Sommerromantik

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  • Erscheinungstag 04.06.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783955768201
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

In liebevoller und dankbarer Erinnerung an Laura Mast

1. Kapitel

Geräuschvoll klappte das Fahrwerk in den Rumpf des kleinen Privatflugzeugs ein. Libby Kincaid schluckte ihre Bedenken herunter und vermied es, in die steinerne Miene des Piloten zu blicken. Wenn er nichts sagte, musste sie auch nicht sprechen. Dann würden sie den kurzen Flug bis zur Circle Bar B Ranch vielleicht überstehen, ohne sich bildlich gesprochen an die Gurgel zu gehen, wofür sie beide berüchtigt waren.

Es ist eine Schande, dachte Libby. Sie und Jess waren jetzt einunddreißig und dreiunddreißig Jahre alt und schafften es immer noch nicht, sich wie zwei Erwachsene zu benehmen.

Grübelnd betrachtete sie die Landschaft, die unter ihr vorbeizog. Sie fühlte sich schwindelig, während sie den kleinen Flughafen in Kalispell, Montana, hinter sich ließen und in Querlage Kurs nach Osten auf den Flathead River nahmen. Bäume, so grün, dass ein leichter Blaustich zu erkennen war, bedeckten die majestätischen Berge, die das Tal umgaben.

Libby konnte nicht anders. Sie musste Jess Barlowe einfach aus dem Augenwinkel betrachten – sie war schließlich auch nur eine Frau. Er erinnerte sie an einen schlanken kraftvollen Berglöwen, der auf den richtigen Moment wartete, um zuzuschlagen, auch wenn er in diesem Moment seine Aufmerksamkeit ausschließlich auf die Kontrollinstrumente und den spärlichen Flugverkehr richtete, der an diesem Frühlingsmorgen am weiten Himmel Montanas herrschte. Eine verspiegelte Sonnenbrille verbarg seine Augen. Doch Libby war sich im Klaren, dass darin die Feindseligkeit lag, die seit Jahren ihre Beziehung zueinander bestimmte.

Sie wandte den Blick ab und versuchte, sich auf den Fluss unter ihnen zu konzentrieren, dessen Lauf wie ein verwaschener jadegrüner Faden in einem riesigen Wandteppich wirkte. Hinter dieser verspiegelten Sonnenbrille, das wusste Libby, verbargen sich Augen mit derselben grünen Schattierung wie dieser ungezähmte Strom im Tal.

»New York war also nicht so, wie zweistündige Fernsehfilme einen glauben machen wollen?«, bemerkte er plötzlich schroff.

Leise seufzte Libby. Um Geduld bemüht schloss sie die Augen. Dann riss sie sie auf. Sie würde sich diesen fantastischen Ausblick seinetwegen nicht entgehen lassen. Nicht, nachdem ihr Herz sich so lange bittersüße Jahre danach gesehnt hatte.

Außerdem kannte Jess New York, immerhin war er schon öfter geschäftlich dort gewesen. Wen wollte er also mit dieser Frage hinters Licht führen?

»New York war ganz in Ordnung«, antwortete sie schneidend. Abgesehen davon, dass Jonathan gestorben ist, schimpfte eine kleine schonungslose Stimme in ihrem Kopf. Und von dieser scheußlichen Scheidung von Aaron. »Es gab nur nichts Weltbewegendes zu berichten«, fügte sie hinzu und bemerkte zu spät, dass ihr ein grober Schnitzer unterlaufen war.

»Das hat dein Vater bemerkt«, erwiderte er süffisant. Man hätte meinen können, er klänge wütend, wenn dieser Unterton nicht so beherrscht gewesen wäre. »Jeden Tag, wenn die Post kam, stürzte er sich darauf, als wäre es Manna vom Himmel. Er hat die Hoffnung nie aufgegeben – das muss man ihm lassen.«

»Dad weiß, dass ich es hasse, Briefe zu schreiben«, begehrte sie auf. Doch Jess hatte erreicht, was er wollte: Sich ihren Vater vorzustellen, wie er gespannt die Post durchblätterte und seine Enttäuschung darüber kaum zu verbergen vermochte, dass wieder keine Nachricht von seiner einzigen Tochter darunter war, schmerzte Libby zutiefst.

»Schon seltsam. Stace hat etwas ganz anderes erzählt.«

Entrüstet wollte sie protestieren, doch sie bewahrte Haltung. Jess wollte sie nur zu einer dummen Bemerkung über seinen älteren Bruder verleiten, die er dann verdrehen und gegen sie verwenden würde. Sie reckte das Kinn und schluckte die aufgebrachten Worte hinunter, die in ihrer Kehle brannten.

Die Spiegelgläser glänzten in der Sonne, als Jess sich ihr zuwandte, um ihr ins Gesicht zu schauen. Unter dem blauen Baumwollstoff seines Arbeitshemdes waren seine kräftigen Schultern angespannt. Seine Lippen waren aufeinandergepresst.

»Lass Cathy und Stace in Ruhe, Libby«, warnte er eiskalt. »In letzter Zeit hatten sie eine Menge Probleme. Wenn du etwas tun solltest, das die Situation noch verschlechtert, werde ich dafür sorgen, dass du es bereust. Habe ich mich klar ausgedrückt?«

Außer die Tür der kleinen viersitzigen Cessna zu öffnen und herauszuspringen, hätte Libby in diesem Augenblick alles unternommen, damit sie seinem eisigen, musternden Blick entkam. Aber ihre Möglichkeiten waren begrenzt, daher wandte sie sich leicht zitternd ab und sah erneut auf die Landschaft, die sich unter ihnen erstreckte.

Himmelherrgott, dachte Jess allen Ernstes, sie würde sich in Cathys Ehe einmischen? Oder in irgendeine andere? Cathy war ihre Cousine – sie waren wie Schwestern aufgewachsen!

Seufzend schaute Libby der Tatsache ins Auge, dass Jess und viele andere anscheinend glaubten, sie hätte eine Affäre mit Stacey Barlowe gehabt. Schließlich hatten sie sich geschrieben. Und während ihrer traumatischen Scheidung hatte Stace sie ein paar Mal besucht. Auch wenn er hauptsächlich geschäftlich in der Stadt gewesen war.

»Libby?«, stieß Jess scharf hervor, als ihm ihr Schweigen zu lange andauerte.

»Ich habe nicht vor, deinen Bruder zu verführen!«, erwiderte sie knapp. »Lassen wir es darauf beruhen, okay?«

Erleichtert und überrascht zugleich stellte sie fest, dass Jess sich daraufhin wieder ganz auf die Steuerung des Flugzeugs konzentrierte. In seiner sonnengebräunten Wange zuckte vor unterdrückter Missbilligung ein Muskel. Aber er sagte kein Wort mehr.

Unter ihnen lichtete sich die bewaldete Landschaft allmählich und ging vereinzelt in Grasebenen über – in das Land der Rinderzucht. Nicht mehr lange und sie würden auf dem schmalen Rollfeld der erfolgreichen, knapp sechzigtausend Hektar großen Circle Bar B Ranch landen, die Jess’ Vater gehörte und von Libbys Vater verwaltet wurde.

Wie Jess war auch Libby auf der Ranch aufgewachsen, und ihre Mutter war, genau wie seine, dort begraben. Obwohl sie die Ranch nicht im juristischen Sinne des Wortes als ihr Elternhaus bezeichnen konnte, so war es doch ihr Zuhause. Und sie hatte jedes Recht, dorthin zu gehen. Vor allem jetzt, da sie die Schönheit, den Frieden und die Routinearbeiten einer Ranch so dringend brauchte.

Als die Maschine den Landeanflug startete, wurde Libby ruckartig aus ihrer grüblerischen Stimmung gerissen. Geschickt lenkte Jess das Flugzeug auf die geebnete Landebahn, die sich vor ihnen erstreckte. Mit einem lauten dumpfen Geräusch fuhr das Fahrwerk aus, während Libby tief Luft holte und sich wappnete. Beim Aufsetzen auf den Asphalt quietschten die Räder des Fliegers, dann rollte die Cessna ruhig über den Boden.

Kaum war sie vollständig zum Stillstand gekommen, zerrte Libby auch schon an ihrem Gurt. Sie hatte es eilig, so viel Abstand wie nur möglich zwischen sich und Jess Barlowe zu bringen. Doch da umfasste er ihr linkes Handgelenk fest und hielt sie zurück. »Vergiss nicht, Lib: Die Menschen hier gehören nicht zu denen, die etwas aus einer Laune heraus tun, die etwas tun, nur weil es sich gut anfühlt. Also, lass gefälligst deine Spielchen.«

Spielchen. Was für Spielchen? Ihr Puls beschleunigte sich und sie spürte, wie ihr Gesicht vor Wut rot wurde. »Lass mich los, du Bastard«, presste sie fauchend hervor.

Doch Jess dachte gar nicht daran. Eher verstärkte er seinen Griff. »Ich lasse dich nicht aus den Augen«, warnte er sie. Dann schleuderte er ihre Hand von sich, stieß die Tür auf seiner Seite auf und sprang leichtfüßig hinaus.

Libby hingegen rüttelte noch immer kraftlos an der Klinke auf ihrer Seite, als ihr Vater mit großen Schritten auf sie zukam, geschickt die Tragfläche erklomm und die Tür von außen öffnete. Bei seinem Anblick erfasste sie eine Woge der Liebe und Erleichterung. Ein leiser Schrei entfuhr ihr, und sie warf sich so heftig in seine Arme, dass sie beinahe zusammen auf den harten Boden gefallen wären.

Ken Kincaid hatte sich in den Jahren, seit Libby ihn zuletzt gesehen hatte, nicht sonderlich verändert. Er war immer noch der gleiche attraktive, hochgewachsene Cowboy, an den sie sich so gut erinnerte. Nur sein volles Haar war inzwischen stahlgrau. Und das Hinken, unter dem er seit einem Rodeounfall litt, war ausgeprägter.

In sicherer Entfernung zum Flugzeug hielt er seine Tochter auf Armeslänge fest, betrachtete sie, lachte ungläubig auf und zog sie dann wieder an sich. Über seine Schulter hinweg beobachtete sie Jess dabei, wie er ihre Koffer und das tragbare Zeichenbrett aus dem Gepäckraum der Cessna holte und alles ohne viel Federlesens auf die Ladefläche eines mit Schlamm bespritzten Pick-ups warf.

Wie immer überaus aufmerksam, drehte Ken Kincaid sich um, musterte den jüngeren Sohn von Senator Cleave Barlowe und grinste. Der Schalk blitzte aus seinen strahlenden blauen Augen, während er sich Libby zuwandte. »Unangenehmer Flug?«

Libby spürte, wie es ihr die Kehle zuschnürte. Sie wünschte, sie könnte ihm erklären, wie unangenehm. Jess’ beleidigende Meinung und seine Bedenken hinsichtlich ihrer Moralvorstellung hatten sie tief getroffen, aber wie sollte sie das ihrem Vater sagen? »Du weißt ja, bei Jess und mir geht es immer ganz schön rau zu«, erwiderte sie stattdessen.

Ihr Vater zog lediglich die Augenbrauen nach oben. Derweil setzte Jess sich hinter das Lenkrad des Wagens und brauste davon, ohne sie weiter zu beachten.

»Ihr zwei solltet aufpassen«, überlegte Ken laut. »Solltet ihr jemals aufhören, euch die Köpfe einzuschlagen, könntet ihr feststellen, dass ihr einander mögt.«

»Also das«, antwortete sie prompt, »ist der schrecklichste Gedanke, den ich je gehört habe. Aber lassen wir das. Wie ist es dir ergangen?«

Er legte einen drahtigen Arm um ihre Schultern und steuerte mit ihr auf einen neueren Pick-up zu. Auf der Fahrertür prangten die Worte »Circle Bar B Ranch«, und die Zeichentrickfigur Yosemite Sam, der kleine rothaarige aufbrausende Cowboy aus Bugs Bunny, starrte zornig von den beiden Schmutzfängern an den hinteren Reifen. »Wie ich mich fühle, ist jetzt egal, Spätzchen. Wie geht es dir

Allmählich wich die Anspannung von ihr. Ken öffnete die Beifahrertür und half ihr ins Auto. Wie sehr sehnte sie sich danach, das teure maßgefertigte Leinenkostüm gegen ein Paar Jeans und ein T-Shirt auszutauschen. Oh Gott, und die Sneakers würden eine willkommene Abwechslung zu den High Heels sein, die sie jetzt trug. »Das wird schon«, sagte sie und klang aufgesetzt fröhlich.

Ken setzte sich hinters Lenkrad und warf seiner Tochter einen forschenden, besorgten Blick zu. »Cathy wartet im Haus und will dir beim Auspacken helfen. Ich hatte gehofft, wir könnten reden …«

Libby tätschelte die schwielige Hand ihres Vaters, die auf dem Schalthebel ruhte. »Wir sprechen heute Abend. Wir haben schließlich alle Zeit der Welt.«

Obgleich Ken den Motor des Wagens startete, wandte er den Blick nicht von ihrem Gesicht ab. »Dann bleibst du eine Weile hier?«, erkundigte er sich hoffnungsvoll.

