Geständnis nach einer heißen Nacht

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Wie hat Ben Walker sich verändert! Aus dem wilden Jungen, der in Northbridge ständig für Ärger sorgte, ist ein sensibler, unglaublich anziehender Mann geworden. Als Clair ihn auf ihrem Klassentreffen wiedersieht, ist sie sofort bereit für eine Liebesnacht mit Ben. Doch die zärtlichen Stunden haben überraschende Folgen! Clair, die angeblich keine Kinder bekommen kann, ist schwanger. Sie kann ihr Glück kaum fassen. Soll sie es Ben sagen? Was ist, wenn er sie heiraten will? Reicht die Faszination einer Nacht für ein ganzes Leben?


  • Erscheinungstag 15.02.2016
  • Bandnummer 3
  • ISBN / Artikelnummer 9783733773618
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

„Northbridge. Dreißig Meilen. Dreißig kurze Meilen …“.

Clair Cabot redete mit sich selber. Doch sie konnte den Hinweis auf dem Schild über dem Highway noch so laut lesen, ihre Spannung legte sich nicht. Im Gegenteil. Je näher sie ihrem Ziel kam, desto nervöser wurde sie.

Northbridge. Die kleine Stadt in Montana, wohin die fünfzehnjährige Clair gezogen war, als ihr Vater dort eine Ranch kaufte und in eine Schule für schwer erziehbare Jungen verwandelte.

Die kleine Stadt in Montana, in der Clair auf die High School gegangen war und einen Schüler kennengelernt und später geheiratet hatte, bevor sie mit ihm nach Denver zog.

Die kleine Stadt in Montana, die sie zuletzt im Juni für einen Tag besucht hatte, um an dem zehnjährigen Klassentreffen teilzunehmen.

Die kleine Stadt in Montana, wo zum zweiten Mal ein Mann ihren Lebensweg verändert hatte.

„Tief einatmen und langsam wieder aus …“, befolgte sie eine Entspannungstechnik, zu der ihr der Arzt geraten hatte, als sie vorige Woche im Büro ohnmächtig geworden war.

Doch das tiefe Atmen half wenig, denn mit jeder Minute, die verging, kam sie Northbridge und der Schule für schwer erziehbare Jungen näher – und deren neuem Besitzer Ben Walker.

Schon bei dem Gedanken an den Mann musste Clair erneut tief einatmen.

Ben Walker – der Bad Boy von Northbridge.

Zumindest war er das als Teenager gewesen. Ein ungestümer Kerl, der in eine Erziehungsanstalt in Arizona gesteckt worden war, als sie in die Stadt zog. Obwohl seine Zwillingsschwester Cassie ihre beste Freundin wurde, hatte sie Ben erst im letzten Schuljahr auf der High School kennengelernt, als er wieder nach Northbridge zurückkam, um gemeinsam mit seiner ursprünglichen Klasse den Abschluss zu machen. Sie selber war damals längst mit Rob Cabot zusammen gewesen und hatte Cassies schwierigen Zwillingsbruder gar nicht richtig wahrgenommen.

Bis zum Klassentreffen im Juni.

„Verdammtes Klassentreffen“, murmelte Clair.

Das Treffen war jedoch nicht schuld an dem, was bei ihrem letzten Besuch in Northbridge passiert war. Rob Cabot hatte die Räder ins Rollen gebracht.

Ihr Exmann.

Sie hatte ihn gefragt, ob er zu dem Klassentreffen fahren würde. Natürlich hatte sie ihn nicht angerufen oder war persönlich bei ihm vorbeigegangen, denn sie hatte diesen Mann nach ihrer Scheidung nie wiedersehen wollen. Nein, sie hatte ihm eine E-Mail geschickt. Höflich und unverbindlich. Sie hatte ihn weder provoziert noch herausgefordert und nicht einmal erwähnt, dass sie nicht fahren würde, falls er daran teilnähme. Es war eine einfache Frage gewesen, auf die eine einfache ehrliche Antwort genügte.

Und die hatte Rob ihr gegeben. Jedenfalls hatte sie das angenommen.

