen klapperten, als stünde er in eisiger Winterkälte. »Die Fahne bedeutet, wir ergeben uns. Wir sind unbewaffnet.«

»Wo ist dein Laird?«, verlangte Bowen kühl zu wissen.

»Er ist f…f…fort«, stammelte der Dreikäsehoch.

»Fort?«, wiederholte Aiden.

Der Kleine nickte heftig. »Ja, seit heute Morgen. Mutter sagt, er ist geflohen, weil er weiß, dass er für seine Sünden sterben muss.«

»Deine Mutter hat recht«, sagte Teague leise.

Angst flackerte in den Augen des Kleinen auf. »Viele sind weg. Die wenigen, die noch hier sind, wollen keinen Krieg. Bitte seid gnädig.«

Er hielt den Blick unterwürfig gesenkt, und Bowen sah, dass die Hände des Jungen nach wie vor zitterten. Es machte ihn wütend, dass dieses Kind dem Feind gleichsam in die Arme getrieben wurde.

»Ansel! Ansel!«

Die Stimme einer Frau schallte zu ihnen herüber. Ärger schwang darin mit – und Furcht. Plötzlich erschien eine zierliche, unter einem Umhang verborgene Gestalt im Tor.

Die Frau rannte auf den Jungen zu, packte ihn am Arm und zog ihn hastig unter ihren Umhang, sodass nur noch seine Füße zu sehen waren. »Wer hat dir diese Torheit aufgetragen?«, fragte sie, den Blick dorthin gerichtet, wo der Kopf des Jungen sein musste.

Das hätte Bowen auch gern gewusst.

»Corwen«, erwiderte Ansel, die Stimme durch den Umhang gedämpft.

Das Einzige, was von der Frau sichtbar war, waren die Hände, die aus den langen Ärmeln des Umhangs hervorlugten. Bowen betrachtete sie interessiert. Die Frau hielt das Kind so fest umklammert, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten.

Junge Hände. Glatt. Ohne Falten. Die Nägel waren der Mode entsprechend elegant rund gefeilt. Die Finger waren lang und schlank, aber auch blass, als wären sie noch nie von der Sonne geküsst worden.

Diese Frau arbeitete nicht auf den Feldern, das stand fest. Und auch zum Saubermachen der Burg wurde sie nicht herangezogen.

»Dieser feige Hund!«, fauchte sie. Die Leidenschaft in ihrer Stimme – ebenso wie die Ausdrucksweise – ließ die Männer zusammenfahren.

»Das ist die Kleine, die uns zum Verlies geführt hat, in dem Eveline eingesperrt war«, raunte Brodie so leise, dass nur die anderen drei ihn hörten.

Bowen stellten sich die Nackenhaare auf. Brodie hatte recht. Als Graeme verzweifelt nach seiner Gemahlin gesucht hatte, war diese schattenhafte, verhüllte Gestalt auf der Treppe erschienen und hatte ihnen den Weg nach unten gewiesen, wo sie schließlich die gefangene Eveline aufgespürt hatten.

»Stimmt das, was der Junge sagt?«, fragte Bowen die Frau. »Hat sich Patrick McHugh aus dem Staub gemacht und Clan und Burg ihrem Schicksal überlassen?«

Sie versteifte sich, ließ den Jungen los und ballte die Hände zu Fäusten. Ihrer Körpersprache nach war sie zornig. »Ja, hat er«, entgegnete sie frostig. »Zurückgeblieben sind nur Frauen, Kinder, die Alten, die zu schwach zum Reiten sind, und die Krieger, die ihre Familie nicht im Stich lassen wollten. Die anderen haben sich im Morgengrauen davongestohlen.«

»Und wo sind die, die geblieben sind?«, bohrte Bowen nach.

»In der Burg. Sie drängen sich in der großen Halle zusammen und fragen sich bei jedem Atemzug bang, ob es wohl ihr letzter ist«, erwiderte sie verächtlich.

Etwas in ihrem Tonfall ging ihm gegen den Strich. Zudem ärgerte ihn, dass sie ihr Gesicht verbarg. »Nehmt die Kapuze ab«, befahl er. »Ich will wissen, mit wem ich spreche.«

Sie erstarrte, die Hände an die Seiten gepresst. Wagte sie es etwa, sich vor seinen Männern und obendrein vor den Armstrongs seiner Anweisung zu widersetzen?

Seine Miene verfinsterte sich, er presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. »Tut, was ich Euch sage!«, blaffte er.

Mit bebenden Händen schob sie den Jungen hinter ihren Rücken, ehe sie langsam die Finger an den Saum der Kapuze hob. Sie drehte sich so, dass sie Bowen und den anderen die rechte Seite zuwandte, und als sie die Kapuze endlich abstreifte, hörte Bowen die Männer hinter sich keuchen.

Allmächtiger, sie war eine Schönheit! Vielleicht die schönste Frau, die er je gesehen hatte. Ihre Züge waren makellos.

Langes, braunes Haar ergoss sich in Wellen über ihre Schultern. Das Braun war eine Mischung aus verschiedenen Schattierungen, die im Sonnenlicht atemberaubend schimmerten. Bei seiner ersten Begegnung mit der Frau hatte er geglaubt, sie hätte rabenschwarzes Haar. Aber das war in der Finsternis der Burg gewesen, und aus ihrer Kapuze hatten sich nur einige wenige Strähnen hervorgestohlen. Im gleißenden Tageslicht nun zeigte sich, dass ihr Haar keineswegs von schlichtem Schwarz war. Nein, ihre Lockenpracht schien mit jeder Bewegung die Farbe zu wechseln, je nachdem, wie das Licht darauffiel.

Sie war zierlich gebaut und hatte hohe Wangenknochen. Die fein geschnittene Kieferpartie wurde von einem perfekt geformten Mund ergänzt. Elegant geschwungene Brauen wölbten sich über tiefgrünen, von langen, dichten Wimpern umgebenen Augen.

Ihm war, als hätte ihm jemand eine Faust in den Magen gerammt, es verschlug ihm den Atem. Seinen Männern musste es ähnlich gehen, wenn man danach urteilte, wie sie das vollkommene Ebenmaß begafften.

Wieso zum Henker hatte sie ihre Schönheit unbedingt verbergen wollen?

Sie wandte sich ihm zu, den Mund fest zusammengepresst. In ihrem Blick standen Schmerz und Wachsamkeit, so als wappnete sie sich gegen das Kommende.

Wieder erhob sich ein Keuchen – dieses Mal vor Entsetzen. Bowen fuhr zusammen, als hätte ihn jemand unvermittelt geschlagen.

Die andere Gesichtshälfte der Frau war … zerstört.

Eine gezackte Narbe lief ihr quer über die Wange, von der Schläfe bis zum Mundwinkel. Offenbar war die Wunde nicht fachgerecht genäht worden, denn das Mal wirkte keineswegs glatt verheilt. Außerdem schien die Verletzung nicht besonders alt zu sein.