Libby nickte, doch wie unter Zwang sah sie zur Seite. »Solange du mich lässt, Dad.«

Ratternd setzte sich der Pick-up in Bewegung und holperte angenehm vertraut über die unebenen Straßen der Ranch. »Ich habe dich schon früher erwartet. Lib…«

Mit einem flehenden Ausdruck im Gesicht drehte sie sich zu ihm um. »Später, Dad, in Ordnung? Könnten wir über die schwierigen Dinge bitte später sprechen?«

Ken streifte seinen alten Cowboyhut ab und strich sich mit dem Arm über die Stirn. »Natürlich, Spätzchen. Später.« Netterweise wechselte er das Thema. »Weißt du, ich lese immer deinen Comicstrip in der Zeitung, und jedes Kind in der Stadt scheint eines der T-Shirts zu tragen, die du entworfen hast.«

Libby lächelte. Mit einem Gespräch über ihre Karriere als erfolgreiche Comiczeichnerin bewegte ihr Dad sich zweifellos auf sicherem Terrain. Und das alles hatte seinen Anfang auf dieser Ranch. Hier hatte sie dank eines Coupons auf einem Streichholzheftchen begonnen, per Fernstudium zeichnen zu lernen. Danach hatte sie ein Stipendium für eine angesehene Hochschule erhalten, das Studium abgeschlossen und sich einen Namen gemacht. Nicht als Porträtmalerin oder im Werbedesign wie einige ihrer Kommilitonen, sondern als Cartoonzeichnerin. Ihre Figur, die »Emanzipierte Emma«, war eine Höhlenfrau mit modernen Ansichten. Sie hatte für großes Aufsehen gesorgt und wurde nun nicht nur in den Sonntagszeitungen abgedruckt, sondern auch auf T-Shirts, Grußkarten, Kaffeebechern und Kalendern. Im Augenblick stand noch ein Abschluss mit einem Plakatunternehmen aus, und Libbys Konto platzte durch die Vorschusszahlung für ein geplantes Buch fast aus allen Nähten.

Um ihre Verpflichtungen zu erfüllen, würde sie hart arbeiten müssen: Es galt, den wöchentlichen Cartoonstreifen fertigzustellen und Panels, die einzelnen Comicfelder, für das Buch zu skizzieren. Sie hoffte, sich mit all diesen Aufgaben und dem unendlichen Reiz, der von der Circle Bar B Ranch ausging, von Jonathan und dem Chaos, das sie aus ihrem Privatleben gemacht hatte, abzulenken.

»Karrieretechnisch ist alles in Ordnung«, bestätigte Libby laut, sowohl sich selbst als auch ihrem Vater gegenüber. »Dürfte ich wohl die Veranda als Atelier verwenden?«

Ken lachte. »Cathy arbeitet schon seit Wochen daran, sie fertigzubekommen. Ich habe sogar ein paar der Jungs ein Oberlicht anbringen lassen. Du musst nur noch deine Gerätschaften aufbauen.«

Aus einem Impuls heraus beugte Libby sich zu ihrem Vater und küsste ihn auf die stoppelige Wange. »Ich hab dich lieb!«

»Gut«, gab er zurück. »Einen Ehemann kann man verlassen, aber einen Vater wird man nicht los.«

Das Wort »Ehemann« versetzte ihr einen kleinen Stich und beschwor eine äußerst unerwünschte Erinnerung an Aaron herauf, die Libby verstummen ließ, bis das Haus in Sicht kam.

Das für den ersten Vorarbeiter reservierte Gebäude, ursprünglich das Haupthaus der Ranch, war ein riesiger zugiger Kasten mit jeder Menge viktorianischen Verzierungen, Giebelfenstern und Veranden. Mit Blick über einen ansehnlichen aus Quellwasser gespeisten Teich, konnte es sogar ein eigenes Wäldchen aus Nadelbäumen und Pappeln vorweisen.

Der Pick-up ruckelte ein wenig, als Ken auf der mit Kies bedeckten Auffahrt anhielt. Durch die Windschutzscheibe konnte Libby schimmernde Stellen des silberblau glitzernden Teiches erkennen. Wie gern wollte sie hinüberrennen, die Schuhe von den Füßen schleudern und ihre Strümpfe ruinieren, indem sie ins kalte, klare Wasser watete!

Ihr Vater war dabei, auszusteigen, da sauste auch schon Cathy Barlowe, Libbys Cousine und geliebte Freundin, freudestrahlend die Auffahrt hinab. Lachend blieb Libby neben dem Pick-up stehen und breitete wartend die Arme aus. Nach einer schwungvollen Umarmung zog Cathy sich aus Libbys Armen zurück und hob graziös eine Hand, mit der sie die Worte »Ich habe dich so sehr vermisst!« in Gebärdensprache ausdrückte.

»Und ich dich auch«, gebärdete Libby, obwohl sie die Worte gleichzeitig laut aussprach.

Cathys grüne Augen blitzten fröhlich. »Du hast nicht vergessen, wie man gebärdet!«, äußerte sie enthusiastisch und benutzte nun beide Hände. Sie war seit ihrer Kindheit taub, kommunizierte jedoch derart gewandt, dass Libby oftmals vergaß, dass sie sich nicht verbal unterhielten. »Hast du geübt?«

Das hatte sie. Die Gebärdensprache war für sie und Jonathan ein Spiel gewesen, das sie in den langen schwierigen Stunden an seinem Krankenhausbett gespielt hatten. Libby nickte und Tränen der Liebe und des Stolzes schossen ihr in die dunkelblauen Augen, während sie ihre Cousine betrachtete.

Äußerlich ähnelten Cathy und sie sich nicht im Geringsten. Cathy war zierlich, hatte große, verschmitzt dreinblickende smaragdgrüne Augen. Die verschwenderische Fülle ihrer Haare glänzte in einer Mischung aus Kupferrot, Haselnussbraun und Gold und ging ihr beinahe bis zur Taille. Libby hingegen war mittelgroß, und das silberblonde Haar fiel ihr bis knapp über die Schultern.

»Ich komme später wieder«, erklärte Ken ruhig und gebärdete die Worte, damit auch Cathy ihn verstehen konnte. »Wie es scheint, habt ihr zwei euch eine Menge zu erzählen.«

Cathy nickte und lächelte. In ihren grünen Augen regte sich allerdings hinter der Freude noch etwas Trauriges. Etwas, das in Libby das Gefühl aufkommen ließ, in den Wagen steigen und flehen zu wollen, zum Flughafen zurückgebracht zu werden. Von dort aus würde sie nach Kalispell fliegen und einen Anschlussflug nach Denver und dann nach New York erwischen können … Himmelherrgott noch mal – Jess war doch hoffentlich nicht so herzlos gewesen, Cathy etwas von seinen lächerlichen Verdächtigungen zu sagen?

Im Inneren des Hauses war es kühl und luftig. Libby folgte Cathy, doch ihre Gedanken und Gefühle befanden sich in unglaublichem Aufruhr. Sie war froh, daheim zu sein. Daran bestand kein Zweifel. Seit dem Moment, an dem sie die Ranch verlassen hatte, sehnte sie sich nach der Ruhe hier.

Andererseits zweifelte sie daran, ob es klug gewesen war, zurückzukommen. Jess hatte offensichtlich den Entschluss gefasst, sie zu vergraulen. Und auch wenn sie niemals eine Liebesbeziehung mit Stacey Barlowe, Cathys Ehemann, gehabt hatte: Was genau sie für ihn empfand, konnte sie auch nicht wirklich bestimmen.

Im Gegensatz zu seinem jüngeren Bruder war Stace ein herzlicher, kontaktfreudiger Mensch. In den vergangenen eineinhalb Jahren, in ihrer schwersten Zeit, hatte er sich als liebevoller und zuverlässiger Freund erwiesen. In einem Meer von Verwirrung und großer Trauer treibend, hatte Libby Stacey Dinge anvertraut, die sie keiner Menschenseele gegenüber je ausgesprochen hatte. Und der bittere Vorwurf von Jess stimmte: Sie hatte Stacey geschrieben, während sie es nicht hatte über sich bringen können, ihrem eigenen Vater zu schreiben.

Ich liebe Stace nicht, sagte sie sich entschieden. Sie hatte immer zu ihm aufgesehen, das war alles. Wie zu einem älteren Bruder. Ja, vielleicht hatte sie sich in letzter Zeit zu sehr auf ihn verlassen. Das bedeutete doch aber nicht, dass sie ihn liebte, oder?

Sie seufzte, und Cathy wandte sich mit einem nachdenklichen Blick zu ihr um, fast so, als hätte sie das Geräusch gehört. Was unmöglich war. Aber Cathy war aufmerksamer als jede andere Person, die Libby kannte, und oftmals erspürte sie Geräusche.

»Froh, zu Hause zu sein?«, erkundigte sich die gehörlose Frau mit sanften Gesten.

Die leicht zitternden Hände ihrer Cousine waren Libby nicht entgangen, und doch setzte sie ein müdes Lächeln auf und beantwortete die Frage mit einem Nicken.

Plötzlich glänzten Cathys Augen wieder. Rasch ergriff sie Libbys Hand und zog sie durch einen Torbogen hindurch auf die verglaste Veranda mit Blick zum Teich.

Hellauf begeistert schnappte Libby nach Luft. Im Dach war tatsächlich ein Oberlicht eingelassen! Ein riesiges! An der Stelle mit dem besten Licht war ein Zeichentisch aufgestellt worden, ebenso wie eine Lampe, um nachts arbeiten zu können. Blütenpflanzen hingen von den Deckenbalken. Die alten Korbmöbel, die, solange Libby denken konnte, auf dem Dachboden eingelagert gewesen waren, strahlten nun in weißer Farbe aufbereitet und mit bunten geblümten Kissen bestückt wie neu. Kleine Läufer in den komplementären Farbtönen Pink und Grün lagen scheinbar willkürlich verstreut auf dem Boden, und selbst ein Regal war in die Wand hinter dem Zeichentisch eingelassen worden.

»Wow!«, rief Libby überwältigt, die Arme in einem Ausdruck von Verwunderung weit geöffnet. »Cathy, du hast deine Berufung verpasst! Du hättest Innenarchitektin werden sollen.«

Libby hatte zwar für ihre Worte nicht die Zeichensprache benutzt, doch ihre Cousine hatte sie ihr von den Lippen abgelesen. Rasch wandte Cathy den Blick von Libbys Gesicht ab und senkte den Kopf. »Anstatt was?«, bedeutete sie traurig. »Staceys Frau zu werden?«

Libby hatte das Gefühl, geohrfeigt worden zu sein. Schnell wischte sie es beiseite und berührte mit einer Hand Cathys Kinn. Mit leichtem Druck zwang sie ihre Cousine, aufzusehen. »Was genau meinst du denn damit?«, fragte sie. Später war sie sich nicht sicher, ob sie die Worte gebärdet, geschrien oder einfach nur gedacht hatte.

In einem missglückten Versuch, lässig zu wirken, zuckte Cathy mit den Schultern. Eine Träne kullerte ihr über die Wange. »Er hat dich in New York besucht«, meinte sie herausfordernd, die Hände bewegten sich schnell, beinahe wütend. »Du hast ihm geschrieben.«

»Cathy, es war nicht so, wie du denkst …«

»War es nicht?«

Rasend vor Zorn und verletzt, stampfte Libby aus Frust mit einem Fuß auf. »Natürlich nicht! Glaubst du wirklich, ich würde so etwas tun? Glaubst du, Stacey würde es? Er liebt dich!« Genau wie Jess, fügte sie im Stillen hinzu, wobei ihr nicht ganz klar war, was das für eine Rolle spielte.

Stur, wie sie war, schaute Cathy erneut zur Seite und schob die Hände in die Taschen ihrer leichten Baumwolljacke – ein untrügliches Zeichen, dass die Konversation, soweit es nach ihr ging, beendet war.

Verzweifelt streckte Libby die Hände aus und fasste ihre Cousine an die Schultern, nur um durch ein vielsagendes Zucken zurückgewiesen zu werden. Wie vom Donner gerührt konnte sie nur zusehen, wie Cathy sich umdrehte und aus der ehemaligen Veranda in die Küche eilte. Keine Sekunde später knallte die Hintertür mit einer Endgültigkeit ins Schloss, die Libby beinahe das Herz brach.

Sie zog den Kopf ein und biss sich auf die Unterlippe, um die Tränen zurückzuhalten. Auch das hatte sie während Jonathans letzten Tagen in einem Kinderkrankenhaus gelernt.

Genau in diesem Moment tauchte Jess Barlowe im Eingang des Studios auf. Mit all ihren Sinnen spürte sie seine Anwesenheit. Ihre Koffer und das Reißbrett setzte er mit einem wenig mitfühlenden Krachen ab. »Wie ich sehe, verbreitest du wie immer Freude und gute Laune«, bemerkte er schneidend. »Was, bitteschön, war das denn gerade?«

Außer sich vor Wut starrte sie ihn an, die Hände auf ihre schmalen, wohlgeformten Hüften gestemmt. »Als wüsstest du das nicht, du herzloser Mistkerl! Wie konntest du so gemein sein, so gedankenlos …«

Mit vor Zorn funkelnden Augen musterte er verächtlich Libbys von der Reise zerknitterten Aufzug. »Dachtest du etwa, deine Affäre mit meinem Bruder wäre ein Geheimnis, Prinzessin?«

Libby erstickte geradezu an ihrem Ärger und Schmerz. »Welche Affäre, zum Teufel noch mal?«, rief sie. »Wir hatten keine Affäre!«

»Stacey behauptet da etwas anderes«, gab er mit brutaler Härte zurück.