Er hatte geschrieben, er würde auf keinen Fall nach Northbridge fahren. Er und seine neue Frau, die er keine vierundzwanzig Stunden nach der Scheidung geheiratet hatte, hätten Besseres zu tun.

Deshalb hatte Clair angenommen, dass die Luft rein wäre und sie ruhig fahren und ein bisschen Spaß haben könnte. Ohne Robs neuer Frau zu begegnen und den Schmerz der letzten elf Monate noch einmal zu durchleben.

Doch sie hätte es besser wissen sollen. Sie hätte ahnen müssen, dass Rob sich solch eine Gelegenheit nicht entgehen lassen würde.

Wen hatte sie keine fünf Minuten nach ihrer Ankunft in der High School von Northbridge getroffen?

Rob.

Und seine neue Frau.

Seine schwangere neue Frau.

Und als wäre das nicht genügend Salz in ihren Wunden gewesen, hatte Rob die Hand auf den runden Bauch seiner Frau gelegt, selbstgefällig gelächelt und gesagt: „Jetzt wissen wir, dass es nicht an mir lag.“ Die Erinnerung an diesen Augenblick schmerzte heute noch.

„Gratuliere“, hatte Clair mit erstickter Stimme geflüstert. Anschließend war sie in die Toilette geflüchtet, hatte sich eingeschlossen und war in Tränen ausgebrochen.

Dort hatte ihre alte Freundin Cassie sie gefunden.

Die arme Cassie hatte eine volle Stunde vor der Tür gestanden und ihr zugeredet, bis sie, Clair, den Mut aufbrachte und wieder herauskam.

„Ich fahre sofort nach Hause“, hatte sie verkündet.

Cassie war strikt dagegen gewesen. „Das kommt nicht in Frage. Du kannst jetzt nicht einfach wieder nach Denver fahren. Wir hatten noch nicht einmal Gelegenheit, richtig miteinander zu reden. Ich bleibe an deiner Seite und sorge dafür, dass Rob nicht mehr in deine Nähe kommt.“

Cassie hatte sie noch eine ganze Weile überzeugen müssen. Doch am Ende hatte Clair nachgegeben und war geblieben.

Aber nicht ohne einen starken Drink.

Leider war ein zweiter starker Drink hinzugekommen.

Und ein dritter. Dann hatte sie nicht mehr mitgezählt.

Cassie hatte versucht, Wort zu halten und dicht bei ihr zu bleiben. Aber sie war die Organisatorin dieses Klassentreffens gewesen und hatte an jenem Abend Aufgaben und Pflichten gehabt.

Deshalb hatte sie ihren Zwillingsbruder als „Beschützer“ geschickt.

Ihren Zwillingsbruder Ben, den bekehrten Bad Boy der Stadt. Ein Bild von einem Mann.

Clair hatte nichts dagegen gehabt, dass Rob sie zusammen mit dem bestaussehenden männlichen Wesen im Raum sah.

Da Ben sich kaum noch an das letzte Schuljahr in Northbridge erinnerte, ihm die meisten Gesichter seiner ehemaligen Klassenkameraden fremd blieben, war er die ganze Zeit an ihrer Seite gewesen. Clair nahm an, dass Cassie ihren Bruder über Rob und dessen neue Frau aufgeklärt hatte. Wahrscheinlich hatte er einfach nur Mitleid mit ihr gehabt und war ihr deshalb keinen Zentimeter von der Seite gewichen.

Damals hatte es allerdings anders ausgesehen. Ben war entwaffnend freundlich und charmant. Seine ironischen Bemerkungen über ihre Klassenkameraden brachten sie zum Lachen. Er sorgte dafür, dass sich ihre Laune wieder besserte. Sie erholte sich schnell von dem Tiefschlag ihres Exmannes und vergaß Rob und seine schwangere Frau schließlich restlos.

Und die ganze Zeit versorgte Ben sie und sich selber mit Margaritas.

Ja, Ben hatte ebenfalls eine Menge getrunken. Das war zweifellos einer der Gründe, weshalb sie die ganze Nacht zusammengeblieben waren.

„Northbridge, fünfzehn Meilen“, las Clair laut.