Er sah sie zusammenzucken, wofür wohl das Gebaren seiner Männer verantwortlich war – und sein eigenes. Das beschämte ihn, doch diese Regung wurde gleich darauf verdrängt von … Wut. Ohnehin schon erzürnt über den Lauf der Dinge und alles, was er seit seiner Ankunft hier erfahren hatte, weckte der Anblick der jungen Frau erst recht seinen Ingrimm. »Was zur Hölle ist mit Eurem Gesicht passiert?«, verlangte er zu wissen.

3. Kapitel

Röte schoss ihr in die unversehrte Wange. Demütigung trübte den Glanz ihrer Augen, und abermals schämte Bowen sich, dieses Mal für seine unverblümte Frage.

Sie war die faszinierendste Frau, die er je getroffen hatte – eine Gesichtshälfte unfassbar perfekt, die andere auf tragische Weise verwüstet.

Neugierde flammte in ihm auf und machte ihn ungeduldig und ruhelos. Er stieg vom Pferd und trat auf die Frau zu, denn er wollte genauestens erfahren, was mit ihr geschehen war. War es ein Unfall oder Absicht gewesen? Die Scham in ihren Augen deutete darauf hin, dass die Hintergründe ebenso dunkel und unglückselig waren wie die Narbe selbst. Umso entschlossener war er, der Frau die Wahrheit zu entlocken. »Wie heißt Ihr?«, fragte er, auf eine neue Taktik setzend.

Es war offenkundig, dass sie nicht gern über die Narbe sprach, und angesichts der jüngsten Entwicklungen hinsichtlich des McHugh-Clans gab es genügend andere Dinge, die er in Erfahrung bringen musste.

»Genevieve«, antwortete sie leise.

Ein Name, so schön wie ihre rechte Gesichtshälfte. Er passte zu der Frau, die sie gewesen sein musste, ehe jemand ihr die Wange aufgeschlitzt hatte. »Genevieve McHugh?«

Sie reckte das Kinn, und abermals trübte sich ihr Blick und wurde unergründlich. »Einfach nur Genevieve. Wer ich war, ist nicht von Belang, denn diese Frau bin ich nicht mehr.«

Diese rätselhafte Aussage ließ Teague die Brauen heben. Auch Brodie und Aiden waren sichtlich verwirrt.

»Also dann, Genevieve, da Ihr offenbar die Sprecherin Eures Clans seid, werdet Ihr uns jetzt mit dem kläglichen Rest der McHughs bekannt machen, damit ich entscheiden kann, was mit dem Clan geschehen soll.«

Genevieve verzog abfällig die Lippen, und in ihren Augen glomm Zorn. »Euer Hochmut ist fehl am Platze, Herr. Diese Menschen hatten keinen Anteil an der Misshandlung Eveline Montgomerys. Sie sind ebenso Opfer von Ians und Patricks schändlich feigem Tun wie Eveline.«

Brodie, der ebenfalls abgestiegen war, schritt mit finsterer Miene auf sie zu. »Ich bezweifle, dass sie in einem Verlies saßen und mit der Aussicht auf ewige Qualen geschunden wurden«, knurrte er. »Meine Schwester ist von Ian McHugh misshandelt worden. Er hat sie über eine lange Zeit hinweg gequält.«

Sie musterte ihn unbewegt. »Es gibt zahlreiche Formen der Grausamkeit, Herr. Nein, die Menschen dieses Clans saßen in keinem Verließ. Nein, ihnen wurde nicht die Art von Misshandlung angedroht und aufgezwungen wie Eveline. Ich bedaure, was ihr widerfahren ist. Ian McHugh wünsche ich meinem ärgsten Feind nicht an die Seite.«

Pein und Kummer huschten über ihr Gesicht, so abgrundtief und herzzerreißend, dass Bowen unbehaglich zumute wurde. Das Leid, das sie durchlitten haben musste, war schier greifbar, und aus einer natürlichen Regung heraus hätte er sie gern getröstet.

Er streckte die Hand aus, um Genevieve am Arm zu berühren, aber sie wich zurück und ging auf Abstand, wobei sie ihn wachsam im Auge behielt.

»Aber glaubt ja nicht«, fuhr sie fort, »dass diese Menschen deshalb nicht gelitten hätten. Lange Zeit standen sie ohne starke Führung da. Patrick war nur dem Titel nach Laird. Ian war ein Tyrann, der Freude daran hatte, andere einzuschüchtern und zu ängstigen. Sein eigener Vater fürchtete ihn. Jeder, der die Stimme erhob und ihm zu widersprechen wagte, wurde für die angebliche Kränkung hart bestraft.«

»Nun, das glaube ich sofort«, warf Teague grimmig ein. »Was wir in letzter Zeit über ihn erfahren haben, ist alles andere als angenehm. Eveline hat uns geschildert, was für ein Unmensch er war. Jeder, der ein so liebreizendes Mädchen in solch zartem Alter peinigen kann, ist ein Ungeheuer und sollte im tiefsten Höllenschlund schmoren.«

»Ich bin überzeugt, dass er genau das tut«, erwiderte Genevieve ruhig, aber bestimmt.

»Führt uns zu den anderen«, forderte Bowen, der die Sache hinter sich bringen wollte. »Nachdem wir uns ein Bild von Eurer Sippe gemacht haben, werde ich entscheiden, was wir mit ihr tun werden.«

»Es ist nicht meine Sippe«, wandte sie ein. »Aber ich würde mir dennoch wünschen, dass die Menschen anständig behandelt werden.«

Bowen wies sie mit einer Geste an, voranzugehen, verwirrt über das Geheimnis, das Genevieve – einfach nur Genevieve – darstellte.

Ansel ließ ihre Röcke los, stürmte davon und hielt nicht einen Moment inne, bis er über die Treppe im Wohnturm verschwunden war.

Genevieve folgte ihm gemessenen Schrittes, den Kopf hoch erhoben, von Würde umgeben wie von einem Winterumhang. Ihre Haltung drückte einen Gleichmut aus, der einstudiert wirkte, so als handelte es sich um eine Abwehrstrategie, die ihr in Fleisch und Blut übergegangen war.

Sie war zu ruhig, wenn man bedachte, dass sie es mit einer rachsüchtigen, blutrünstigen Kriegerschar zu tun hatte. Den meisten Frauen – und Männern – hätte vor ihnen gegraut und sie hätten um Gnade gewinselt.

Nicht so diese Frau.

Sie gab sich majestätisch und selbstsicher, fast so, als würde sie ihnen eine Ehre erweisen damit, sie in die Burg zu geleiten. Bowen sah sie kein bisschen zittern. Ließ sie dies alles tatsächlich kalt oder verstand sie es einfach meisterhaft, ihre Empfindungen zu verbergen? Hatte die Blessur sie so gefühllos gegenüber dem Urteil und den Reaktionen anderer gemacht, dass sie gar nicht mehr mitbekam, was um sie her geschah?