Aus ihren Gesichtszügen wich alles Blut. »Wie bitte?«

»Stace hat gesagt, er sei wahnsinnig in dich verliebt. Du würdest ihn brauchen, und er dich. Zur Hölle mit so kleinen Problemen wie seiner Ehefrau!«

Bei diesen Worten gaben ihre Beine nach. Blindlings tastete sie nach dem Hocker an ihrem Zeichentisch und sank kraftlos darauf. »Mein Gott …«

Jess’ brodelnder Ärger war ihm deutlich anzusehen. »Erspar mir das Theater, Prinzessin – ich weiß, weshalb du hierher zurückgekommen bist! Verdammt noch mal, bist du wirklich so gefühllos?«

Libbys musste wiederholt schlucken, aber ihr Hirn war wie leer gefegt.

Einem Berglöwen gleich durchquerte Jess beängstigend anmutig den Raum. Aufgebracht griff er mit einer Hand nach ihren Handgelenken und umklammerte sie fest. Mit der anderen umfasste er Libbys Kinn.

»Jetzt hör mir mal zu, du räuberische kleine Hexe. Und hör mir ganz genau zu«, stieß er gepresst hervor, die jadegrünen Augen blickten stahlhart. Unter seiner tiefen Bräune war er bleich geworden. »Cathy ist ein guter Mensch, anständig – und sie liebt meinen Bruder, obwohl ich mir beim besten Willen nicht vorstellen kann, weshalb sie sich dazu herablässt. Und ich will verdammt sein, wenn ich tatenlos dabei zuschaue, wie Stacey und du sie verletzt! Hast du mich verstanden?«

Tränen der Hilflosigkeit, aber auch der verletzten Ehre brannten wie Feuer in Libbys Augen, doch sie brachte es nicht fertig, sich zu bewegen. Wortlos starrte sie in das furchteinflößende Gesicht, das nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt war. Das Gesicht eines Teufels. Als Jess den Druck auf ihr Kinn verstärkte und ihr damit bedeutete, dass er auf eine Antwort wartete und nicht ohne gehen würde, zwang Libby sich zu einem kurzen, hektischen Nicken.

Allem Anschein nach zufrieden, ließ Jess so plötzlich von ihr ab, dass sie beinahe das Gleichgewicht verloren hätte und von ihrem Hocker gerutscht wäre. Er drehte sich hastig von ihr weg, sein breiter Rücken verkrampft. Frustriert strich er sich mit einer Hand durch das schwarze Haar. »Ich wünschte, du wärst nie zurückgekommen«, sagte er mit leiser, aber nicht weniger grausamer Stimme.

»Kein Problem«, brachte Libby mühsam hervor. »Ich werde verschwinden.«

Jess wandte sich zu ihr um, dieses Mal mit Unheil verkündendem Ausdruck. Seine Blicke schienen auf Libbys Gesicht zu brennen, ihrer Kehle, den straffen Rundungen ihrer Brüste. »Dafür ist es zu spät«, stellte er fest.

Benommen sank Libby gegen die Kante des Zeichentisches, seufzte und bedeckte ihre Augen mit einer Hand. »Okay«, begann sie mit hart errungener Fassung. »Und weshalb?«

Jess war zu den Fenstern gegangen – wieder stellte sein Rücken eine Barriere zwischen ihnen dar, während er zum Teich hinaussah. Wie gerne würde Libby die Krallen ausfahren und ihn in kleine Stücke reißen.

»Stacey ist völlig außer Kontrolle«, antwortete er schließlich leise, nachdenklich. »Wo du auch hingingest, er würde dir folgen.«

Da Libby keine Sekunde lang glaubte, dass Stacey tatsächlich seine Liebe für sie verkündet hatte, glaubte sie auch nicht daran, dass er ihr folgen würde, wenn sie die Circle Bar B Ranch verließ. »Du spinnst«, entgegnete sie.

Jess fuhr zu ihr herum. Überdeutlich konnte man von dem Ausdruck in seinen Augen ablesen, dass er zu einem bissigen Kommentar ansetzte. Doch was er hatte sagen wollen, war egal. Er schluckte es herunter, da Ken den Raum betrat. »Was zum Teufel ist hier drin los?«, verlangte er zu wissen. »Ich habe Cathy in Tränen aufgelöst die Straße entlangrennen sehen!«

»Frag deine Tochter!«, gab Jess bissig zurück. »Ihretwegen hat Cathy gerade erst begonnen, Tränen zu vergießen!«

Das brachte das Fass zum Überlaufen. Wie eine Wilde warf sie sich – wie schon als Kind – mit fliegenden Fäusten auf Jess Barlowe. Gerne hätte sie ihn getroffen! Aber ihr Vater fasste sie um die Taille und hielt sie davon ab.

Jess warf ihr einen letzten verächtlichen Blick zu und bewegte sich ruhig Richtung Tür. »Du solltest diesen kleinen Hitzkopf bändigen, Ken«, kommentierte er beiläufig. »Sonst wird sie noch eines Tages jemanden verletzen.«

Die Doppeldeutigkeit seiner Worte stachelte sie erneut an. Libby erzitterte in der Umklammerung ihres Vaters, und ihr entfuhr ein schriller, wütender Schrei. Von Jess brachte es ihr nur ein spöttisches Lachen ein, bevor er aus dem Zimmer verschwand. Ken hingegen veranlasste es dazu, sie bestimmt zu sich umzudrehen, sodass sie ihn anschauen musste.

»Du lieber Himmel, Libby, was ist nur los mit dir?«

Sie atmete tief ein und versuchte, sich und die tobende Zehnjährige in ihrem Inneren zu beruhigen, das Kind, das Jess immer hatte auf die Palme bringen können. »Ich hasse Jess Barlowe«, antwortete sie nüchtern. »Ich hasse ihn!«

»Warum?«, wollte Ken wissen und wirkte gar nicht mehr wütend, sondern ehrlich verwundert.

»Wenn du wüsstest, was er über mich gesagt hat …«

»Wenn es das Gleiche ist, was Stacey herumposaunt hat, kann ich es mir so in etwa vorstellen.«

Verblüfft trat Libby einen Schritt zurück. »Wie bitte?«

Ken Kincaid seufzte, und mit einem Mal standen ihm seine zweiundfünfzig Jahre deutlich ins Gesicht geschrieben. »Stacey und Cathy hatten im letzten Jahr so ihre Schwierigkeiten. Und jetzt erzählt er jedem, der es hören will, dass es zwischen ihnen aus sei und er dich wolle.«

»Das kann ich nicht glauben! Ich …«

»Ich wollte dich warnen, Lib. Aber du hast so viel durchgemacht, erst den Verlust des Jungen und dann die Trennung von deinem Mann. Ich fand, du bräuchtest dein Zuhause. Gleichzeitig war mir klar, dass du nie auch nur in die Nähe kommen würdest, wüsstest du, was hier vor sich geht.«

Libbys Kinn zitterte verdächtig, und sie sah forschend in das wettergegerbte Gesicht ihres Vaters. »Ich … ich habe nichts mit Cathys Ehemann angefangen, Dad.«

Er lächelte sanft. »Das weiß ich doch, Lib. Das habe ich immer gewusst. Gib einfach nichts auf Jess und all die anderen. Wenn du nicht davonläufst, ist diese Sache bald ausgestanden.«

Schwer schluckend dachte sie an Cathy und den Schmerz, den sie fühlen musste. Den Verrat. »Ich kann nicht bleiben, wenn es Cathy verletzt.«

Mit einem von der Arbeit rauen Finger berührte Ken behutsam ihre Wange. »Cathy schenkt diesen Gerüchten nicht ernsthaft Glauben, Libby. Denk einmal nach: Würde sie sonst so viel Arbeit in ein Studio stecken, das für dich bestimmt ist? Würde sie hier auf dich warten, um dich wiederzusehen?«

»Aber sie hat geweint, Dad! Und sie hat mir quasi ins Gesicht gesagt, dass sie denkt, ich hätte eine Affäre mit ihrem Mann!«

»Das Gerede hat sie verletzt. Und Stacey verhält sich wie ein kleiner verwöhnter Bengel. Schatz, Cathy lotet nur die Lage aus, versucht herauszufinden, wie du zu der Sache stehst. Du kannst sie jetzt nicht verlassen. Denn außer Stacey braucht sie niemanden mehr als dich.«

Trotz der Tatsache, dass all ihre Instinkte ihr rieten, die Circle Bar B Ranch so schnell wie menschenmöglich hinter sich zu lassen, erkannte Libby den Sinn in den Worten ihres Vaters. So unglaublich es schien, Cathy würde sie brauchen. Und wenn auch nur, um diese erbärmlichen Gerüchte ein für alle Mal auszuräumen.

»Diese Dinge, die Stacey rumerzählt … die hat er doch sicherlich nicht zu Cathy gesagt?«

Ken seufzte. »Ich hoffe nicht, dass er so tief gesunken ist, Libby. Aber du kennst doch Cathy. Sie weiß immer, was gespielt wird.«

Abwesend schüttelte sie den Kopf. »Irgendjemand hat es ihr erzählt, Dad. Und ich glaube, ich weiß, wer.«

Ungläubig starrte er sie aus blauen Augen an, und auch seiner Stimme waren seine Zweifel deutlich anzuhören: »Jess? Also, das kann doch nicht dein Ernst sein …«

Jess.

Libby konnte sich an keinen Zeitpunkt erinnern, zu dem sie gut mit ihm ausgekommen wäre. Dass Cathy ihm am Herzen lag, dessen war sie sich sicher. Hatte nicht er darauf bestanden, dass Stace und Libby Zeichensprache lernten – so wie er? Damit alle mit dem verängstigten, verwirrten kleinen Mädchen sprechen konnten, das taub war? Hatte er Cathy nicht die geliebten Ochsenfrösche geschenkt, unbeholfen Valentinskarten gebastelt und sie sogar zum Abschlussball ausgeführt?

Wie konnte ausgerechnet Jess derjenige sein, der Cathy verletzte? Wo er doch so gut wie jeder wusste, wie sehr sie ihr Handicap und die Zurückweisung ihrer eigenen Eltern schmerzte?

Auf diese Fragen kannte Libby keine Antwort. Sie wusste lediglich, dass sie mit beiden Barlowe-Brüdern eine Rechnung offen hatte.

Und nichts würde sie davon abhalten, diese zu begleichen.

2. Kapitel

Libby saß am Ende des wackeligen Schwimmstegs, ließ die Füße baumeln und die Schultern hängen. Den Blick hatte sie auf das schimmernde Wasser des Teiches geheftet. Ihre langen, schlanken Beine wurden durch die alte Bluejeans, die sie trug, mehr betont als verhüllt. Ein weißes Trägertop mit Lochstickerei bedeckte wohlgeformte Brüste und einen flachen Bauch und ließ den Rest ihres Oberkörpers entblößt.

Jess Barlowe beobachtete sie stillschweigend und fühlte Dinge, die sehr wenig mit seiner persönlichen Meinung zu dieser Frau übereinstimmten. Er war sich sicher, dass er Libby hasste. Und trotzdem sehnte sich etwas in ihm danach, sie zu berühren, sie zu trösten, den Duft und die Textur ihrer Haut zu erforschen.

Gegen seinen Willen musste er lächeln. Einmal kurz an ihrem weißen Oberteil zupfen und …

Jess pfiff seine sich überschlagenden Gedanken zurück und rief sich streng zur Ordnung. So unschuldig und verletzlich Libby Kincaid in diesem Moment auch aussehen mochte, sie war eine Schlange, die es in Kauf nahm, ihre eigene Cousine zu hintergehen, um das zu bekommen, was sie wollte.

Jess stellte sich Libby nackt vor, ihre herrlichen Brüste entblößt und einladend. Doch der Mann in seiner Vorstellung war nicht er, sondern Stacey. Und dieser Gedanke stieß Jess sauer auf.

»Bist du gekommen, um dich zu entschuldigen?«

Die Frage kam so überraschend, dass er zusammenzuckte. Ihm war gar nicht aufgefallen, dass Libby sich umgedreht und ihn erblickt hatte. So sehr war er in seinem Hirngespinst gefangen gewesen, in dem sie sich seinem Bruder hingab.

Er schaute finster drein, sowohl um wieder zu Verstand zu kommen als auch, um Libby Kontra zu geben. So war es schon immer gewesen. Sie waren wie Wasser und Feuer – das ging einfach nicht zusammen. Und trotz all seiner ausgedehnten Reisen und seiner Bildung konnte er sich nicht erklären, warum es so war – und das ärgerte ihn ungemein.

»Wieso sollte ich das denn tun wollen?«, feuerte er zurück, ihre Gegenwart setzte ihm mehr zu, als er zugeben wollte.