Tief einatmen und langsam wieder aus. Tief einatmen und langsam wieder aus …

Alles wäre jetzt so viel einfacher, wenn sie sich an jenem Abend nicht von Cassie zum Bleiben überreden lassen hätte. Oder wenn sie wenigstens Ben Walker nicht näher kennengelernt hätte.

Aber leider hatte sie Ben Walker näher kennengelernt. Seine blaugrünen Augen und seine verschmitzt zuckenden Mundwinkel, die bewiesen, dass immer noch ein kleiner Teufel unter seiner Oberfläche lauerte.

Nicht dass sie eine lebhafte Erinnerung an ihn hätte. Außer seinem Aussehen und den ersten Stunden des Abends war ihr kaum etwas im Gedächtnis geblieben. Vor allem hatte sie nicht die geringste Ahnung, wie sie gemeinsam in ihr Hotelzimmer gekommen waren. Von einem bestimmten Moment an war alles wie im Nebel.

Und der nächste Morgen? Oh ja, an den erinnerte Clair sich genau.

Zu ihrem Entsetzen war sie mit einem Mann neben sich im Bett aufgewacht, den sie kaum kannte.

Sie war so entsetzt gewesen, dass sie ohne Kommentar geflohen war. Sie floh, während er noch schlief, als könnte sie die Nacht damit ungeschehen machen. Und sie hatte gehofft, sie könnte die Reise nach Northbridge, das Klassentreffen und diese eine Nacht einfach vergessen.

Das wäre zu schön gewesen.

Stattdessen hatte der Makler, der die Schule ihres verstorbenen Vaters in ihrem Auftrag verkaufen sollte, sie einen Monat später angerufen und verkündet, dass er einen Käufer hätte. Sein Name wäre Ben Walker.

Natürlich hatte sie erst einmal tief Luft geholt. Doch dann hatte sie angenommen, dass der Verkauf durch Bevollmächtigte abgewickelt werden könnte, sodass sie Ben nicht persönlich gegenüberzutreten brauchte.

Leider hatte die Sache einen Haken. Da ihr Vater die Schule dem neuen Besitzer nicht selber übergeben konnte, hatte sie sich vertraglich verpflichtet, diese Aufgabe zu übernehmen. Und jetzt bestand der Makler auf der Einhaltung dieser Verpflichtung.

Deshalb war Clair Anfang September erneut auf dem Weg nach Northbridge und furchtbar verlegen, weil sie zu viel getrunken und die Nacht mit einem Fremden verbracht hatte, der noch dazu der Bruder ihrer besten Freundin war. Und weil sie diesen Bruder am nächsten Morgen einfach sitzen gelassen hatte. Und weil sie jetzt die Folgen ihres Handelns in sich trug.

„Willkommen in Northbridge, Montana“, sagte sie spöttisch, als das Hinweisschild auftauchte, und bog von dem beinahe verlassenen Highway nach rechts.

Es folgten zwei weitere Meilen durch Maisfelder, die hohe Mauern zu beiden Seiten der Straße bildeten und lange Schatten im späten Abendlicht warfen. Dann machten die Felder alten, dicht belaubten Eichen Platz, und Clair erreichte die Stadt. Und die Main Street.

Clair hielt an der Tankstelle an, die zusammen mit dem Busbahnhof gegenüber eine Art Stadttor darstellte. Sie brauchte kein Benzin, sondern dringend eine Pause. Die Tankstelle war seit 18 Uhr geschlossen. Aber die Toiletten waren offen. Dorthin eilte sie jetzt, schloss die Tür hinter sich und lehnte sich an das Holz.

Wieder zwang sie sich, ruhig zu atmen.

Alles ist anders gekommen, als es geplant war, dachte Clair plötzlich. Ihr Vater hatte sehr alt werden und die Schule so lange leiten sollen, bis er selber bereit war, sie in jüngere Hände zu übergeben.

Sie selber sollte verheiratet sein, eine große Familie haben und irgendwann mit Mann und Kindern nach Northbridge zurückkehren, damit ihr Vater seine Rolle als Großvater genießen konnte.

Aber es war anders gekommen.

Wenn Clair eines aus dem letzten turbulenten Jahr gelernt hatte, dann, sich den Tatsachen zu stellen.