Aber nein, sie hatte durchaus eine Regung gezeigt, als er und die übrigen Männer vor ihrem vernarbten Gesicht zurückgeschreckt waren. Zwar hatte sie sich rasch wieder gefangen, doch das Entsetzen aller hatte sie sichtlich verletzt und beschämt.

Er schämte sich seinerseits dafür, dass er und seine Männer sich derart respektlos gegenüber einer Frau gezeigt hatten, die von edler Abstammung sein musste. Nun jedoch war es zu spät; was sie getan hatten, ließ sich nicht rückgängig machen.

Der Burghof lag verlassen da. Kein Laut war zu hören, nicht einmal in der Ferne. Der Wind frischte auf und umwehte sie kühl, obwohl ihnen gerade noch die Sonne heiß auf den Kopf geschienen hatte.

Als sie die Stufen hinauf zum Wohnturm erklommen, vernahmen sie aus dem Innern besorgtes Getuschel. Leises Weinen war zu hören, Männerstimmen murmelten beruhigende Worte. Doch selbst den tröstenden Stimmen haftete eine unmissverständliche Anspannung an.

All diese Menschen harrten ihres Schicksals.

Mit finsterer Miene betrat Bowen hinter Genevieve die Halle, ihm war beklommen zumute. Ihn dürstete keineswegs danach, Tod und Zerstörung über Unschuldige zu bringen. Denn erstmals in einer von Gewalt geprägten Geschichte blickten sie einer friedvollen Zukunft entgegen.

Die Montgomerys hatten eine zumindest vorläufige Waffenruhe mit den Armstrongs ausgehandelt – eine Waffenruhe, die den Namen tatsächlich verdiente und durch Graemes Vermählung mit Eveline Armstrong und seine Liebe zu ihr besiegelt worden war.

Um die Wahrheit zu sagen, konnte Bowen den Armstrongs nicht zum Vorwurf machen, dass es ihnen bei diesem Frieden allein um Evelines Sicherheit ging. Und Tavis Armstrong war ein redlicher, gerechter Mann, so ungern Bowen das zugab.

Als die McHughs Genevieve und hinter ihr Bowen und die anderen drei erspähten, erhob sich Tumult. Alle redeten durcheinander, das Weinen steigerte sich zum Wehgeschrei. Die Miene der Männer verdüsterte sich, und einige der Frauen blickten anklagend drein.

Galt diese Anklage etwa … Genevieve?

Verstört runzelte Bowen die Stirn, aber ehe er das Wort ergreifen konnte, kamen ihm zwei Frauen zuvor. »Wie dich das freuen muss!«, zischte die eine. »Bist du hier, um dich daran zu ergötzen, wie wir abgeschlachtet werden? Hast du dem Feind deine Hurendienste angeboten, um deine Haut zu retten?«

»Wie konntest du nur?«, fauchte die andere. »Es sind Kinder unter uns. Richtig, hier sind nur noch Frauen und Kinder und die wenigen Ehemänner, die uns nicht im Stich lassen wollten, obwohl sie wussten, dass sie damit wahrscheinlich ihr Leben verwirkt haben.«

Weitere wagten sich vor, um Verwünschungen auszustoßen, aber Bowen trat zwischen Genevieve und die Meute.

Teague zog die Brauen zusammen und stellte sich neben Genevieve, die allerdings völlig unberührt von den Anfeindungen zu sein schien. Ihre Miene war ausdruckslos und wie versteinert, und sie hielt den Blick geradeaus gerichtet.

War sie kein Mensch? Niemand, weder Mann noch Frau, konnte derlei Beleidigungen einfach an sich abprallen lassen. Genevieve jedoch nahm sie regungslos hin.

»Ihr solltet euch hüten, eure Fürsprecherin zu verleumden.« Bowens Stimme schnitt wie ein Peitschenhieb durch die Halle.

Die Menge verstummte.

Aiden und Brodie traten vor und ließen den Blick über die versammelten McHughs schweifen. Die beiden wirkten nicht eben beeindruckt, was Bowen ihnen nicht verdenken konnte. Einen jämmerlicheren Haufen hatte er noch nie gesehen.

»Fürsprecherin?«, rief eine junge Frau in die Stille hinein.

Sie war sichtlich verängstigt, löste sich aber dennoch aus der Schar und schaute Genevieve fragend an. »Ist es wahr, dass du für uns eingetreten bist, Genevieve?«

Genevieve schwieg, den Blick unverwandt auf die Frau gerichtet, ohne ihr jedoch zu antworten.

»Niemand könnte es dir verübeln, wenn du allein dich zu retten versuchtest«, fuhr die Frau mit warmer Stimme fort.

Anschließend wandte sie sich Bowen zu. Hastig verbarg sie ihre zitternden Hände in den Falten ihres Rockes, ehe sie beherzt den Blick hob und Bowen in die Augen sah. »Ich weiß nicht, was Ihr mit uns vorhabt, Herr, aber ich bitte Euch um zwei Dinge.«

Bowen betrachtete das Mädchen interessiert. Es war ein schmächtiges, aber kühnes Geschöpf, das ihm kaum bis zu den Schultern reichte. Ihr Alter ließ sich schlecht schätzen, aber vermutlich stand sie kurz davor, zur Frau zu erblühen. Zweifellos würde sie eine atemberaubende Schönheit werden, was nicht zuletzt an ihrem Mut und ihrem inneren Feuer lag.

Ihr Haar hatte die Farbe von reifem Weizen, ins Licht des Mondes getaucht. Ihre Augen waren von einem fesselnden Blaugrün, das ihn an das Meer während eines strahlend sonnigen Tages erinnerte.

Sie tat einen weiteren Schritt vorwärts, und erst jetzt bemerkte er, dass sie humpelte. Kurz verzog sie schmerzvoll den Mund, hatte sich jedoch sogleich wieder in der Gewalt. Halt suchend griff sie nach dem Arm eines Mannes, der sie rasch stützte, damit sie nicht fiel.

»Wie lautet Euer Name?«, fragte Bowen freundlich, denn er wollte ihr die Tapferkeit nicht damit vergelten, dass er ihr Angst einjagte.

»Taliesan«, murmelte sie und knickste, wobei sie beinahe doch noch zu stürzen drohte.

Er wollte sie gerade auffangen, als der ältere Mann von soeben sie abermals festhielt. Bowen nickte ihm wohlwollend zu und merkte sich sein Gesicht. Gute Taten vergaß er nie, und er würde sich später unter vier Augen mit dem Mann unterhalten.

Man erfuhr viel über einen Menschen, wenn man beobachtete, wie er sich anderen gegenüber verhielt. Das hatte Bowens Vater ihm von klein auf beigebracht. Robert Montgomery hatte stets gesagt, dass die Worte eines Menschen bedeutungslos seien. Seine Taten hingegen sprächen Bände; an seinem Verhalten lasse sich sein wahrer Wert ermessen.