»Möglicherweise, weil du dich wie ein Idiot verhalten hast?«, sagte sie so heiter wie der blaue Himmel, der sich über ihnen erstreckte.

Jess stemmte die Hände in die Hüften und wehrte sich standhaft gegen das unbekannte Gefühl, das ihn zu ihr hinzog. Ich will mit dir schlafen, dachte er, und diese Tatsache hallte nicht nur in seinem Geist wider, sondern auch in seinen Lenden.

Schmerz stand in Libbys marineblauen Augen, aber auch ein Hauch von Schalk. »Also?«, forderte sie ihn auf.

Jess stellte erstaunt fest, dass er es zwar schaffte, sich davon abzuhalten, zu ihr zu gehen, aber nicht, sich abzuwenden. Vielleicht reichte ihr gesponnenes Netz weiter als gedacht? Vielleicht war er – wie Stacey und dieser Idiot in New York – schon darin gefangen?

»Ich bin nicht hier, um mich zu entschuldigen«, gab er kalt zurück.

»Weshalb dann?«, fragte sie übertrieben liebenswürdig.

Ob ihr wohl bewusst war, was sie mit dieser schulterfreien Bluse bei ihm anrichtete? Verdammt – so sprachlos war er nicht mehr gewesen, seit Ginny Hillerman ihn an seinem fünfzehnten Geburtstag mit dem Satz »Ich zeig dir meins, wenn du mir deins zeigst.« überrascht hatte.

Libbys Augen war ihre Belustigung anzusehen. »Jess?«

Aus Verzweiflung entgegnete er barsch: »Ist dein Dad da?«

Eine wohlgeformte, hauchdünne Augenbraue wurde nach oben gezogen. »Du weißt genau, dass er nicht da ist. Wäre er da, würde sein Pick-up in der Auffahrt stehen.«

Unvermittelt musste Jess grinsen. Er zuckte leicht mit den Schultern. Die Blätter der Pappel hinter ihm warfen leicht bewegte Schatten auf den alten, hölzernen Steg und formten einen mystischen Pfad – einen Pfad, der direkt zu Libby Kincaid führte.

Sie klopfte auf das sonnengewärmte Holz neben sich. »Komm, setz dich.«

Noch bevor er sich zurückhalten konnte, ging er mit großen Schritten den Steg entlang, nahm neben Libby Platz und ließ die Füße, die in derben Stiefeln steckten, über dem glitzernden Wasser baumeln. Später konnte er nicht sagen, was ihn geritten hatte, als er die nächste Frage stellte.

»Was ist mit deiner Ehe passiert, Libby?«

In ihren Augen loderte der Schmerz auf, den er zuvor schon kurz erhascht hatte. Geübt unterdrückte sie ihn. »Willst du wieder einen Streit vom Zaun brechen?«

Jess schüttelte den Kopf. »Nein«, antwortete er ruhig. »Ich würde es wirklich gerne wissen.«

Libby wandte den Blick ab und knabberte aufgewühlt an ihrer Unterlippe. Überall um sie herum ertönten Geräusche, die typisch für eine Ranch waren: zwitschernde Vögel in den Bäumen, im Wind raschelnde Blätter, das an die bemoosten Pfeiler des Stegs plätschernde klare Wasser des Teiches. Aber von Libby kam kein Laut.

Aus einem Impuls heraus berührte Jess ihren Mund mit der Kuppe seines rechten Zeigefingers. Feuer und Wasser – an diese Analogie erinnerte er sich schlagartig, als er ihre warme Haut fühlte.

»Hör auf damit«, fuhr er sie an, um seine Reaktion zu verbergen.

Libby hörte sofort auf, ihre Lippe zu traktieren, und sah ihn mit großen Augen an. Wieder beobachtete er, wie dieser unbekannte, latent vorhandene Schmerz aufflammte, den sie in sich trug. »Womit denn?«, wollte sie wissen.

Hör auf, mich dazu zu bringen, dich umarmen zu wollen, dachte er. Hör auf, mich dazu zu bringen, dir das Haar hinters Ohr streichen und dir zuflüstern zu wollen, dass alles gut wird. »Hör auf, auf deine Lippe zu beißen!«, herrschte er sie an.

»Verzeihung«, fuhr sie ihn ebenso aufgebracht an, und aus ihren Augen schienen indigofarbene Funken zu sprühen.

Jess seufzte. »Wieso hast du deinen Ehemann verlassen?«, rutschte ihm die nächste Frage wieder unfreiwillig heraus.

Das hatte keiner von beiden erwartet. Libby erblasste ein wenig und versuchte, auf die Füße zu kommen. Jess schaffte es gerade noch, sie am Ellbogen zu fassen und wieder zu sich herunter zu ziehen.

»War es wegen Stacey?«

Sie war außer sich vor Wut. »Nein!«

»Wegen eines anderen?«

Umgehend füllten sich ihre Augen mit Tränen, die sich in ihren dunklen Wimpern verfingen. Sie wand sich aus seinem Griff, machte aber keinerlei Anstalten, wieder aufzustehen und davonzulaufen. »Aber sicher doch!«, keuchte sie zynisch. »›Wenn es sich gut anfühlt, tu es‹ – das ist mein Motto! Bei Gott, ich richte mein Leben geradezu danach aus!«

»Ach, sei still«, forderte Jess sie mit sanfter Stimme auf.

Überraschenderweise sackte sie schluchzend gegen seine Brust. Und es war kein zartes, kalkuliertes Weinen, sondern ein lautstarkes aus Kummer geborenes Heulen.

Jess zog sie an sich und hielt sie fest, erschüttert über die Heftigkeit dessen, was sie fühlte, auch wenn er nicht wusste, was es war, das ihr so zusetzte. »Es tut mir leid«, sagte er heiser.

Libby erzitterte in seinen Armen und heulte wie ein verwundetes Kälbchen, bis das Geräusch irgendwann zu einem Wimmern erstarb.

Jess lachte und aus irgendeinem Grund, den er niemals verstehen würde, küsste er sie auf die Stirn. »Ich liebe es, wenn du mir schmeichelst«, zog er sie auf.

Wie durch ein Wunder konnte auch Libby lachen. Den Kopf leicht in den Nacken gelegt, sah sie ihn an. Die Spuren der Tränen auf ihrem wunderschönen, herausfordernden Gesicht waren deutlich zu erkennen. Ihr Anblick in diesem Moment ließ etwas in seinem Innersten sich schmerzhaft zu einem Ganzen zusammenfügen. Etwas, das seit jeher entzweit gewesen war.

Langsam neigte er den Kopf und senkte seine Lippen auf die ihren. Sanft, zögernd. Erst versteifte sie sich ein wenig. Doch auf die zaghafte Bitte seiner Zunge hin, öffnete sie ihren Mund leicht und ihr Körper entspannte sich.

Jess ließ Libby sich nach hinten lehnen, bis sie auf dem wankenden Steg lag, ohne den Kuss zu unterbrechen. Als sie seinen Kuss erwiderte, schien das funkelnde Licht, das sich auf dem Wasser brach, um sie herumzutanzen wie große glitzernde Splitter, die sie in einem kosmischen Prisma schweben zu lassen schienen.

Jess’ Hand wanderte zu der vollen Rundung von Libbys linker Brust. Durch den dünnen Stoff ihres Tops konnte er spüren, wie ihre Brustwarze vor Erregung hart wurde.

Die Hitze der Frühlingssonne wärmte ihn durch sein Hemd, ebenso wie das sanfte Gewicht von Libbys Händen. Er gab ihren Mund frei, um mit sanften Küssen eine Spur von ihrem Kinn bis zu den süßen, duftenden Linien ihres Halses zu zeichnen.

Eigentlich wartete er die ganze Zeit über darauf, dass sie zur Besinnung kam, dass ihr Körper sich versteifte und sie ihn mit den Händen fortstieß. Begleitet von einem entrüsteten – und zweifellos derben – Wutanfall. Stattdessen fühlte sie sich unter seinem Körper anschmiegsam und weich an.

Berauscht wagte er mehr, arbeitete sich weiter nach unten vor, bis zum obersten Rüschenrand ihres Oberteils. Noch immer protestierte sie nicht.

Libby drückte ihren Rücken durch. Ein leises Stöhnen löste sich aus ihrer Kehle, als Jess ihren Oberkörper entblößte und der sanften Frühlingsbrise und dem Feuer in seinen Augen aussetzte.

Ihre Brüste, voll und weiß, schimmerten leicht golden. Unter Jess’ Liebkosungen zogen sich die hellrosa Spitzen zusammen und drängten sich ihm entgegen. Als er einen sanften Kuss auf die eine hauchte, stöhnte Libby. Ohne zu zögern wandte er sich auch der anderen Brust zu und umspielte ihre Spitze mit seiner Zunge. Ein erstickter, lustvoller Schrei entfuhr Libby. Bebend vergrub sie ihre Hände in seinem Haar und zog ihn dichter an sich heran. Er wollte mehr. Vorsichtig, um nicht mit seinem ganzen Gewicht auf ihr zu liegen, verlagerte er seinen Körper. Dann, ein paar schwindelerregende Augenblicke lang, saugte er erneut an ihrer süßen Brust.

Um Fassung ringend, zog er ihre Hände aus seinem Haar und hielt sie sanft über ihrem Kopf gefangen.

Ihre wundervollen Brüste hoben und senkten sich im Takt ihrer Atmung.

Jess zwang sich, Libby in die Augen zu sehen. »Ich bin es«, erinnerte er sie barsch. »Jess.«

»Ich weiß«, flüsterte sie, ohne den leisesten Versuch zu unternehmen, ihre Hände zu befreien.

Jess senkte erneut den Kopf, quälte sie, indem er eine Brustwarze zwischen die Lippen nahm und daran sog. »Das hier ist real«, sagte er eindringlich und umkreiste sie mit der Zungenspitze. »Ich will, dass dir das klar ist.«

»Es ist mir klar … Oh, Gott … Jess. Jess!«

Widerwillig ließ er von ihr ab. Ungläubig sah er ihr forschend ins Gesicht. »Und du willst nicht, dass ich aufhöre?«

Eine zarte Röte färbte ihre hohen Wangenknochen. Die Hände noch immer über ihrem Kopf ausgestreckt, die Augen geschlossen, schüttelte sie den Kopf.

Jess wandte seine Aufmerksamkeit erneut diesen Brüsten zu, die ihn so verzauberten, knabberte mit den Zähnen vorsichtig daran. »Hast du … eine Ahnung, wie … oft ich das … schon tun wollte?«

Die Antwort war nur ein erstickter Schrei.

Er konzentrierte sich auf eine Brustwarze. Eine süße Leidenschaft entfachend, spielten seine Lippen und seine Zunge mit ihr. »So … oft! Mein Gott, Libby … du bist so wunderschön …«

Ihre Worte kamen genauso zögerlich, wie seine es gewesen waren. »Was geschieht nur mit uns? Wir hassen uns doch!«

Lachend setzte Jess seine Reise über ihren Brustkorb bis zu ihrem weichen, festen Bauch fort, hauchte Küsse an jede entblößte Stelle. Als er den Knopf ihrer Jeans öffnete, nahm er das leise Geräusch zuschlagender Autotüren in der Nähe des Hauses wahr.

Sofort war der Bann gebrochen. Libby wurde knallrot. Blitzartig richtete sie sich auf und hätte beinahe Jess vom Steg gestoßen, während sie versuchte, ihre Kleidung wieder in Ordnung zu bringen.

»Am helllichten Tage …«, murmelte sie gedankenverloren und sprach mehr mit sich selbst als mit Jess.

»Lib!«, rief eine gut gelaunte, männliche Stimme, die rasch näherkam. »Libby?«

Stacey. Das war Staceys Stimme.

Urplötzlich kochte heftiger Zorn in Jess auf und jagte durch seinen brennenden Körper. Er stand auf, und es war ihm dabei gleichgültig, dass seine Erregung gegen seine Jeans drückte, deutlich sichtbar für jeden, der sich die Mühe machte, hinzuschauen. Er starrte auf Libby herab und knurrte: »Es scheint, deine Verstärkung ist gerade angekommen.«

Ein wilder spitzer Schrei entfuhr ihr und sie sprang auf die Füße. In ihren blauen Augen blitzten Wut und Kränkung auf. Bevor Jess sich wappnen konnte, schossen ihre Hände wie kleine Rammböcke an seine Brust und stießen ihn mühelos vom Pier.

Der Kälteschock, den er im Teich erlitt, war zwar willkommener Balsam für Jess’ vor Lust glühenden Körper, nicht aber für seinen Stolz. Als er wieder an die Oberfläche kam und das Ende des Stegs mit beiden Händen ergriff, wusste er, nichts an ihm würde mehr darauf hindeuten, dass Libby und er noch etwas anderes getan hatten, als sich zu streiten.

Beinahe körperlich schmerzte die Verlegenheit, die Libby empfand, als Stacey und Senator Barlowe den kleinen Hügel herunterkamen, der Garten und Teich voneinander trennte.