„Also, tu was“, forderte sie sich auf.

Die Fahrt von Denver durch Wyoming nach Montana war lang gewesen, und sie war seit Tagesanbruch unterwegs. Jetzt war es nach acht, und ihr Make-up konnte eine kleine Auffrischung gebrauchen.

Clair nahm ein Papiertuch und betupfte ihr Gesicht. Anschließend öffnete sie ihre Handtasche und holte eine kleine Kosmetiktasche hervor. Sie gab etwas Rouge auf ihre hohen Wangenknochen und strich mit dem Pinsel behutsam unter ihrem Kinn entlang.

Sie war dankbar für ihre Haut und ihre Gesichtsform. Beides würde sie zwar nicht auf die Titelseite einer Zeitschrift bringen. Aber ihre Haut war sehr rein, und ihre Züge waren deutlich ausgeprägt.

Ihre Wimpern hätten dagegen ein bisschen länger sein können. Doch etwas Mascara schuf leicht Abhilfe. Während Clair die Wimperntusche auftrug, stellte sie befriedigt fest, dass das Weiß um ihre dunkelblaue Iris nicht so blutunterlaufen war wie vorige Woche, als die letzte chaotische Wende ihres Lebens sie mehrere Nächte um den Schlaf gebracht hatte.

Sie trug ein bisschen Lipgloss auf ihre rosa Lippen, die ihrer Meinung nach ruhig etwas voller hätten sein können. Wohl zum hundertsten Mal seit ihrem Friseurbesuch fragte sie sich, ob es klug gewesen war, das blonde Haar von Schulterlänge zu einem lockigen Bob zu kürzen, den die Friseurin als viel sportlicher, flotter und modischer bezeichnet hatte.

Was Ben Walker wohl von meiner neuen Frisur hält? überlegte Clair plötzlich, verdrängte den Gedanken aber sofort. Rob konnte kurzes Haar nicht leiden und hätte einen Tobsuchtsanfall bekommen. Wahrscheinlich hatte das ihre Entscheidung beeinflusst.

Ihr neuer Look erinnerte sie daran, dass sie jetzt auf eigenen Füßen stand. Sie war stark, kompetent und widerstandsfähig. Schließlich hatte sie letztes Jahr eine Menge ausgehalten. Sie konnte für sich selber sorgen und wurde mit allem fertig.

Zumindest hoffte sie es, obwohl ihr Magen sich ein wenig drehte, wie so oft die letzten Wochen, und sie daran erinnerte, dass die letzte chaotische Wende besonders groß gewesen war.

Doch nachdem sie sich frisch gemacht und sich erneut versichert hatte, dass alles gut werden würde, fühlte sie sich viel besser als bei ihrer Ankunft in der Stadt.

Obwohl sie gekommen war, um die Schule ihres Vaters zu übergeben.

Obwohl sie geschieden war.

Obwohl sie eine der größten Fehleinschätzungen ihres Lebens begangen hatte, als sie im Juni die Nacht mit Ben Walker verbrachte und jetzt ein Kind von ihm erwartete …

Die Schule für schwer erziehbare Jungen lag etwas außerhalb von Northbridge, im Westen der Stadt. Clair bog in die Einfahrt und hielt einen Moment an, um einen Blick auf den Ort zu werfen, den ihr Vater so sehr geliebt hatte.

Das Hauptgebäude bestand aus einem dreistöckigen Holzhaus mit hellgelber Fassade und weißen Fensterrahmen. Es lag ungefähr eine Viertelmeile von der Straße entfernt in einem Kreis von Ulmen, die es zu beschützen schienen.

Das Haus und die Bäume versperrten den Blick auf die Scheune, die Hühner- und die Schweineställe sowie die Koppeln, die aus der Schule eine bewirtschaftete Ranch machten. Das kleine Haus des Verwalters, in dem ihr Vater und sie gewohnt hatten, stand ebenfalls hinter dem Haupthaus und war von der Einfahrt aus nicht zu sehen.

