Die Schöne und der Bastard - Kapitel 23

~ Kapitel 23 ~

Sybilla hatte alle Mehlsäcke gezählt und machte die entsprechende Anzahl Knoten in die Schnur, die neben ihr an der Wand hing. Es war Guermonts Idee gewesen, auf diese Weise festzuhalten, welche Vorräte in welchen Mengen eingelagert worden waren und wie viel davon noch vorhanden war. Die Ernte war eingebracht, und sie waren fast in jeder Hinsicht für den Winter mit seiner Eiseskälte gewappnet.

Sie befand sich in einem Vorratsraum der Feste und wartete auf Guermont, als sie sich auf einmal zu schnell bewegte und das Gleichgewicht verlor. Mit dem Kopf stieß sie gegen ein Fass, und vergeblich versuchte sie noch, die Arme auszustrecken, um ihren Fall abzufedern. Zwar hatte sie nicht das Gefühl, mit dem Kopf auf dem Boden aufzuschlagen, dennoch verlor sie das Bewusstsein.

 

„Lady Sybilla? Lady Sybilla, könnt Ihr mich hören?“

Sie erkannte Teyens Stimme wieder und nickte, was ihr aber nur Kopfschmerzen bereitete und dafür sorgte, dass sich ihr der Magen umdrehte.

„Nicht bewegen“, wies er sie an.

Das hätte er einen Moment früher sagen sollen.

Als sie leises Lachen hörte, wurde ihr klar, dass sie ihren letzten Gedanken ungewollt laut ausgesprochen hatte. „Wer ist noch da?“, wollte sie wissen und erhielt eine Aufzählung aller Bewohner der Feste, bei der nur Sorens Name fehlte. Zum Glück war er nicht Zeuge ihrer Tollpatschigkeit geworden.

„Sybilla, geht es dir gut?“ Nun war Soren auch noch eingetroffen.

Sie versuchte sich aufzusetzen, schaffte es aber nicht, woraufhin sie die Leute ungehalten hinauswinkte. Mit etwas Glück würde man sie in Ruhe lassen, sodass sie sich nicht noch weiter demütigte. Als Nächstes würde sie sich von Soren eine Predigt anhören müssen, in der er ihr vorhalten würde, dass sie sich übernommen hatte. Wobei er sie schon im Voraus gewarnt hatte, dass diese Aufgabe zu viel für sie sein würde.

„Geht bitte alle zurück an eure Arbeit, mir geht es gut“, versicherte sie ihren Leuten, aber sie konnte hören, dass sich niemand von der Stelle rührte. Das Pochen in ihrem Kopf wurde stärker, und sie kam zu dem Schluss, dass ein wenig Hilfe wohl nicht verkehrt wäre. „Soren …“

Mehr musste sie nicht sagen, da er sofort bei ihr war und sie nach oben in ihre Gemächer brachte. Wenn sie sich eine Weile ins Bett legte, würden die Kopfschmerzen bestimmt bald wieder nachlassen.

 

Ihre Hoffnung erfüllte sich nicht, und als sie am nächsten Morgen aufwachte, hatte sie nicht nur eine Nacht voll schrecklicher Albträume hinter sich, sondern es kam ihr auch so vor, als wären die Kopfschmerzen mindestens so schlimm wie am Tag ihres Unfalls, der sie ihr Augenlicht gekostet hatte.

Wenigstens gelang es ihr, Soren zu überreden, sich seinen Aufgaben zu widmen, damit sie sich den Tag über ausruhen konnte. Allerdings befahl er gleich nach dem Verlassen ihrer Gemächer so gut wie jedem in der Feste, im Laufe des Tages nach ihr zu sehen. Von Aldys und Gytha über Guermont und Larenz bis hin zum jungen Raed schaute einer nach dem anderen bei ihr vorbei, um sich nach ihr zu erkundigen und ihr von den Fortschritten zu berichten, die bei der Vorbereitung auf den Winter gemacht wurden. Sie bekam ein schlechtes Gewissen, weil sie nicht mithelfen konnte, doch sobald sie versuchte, das Bett zu verlassen, setzte starker Schwindel ein, der hoffentlich bald ein Ende nahm.

 

Die Beschwerden hielten auch noch am zweiten Tag an, weshalb Aldys die Überlegung ins Spiel brachte, dass Sybilla vielleicht ein Kind erwartete. Das konnte sie aber ausschließen.