Der ältere Mann warf seinem jüngeren Sohn, der sich empört auf den Steg hievte, einen schadenfrohen Blick zu und scherzte: »Ich sehe, es hat sich nichts verändert.«

Libby brachte ein unsicheres Lächeln zustande. Nicht ganz, dachte sie und erinnerte sich an den herrlichen Tanz, zu dem Jess’ muskulöser Körper sie mitgerissen hatte. »Hallo, Senator.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihn auf die Wange zu küssen.

»Willkommen zu Hause«, erwiderte er mit brummiger Zärtlichkeit. Dann wandte er sich von ihr ab und sein Blick kam erneut auf Jess zu ruhen. »Ist es nicht noch etwas kalt zum Schwimmen?«

Jess’ triefendes ebenholzfarbenes Haar umrahmte sein Gesicht. In seinem Blick loderte ein heißes Feuer. Aber er sah nicht seinen Vater an, sondern Libby, deren Lippen, Hals und pulsierende Brüste an diesem Feuer zu verbrennen drohten. »Wir beenden unsere … Diskussion später«, meinte er.

Das Blut schoss ihr glühend ins Gesicht. »Da bin ich mir nicht so sicher!«

»Ich schon«, gab er mit einem Lächeln zurück, das gleichzeitig zärtlich und unheilvoll war. Und dann, ohne auch nur ein Wort an seinen Vater und Bruder zu richten, stapfte er davon.

»Was zum Teufel meinte er damit?«, bellte Stacey mit hochrotem Kopf.

Den Blick, den Libby dem jungenhaft gut aussehenden Mann mit den karamellfarbenen Augen zuwarf, konnte man kaum freundlich nennen. »Du hast mir so einiges zu erklären, Stacey Barlowe!«

Der Senator, ein großer attraktiver Mann, der ebenso wie Ken bereits ergraut war, räusperte sich, wie es nur langjährige Diplomaten konnten. »Ich gehe dann mal ins Haus und sehe nach, ob Ken noch ein Bier erübrigen kann«, bemerkte er. Einen Augenblick später war auch er verschwunden, dem nassen Pfad folgend, den der triefende Jess hinterlassen hatte.

Libby straffte die Schultern und verpasste Stacey eine Ohrfeige. »Wie kannst du es wagen?«, schleuderte sie ihm entgegen. Ihre Stimme klang erstickt, weil sie versuchte, sich zu beherrschen.

Wieder errötete Stacey und fuhr sich mit einer Hand durch das modisch geschnittene weizenfarbene Haar. Er drehte sich um, als wollte er seinem Vater hinterherlaufen. »Ich könnte selbst ein Bier vertragen«, meinte er ausweichend.

»Oh nein! Du bleibst schön hier!«, schrie Libby, ergriff seinen Arm und hielt ihn fest. Seine Lederjacke fühlte sich weich unter ihren Fingern an. »Wage es ja nicht, vor mir wegzulaufen, Stacey! Nicht, bis du mir erklärt hast, warum du Lügen über mich verbreitest!«

»Ich habe nicht gelogen!«, protestierte er, die Hände in die Hüften gestemmt, wodurch sein teuer gekleideter Körper den Zugang zum Steg versperrte.

»Und ob du das hast! Du hast herumerzählt, dass ich … dass wir …«

»Dass wir das getan haben, was du und mein Bruder vor wenigen Minuten hier getrieben habt?«

Hätte Stacey sie ins Wasser gestoßen, wäre Libby nicht schockierter gewesen. Eine heftige Erwiderung kam ihr in den Sinn, doch nicht über die Lippen.

Staceys mattgoldene Augen blitzten. »Ihr habt miteinander geschlafen, nicht wahr?«

»Und was wäre, wenn?«, brachte Libby gerade so zustande. »Das würde dich doch überhaupt gar nichts angehen, oder?«

»Doch, das würde es. Ich liebe dich, Libby.«

»Du liebst Cathy!«

Stacey schüttelte den Kopf. »Nein. Nicht mehr.«

»Sag das nicht«, bat Libby, mit einem Mal all ihrer Wut beraubt. »Oh, Stacey, tu das nicht …«

Seine Hände legten sich auf ihre Schultern, unbeirrt und stark. Als sie das Fieber in seinen Augen sah, fragte Libby sich, ob er überhaupt bei klarem Verstand war. »Ich liebe dich, Libby Kincaid«, schwor er sanft, aber wild entschlossen, »und ich werde dich bekommen.«

Erstaunt schüttelte sie den Kopf und machte einen Schritt zurück. Diese Situation war so vollkommen anders als das, was sie sich vorgestellt hatte. Sie hatte angenommen, Stacey würde ihren Anschuldigungen mit einem Lächeln begegnen, ihr das Haar brüderlich zerzausen, wie er es immer getan hatte, und sagen, dass das alles ein Fehler gewesen sei. Dass er Cathy liebe, Cathy wolle. Und ob denn niemand hier einen Witz verstünde.

Aber da stand er nun und erklärte ihr seine Liebe, und er klang beunruhigend ernst.

Libby trat noch einen Schritt zurück. »Stacey, ich brauche jetzt diese vertraute Umgebung; ich muss hier sein, in der Nähe meines Dads. Bitte, zwing mich nicht, zu gehen.«

Stacey lächelte milde. »Das hätte sowieso keinen Sinn, Libby. Wenn du gehst, folge ich dir, egal wohin.«

Sie fröstelte. »Du hast den Verstand verloren!«

Aber Stacey wirkte völlig zurechnungsfähig, als er seinen Kopf schüttelte und die Hände in die Taschen seiner Jacke vergrub. »Nein, nur mein Herz!«, erwiderte er. »Ziemlich sentimental, was?«

»Das ist mehr als sentimental. Stacey, du musst verrückt sein. Du fantasierst. Zwischen uns war nie etwas …«

»Nein?« Er hauchte nur dieses eine Wort.

»Nein! Du brauchst Hilfe.«

Unschuldig wie ein Messdiener schaute er sie an. »Wenn ich verrückt bin, Schatz, dann vor Liebe zu dir. Und das kannst nur du heilen.«

Libby widerstand dem Drang, ihm erneut eine runterzuhauen. Sie wollte ins Haus rennen, aber er stand ihr immer noch im Weg. Sie konnte den Steg nicht verlassen, ohne ihn zu berühren. »Halt dich von mir fern, Stacey«, sagte sie, als er langsam auf sie zukam. »Ich meine es ernst – bleib weg von mir!«

»Ich kann nicht, Libby.«

Die Aufrichtigkeit in seiner Stimme war erschütternd. Zum allerersten Mal, seit sie Stacey Barlowe kannte, fürchtete sich Libby vor ihm. Einzig der Wunsch, keine Aufmerksamkeit auf die Situation und Staceys Gefühlschaos zu ziehen, ließ sie einen Hilfeschrei unterdrücken.

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, wurde Stacey blass. »Sieh mich nicht so an, Libby. Ich würde dir doch niemals wehtun. Und ich bin nicht verrückt.«

Kämpferisch hob sie das Kinn. »Lass mich vorbei, Stacey. Ich möchte ins Haus gehen.«

Er legte den Kopf in den Nacken, seufzte und sah ihr anschließend in die Augen. »Ich habe dir Angst gemacht. Das tut mir leid. Das wollte ich nicht.«

Libby konnte darauf nichts erwidern. Trotz der vernünftigen, beruhigenden Worte machte sie der Gedanke krank, dass er ihr nachstellen wollte.

»Du musst doch wissen«, fuhr er behutsam fort, »wie gut es für uns sein könnte. Du hast mich in New York gebraucht, Libby, und jetzt brauche ich dich.«

Die Stimme, die vom Fuße des Hügels zu ihnen herüberklang, erschien Libby wie ein Rettungsring für eine Ertrinkende. »Lass sie vorbei, Stacey.«

Libby blickte rasch auf und erkannte Jess. Dass er zu ihrer Rettung herbeieilen würde, hätte sie am allerwenigsten erwartet. Sein Haar war vom Trockenrubbeln ganz zerzaust, und die Jeans klebte an seinen muskulösen Schenkeln – Schenkel, die sich noch vor wenigen Minuten an sie gepresst hatten in einem Verlangen, das so alt war wie die Zeit selbst. Er wirkte ruhig, während er ein Hemd, das er sich wahrscheinlich von Ken geliehen hatte, über seiner breiten Brust zuknöpfte.

Stacey zuckte unbekümmert die Schultern und zog ohne weitere Diskussion an seinem Bruder vorbei.

Ein Gefühl der Erleichterung überkam Libby, als er endlich ging. Sie zwang sich, Jess in die Augen zu sehen, spürte den Kloß in ihrem Hals. »Du hattest recht«, murmelte sie unglücklich. »Du hattest so recht!«

Jess betrachtete sie, wie eine Bergkatze einen in die Ecke getriebenen Hasen mustern würde. Einen flüchtigen Augenblick lang blitzte Zärtlichkeit in seinem Blick auf, doch kurz darauf verhärtete sich sein Ausdruck und ein Muskel zuckte an seinem Kiefer. »Ich nehme an, die Willkommensfeier ist auf später verschoben worden? Wenn Cathy schlafen gegangen ist?«

Ungläubig starrte Libby ihn an. War er nur eingeschritten, um sie selbst quälen zu können?

Jess maß sie geringschätzig von oben bis unten. »Was denn, Lib? Konntest du dich nicht überwinden, deinem verheirateten Liebhaber zu sagen, dass du schon willkommen geheißen wurdest?«

Heiße Wut jagte wie ein Stromstoß durch Libbys Körper. »Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich …«

»Du hast es sogar irgendwie geschafft, mit ihm alleine zu sein. Sag schon: Wie bist du meinen Vater losgeworden?«

»Losgeworden?« Libby war sprachlos. Tränen des Schocks brannten in ihren Augen, und die Demütigung schnürte ihr die Kehle zu. Sie atmete tief ein, versuchte, sich zu sammeln, klar zu denken.

Doch die ganze Welt schien sich immer schneller zu bewegen, zu drehen wie eine außer Kontrolle geratene Achterbahn. Als Libby die Augen gegen diese Eindrücke schloss, schwankte sie gefährlich. Wahrscheinlich wäre sie gestürzt, hätte Jess sie nicht mit wenigen Schritten erreicht und an den Schultern festgehalten.

»Libby …« In seiner Stimme klang eindeutig Ärger. Aber da war noch etwas anderes … etwas, das Libby nicht benennen konnte.

Ihre Knie zitterten. Zu viel, das war alles zu viel! Jonathans Tod, die hässliche Scheidung, der Ärger, den Stacey mit seinen unerwünschten Liebesbekundungen verursachte … All diese Dinge lasteten schwer auf ihr. Aber am schlimmsten war die offensichtliche Verachtung dieses Mannes. Ihr war nun klar, dass Jess das, was sie beinahe miteinander geteilt hätten, die Liebe, die für sie so neu, so wunderschön gewesen war, als eine Art grausamen Spaß gesehen hatte.

»Wie konntest du nur?«, spie sie aus. »Oh, Jess, wie konntest du nur?«

Sein Gesichtsausdruck wirkte grimmig. Doch sie nahm ihn nur durch einen seltsamen Schleier wahr.

Anstatt ihr zu antworten, hob er sie auf die Arme und trug sie den kleinen Hügel hinauf zum Haus.

Wie sie die Hintertür erreicht hatten, konnte sie später nicht mehr sagen.

»Was zum Teufel ist auf diesem Steg passiert, Jess?«, verlangte Cleave Barlowe zu wissen und packte die Kanten seines Schreibtisches mit festem Griff.

Sein jüngerer Sohn stand an der Bar aus Mahagoni, die Schulterpartie angespannt, die Aufmerksamkeit sorgsam auf das Glas Straight Whisky gerichtet, das er zu trinken gedachte. »Wieso fragst du nicht Stacey?«

»Weil ich, verdammt noch mal, dich frage!«, bellte Cleave. »Ken ist fuchsteufelswild, und ich kann es ihm nicht verdenken – sein Mädchen war am Boden zerstört!«

Mädchen. An diesem Wort hängte sich Jess auf. Er dachte daran, wie Libby auf ihn reagiert hatte. Sie war seiner Leidenschaft mit der gleichen Intensität begegnet, hatte den Hunger, den er nach ihren Brüsten gehabt hatte, begeistert aufgenommen. Hätten sein Vater und sein Bruder nicht dazwischengefunkt, wäre sie wenige Minuten später die Seine gewesen. »Sie ist kein Mädchen«, gab er zu bedenken und sehnte sich auch jetzt noch danach, sich in ihr zu verlieren.

Der Senator fluchte rundheraus. »Was hast du zu ihr gesagt, Jess?«, presste er hervor, sobald der Schwall an Obszönitäten, die einem Politiker gar nicht zu Gesicht standen, vorüber war.

Jess senkte den Kopf. Er hatte die Dinge, die er ihr gesagt hatte, ernst gemeint. Deshalb konnte er nichts davon zurücknehmen. Da er aber zum Teil wusste, was sie in New York durchgemacht hatte, schämte er sich für seine Sticheleien. Sie war hierhergekommen, damit ihre Wunden heilten – das hatte ihm der Ausdruck in ihren Augen verraten. Anstatt das zu respektieren, hatte er alles nur noch schwieriger für sie gemacht.