Weiße Zäune begrenzten den Weg zu beiden Seiten. Dahinter lagen rechts die Weide für die Pferde und links die Weide für die Milchkühe. Die Zäune weiteten sich zu einer kreisförmigen Einfahrt. Ein üppiger grüner Rasen mit Blumenbeeten bedeckte den Boden und schmückte die Fläche unmittelbar vor dem Haus.

Wer nicht wusste, worum es sich handelte, oder nicht nahe genug herankam, um das Messingschild zu lesen, wäre niemals auf den Gedanken gekommen, dass dies nicht das Anwesen eines wohlhabenden Farmers war. Ihrem Vater war das sehr recht gewesen. Obwohl es sich bei seiner Schule für schwer erziehbare Jungen um eine behördliche Einrichtung handelte, hatte es hier freundlich und heimelig sein sollen.

Dies war Clairs erster Besuch auf dem Anwesen nach dem plötzlichen Tod ihres Vaters durch einen Herzinfarkt. Im Juni, als sie zu dem Klassentreffen gefahren war, hatte sie nicht die Kraft besessen, hier zu übernachten. Sie wollte damals erst am Tag darauf nach dem Rechten sehen.

Stattdessen war sie Hals über Kopf aus Northbridge – und vor Ben Walker – geflüchtet.

Jetzt stellte Clair zu ihrer Freude fest, dass das Anwesen genauso gepflegt aussah wie zu Zeiten ihres Vaters. Das war zweifellos Ben Walkers Verdienst. Der Makler hatte ihr erzählt, dass der neue Besitzer sofort mit der Arbeit begonnen hätte, damit er die Schule nächsten Monat wieder öffnen konnte. Er würde – ebenfalls nach Auskunft des Maklers – ihr während ihres Aufenthaltes das Verwalterhaus überlassen, um ihr die Hotelkosten zu ersparen, und selber im Haupthaus übernachten.

Da war sie nun.

Und Ben Walker wartete drinnen auf sie.

Clair hatte keine Ahnung, was er von ihr hielt. Eigentlich konnte es nichts Gutes sein. Aber daran war jetzt nichts mehr zu ändern. Deshalb sprang sie am besten gleich ins kalte Wasser.

Atme tief ein und langsam wieder aus …

Die große Mahagonitür blieb geschlossen, als Clair den Wagen anhielt, den Motor abstellte und mit dem Koffer in der Hand ausstieg.

Erst als sie die Hand automatisch auf den Türgriff legte und öffnen wollte, fiel ihr ein, dass das Haus ihr nicht mehr gehörte. Verlegen zog sie ihre Hand zurück und läutete.

Doch nicht Ben Walker öffnete, sondern Cassie.

„Hallo, Fremde“, begrüßte die alte Freundin sie strahlend und umarmte Clair herzlich. „Ich hatte gehofft, dass du kommen würdest, bevor ich wegmuss. Du hast es gerade noch geschafft.“

„Cassie!“, rief Clair erleichtert. Sie hatte nicht erwartet, die Freundin hier zu treffen. Das war eine gewaltige Hilfe.

„Komm herein“, forderte Cassie sie auf, trat aber nicht beiseite. „Du hast dir das Haar schneiden lassen“, stellte sie plötzlich fest.

„Ja“, bestätigte Clair und fingerte verlegen an den kurzen Locken in ihrem Nacken.

„Es sieht toll aus und gefällt mir sehr. Obwohl ich dir immer noch böse bin.“

„Du bist mir böse?“

„Wegen des Klassentreffens. Weshalb bist du mitten in der Nacht verschwunden, ohne mir ein Wort zu sagen, oder hast nicht wenigstens vor deiner Abreise angerufen? Selbst wenn du es furchtbar eilig hattest, weil du Rob nicht wiedersehen wolltest.“

Clair atmete erleichtert auf. Sie hatte die Freundin einige Tage später aus Denver angerufen und befürchtet, dass Ben seiner Zwillingsschwester von der gemeinsamen Nacht erzählt haben könnte. Als sie merkte, dass er es nicht getan hatte, hatte sie die naheliegendste Ausrede verwendet und Rob vorgeschoben. Offensichtlich ahnte Cassie bis heute nichts.