Auch wenn sie nicht wusste, ob sie an irgendeiner ihr unbekannten Krankheit litt, stellte sie am Morgen des dritten Tages erleichtert fest, dass es ihr wieder etwas besser ging. Darüber war sie nicht zuletzt auch deshalb froh, weil Soren immer angespannter und unruhiger geworden war, je länger ihre schlechte Verfassung anhielt.

Als sie später an diesem Tag aus ihrem Mittagsschlaf erwachte, fühlte sich ihr Kopf irgendwie ganz anders an, und die Farben aus ihren Träumen verfolgten sie auch im wachen Zustand.

Sie beschloss, sich wieder an ihren Webstuhl zu setzen und weiter zu üben, also ging sie vom Bett hinüber zur Ecke neben der Tür. Was sich dabei ereignete, lief so langsam ab, dass es ihr zunächst nicht auffiel. Dann auf einmal stellte sie fest, dass sie dort Schatten sah, wo bislang nur Schwärze zu sehen gewesen war. Sie drehte sich vorsichtig zum Fenster um, wo die Helligkeit der Sonne die Schatten durchdrang. Sie blinzelte und rieb sich die Augen, da sie das Ganze für einen Wachtraum hielt, aber nach einer Weile zeichneten sich erste Konturen ab, und dann konnte Sybilla ihr Bett und den Webstuhl in der Ecke sehen. Die Farben kehrten zurück, und ihr Blick fiel auf jenen Blauton, von dem Aldys gesprochen hatte.

Ein Zittern durchfuhr ihren ganzen Körper, Tränen liefen ihr über die Wangen, als sie verstand, dass ihr Augenlicht offenbar zurückgekehrt war. Sie musste unbedingt jemandem davon erzählen! Sie musste es Soren sagen!

Nein! Sie musste warten, bis sie sich ganz sicher war, dass sie sich all das nicht doch nur einbildete. Wenn sie Aldys oder Soren oder auch Teyen rief, und es entpuppte sich als Irrtum, dann …

Sie zwang sich, auf dem Stuhl Platz zu nehmen und erst einmal eine Weile abzuwarten. Ihr Herz raste vor Aufregung, während sie unablässig betete, dass ihr Augenlicht tatsächlich und dauerhaft zurückkehren würde. Die Vorstellung, wieder sehen und lesen zu können, wieder die Sonne auf- und untergehen zu sehen, die Menschen von Alston zu erkennen und all die Dinge für sie zu tun, die ihr so viel Freude bereiteten – das war eine überwältigende Aussicht. Ebenso Soren zu sehen und ihn von einer seiner zu vielen Sorgen zu befreien, die auf ihm lasteten. Raed und Guermont und alle anderen zu sehen und herauszufinden, ob sie den Bildern ähnelten, die sie sich von ihnen gemacht hatte.

Sie war außer sich vor Freude, und diese Freude steigerte sich mit jedem Moment, der verstrich, ohne dass sie abermals in diese unerbittliche Schwärze eintauchte. Derjenige, der als Nächster vorbeikommen würde, um nach ihr zu sehen, würde von ihr zu hören bekommen, was geschehen war. Sie konnte nicht noch länger warten, und am liebsten wäre sie auf der Stelle die Treppe hinuntergelaufen, um es auf dem Hof allen zu verkünden, die sich dort aufhielten.

Dann endlich hörte sie leise Schritte, die sich im Korridor näherten. Gebannt hielt sie den Atem an, als die Tür aufging und ein unglaublich großer Mann hereinkam. Er drehte sich kurz um, so als würde er nach irgendetwas im Korridor suchen.

Sie sah sein Gesicht, ein kraftvolles, männliches Gesicht mit eleganter Nase, ausgeprägter Stirn und vollen Lippen. Die Haare waren pechschwarz, er trug sie länger als die meisten Normannen, die sie bislang gesehen hatte, da sie den Kragen seines Wappenrocks berührten.

Das musste er sein …

„Soren!“, sagte sie, gerade als er die Kappe vom Kopf zog.

Sie stand auf, während er sich zu ihr umdrehte, ohne auch nur zu ahnen, dass sie ihn sehen konnte.