»Und um welche zwei Dinge möchtet Ihr mich bitten, Taliesan?«, fragte er.

Sie errötete, und er erkannte, dass sie dagegen ankämpfte, nicht unwillkürlich den Kopf einzuziehen. Sie umklammerte den Arm des Mannes, der sie stützte, bis ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. Aber ein entschlossener Zug lag um ihren Mund, als sie ihr Gesuch vortrug. »Ich bitte euch, meinen Clan nachsichtig zu behandeln. Es stimmt, dass sich Ian und sein Vater, unser Laird, ehrlos verhalten haben. Und ebenfalls ist wahr, dass eine Unschuldige durch die beiden großes Leid erfahren hat. Ian ist tot, er ist durch Graeme Montgomerys Hand gestorben, und Patrick ist geflohen und hat seinen Clan dem Schicksal überlassen, welches das seine hätte sein sollen.«

Sie drehte den Kopf und ließ den Blick über die Männer, Frauen und Kinder gleiten, die sich in der großen Halle zusammendrängten. »Wir wissen nicht, wohin wir gehen sollen. Wir haben nur dieses eine Zuhause und würden Euch und Eurem Laird gut dienen.«

Teague, Aiden und Brodie waren nicht weniger berührt von ihrer wortgewandten Rede als Bowen. Aber es machte ihn wütend, dass die einzigen Menschen, die bislang den Mut aufgebracht hatten, ihm entgegenzutreten, ein Knabe und zwei zerbrechlich anmutende Frauen waren. Was für ein Clan war dies, der Frauen und Kinder in den Kampf schickte? Frauen und Kinder sollten einem Clan als höchstes Gut gelten und mit allen Mitteln geschützt werden. Mit welcher Geringschätzung sie hier behandelt wurden, widerte ihn an.

»Und die zweite Sache?«, hakte er nach in der Hoffnung, Zeit zu gewinnen und seinen Zorn bezähmen zu können. Zu gern hätte er jeden einzelnen Kerl dieses Clans in den Hof gezerrt und nach Strich und Faden verprügelt.

Taliesan fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, und nach einem bangen Blick auf ihren Clan schaute sie Genevieve an. »Ich bitte Euch, Genevieve zu verschonen. Sie hat genug durchgemacht.«

Genevieve verzog erschrocken das Gesicht. Es war das erste Mal, dass sie seit Betreten der Halle ihre Gefühle zeigte. »Taliesan, nicht!«, keuchte sie. »Bitte nicht! Ich flehe dich an!«

Bowen zog die Brauen hoch, überrascht, dass diese stolze Frau zu betteln bereit war, nachdem sie sich bislang so mutig und beherrscht gegeben hatte. Was sollte Taliesan nicht enthüllen?

Taliesan sah sie unglücklich an, schwieg aber wie gewünscht.

Von den McHughs wurde Taliesan missbilligend beäugt. Einige verzogen abschätzig den Mund, andere rümpften die Nase. Feindselige Blicke trafen Genevieve.

Was Taliesan ihm da unterstellt hatte, war ungeheuerlich. Er hatte keine Ahnung, wie er die Andeutung interpretieren sollte, denn er war überzeugt, dass das Mädchen ihn nicht hatte kränken wollen. Doch es hatte nicht nur seine Ehre in Zweifel gezogen, sondern auch seine Neugier geweckt. Was hatte sie mit ihrer sonderbaren Bemerkung gemeint? Genevieve blickte so betroffen drein, dass er ihr keine Erklärung abringen mochte, obwohl es ihn dazu drängte. Um dieses Rätsel zu klären, blieb noch genügend Zeit. Zunächst musste er klarstellen, dass er kein Ungeheuer war, das nach dem Blut Unschuldiger lechzte. »Ich versichere Euch, dass ich nicht die Absicht hege, Genevieve oder irgendwen sonst in meiner Obhut zu schinden«, entgegnete er, wobei er bewusst sein Missfallen über die Unterstellung mitschwingen ließ.

Taliesan errötete und senkte den Blick, entschuldigte sich jedoch nicht, wofür er sie seltsamerweise umso mehr achtete.

»Was habt Ihr dann mit uns vor?«

Erstaunt hob Bowen eine Braue. Einer der McHugh-Kerle hatte doch tatsächlich seine Mannhaftigkeit wiedergefunden und das Wort ergriffen. »Und ich dachte schon, der McHugh-Clan ließe seine Frauen und Kinder für sich kämpfen«, meinte er verächtlich.

Die Männer in der Halle versteiften sich und nahmen eine abwehrende Haltung ein. Einige wurden rot vor Zorn, andere vor Scham. Viele wandten den Blick ab. Sie wussten genau, worauf Bowen anspielte.

»Es ist eine Schande, einen Knaben mit einer weißen Flagge vorzuschicken!«, mischte Teague sich grollend ein. Er kochte sichtlich vor Wut und Abscheu und fühlte sich offenbar bemüßigt, seinen Unmut ebenfalls kundzutun, nun, da Bowen die Angelegenheit zur Sprache gebracht hatte.

Aiden und Brodie nickten, die Arme abweisend vor der Brust verschränkt. Vor allem Brodie wirkte empört. Kurz glaubte Bowen, dass er und Teague würden eingreifen müssen, denn Brodie sah aus, als würde er sich jeden Moment auf die McHugh-Mannen stürzen, um in ihrem Blut zu baden.

»Und ihr armseligen Wichte lasst eure Frauen zu euren Gunsten sprechen«, fügte Brodie an. »Warum schützt ihr sie nicht? Weshalb schickt ihr sie vor, sich dem Feind entgegenzustellen? Ihr solltet euch schämen! Was für ein Mann lässt das nicht nur zu, sondern befürwortet es auch noch?«

Der Kerl, der die Frage nach ihrer aller Los gestellt hatte, trat vor. Er blickte mürrisch, aber auch betreten drein und schaute Bowen, Teague, Aiden und Brodie der Reihe nach geradewegs in die Augen. Dabei reckte er das Kinn, als wollte er vermitteln, dass er die Rüge ebenso auf sich nehme wie die Strafe, die sie über ihn verhängen würden. »Wir fürchteten, dass ein Krieger an den Toren als Provokation verstanden würde. Wir wollen keinen Krieg gegen Euch führen. Uns ist klar, dass wir Euch weit unterlegen sind. Patrick verstand sich nicht besonders aufs Kämpfen, und was Ian angeht …«

Er verstummte und räusperte sich verlegen. »Ich würde gern offen sprechen, Herr. Was ich zu sagen habe, ist nicht respektvoll, aber die Wahrheit.«

Bowen nickte. »Natürlich, sprich nur aufrichtig. Wie heißt du?«

»Tearlach McHugh.«

»Fahre fort, Tearlach.«

»Ian war ein ehrloser Mann. Er hat nicht nur Schwächere gepeinigt, sondern sich auch bei Auseinandersetzungen niederträchtig verhalten. Lieber erstach er einen Mann hinterrücks, als sich ihm offen in einem Zweikampf zu stellen. Wir verstehen es nicht zu kämpfen, das ist wohl offenkundig. Wir hätten keine Chance gegen Euch gehabt. Daher haben diejenigen von uns, die geblieben sind, entschieden, ihr Schicksal in Eure Hände und die Eures Lairds zu legen. Wir hatten keine andere Wahl. Immerhin haben wir Familie und verspüren nicht den Wunsch, sie auf sich allein gestellt zurückzulassen, auch wenn Ihr glauben mögt, dass uns nichts an unseren Frauen und Kindern liegt.«

Es war eine aufrichtige Ansprache, und die Offenherzigkeit beeindruckte Bowen. Tearlach hatte keinen Hehl daraus gemacht, dass es ihm widerstrebte, schlecht über den Sohn seines Lairds zu sprechen, hatte sich aber dennoch an die Wahrheit gehalten.