Senator Barlowe hatte sich noch nie von Schweigen abhalten lassen, egal, wie vielsagend dieses Schweigen war. Also blieb er hartnäckig. »Mensch, Jess, so etwas würde ich von Stacey erwarten. Dir habe ich mehr Verstand zugetraut! Du hast Libby wegen dieser verdammten Gerüchte, die dein Bruder verbreitet, zugesetzt, oder etwa nicht?«

Jess seufzte, stellte den Drink ab, an dem er noch nicht einmal genippt hatte, und blickte seinem wütenden Vater ins Gesicht. »Ja«, gab er zu.

»Wieso?«

Stur, wie er war, verweigerte er die Antwort. Stattdessen heuchelte er großes Interesse an dem imposanten Eichenschreibtisch, an dem sein Vater für gewöhnlich saß, den schweren Vorhängen, die die Sonne draußen hielten, an den kunstvollen Schnitzereien am Kamin.

»Also gut, du sturer Esel!«, murmelte Cleave außer sich. »Sag halt nichts! Erkläre nichts! Dann lass dich ab jetzt aber auch nicht mehr in der Nähe von Ken Kincaids Tochter blicken, verstanden? Dieser Mann ist der beste Vorarbeiter, den ich jemals hatte. Wenn er sich deinetwegen aufregt und den Job hinschmeißt, dann hat für dich und mich die Stunde Null geschlagen!«

Beinahe hätte Jess gelächelt, aber er wagte es dann doch nicht. Vor nicht allzu langer Zeit hatte der Ausdruck »die Stunde Null« noch eine Verabredung im Holzschuppen angekündigt. Er fragte sich, was Cleave jetzt andeuten wollte? Schließlich war Jess dreiunddreißig Jahre alt, ein Mitglied der Anwaltskammer von Montana und gleichberechtigter Partner im Familienunternehmen. »Cathy liegt mir am Herzen«, erwiderte er gelassen, als würde das alles rechtfertigen. »Was hätte ich denn tun sollen? Tatenlos zusehen, wie Libby und Stace sie aufreiben und aus ihr ein emotionales Wrack machen?«

Cleave seufzte tief und sank auf den üppig gepolsterten Drehstuhl hinter seinem Schreibtisch. »Ich liebe Cathy auch«, meinte er schließlich. »Aber für diesen Schlamassel trägt Stacey die Verantwortung, nicht Libby. Verdammt, nach dem, was Ken erzählt hat, musste sie die Hölle durchmachen. Sie war mit einem Mann verheiratet, der in jedem Bett geschlafen hat, nur nicht in seinem eigenen. Und sie musste zusehen, wie ihr neunjähriger Stiefsohn ganz allmählich starb. Und dann kommt sie nach Hause, sehnt sich nach ein bisschen Frieden – und was kriegt sie? Nichts als Ärger!«

Jess senkte den Kopf und wandte sich ab, gab vor, nach seinem Scotch zu greifen. Er hatte von ihrer miesen Ehe gewusst – Ken hatte den Tag, an dem Aaron Strand das Licht der Welt erblickt hatte, schließlich oft genug verflucht. Aber von dem kleinen Jungen hatte ihm niemand erzählt. Mein Gott, er hatte es nicht gewusst.

»Vielleicht konnte Strand nicht in seinem eigenen Bett schlafen«, meinte er aus einer Gemeinheit, die er seit Libbys Rückkehr in sich spürte, heraus. »Womöglich lag Stacey schon drin.«

»Genug!«, brüllte der Senator mit einer donnernden Stimme, die selbst Präsidenten hätte erzittern lassen. »Ich mag Libby, und ich möchte nichts mehr darüber hören. Weder von dir noch von deinem Bruder! Habe ich mich deutlich ausgedrückt?«

»Mehr als deutlich«, antwortete Jess, der bemerkte, dass er den Scotch nun doch wieder in der Hand hielt und sich moralisch verpflichtet fühlte, wenigstens einen Schluck von diesem Zeug zu nehmen. Der Geschmack erinnerte ihn an verbranntes Gummi, doch da der Alkohol die tobenden Dämonen in seinem Kopf zu beruhigen schien, leerte er das Glas und goss sich einen weiteren Drink ein.

Er war fest entschlossen, sich zu betrinken. Das hatte er seit der Highschool nicht mehr getan, aber plötzlich schien es ihm erstrebenswert. Vielleicht würden einzelne Körperteile von ihm dann aufhören, bei dem kleinsten Gedanken an sie steif zu werden. Vielleicht würde er dann aufhören, sich nach ihr zu sehnen.

Und nach allem, was er nachmittags am Teich zu ihr gesagt hatte, wollte er auf keinen Fall länger als unbedingt nötig nüchtern bleiben. »Was meintest du damit«, wagte er nach seinem vierten Drink zu fragen, »dass Libby zusehen musste, wie ihr Stiefsohn starb?«

Hinter ihm am großen Schreibtisch raschelte Papier. »Stacey sagte, das Kind habe Leukämie gehabt.«

Jess schenkte sich noch einmal ein und schloss gequält die Augen. Oh Libby, dachte er. Es tut mir leid. Mein Gott, es tut mir so leid. »Stacey muss es ja wissen«, sagte er stattdessen voller Bitterkeit.

Einen kurzen Moment lang herrschte ohrenbetäubendes Schweigen. Jess erwartete, dass sein Vater sich in eine seiner berüchtigten Schimpfkanonaden erging, und war umso überraschter, als der Mann seufzte. Dennoch trafen Jess seine Worte wie ein Blitz.

»Der Alkohol wird nichts an der Tatsache ändern, dass du Libby Kincaid liebst, Jess«, eröffnete er ihm in aller Seelenruhe. »Und wenn du ihr und dir das Leben zur Qual machst, wird das auch nichts daran ändern.«

Lieben? Libby Kincaid? Unmöglich. Die seltsamen Bedürfnisse, die ihn jetzt beherrschten, wurzelten in seiner Libido, nicht in seinem Herzen. Sobald er sie gehabt hätte – und das würde er, um nicht durchzudrehen –, wäre ihr Bann über ihn gebrochen. »Ich habe noch nie im Leben eine Frau geliebt.«

»Du Dummkopf! Seit du sieben Jahre alt bist, hast du nur eine einzige Frau geliebt: Libby. Sieben Jahre auf den Tag, wenn du es genau wissen willst.«

Jess drehte sich um und betrachtete seinen Vater fragend. »Wovon zum Teufel redest du da eigentlich?«

»Von deinem siebten Geburtstag«, erinnerte sich Cleave, und Jess sah ihm deutlich an, dass er mit den Gedanken weit weg war. »Deine Mutter und ich haben dir ein Pony geschenkt. Als du Libby Kincaid das erste Mal sahst, warst du auch schon aus dem Sattel gesprungen und hast ihr hineingeholfen.«

Die Erinnerung kam mit voller Wucht zurück: ein geschecktes Pony. Die Ankunft des neuen Vorarbeiters. Das kleine Mädchen mit den dunkelblauen Augen und dem Haar in der Farbe von Mondlicht im Winter. Den ganzen Nachmittag hatte er damit verbracht, Libby durch den Garten zu begleiten, hatte sich damit zufriedengegeben, zu Fuß zu gehen, während sie ritt.

»Was, glaubst du, würde Ken sagen, wenn ich hinüberginge und seine Tochter sehen wollte?«, erkundigte sich Jess.

»Nach dem heutigen Tag kann ich mir gut vorstellen, dass er dich mit der Schrotflinte erwarten würde.«

»Das könnte durchaus sein. Aber ich glaube, ich werde das Risiko eingehen.«

»Für heute hast du schon genug Schwierigkeiten gemacht«, widersprach ihm sein Vater, dem Jess’ berauschter Zustand nicht entgangen war. »Libby braucht Zeit, Jess. Sie muss in der Nähe von Ken sein. Wenn du klug bist, dann lässt du sie in Ruhe, bis sie ihre Gefühlswelt in Ordnung gebracht hat.«

Jess wollte nicht, dass sein Vater recht hatte. Nicht dieses Mal. Doch er wusste, dass es so war. Sosehr es ihn drängte, zu Libby zu gehen und die Dinge geradezurücken: Tatsache war, dass er der letzte Mensch auf Erden war, den sie sehen musste oder wollte.

»Besser?«

Libby lächelte Ken an, als sie die Küche betrat, frisch geduscht und eingehüllt in den kuscheligen, vertrauten Bademantel aus Chenille, den sie in den Tiefen ihres Schranks gefunden hatte. »Viel besser«, bestätigte sie leise.

Ihr Vater stand am Herd und rührte in einer vom Feuer geschwärzten, gusseisernen Pfanne.

Libby schlurfte zum Tisch und setzte sich. Es tat gut, zu Hause zu sein. Wieso war sie nicht schon früher gekommen? »Was auch immer du da kochst, es riecht gut.«

Ken strahlte. In seinen Jeans und in dem Westernhemd wirkte er am Herd völlig fehl am Platz. Eigentlich hätte er irgendwo draußen an einem Lagerfeuer hocken und Bohnen in einem Emailletopf umrühren müssen, überlegte Libby verträumt.

»Das hier ist meine weltberühmte Red-Devil-Soße«, erklärte er grinsend, »für die ich bekannt und geschätzt bin.«

Libby lachte, und vor Freude darüber, dass sie endlich daheim war, wurden ihre Augen ganz feucht. Sie eilte zu ihrem Vater und umarmte ihn, denn sie hatte das Bedürfnis, wenigstens für einen winzigen Moment wieder sein kleines Mädchen zu sein.

3. Kapitel

Beinahe hätte Libby sich an Kens Tacosoße verschluckt. »Hattest du gesagt, dass du für dieses Zeug bekannt bist und geschätzt wirst? Wohl eher bekannt und gefürchtet!«

Ken lachte beim Anblick ihrer tränenden Augen und dem hochroten Gesicht leise in sich hinein. »Der Name ›Red Devil‹ hätte dir eine Warnung sein müssen, Spätzchen.«

Libby murmelte etwas vor sich hin und nahm paradoxerweise noch einen Bissen von ihrer prall gefüllten Taco. »Ab jetzt«, sagte sie kauend, »werde ich mich ums Kochen kümmern.«

Ihr Vater tippte sich zwinkernd mit einem schwieligen Zeigefinger an die Schläfe.

»Du hast mich absichtlich ausgetrickst!«, rief Libby.

Schmunzelnd zuckte er mit den Schultern. »Das Gesetz des Wilden Westens, Süße. Meckere über das Essen und schwupp – schon bist du der Koch!«

»Wenn man es genau nimmt«, ruderte Libby unschuldig zurück, »ist diese Soße gar nicht so schlecht.«

»Zu spät«, erwiderte Ken. »Du hast schon gegen das Gesetz verstoßen.«

Libby legte ihren Taco auf ihren Teller und hob beide Hände, als würde sie sich ergeben. »Schon gut, schon gut – aber hab etwas Erbarmen, ja? Ich habe unter Städtern gelebt!«

»Das ist keine Entschuldigung.«

Libby zuckte mit den Schultern und nahm ihren Taco wieder auf. »Ich habe dich gewarnt. Hast du eigentlich die ganze Zeit über selbst gekocht und sauber gemacht?«

Ken schüttelte den Kopf und lehnte sich in seinem Stuhl zurück, die Daumen hinter seine Gürtelschnalle geklemmt. »Nein. Die Haushälterin der Barlowes schickt gelegentlich ihre Mannschaft hierher.«

»Und was ist mit dem Essen?«

»Meistens esse ich mit den Jungs im Küchenhaus der Ranch.« Er erhob sich und füllte zwei Tassen mit Kaffee. Als er sich wieder umdrehte, schaute er ernst drein. »Libby, was ist heute passiert? Was hat dich so sehr aus der Bahn geworfen?«

Libby wandte die Augen ab. »Ich weiß nicht«, log sie ihn lahm an.

»Verdammt noch mal, das weißt du sehr wohl. Du bist in Ohnmacht gefallen, Libby. Als Jess dich hier hineingetragen hat, habe ich …«

»Ich weiß«, unterbrach sie ihn sanft. »Du hattest Angst. Es tut mir leid.«

Vorsichtig, so als fürchtete er, sie fallen zu lassen, stellte er die dampfenden Tassen auf dem Tisch ab. »Also, was ist passiert?«, beharrte er und ließ sich wieder auf seinem Stuhl nieder.

Libby schluckte hart, doch der Kloß, den sie in ihrem Hals spürte, wollte einfach nicht verschwinden. Da sie wusste, dass sie diese Unterhaltung nicht ewig würde aufschieben können, überwand sie sich und antwortete: »Es ist kompliziert. Letzten Endes läuft es darauf hinaus, dass Stacey diese ganzen Lügen über mich verbreitet hat.«

»Und?«

»Und dass Jess ihm glaubt. Er sagte … Er hat einige Dinge zu mir gesagt und … na ja, das muss mich emotional sehr mitgenommen haben. Da bin ich eben umgekippt.«

Gedankenverloren drehte Ken seine Tasse zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her, sodass Kaffee herausschwappte und einen Fleck auf der Tischdecke hinterließ. »Erzähl mir von Jonathan«, sagte er mit sanfter Stimme.