Und dann … dann schaute sie in sein Gesicht. Die andere Hälfte war so entsetzlich, wie die eine schön war. Eine tiefe Kerbe zog sich durch Fleisch und Knochen, die Haut spannte mal in die eine, mal in die andere Richtung, der eine Mundwinkel war verzerrt. Und die Narben … diese Narben …

„Gott im Himmel!“, rief sie vor Entsetzen aus.

„Du … du kannst mich sehen?“, fragte er entgeistert und drehte den Kopf weg, damit sie nur die unversehrte Gesichtshälfte sehen konnte. „Dein Augenlicht …“

„Oh, Soren“, flüsterte sie kopfschüttelnd.

 

In diesem Moment wäre er am liebsten tot umgefallen.

Alles, wovor er sich in ihrem Blick gefürchtet hatte, sollte sie wieder sehen können, war dort zu erkennen: Entsetzen, Abscheu, Angst und – das Schlimmste überhaupt – Mitleid. Er war tatsächlich so dumm gewesen zu glauben, sie könnte anders sein als die anderen. Sie könnte über die Narben hinwegsehen und in ihm den Mann erkennen, den sie in den letzten Wochen und Monaten kennengelernt hatte.

Aber nein, er hatte gewusst, was kommen würde, und sie sah in ihm nur das Monster, das er darstellte. Die eine Chance in seinem Leben war ihm genommen worden. Im gleichen Moment kämpfte sich der Mann wieder an die Oberfläche, der nur dank seiner Rachsucht überlebt hatte.

„Dann siehst du ja jetzt, was dein Vater mir angetan hat. Nun weißt du, warum ich ihn töten musste.“

„Soren, ich bitte dich …“, begann sie, aber eine Handbewegung von ihm genügte, um sie verstummen zu lassen.

„Ich könnte es bei jedem Fremden hinnehmen, aber nicht bei dir, Sybilla. Ich dachte, zwischen uns besteht gegenseitiges Vertrauen, doch in deinen Augen sehe ich alles – dein Entsetzen, dein Mitleid.“

Jedes Wort brüllte er ihr entgegen, weil er ihr so wehtun wollte, wie sie ihm gerade eben wehgetan hatte. Dann ließ er die verletzendste, gehässigste Bemerkung folgen: „Ich habe dich nur geheiratet, weil du mich nicht sehen kannst. Und ich habe jede Nacht zu Gott gebetet, dass du blind bleibst, damit du mich niemals so voller Abscheu ansehen würdest.“

Sybilla schnappte nach Luft, was ihn vermuten ließ, dass seine Worte genau ins Schwarze getroffen hatten.

Sie sank auf die Knie, gerade als im Korridor ihre Dienerinnen herbeigeeilt kamen, da sie seine laute Stimme gehört hatten. Andere würden auch herkommen, um nach dem Rechten zu sehen, aber das kümmerte ihn nicht. Er riss die Tür auf und stürmte nach draußen. Zum Teufel mit ihnen allen, und vor allem zum Teufel mit ihr!

Während er zum Stall eilte, verbreitete sich in Windeseile das Wunder von Sybillas Genesung. Niemand wagte es aber, ihn anzusprechen, dafür sorgte schon seine finstere Miene. Er sattelte sein Pferd, saß auf und ritt durch das Tor nach draußen. Sein Ziel war ihm egal, er wollte nur fort von ihr.

Soren war so von seinem eigenen Schmerz übermannt worden, dass er den kleinen Jungen nicht bemerkte, der mit enttäuschtem Gesichtsausdruck dastand und ihm hinterhersah, wie er davonritt.

 

Die Freude über ihr wiedergewonnenes Augenlicht schwand im Angesicht von Sorens Reaktion und Enthüllung. Als sie ihn angesehen und diese schrecklichen Verletzungen wahrgenommen hatte, da war ihr einziger Gedanke der gewesen, wie ein Mensch wohl solche Schmerzen überleben konnte. Und sie war entsetzt darüber, dass jemand wie ihr Vater, ein Mensch, den sie über alles geliebt hatte, einem anderen so etwas antun konnte.

Sie konnte sogar verstehen, wieso er bittere Rache hatte üben wollen, als er vor Monaten hergekommen war. Und sie schämte sich dafür, was er als Folge dieser schändlichen Tat ihres Vaters über sich hatte ergehen lassen müssen. Sie hatte die Hand gehoben, um ihn zu berühren, um den Schmerz zu lindern, den er an jedem Tag seines Lebens ertragen musste. Aber er hatte ihre Geste falsch verstanden, und von da an war alles nur noch schlimmer geworden.