»Ich weiß deine Freimütigkeit zu schätzen«, erwiderte Bowen, »und werde sie dir vergelten, indem auch ich freiheraus spreche.« Er ließ den Blick über die Anwesenden schweifen.

Genevieve hatte sich nicht gerührt. Stocksteif stand sie still da, die Hände vor dem Schoß verkrampft. Ihr Blick schien in weite Ferne gerichtet, und Bowen bezweifelte, dass sie irgendetwas von dem Geschehen um sie her wahrnahm. Es war, als hätte sie sich vorübergehend an einen anderen Ort versetzt.

Sie hatte die versehrte Wange abgewandt, und abermals betrachtete er bewundernd ihr bezauberndes Profil. Nie war ihm eine schönere Frau begegnet, doch wenn man ihr Gesicht im Ganzen sah, wandelte sich die Schönheit auf bestürzende Weise zu etwas, das Mitleid hervorrief.

So viele Fragen schossen ihm durch den Kopf, aber keine davon konnte er unter den gegebenen Umständen stellen. Außerdem musste er das Ziel im Auge behalten. Sein Bruder hatte ihn mit einer Aufgabe betraut, und Bowen würde sie um jeden Preis erfüllen. »Laird Montgomery, mein Bruder, weilt bei seiner Gemahlin Eveline, die von Ian gefangen genommen und aufs Übelste misshandelt wurde. Laird Montgomery wird nicht von ihrer Seite weichen, bis sie sich hinreichend erholt hat und er sicher sein kann, dass ihr keinerlei Gefahr mehr droht. Patrick McHugh stellt eine solche Gefahr dar, sowohl für Eveline als auch für die Montgomerys und die Armstrongs. Und wir dulden keine Bedrohung.«

Die Menschen in der Halle wurden unruhig. Bang traten sie von einem Bein aufs andere und tauschten verängstigte Blicke.

»Hiermit nehme ich diese Burg und alles, was Patrick McHugh gehört hat, im Namen meines Lairds in Besitz, bis Letzterer entscheidet, was mit dem Land und der Burg passieren soll … und mit den Menschen.«

Als alle durcheinanderzureden begannen, hob Bowen eine Hand. »Mein Bruder ist ein gerechter Mann. Solange ihr mir – und ihm – keinen Anlass gebt, euch als Feinde zu betrachten, wird euch nichts geschehen. Einstweilen werde ich den Posten des Lairds einnehmen, und mein Bruder wird mir helfen, alles, was diese Burg betrifft, sorgfältig zu erfassen, auf dass ich Laird Montgomery Bericht erstatten kann. Er wird entscheiden, wie wir weiter verfahren sollen. Falls ihr hart arbeitet und mir keinen Grund liefert, an eurer Ergebenheit zu zweifeln, werdet ihr keine Schwierigkeiten bekommen. Nutzt ihr mein Vertrauen jedoch aus, wird die Strafe hart ausfallen und umgehend erfolgen. Niemand erhält eine zweite Chance. Verstanden?«

Hier und da erhob sich zustimmendes Gemurmel, und vor allem waren grimmige Mienen zu sehen. In einigen spiegelte sich Angst, in anderen Groll. So mancher zeigte offen, wie aufgebracht er war. Aber kein einziger McHugh erhob Einspruch.

Bowen musterte flüchtig Taliesan und Genevieve, um zu sehen, wie sie seine deutlichen Worte aufgenommen hatten. Aber beide vermieden es, in seine Richtung zu schauen.

Taliesan hatte sich hinter den älteren Mann zurückgezogen, der sie vorhin gestützt hatte. Genevieve stand einige Schritte entfernt, starr wie eine Statue. Sie wirkte unnahbar und Respekt einflößend, so als empfände sie nichts, aber Bowen wusste, dass das nicht stimmte. In jenem ungeschützten Moment gerade hatte er Empfindungen in ihren Augen aufflackern sehen. Hinter der kühlen Maske, die sie der Welt gegenüber zeigte, war sie gewiss eine heißblütige, leidenschaftliche Frau, in der es vor unterdrückten Regungen nur so brodelte.

Er schüttelte den Gedanken ab in dem Bemühen, sich nicht von ihr ablenken zu lassen. »Wir müssen die Sache schnellstens angehen«, meinte er an Teague, Aiden und Brodie gewandt. »Es gefällt mir nicht, meinen Bruder und dessen Frau oder auch Eure Familie …«, dies war an Brodie und Aiden gerichtet, »… ohne angemessenen Schutz allein zu lassen. Wir haben all unsere kampftauglichen Männer mitgebracht, aber alle werden wir hier kaum brauchen.«

Teague nickte, bevor er die McHughs musterte, die sie nach wie vor angstvoll anstarrten. »Lasst uns zu den anderen zurückkehren und dort entscheiden, wie wir vorgehen sollen. Es gefällt mir nicht, die McHughs an unserem Gespräch teilhaben zu lassen.«

4. Kapitel

Sobald der Montgomery-Krieger die große Halle verlassen hatte, sank Genevieve in sich zusammen. Nun endlich erlaubte auch sie sich, die versammelten McHughs zu betrachten.

Falls sie erwartet hatte, zerknirschte Blicke zu ernten, weil jeder hier sie falsch eingeschätzt hatte, wurde sie umgehend eines Besseren belehrt. Es gab nur die übliche Mischung aus Abneigung, Missbilligung, unverhohlenem Hohn und Mitleid – ja tatsächlich, Mitleid von einigen wenigen. Andere schauten verstört drein – vermutlich ging es über den Horizont vieler McHughs, dass Genevieve sie nicht einfach im Schlaf abgestochen hatte.

Aber nur einen einzigen McHugh hätte sie gern einen langen, qualvollen Tod erleiden sehen. Sie war enttäuscht gewesen darüber, dass Graeme Montgomery Ian so rasch den Garaus gemacht hatte. Er war nicht grausam genug gestorben. Nicht schmerzvoll genug. Er hätte leiden müssen, denn er war ein schrecklicher Mensch gewesen, der weder Gnade noch Milde verdient hatte.