Die Tränen, die sich dieses Mal in Libbys Augen sammelten, hatten nichts mit der Schärfe der Red-Devil-Soße ihres Vaters zu tun. »Er ist gestorben«, brachte sie erstickt hervor.

»Das weiß ich. Du hast mich in der Nacht, als es passiert ist, angerufen, erinnerst du dich? Ich frage mich vielmehr, warum du nicht wolltest, dass ich zu dir fliege und dir helfe, alles zu regeln.«

Libby senkte den Kopf. Jonathan war nicht ihr Sohn gewesen, sondern Aarons aus einer früheren Ehe. Und obwohl schon Monate vergangen waren, hatte der Verlust des Kindes ihr eine tiefe Wunde geschlagen, die noch immer nicht verheilt war.

»Ich wollte nicht, dass du aus nächster Nähe Einblick in meine Ehe bekommst«, gab sie unter großen Schwierigkeiten zu. Und voller Scham, die sie nicht loszuwerden schien.

»Wieso nicht, Libby?«

Libbys Lachen hätte genauso gut ein Schluchzen sein können. »Weil sie furchtbar war«, antwortet sie ihm.

»Von Anfang an?«

Sie zwang sich, dem ruhigen Blick ihres Vaters zu begegnen. Dass er vieles über ihre Ehe aus ihren seltenen Anrufen und noch selteneren Briefen herausgelesen hatte, war ihr wohl bewusst. »So gut wie«, bestätigte sie traurig.

»Erzähl mir davon.«

Libby wollte nicht an Aaron denken, geschweige denn mit ihrem Vater über ihn sprechen. Ken würde einiges einfach nicht verstehen. »Er … Er hatte … Affären.«

Ken schien nicht überrascht. Hatte er das etwa auch geahnt? »Sprich weiter.«

»Ich kann nicht!«

»Doch, du kannst. Wenn es dir im Augenblick zu viel ist, ist das in Ordnung. Ich werde dich nicht drängen. Aber je früher du dir das von der Seele sprichst, Libby, desto besser wird es dir gehen.«

Als sie bemerkte, dass ihre Hände verkrampft in ihrem Schoß lagen, versuchte sie, sich zu entspannen. Die Stelle an ihrem Finger, an der Aarons protziger Ehering gewesen war, leuchtete noch immer weiß. »Es war ihm egal«, klagte sie leise flüsternd. »Es war ihm wirklich egal …«

»Das mit dir?«

»Das mit Jonathan. Dad, sein eigener Sohn war ihm völlig egal!«

»Wie meinst du das, Spätzchen?«

Mit dem Handrücken wischte Libby die Tränen fort. »Die Dinge zwischen Aaron und mir standen schon nicht gut, bevor wir herausgefunden hatten, dass Jonathan krank war. Aber nachdem uns die Ärzte darüber informiert hatten, wurde alles noch viel schlimmer.«

»Ich kann dir nicht folgen, Libby.«

»Dad«, sagte sie verzweifelt. »Ab dem Moment, als Aaron erfuhr, dass Jonathan sterben würde, wollte er nichts mehr mit dem Jungen zu tun haben. Er war bei keinem einzigen Test anwesend, nicht ein einziges Mal kam er ihn im Krankenhaus besuchen. Dieser kleine Junge hat nach seinem Vater geweint, Dad. Aber Aaron kam einfach nicht.«

»Hast du mit Aaron darüber gesprochen?«

Libby erinnerte sich noch gut an den Frust von damals, und die brennende Wut, die sie beim Gedanken daran spürte, ließ ihre Wangen glühen. »Ich habe ihn geradezu angefleht, Dad. Doch er sagte immer nur: ›Ich kann damit nicht umgehen.‹«

»Das ist aber auch ein ganz schöner Brocken, den man verarbeiten muss, Lib. Vielleicht bist du zu streng mit dem Mann.«

»Zu streng? Zu streng?« Libbys Stimme überschlug sich fast. »Jonathan hatte fürchterliche Angst, Dad, und er hatte Schmerzen – ununterbrochen. Er hätte es lediglich gebraucht, dass sein eigener Vater für ihn stark war!«

»Und was ist mit der Mutter des Jungen? Ist sie ins Krankenhaus gekommen?«

»Ellen starb, als Jonathan noch ein Baby war.«

Ken seufzte und kämpfte mit den Worten, als würde er die Frage nur widerwillig stellen: »Hast du Aaron je geliebt?«

Libby dachte an die frühe Phase der Verliebtheit, die Begeisterung, die sich jedoch nie zu einer wahren, tiefen Liebe entwickelt hatte. Und die Realität des Ehealltags mit einem egozentrischen Mann hatte selbst diese zarten Gefühle zerstört. Obwohl sie es versuchte, konnte sie sich das Gesicht ihres Exmannes nicht in Erinnerung rufen. Stattdessen: jadegrüne Augen, dunkles Haar. Das war alles, was sie vor ihrem inneren Auge sah. Das war nicht Aaron, sondern Jess. »Nein«, gab sie schließlich zu. »Aber als ich ihn geheiratet habe, dachte ich, dass ich es tue.«

Mit einem Mal erhob sich Ken, nahm die Kaffeekanne von der hinteren Kochplatte des Herdes und füllte beide Tassen nach. »Ich möchte dich das eigentlich nicht fragen, aber …«

»Nein, Dad!« Libby unterbrach ihn, noch bevor er dieses unleidige Thema anschneiden konnte. »Ich liebe Stacey nicht!«

»Bist du dir sicher?«

Die Wahrheit war, dass Libbys sich ganz und gar nicht sicher gewesen war. Doch diese dumme Episode mit Jess auf dem Schwimmsteg hatte ihr die Augen geöffnet. Allein bei der Erinnerung daran, wie sie sich ihm bereitwillig hingegeben hatte, pulsierte es in ihrem ganzen Körper vor Verlegenheit. »Ganz sicher«, bestätigte sie nachdrücklich.

Ken fasste über den Tisch hinweg und umschloss mit seiner Hand die ihre. »Du bist zu Hause«, erinnerte er sie. »Ab jetzt wird alles besser werden. Das verspreche ich dir.«

Libby schniefte wenig damenhaft. »Weißt du was, Cowboy? Ich hab dich sehr lieb.«

»Ich wette, das sagst du zu all deinen Vätern«, witzelte Ken. »Hast du vor, morgen an deinem Comic zu arbeiten?«

Der Themenwechsel war ihr durchaus willkommen. »Was das betrifft, bin ich dem Zeitplan etwa sechs bis acht Wochen voraus. Um den nächsten Abgabetermin mache ich mir daher keine Sorgen. Ich glaube, ich gehe stattdessen reiten. Das heißt, wenn ich Cathy davon überzeugen kann, mitzukommen.«

»Ich habe mich schon darauf gefreut, dir beim Arbeiten zuzuschauen. Wie gehst du dabei vor?«

Libby lächelte und fühlte sich durch die Liebe dieses starken und ausgeglichenen Mannes, der ihr gegenübersaß, geborgen. Sie erklärte ihm, wie ihre Cartoons entstanden. Dabei bemerkt sie, wie gut es ihr tat, über die Arbeit zu sprechen. Auch wenn Aaron ihre Karriere geringschätzig betrachtet hatte, war sie das Einzige, das er ihr nicht hatte verderben können.

Ihr Vater zog das Gespräch geschickt in die Länge, und bald redete sie ohne Punkt und Komma über das Zeichnen von Cartoons und erwähnte sogar ihren geheimen Wunsch, eines Tages ihr Können zu erweitern und Porträts zu malen.

Und so unterhielten sich Vater und Tochter bis spät in die Nacht hinein.

»Das hast du verdient«, fuhr Jess Barlowe sein Gegenüber im Badezimmerspiegel an. Ein ausgewachsener Kater trommelte in seinem Kopf und rumorte in seinem Magen, sein Gesicht wirkte abgespannt, so als hätte er seine Muskeln zu lange nicht benutzt.

Mit grimmiger Miene begann er, sich zu rasieren, und fragte sich, ob Libby schon wach war. Sollte er bei Ken haltmachen und mit ihr sprechen, bevor er hinüber zum Haupthaus ging und den Tag mit den Buchhaltern zubrachte?

Jess drängte es, Libby aufzusuchen, ihr zu sagen, wie leid es ihm tat, ihr so zugesetzt zu haben. Es brannte ihm auf den Nägeln, ihre komplizierte Beziehung – wenn man es denn so nennen konnte – auf den richtigen Kurs zu bringen. Und doch sagten ihm seine Instinkte, dass sein Vater am Tag zuvor recht gehabt hatte: Libby brauchte Zeit.

Seine Gedanken wanderten zu Libbys Stiefsohn. Wie musste es für sie gewesen sein, Tag für Tag an seinem Krankenhausbett zu sitzen, um einem Kind dabei zuzusehen, wie es litt, und nicht helfen zu können?

Jess fröstelte. Kaum vorstellbar, etwas derart Schreckliches. Wenigstens hatte Libby ihren Ehemann gehabt, mit dem sie diesen Albtraum durchstehen konnte.

Als er sich mit der Rasierklinge am Kinn verletzte, verzog er das Gesicht und tupfte die kleine Wunde mit einem Stückchen Papiertaschentuch ab. Aber wenn Libby ihren Ehemann hatte, wozu hat sie dann Stacey gebraucht?

Stacey. Ihn konnte er doch ausfragen. Zugegeben, er war in letzter Zeit nicht besonders gut auf seinen älteren Bruder zu sprechen gewesen. Dennoch wusste Stacey aus erster Hand, was in Libby Kincaid vorging. Und das war Grund genug, auf ihn zuzugehen.

Nun, da er einen Plan hatte, fühlte er sich gleich besser. Er beendete sein morgendliches Ritual und zog sich an. Für gewöhnlich verbrachte er seine Tage draußen auf der Weide mit Ken und den Farmhelfern. Aber weil er sich heute mit den Buchhaltern treffen wollte, verzichtete er auf Jeans und Baumwollhemd und wählte stattdessen einen maßgeschneiderten Dreiteiler. Noch während er mit seiner Krawatte kämpfte, ging er die breite aus Redwood-Holz gefertigte Treppe vom loftähnlichen Obergeschoss seines Hauses ins Wohnzimmer hinunter.

Hier stand ein massiver Kamin aus weißem Kalkstein, der die gesamte Breite einer Wand einnahm. Die Böden aus poliertem Eichenholz waren mit mehreren farbenfrohen indianischen Teppichen bedeckt. Zwei Sessel und ein tiefes Sofa standen vor der Feuerstelle, und Jess’ überladener Schreibtisch war so ausgerichtet, dass er auf Ranchland und die dahinterliegenden schneebedeckten Berge blickte, wenn er dort saß.

Mit großen Schritten steuerte er auf die Tür zu und gab schließlich entnervt seine Bemühungen auf, die Krawatte richtig zu binden. Wie war er froh, Staceys Arbeit nicht machen zu müssen: die langweilige Aufgabe, das familieneigene, landesweite Steakhouse-Ketten-Franchise zu überwachen, wäre überhaupt nichts für ihn.

Er lächelte. Stacey gefiel es, den feinen Herrn zu spielen, Werbespots fürs Fernsehen aufzunehmen und quer durch das ganze Land zu reisen.

Und mit Libby Kincaid ins Bett zu gehen.

Quer über den Rasen vor dem Haus lief er zum Carport und schwang sich hinter das Lenkrad des Pick-ups, den er seit seinen Studientagen fuhr. Eines Tages würde er sich wahrscheinlich ein anderes Auto zulegen müssen – etwas Schickes wie Staceys Ferrari.

Stacey, Stacey, Stacey. Er hatte seinen Bruder heute noch nicht einmal gesehen und jetzt schon die Nase voll von ihm.

Der Motor des Pick-ups gab ein schleifendes Geräusch von sich, dann sprang er an. Liebevoll tätschelte Jess die staubige Armatur und grinste. Ein Auto ist ein Auto, sinnierte er und fuhr das berüchtigte Wrack rückwärts aus seiner Auffahrt heraus. Ein Auto sollte Menschen transportieren, nicht sie beeindrucken.

Fünf Minuten später gluckerte Jess’ Pick-up an der Seite des eisblauen Ferraris, der seinem Bruder gehörte, bevor er unter asthmaähnlichen Geräuschen ausging. Er sah hinauf zu dem modernen, zweigeschossigen Haus, das der Senator Stacey und Cathy zur Hochzeit geschenkt hatte, und fragte sich, ob Libby davon beeindruckt sein würde.

Bei dem Gedanken verzog er das Gesicht, während er dem kurvigen, mit weißem Kies aufgefüllten Weg zum Haus folgte. Was zum Teufel ging es ihn an, ob das bei Libby Eindruck machte?

Irritiert drückte er einen Finger auf die speziell angefertigte Klingel, die eine Reihe blinkender Lichter innerhalb des Hauses auslöste. Das System war seine eigene Idee gewesen, dazu gedacht, Cathy das Leben zu erleichtern.