Jegliches Verständnis für ihn wurde in dem Moment ausgelöscht, als er sich dazu bekannte, der Henker ihres Vaters zu sein. Sybilla wurde klar, dass sie ihn niemals danach gefragt hatte, weil sie sich davor fürchtete, dass er genau das sagen könnte. Jetzt wurde ihr bei dem Gedanken übel, dass sie sich dem Mann hingegeben hatte, der ihren Vater auf dem Gewissen hatte.

Aber stimmte es auch, was er sagte, oder wollte er sie damit nur verletzen? Er hatte ihr die Worte entgegengeschleudert, nachdem ihre Geste von ihm verkehrt ausgelegt worden war. Doch stimmte tatsächlich, was er gesagt hatte?

 

Sybillas wundersame Genesung sprach sich genauso schnell herum wie die Neuigkeit vom Zerwürfnis zwischen ihr und Soren. Alston verwandelte sich in ein befestigtes Lager, alle Feindseligkeit der ersten Tage hielt wieder Einzug. Er schlief anderswo, aß anderswo, er sprach kein Wort mit ihr. Wenn er den Saal betrat und sie war da, machte er gleich wieder kehrt. Was er ihr zu sagen hatte, ließ er durch Boten ausrichten.

Am meisten machte ihr jedoch die Ungewissheit zu schaffen, wann er sie nun wegschicken würde. Es tat ihr im Herzen weh, auf diesen letzten Schlag warten zu müssen. Wie sich jedoch zeigte, war Alston für ihn wichtiger, und alles, was zwischen ihnen vorgefallen war, rückte bis auf Weiteres in den Hintergrund, als Alston Gefahr drohte.

Wegen dieses vorübergehenden Waffenstillstands war Sybilla gezwungen, ihr Leben einmal mehr an veränderte Umstände anzupassen. Sie ordnete den Gesichtern Namen zu und fand dabei heraus, dass keiner dieser Leute auch nur annähernd ihrer Vorstellung entsprach, die sie sich anhand der jeweiligen Stimme gemacht hatte. Die einzige Ausnahme stellte Raed dar, den Aldys wirklich hervorragend beschrieben hatte.

Auch wenn Soren auf Abstand zu ihr blieb, war sie dennoch in Sorge um ihn und behielt ihn im Auge, soweit es ihr möglich war. Dabei versuchte sie immer wieder, all die verschiedenen Seiten, die sie kennengelernt hatte, in Einklang mit diesem Mann zu bringen, der jeden seiner Freunde und Krieger deutlich überragte. Nun erinnerte er sie an das erste Mal, als sie ihn auf seinem Schlachtross sitzend gesehen hatte, unmittelbar vor dem Angriff auf Alston. Wie der Teufel in Person hatte er damals gewirkt. Jetzt hatten Zorn und Hass ihn wieder fest im Griff, und der Mann, der ihren Webstuhl hatte reparieren lassen und der ihr während ihrer Blindheit durch ihre schwersten Stunden geholfen hatte … dieser Mann war spurlos verschwunden.

Sie versuchte auch, in ihm den Mann wiederzuerkennen, der ihr solche Lust bereitet hatte. Als wüsste er ganz genau, wann sie an die wunderschönen Stunden zurückdachte, sah er immer in diesem Moment zu ihr, was sie prompt erröten ließ – womit er zweifelsfrei wusste, was ihr eben durch den Kopf gegangen war.

Die einzige Veränderung trat ein, als Sorens Späher das Rebellenlager entdeckten und er mit Brice und dem mittlerweile eingetroffenen Lord Giles an einem Plan zu arbeiten begann, wie sie den Anführer dieser Rebellen in ihre Gewalt bringen konnten. Da sie wieder ungehindert sehen konnte, übertrug er ihr zu ihrem großen Erstaunen all die Aufgaben, die sie früher schon erledigt hatte. Auf diese Weise stand ihm Guermont wieder als Krieger zur Verfügung.

Sybilla fragte sich, was wohl Sorens Freunde von der Situation zwischen ihnen beiden hielten.


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