Wirklich schade, dass Graeme Montgomery nur darauf aus gewesen war, seine Gemahlin so schnell wie möglich in Sicherheit zu bringen, und daher kurzen Prozess mit Ian gemacht hatte, auf dass dieser nie wieder Unheil anrichten konnte.

Sie hätte dem Laird gern persönlich dafür gedankt. Damit allerdings würden zu viele unangenehme Fragen einhergehen, die zu beantworten sie keine Lust hatte. Außerdem war es wenig damenhaft und für eine Frau von edler Abstammung nicht schicklich, jemandem von ganzem Herzen für die Tötung eines Menschen zu danken.

»Genevieve?«

Sie riss sich aus ihren blutrünstigen Gedanken und kehrte blinzelnd in die Gegenwart zurück. Vor ihr stand Taliesan, die fein geschnittenen Züge vor Sorge angespannt.

Genevieve seufzte. Taliesan war der einzige Mensch hier, der ihr so etwas wie eine Freundin war. Dabei hatte Genevieve sich zunächst gegen diese Freundschaft gewehrt, hatte sich arrogant und abweisend gegeben. Unter keinen Umständen hatte sie sich mit irgendwem aus diesem Clan verbünden wollen.

Nun, der Clan trug keine Schuld an den Taten Ian McHughs, aber sie verübelte den Leuten, dass diese ihr die Lage umso unangenehmer gemacht hatten. Jede Demütigung, die sie durch die McHughs erfahren hatte, hatte sie in ihrer Entschlossenheit gestärkt, auf Distanz zu bleiben. Sie wollte nur fort von hier. Irgendwohin, wo sie allein sein, das vergangene Jahr womöglich vergessen und Frieden finden konnte.

Welch flüchtiges Geschöpf der Frieden doch war! In der liebevollen Geborgenheit ihrer Familie hatte Genevieve Eintracht und Glück stets als gegeben hingenommen.

Immer noch wurde ihr eng ums Herz, wenn sie an ihre Familie dachte. Kummer senkte sich wie eine Ladung Wackersteine auf ihre Schultern.

Wie unbeschwert sie vor einem Jahr noch gewesen war! Wie unbedarft und überzeugt davon, dass sie gegen jegliches Ungemach gefeit wäre. Ian McHugh hatte diese Überzeugung Lügen gestraft. Er hatte das naive junge Ding, das dem Leben und dessen Herausforderungen lachend entgegengefiebert hatte, unwiderruflich in einen Schatten seiner selbst verwandelt. Nie wieder würde sie die Alte sein. »Was gibt es, Taliesan?«, fragte sie freundlich, ohne ihre Wut spüren zu lassen.

Taliesan war ein herzensgutes Mädchen, das trotz aller Widrigkeiten und des lahmen Beines gütig wie ein Engel war.

»Ich sorge mich um dich, Genevieve«, sagte sie leise. »Wir wissen nicht, was dieser Bowen Montgomery für ein Mensch ist. Der Laird der Montgomerys soll ein redlicher Mann sein. Dass er seiner Frau sehr zugetan ist, hat er bewiesen, und es heißt, er behandele sie überaus respektvoll und verlange dasselbe von allen Übrigen. Läge dein Schicksal in seinen Händen, würde ich mich weniger grämen.«

Genevieve berührte sie am Arm. »Mach dir keine Sorgen.«

»Aber ich kann nicht anders«, erwiderte Taliesan heftig. »Mein Clan hat dir großes Unrecht zugefügt. Was Ian dir angetan hat, beschämt mich zu Tränen. Glaubst du etwa, ich wüsste nicht, was er verbrochen hat? Wie er dich gepeinigt hat? Und mein Clan ist nicht besser, denn alle haben es gewusst. Sie haben es gewusst und dennoch nichts gegen Ian unternommen, so wie auch Patrick nicht eingeschritten ist. Sie schmähen dich lieber, denn gäben sie zu, dass du nur ein Opfer bist, müssten sie einräumen, dass sie es dazu haben kommen lassen.«

Genevieve spürte, wie ihr die Hitze in die Wangen schoss. Dass das, was Ian ihr angetan hatte, derart offenkundig gewesen war, machte sie ganz schwach. Sie hätte nicht gedacht, dass ihre Demütigung noch schlimmer werden könnte, aber damit hatte sie sich geirrt.

Ein jeder wusste es, und das machte sie regelrecht krank. Dass Taliesan sie ganz unverhohlen bedauerte, war mehr, als sie ertragen konnte. Sie wollte fort, irgendwohin, wo sie eine andere sein konnte, damit Genevieve McInnis in aller Stille sterben konnte, wie sie es vermeintlich schon vor einem Jahr getan hatte. »Bitte halte dich heraus«, sagte sie mit fester Stimme. »Du solltest deine Aufmerksamkeit lieber auf dich und deine Sippe richten. Zerbrich dir meinetwegen nicht den Kopf; das Schlimmste habe ich überstanden. Was mir durch Ian widerfahren ist, lässt sich kaum steigern.«

»Ich kann dich nicht im Stich lassen«, erwiderte Taliesan inbrünstig. »Ich werde deine Not nicht einfach ignorieren, wie so viele andere es tun.«

»Taliesan, bitte«, flehte Genevieve leise. »Ich bete darum, dass Bowen Montgomery ebenso gerecht ist wie angeblich sein Bruder und mir gestattet, mich in ein Kloster zurückzuziehen.«

»Oh, Genevieve, nicht!«, flüsterte Taliesan entsetzt. »Was ist mit deiner Familie? Du bist jung und hast dein ganzes Leben noch vor dir.«

Schweren Herzens schüttelte Genevieve den Kopf. »Es ist besser, wenn sie mich für tot halten, wie sie es seit einem Jahr tun. Ich könnte ihnen nie wieder in die Augen schauen und würde es nicht über mich bringen, sie derart zu beschämen. Kein Mann würde je Ian McHughs Hure haben wollen. Ich würde nie eine vorteilhafte Ehe eingehen können. Stattdessen würde ich meinen Eltern ihr Leben lang zur Last fallen. Es würde meiner Mutter das Herz brechen, und sie und Vater könnten sich nie wieder hoch erhobenen Hauptes bei Hofe blicken lassen. Nein, es ist besser so. Für sie bin ich ehrenhaft gestorben, sie haben mich bereits betrauert. Das ziehe ich einem Dasein in Schande vor, welches meiner Familie nur Schmach einbringen würde.«

Tränen traten Taliesan in die Augen. »Wie sehr ich ihn hasse für das, was er dir angetan hat.«

Genevieve atmete tief durch. »Auch ich hasse ihn, aber dieser Hass ist verschwendet. Ian ist tot und kann nie wieder einen Schwächeren drangsalieren. Es ist an der Zeit, sich zusammenzureißen und hoffentlich … Frieden zu finden.«

»Ich werde nicht ruhen, bis du glücklich bist und eine neue Heimstatt gefunden hast«, stieß Taliesan aus.