Seine Schwägerin kam an die Tür, lächelte ihn etwas matt an und gebärdete: »Guten Morgen.«

Jess nickte lächelnd. Der gehetzte Ausdruck in den Tiefen ihrer Augen schürte seine Wut von Neuem. »Ist Stacey da?«, bedeutete er ihr und betrat das Haus.

Cathy fasste ihn bei der Hand und führte ihn durch das riesige Wohnzimmer und das elegante Esszimmer. Stacey saß in der Küche und fühlte sich in seinem dreiteiligen Anzug offensichtlich wohl, ganz im Gegenteil zu Jess.

»Du«, sagte Stacey tonlos und legte den mit Honig bestrichenen English Muffin, ein getoastetes flaches Milchbrötchen, beiseite.

Cathy bot ihm Kaffee an, den Jess höflich ablehnte, woraufhin sie den Raum verließ. Ihr Leben muss todlangweilig sein, überlegte Jess, wo sich doch alles nur um Stacey dreht.

»Ich muss mit dir sprechen.« Jess zog einen aus Plastik und Chrom gefertigten Stuhl heran, um sich an den Tisch zu setzen.

Fragend hob Stacey die Augenbraue. »Ich hoffe, es geht schnell – ich muss gleich los zum Flughafen. In Kansas City warten ein paar geschäftliche Dinge auf mich.«

Ohne Umschweife erkundigte sich Jess: »Was für eine Art von Mann ist Libbys Exmann?«

Stacey nahm seine Kaffeetasse in die Hand. »Wozu möchtest du das wissen?«

»Ist doch egal. Muss ich ihn überprüfen lassen, oder wirst du es mir sagen?«

»Er ist ein Bastard«, erwiderte Stacey, sah seinem Bruder aber nicht in die Augen.

»Reich?«

»Oh ja. Seine Familie ist alter Geldadel.«

»Und was tut er?«

»Tun?«

»Ja. Arbeitet er, oder steht er einfach nur da und ist reich?«

»Er leitet das Familienunternehmen, eine Werbeagentur. Und ich glaube, dass er auch Kontrolle über alle anderen Kapitalbeteiligungen der Familie hat.«

Jess spürte, dass Stacey ihm auswich, und fragte sich, warum. »Schlechte Gewohnheiten?«

Jetzt starrte sein Bruder unverwandt den Toaster an, als erwartete er, dass etwas Beängstigendes daraus hervorspringen würde. »Er hat einige Laster.«

Ärgerlich erhob sich Jess, holte sich nun doch eine Tasse Kaffee, die er kurz vorher abgelehnt hatte, und setzte sich wieder. »Die Borsten eines Stachelschweins aus der Nase eines Hundes zu ziehen wäre einfacher, als Antworten aus dir herauszuholen. Wenn du sagst, er habe Laster, meinst du damit Frauen?«

Stacey schluckte und sah fort. »Wenn man es beschönigen will, ja«, bestätigte er.

Jess lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Was zum Teufel soll das denn nun heißen?«

»Das heißt, dass es ihm nicht nur gefallen hat, sich mit anderen Frauen zu vergnügen, sondern auch, damit zu prahlen. Je miserabler Libby sich deswegen fühlte, desto glücklicher war er.«

»Dieser Mistkerl«, sagte Jess fassungslos. »Was noch?«, presste er hervor, weil Staceys Gesichtsausdruck darauf hindeutete, dass da noch mehr war.

»Bei Libby war er impotent.«

»Warum ist sie bei ihm geblieben? Warum in aller Welt ist sie nicht gegangen?«, fragte er grübelnd sich selbst, aber auch seinen Bruder.

Ein vorsichtiger, aber selbstgefälliger Funke leuchtete in Staceys topasfarbenen Augen auf. »Sie hatte ja mich«, bemerkte er gelassen. »Außerdem war Jonathan zu der Zeit schon krank und sie hatte das Gefühl, um seinetwillen an der Ehe festhalten zu müssen.«

Die großzügige, sonnige Küche schien sich um Jess zu drehen »Wieso hat sie nicht wenigstens Ken davon erzählt?«

»Und was genau hätte das bringen sollen? Er hätte den Jungen auch nicht heilen oder aus Aaron Strand einen liebenden Ehemann machen können.«

Alles, was Libby hatte ertragen müssen – die Scham, die Einsamkeit, die Demütigung und das Leid –, überkam Jess in einer bedrückenden, niederschmetternden Welle. Kein Wunder, dass sie sich Stacey zugewandt hatte. »Danke«, sagte er schroff, als er sich erhob, um zu gehen.

»Jess?«

In der Küchentür blieb er stehen, seine Hände umklammerten die Holzzarge, seine Schultern schmerzten vor Anspannung. »Was?«

»Mach dir um Libby keine Sorgen. Ich werde mich um sie kümmern.«

Verzweifelte Wut jagte durch Jess’ Körper. »Und was ist mit Cathy?«, erkundigte er sich, ohne sich umzudrehen. »Wer wird sich um sie kümmern?«

»Du hast immer …«

Jess wirbelte jäh um die eigene Achse, starrte seinen Bruder an, hasste ihn beinahe. »Ich habe immer was

»Dich um sie gekümmert.« Stacey zuckte die Schultern und wirkte dabei kaum verstört. »Sie beschützt …«

»Schlägst du etwa vor, dass ich die Scherben aufsammle, die du hinterlässt?«, hakte Jess nach und zwang seine Stimme dabei zu einem gefährlich ruhigen Tonfall.

Wieder gab Stacey nur ein Schulterzucken als Antwort.

Da er fürchtete, seinem Bruder dauerhaften Schaden zuzufügen, wenn er noch einen Augenblick länger blieb, stürmte Jess aus dem Haus. Cathy, in alten Jeans, Stiefeln und einer Baumwollbluse gekleidet, wartete neben seinem Pick-up. Der Blässe ihres Gesichtes nach zu urteilen, wusste sie viel mehr über den Zustand ihrer Ehe, als er gehofft hatte.

Als sie mit ihren Händen sprach, zitterten diese ein wenig. »Ich habe Angst, Jess.«

Wortlos zog er sie in seine Arme und hielt sie fest. »Ich weiß, Kleines«, flüsterte er, auch wenn er wusste, dass sie ihn weder hören noch seine Lippen sehen konnte. »Ich weiß.«

Gähnend öffnete Libby die Augen und streckte sich. Wohlige Sonnenstrahlen erreichten sie, und frische Luft strömte durch das offene Fenster in ihr Zimmer, bauschte die rosafarbenen Vorhänge auf und erinnerte sie daran, dass sie endlich wieder zu Hause war. Sie schlug die Bettdecke zurück und stand auf. Noch etwas schlaftrunken tappte sie ins Badezimmer und drehte das Wasser der Dusche an.

Als sie ihr kurzes baumwollenes Nachthemd abstreifte, sah sie an sich herab und erinnerte sich an die überwältigenden Empfindungen, die Jess Barlowe tags zuvor in ihr ausgelöst hatte. Wie dumm sie doch gewesen war, das zuzulassen! Doch nach mehreren Jahren der Enthaltsamkeit war es vermutlich nur natürlich, dass sie so leicht zu erregen war – vor allem von einem Mann wie Jess.

Nach der warmen, wohltuenden Dusche fühlte sie sich wie neugeboren. Aarons unverhohlene Seitensprünge waren für sie schmerzhaft gewesen und hatten ihre Selbstachtung empfindlich getroffen. Nun aber waren – auch wenn sie sich lächerlich gemacht hatte, weil sie bei einem Mann, der sie nicht einmal mochte, so hemmungslos reagiert hatte – viele Zweifel bezüglich ihrer Weiblichkeit zerstreut. Sie war nicht nutzlos und reizlos, wie Aaron sie hatte glauben machen wollen. Jess Barlowe hatte sie begehrt, oder etwa nicht?

Na und, diskutierte sie beim Zähneputzen mit ihrem Spiegelbild. Woher willst du wissen, dass Jess mit dieser Aktion nicht beweisen wollte, dass sein erster Eindruck von dir genau der richtige war?

Diese durchaus reale Möglichkeit verpasste Libby einen Dämpfer. Sie bürstete ihr Haar, trug wie gewohnt Lipgloss und einen Hauch Mascara auf und ging anschließend zurück in ihr Zimmer, um sich anzuziehen. Aus dem Koffer wählte sie eine kurzärmelige, türkisgrüne Bluse und eine schmal geschnittene Jeans. Da sie immer noch vorhatte, Cathy zu besuchen und sie davon zu überzeugen, mit ihr reiten zu gehen, wühlte sie in ihrem Schrank, bis sie die abgewetzten Stiefel fand, die sie hier zurückgelassen hatte, als sie nach New York gezogen war. Rasch zog sie ein paar dicke Socken über und schlüpfte in die Stiefel.

Sie betrachtete die alten, schäbigen Schuhe und stellte sich die Verachtung vor, die sie bei Aarons Jetsetfreunden ernten würden. Sie musste lachen. Probleme hin oder her, Jess hin oder her – es war gut, endlich zu Hause zu sein.

Dass sie niemanden in der Küche vorfand, war nicht weiter überraschend. Ken hatte das Haus wahrscheinlich noch vor Sonnenaufgang verlassen. Aber auf dem Herd stand Kaffee, und im Kühlschrank fand sie etwas Obst. Libby nahm sich eine Birne und setzte sich.

Gerade als sie ihre zweite Tasse Kaffee ausgetrunken hatte, klingelte das Telefon. Sie eilte an die Wand, an der der Apparat hing, und hob fröhlich ab, in der Annahme, der Anrufer wäre entweder Ken oder die Haushälterin des Haupthauses, die ihr eine Nachricht von Cathy übermitteln wollte. Den Hörer ans Ohr gepresst, war sie schon wieder zum Tisch zurückgelaufen, als Aaron unvermittelt fragte: »Wann kommst du nach Hause?«

»Nach Hause?«, wiederholte Libby verständnislos. Sie war durch die Frage etwas aus dem Gleichgewicht geraten, vor allem, weil sie kaum ihren Ohren traute. »Ich bin zu Hause, Aaron.«

»Genug jetzt! Du hast deinen Standpunkt klar und deutlich ausgedrückt, deine selbstgerechte Empörung. Und jetzt wirst du wieder zurückkommen, weil ich dich brauche.«

Eigentlich sollte Libby auflegen. Doch der Weg von ihrem Stuhl bis zur Telefongabel schien ihr unüberwindbar. »Aaron, wir sind geschieden«, erinnerte sie ihn ruhig. »Ich werde nie mehr zurückkommen.«

»Du musst!«, beharrte er prompt. »Es ist lebenswichtig.«

»Wieso? Was ist mit all deinen … Freundinnen?«

Aaron seufzte. »Du erinnerst dich an Betty? Miss November? Na ja, Betty und ich hatten eine kleine Meinungsverschiedenheit. So etwas kommt vor. Aber sie ist zu meiner Familie gerannt. Und ich – wie soll ich das sagen – wurde als ein wenig idealer Ehemann entlarvt.« Er hüstelte. »Jedenfalls ist meine Großmutter der Ansicht, dass ein Mann, der seine Familie nicht im Griff hat, auch kein Unternehmen führen kann. Als wir uns scheiden ließen, war sie in Paris, du erinnerst dich? Und nun wurden mir sechs Monate gewährt, um dich zurück in den Schoß der Familie zu bringen und für einen Erben zu sorgen. Ansonsten geht der ganze Laden an meinen Cousin.«

Libby war viel zu erstaunt, um zu sprechen oder sich zu bewegen; wie erstarrt saß sie in der Küche ihres Vaters und versuchte, zu verstehen, was Aaron faselte.

»Und genau da«, fuhr Aaron unbekümmert fort, »kommst du ins Spiel, Schätzchen. Du kommst zurück, wir lächeln viel, machen ein Baby und das erregte Gemüt meiner Großmutter wird besänftigt. So einfach ist das.«

Libby schaffte es kaum, die Übelkeit zurückzuhalten, die plötzlich in ihr aufstieg. »Ich kann es nicht fassen«, flüsterte sie.

»Was denn, Schätzchen? Dass ich ein Baby machen kann? Darf ich darauf hinweisen, dass ich Jonathan gezeugt habe, für den du eine so große Schwäche hattest?«

Sie schluckte schwer. »Schwängere doch Miss November«, brachte sie hervor. Und dann murmelte sie mehr zu sich selbst als zu Aaron: »Ich glaube, mir wird schlecht.«

Autor

Linda Lael Miller
<p>Nach ihren ersten Erfolgen als Schriftstellerin unternahm Linda Lael Miller längere Reisen nach Russland, Hongkong und Israel und lebte einige Zeit in London und Italien. Inzwischen ist sie in ihre Heimat zurückgekehrt – in den weiten „Wilden Westen“, an den bevorzugten Schauplatz ihrer Romane.</p>
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Diana Hamilton gehört zu den populären britischen Autorinnen für Liebesromane. Seit 1986 wurden über 50 Romane von ihr veröffentlicht. Bereits als Kind trainierte Diana Hamilton ihre Fantasie. Gern wäre das Stadtkind auf dem Land geboren, deshalb verwandelte sie den Baum im Garten des Nachbarn in einen Wald, aus einem Mauerloch...
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