Lächelnd verschränkte Genevieve ihre Finger mit Taliesans Fingern und drückte sie. »Ich denke, unter anderen Umständen wären wir gute Freundinnen geworden«, meinte sie traurig. »Ja, ich hätte mich glücklich geschätzt, eine Freundin wie dich zu haben.«

Taliesan presste aufmüpfig die Lippen zusammen, ehe sie erwiderte: »Ich bin längst deine Freundin.«

Genevieve schüttelte den Kopf. »Nein, besser nicht. Ich möchte nicht, dass dein Clan auch dich ächtet, weil du dich auf meine Seite schlägst. Du weißt nicht, welch weitreichende Folgen dies haben kann. Ein paar bösartig platzierte Worte genügen, um den Ruf einer jungen Frau zu ruinieren und ihr jede Aussicht auf Heirat, Kinder und eine gesicherte Zukunft zu nehmen. Bitte nimm das ernst, Taliesan. Überlege dir gut, mit wem du dich verbündest.«

»Du sprichst von Schmach und behauptest, in Ehren zu sterben sei besser, als in Schande zu leben. Aber ich könnte mich kaum ehrloser verhalten, wenn ich meine Loyalität von Vor- oder Nachteilen abhängig machte. Falls mir Ehe, Gemahl, Kinder und eine gesicherte Zukunft aufgrund der Freundschaft zu einer Frau versagt bleiben, die mehr Ehre im Leib hat als der mächtigste Krieger, so verzichte ich gern darauf.«

Taliesans leidenschaftliche, grundaufrichtige Rede ließ Genevieve die Augen aufreißen. Ihr fiel keine Erwiderung ein. Was hätte sie schon sagen können? »Dann danke ich dir«, erwiderte sie schließlich leise, wobei sie nicht verbergen konnte, wie bewegt sie war. »Es ist mir eine Ehre, dich als Freundin bezeichnen zu dürfen, solange ich auf dem Land der McHughs weile.«

Lächelnd schüttelte Taliesan den Kopf. »Nein, Genevieve. Wir sind und bleiben Freundinnen, ganz gleich, wo du bist. Das macht Freundschaft aus.«

Unwillkürlich zog Genevieve sie an sich, schloss die Augen und kostete die Berührung aus. Wie lange es her war, dass sie derart getröstet worden war, dass sie etwas so Schlichtes wie eine Umarmung hatte erfahren dürfen, die Unterstützung einer Freundin, unerschütterlichen Rückhalt … und Treue.

All dies hatte sie verloren geglaubt.

Ein ganzes Jahr lang war Berührung für sie gleichbedeutend mit Brutalität gewesen. Ian hatte niemandem erlaubt, sie anzufassen, außer um ihr wehzutun oder sie zu erniedrigen. Er hatte eifersüchtig über sie gewacht, als wäre sie ein Spielzeug, das er nicht hatte teilen wollen. Es war das einsamste Jahr ihres Lebens gewesen und hatte sie verändert, hatte sie in einen Menschen verwandelt, den sie selbst nicht mochte.

Langsam löste sie sich von Taliesan, durchtrennte widerwillig das wenn auch flüchtige Band zwischen ihnen. Sie hungerte nach ganz alltäglichen Dingen – nach menschlicher Berührung, nach Lachen oder auch nur einem Lächeln, nach einem winzigen Moment des Glücks, nach Zuneigung und Kameradschaft. Nach allem, womit sie im Schoße ihrer liebevollen Familie aufgewachsen war.

Taliesan ergriff ihre Hände und drückte sie. »Was wird aus uns werden, was meinst du?«

»Ich weiß es nicht«, entgegnete Genevieve ehrlich. »Die Armstrongs und die Montgomerys zürnen Ian und eurem Laird. Ian ist tot, euer Laird ist über alle Berge, und ich bezweifle, dass er sich hier noch einmal blicken lässt. Es wäre sinnlos, wenn sie ihr Mütchen am Clan selbst kühlten. Sie wissen genau, wer die Schuld trägt an den Untaten an Eveline Montgomery.«

Viele McHughs blieben stehen und lauschten Genevieves behutsamen Ausführungen. Sie würden ihr niemals beipflichten, aber offenbar fanden sie das, was sie sagte, schlüssig, denn Genevieve sah Erleichterung in ihren Augen aufflackern und Hoffnung die Furcht verdrängen.

Einige hingegen meinten, sich gehässig dazu äußern und ihr keine Demütigung ersparen zu müssen. »Was weiß eine Hure wie du schon darüber, was in einem Mann vorgeht?«, zischte Claudia McHugh ihr zu.

Einer der Männer in Claudias Nähe gluckste vergnügt. »In einer Hinsicht kennt sie die Männer aber ganz genau. Ist ja ein offenes Geheimnis, dass sie die Beine breit gemacht hat für Ian – und für alle, die sonst noch gerade zugegen waren.«

Claudia und zwei weitere Frauen kicherten hämisch. »Genau, wie wahr! Aber Hurerei ist alles, worauf sie sich versteht. Falls Graeme Montgomery und dessen Brüder sich vergnügen wollen, wird sie ihnen nur zu gern zu Willen sein. Und für die Armstrongs wird sie auch noch Zeit finden, schätze ich.«

»Eine solche Fratze muss ein Weib ja irgendwie wettmachen. Wenn sie auf dem Rücken liegend was taugt, ist es gleich, wie es um ihr Gesicht bestellt ist. Der, der sie bespringt, kann ja die Augen schließen.«

Hässliches Gelächter erhob sich, und wieder starb ein Teil von Genevieve. Erbarmungslos setzten sie ihr zu, ließen sie Zoll um Zoll schrumpfen, bis irgendwann nichts mehr von ihr übrig sein würde.

Ein Geräusch ließ sie herumfahren, und sie erblasste, als sie nicht weit entfernt Bowen Montgomery, dessen Bruder und die beiden Armstrong-Krieger erspähte.

Es war offensichtlich, dass sie alles mitbekommen hatten.

Tiefe Verzweiflung erfüllte ihr Herz. Sie wollte weinen, aber Tränen hatte sie schon lange keine mehr, und ohnehin halfen die ihr nicht weiter. Das hatten sie nie getan.

Nie hatte sie inbrünstiger darum gebetet, dass der Boden sich auftun und sie verschlingen möge. Nie hatte sie sich sehnlicher gewünscht, damals beim Überfall auf ihre Eskorte mit ihren Gefährten ums Leben gekommen zu sein.

Für die Welt war Genevieve McInnis längst tot. Ach, wäre es doch nur wahr! Denn allein durch den Tod würde sie der Hölle entrinnen, die sie Tag für Tag durchlitt.

5. Kapitel

Bowen zog scharf die Luft ein und verzog grimmig den Mund, während er verfolgte, wie das Leben aus Genevieves Körper, aus ihren Augen, ja aus ihrer Seele sickerte.

Es war das erste Mal, dass er im Blick eines Menschen, der nicht tödlich verwundet war, den Tod sah. Genevieves Blick sprach von einer tiefen Verletzung. Der Todesstoß war im übertragenen und nicht im wörtlichen Sinne erfolgt, hatte dadurch aber nicht weniger Schaden angerichtet.

Alles Blut war aus ihren Wangen gewichen. Sie war leichenblass und schwankte leicht, wie ein Bäumchen im Wind.

Er beobachtete, wie ihre Augen feucht wurden und wie sie sich auf die Innenseiten der Wangen biss, um die Tränen zurückzuhalten. Sie fasste sich an die Narbe, wie um sie vor den Blicken und Verleumdungen der Menschen um sie herum zu verstecken.

Sie verabscheute es, vor anderen Schwäche zu zeigen, erkannte Bowen. Aber hier war ein Punkt erreicht, an dem selbst sie keine Gleichgültigkeit mehr heucheln konnte.

Teague neben ihm erdolchte die McHughs, die ihr Maul nicht hatten halten können, förmlich mit seinem Blick.

Bowen wartete ab, damit rechnend, dass Genevieve sich verteidigen würde. Vielleicht war er auch schlicht neugierig darauf, was sie sagen würde. Sie machte auf ihn nicht den Eindruck einer Frau, die mit ihrer Meinung hinterm Berg hielt. Ihm gegenüber hatte sie sich jedenfalls freimütig gegeben.

Doch stattdessen schritt sie steif an ihm vorbei, langsam und als litte sie Schmerzen, als kostete es sie alle Kraft, sich auf den Beinen zu halten. Es war der Gang einer Greisin, von der Last eines ganzen Lebens niedergedrückt.

Teague starrte die McHughs, die sich so schmählich verhalten hatten, voller Verachtung an. Brodie und Aiden hatten die Stirn gerunzelt. Bowen wollte auf Genevieve zugehen, aber als sie es sah, verspannte sie sich umso mehr und verließ eilig die Halle.

Er schüttelte den Kopf, unfähig zu fassen, wie unverhohlen feindselig sich die McHughs gegenüber einer Frau gaben, die Mitleid und nicht etwa Hass verdient hätte.

Von der leichenblassen Haut hob sich die Narbe umso deutlicher ab, sodass Genevieve in der Tat mehr tot als lebendig wirkte.

»Was zum Teufel sollte das?«, fragte Brodie barsch, die Kiefermuskeln vor Zorn angespannt.

Er trat auf Taliesan zu, die so hastig zurückwich, dass ihr lahmes Bein nachgab und sie hart hinschlug.

»Brodie«, wies Bowen ihn scharf zurecht. »Ihr erschreckt das Mädchen ja zu Tode.«

Brodie blickte noch eine Spur finsterer drein, blieb aber stehen, um sich zu Taliesans sichtlicher Verblüffung zu bücken und ihr aufzuhelfen. »Seid Ihr verletzt?«, fragte er. »Verzeiht, ich wollte Euch nicht erschrecken. Ich bin lediglich wütend über das, was ich gerade habe mit ansehen müssen, und verwundert darüber, dass niemand eingeschritten ist.«

Bowen sah Taliesan mühsam schlucken. Ihr ängstlicher Blick wanderte zwischen ihm und den drei anderen hin und her.

Hinter ihr wollten sich Genevieves Peiniger aus dem Staub machen, aber Bowen gebot ihnen Einhalt. »Ihr werdet diese Halle nicht verlassen, ehe ich es euch erlaube«, fuhr er sie kalt an. »Und ich werde es nicht erlauben, bis ich eine Erklärung für die Verunglimpfung dieser Frau erhalten habe.«

Der Mann verzog die Lippen, und in den Augen des Weibes blitzte Empörung auf. Erbost stemmte sie die Hände in die Hüften. »Wenn’s doch wahr ist, ist es keine Verunglimpfung«, verkündete sie herablassend.

»Ich frage mich ernsthaft, weshalb sie sich für ein Lumpenpack wie euch eingesetzt hat«, entgegnete Bowen leise.

Die Frau errötete und senkte beschämt den Blick. Der Mann trat unbehaglich von einem Bein aufs andere. »Sie ist doch nur Ians Hure«, brummelte er.

Bowen tauschte einen Blick mit Teague, Brodie und Aiden, ehe er Taliesan ansah. »Wohin könnte Genevieve gegangen sein?«, fragte er.

Sein Bruder und Brodie wirkten überrascht über die abrupte Wende des Gesprächs, was er nachvollziehen konnte, aber Bowen ertrug die Nähe von Genevieves Peinigern schlicht nicht länger. Was sind das für Menschen, die es darauf anlegen, einen anderen derart zu erniedrigen? dachte er grimmig.

Es galt zu klären, was mit der Burg der McHughs und den McHughs selbst passieren sollte. Und er hatte nichts Besseres zu tun, als herauszufinden, wo die Frau geblieben war? Er wusste selbst nicht recht, weshalb sie ihn so sehr beschäftigte, aber der Ausdruck in ihren Augen, die tiefe Traurigkeit, die ihrem Antlitz jede Farbe entzogen hatte, verfolgte ihn.

»Sie verbringt viel Zeit allein«, flüsterte Taliesan. »Für gewöhnlich in ihrer Kammer.«

»Und wo befindet sich diese?«, hakte Bowen geduldig nach.

»D…die Treppe hinauf«, stammelte sie. »Die Treppe dort hinten, am Ende der Halle. Ihre Kammer liegt im Turm, neben der von Ian.«

Ihm entging nicht, dass sie dies nur widerwillig preisgab und den Blick dabei ziellos umherirren ließ.

Er fragte sich, ob an den Gehässigkeiten des Clans etwas Wahres war. Bei der Vorstellung, Genevieve könnte Ian zu Willen gewesen sein, drehte sich ihm der Magen um. Wie konnte sie sich aus freien Stücken einem Frauenschänder hingeben? Sie wusste doch zu gut, was Eveline widerfahren war. Schließlich hatte sie Graeme den Weg zum Verlies gewiesen. Und doch sollte sie ein solches Ungeheuer bereitwillig an sich herangelassen haben?

Ekel schnürte ihm die Kehle zu.

Er schaute Teague an. »Lass dir von Taliesan die Burganlage zeigen. Aber gib acht, dass sie sich nicht überanstrengt.«

Autor

Maya Banks
Die Nr.1-New York Times-Bestsellerautorin Maya Banks lebt mit ihrer Familie und einer ganzen Schar von Haustieren in Texas und ist ein echtes Südstaatenmädchen. Wenn sie nicht an einem ihrer packenden Romane schreibt, trifft man sie beim Jagen und Fischen oder beim Pokerspielen.
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