„Vielleicht finden wir ein bisschen Zeit und können uns treffen, während ich jetzt hier bin“, schlug sie vor, um die Freundin zu besänftigen.

„Das will ich hoffen“, sagte Cassie und merkte plötzlich, dass sie immer noch auf der Türschwelle standen. „Oh, ich bin vielleicht eine. Ich bitte dich hereinzukommen und versperre dir den Weg.“ Diesmal trat sie beiseite.

Clair trug ihren Koffer in die Diele und blickte sich neugierig um.

Ben Walker hatte das Erdgeschoss nicht verändert. Die große Diele besaß einen massiven Holzboden und getäfelte Wände mit bogenförmigen Durchgängen, die sie rechts mit dem Wohnzimmer und links mit einem Aufenthaltstraum verband, in dem die Nachbildung eines alten Poolbillardtisches stand.

Gegenüber der Eingangstür war eine breite Treppe, zu deren beiden Seiten Korridore ins Hinterhaus führten. Der Raum über der Diele war offen und gab den Blick auf das erste Stockwerk frei, wo sich die Treppe zum zweiten Stock gabelte.

Cassie hob ihr Kinn in Richtung Treppe und rief: „Ben? Kommst du runter? Clair ist da.“

„Bin schon auf dem Weg“, antwortete er. Im selben Moment kamen Arbeitsstiefel, lange, mit Jeans bekleidete Beine und beachtlich muskulöse Oberschenkel in Sicht, gefolgt von einem niedrig geschlungenen ledernen Werkzeuggürtel und schmal en Hüften, einem V-förmigen Oberkörper mit muskulöser Brust, breiten Schultern und kräftigen Bizepsen, die sich unter einem schlichten weißen T-Shirt abzeichneten.

„Erst sagst du, dass du einen Wagen in der Einfahrt gehört hast, und dann verschwindest du“, warf Cassie ihrem Bruder vor, der den Treppenabsatz des ersten Stocks erreicht hatte.

Ben sah nicht zu ihnen hinunter, sondern beschäftigte sich mit seinem Werkzeug, das er in die Gürtelschlaufen zurücksteckte.

„Ich musste erst den Farbeimer verschließen“, murmelte er.

Clair beobachtete ihn und stellte fest, dass er noch besser aussah, als sie sich erinnerte – was sie niemals für möglich gehalten hätte.

Ben besaß nicht nur einen bemerkenswerten Körper. Sein kurzes dunkelbraunes Haar war derart reizvoll zerzaust, dass man unmöglich feststellen konnte, ob es am Schnitt lag oder natürlich war. Die Kamera würde seine gemeißelten Züge, seine geraden Brauen, sein markantes Kinn mit dem winzigen Spalt in der Mitte und seine schmale perfekte Adlernase lieben.

Seine Haut war glatt und sonnengebräunt. Ein Tagesbart beschattete seine schlanken Wangen und gab ihm ein anziehend raues Aussehen. Als er sein Werkzeug endlich durch die entsprechenden Schlaufen gezogen hatte und seine Aufmerksamkeit auf die Diele richtete, wirkte das Blaugrün seiner Augen so kräftig, dass Clair seinen Blick beinahe körperlich spürte.

Doch seine tiefe Stimme verriet nicht das geringste Gefühl, als er sie begrüßte. „Hallo, Clair.“

Ben stieg die letzten Stufen mit leicht schwankenden Schritten hinab, die einen Anflug von Dreistigkeit hatten.

Clairs Hals wurde plötzlich trocken, und sie bekam kaum einen Ton heraus. „Hallo.“

Er ließ sie nicht aus den Augen, sagte aber nichts. Clair war nicht sicher, ob sie es sich nur einbildete oder ob seine Miene tatsächlich etwas Herausforderndes hatte. Seine ganze Haltung. Deshalb war sie froh, dass Cassie das Schweigen beendete.

„Hast du schon etwas gegessen? Oder möchtest du etwas trinken? Wir haben chinesisch gegessen. Es ist noch was übrig geblieben. Außerdem habe ich einen ganzen Krug Limonade gemacht.“

„Ein Glas Limonade reicht völlig“, stieß Clair hervor.

Cassie blickte auf ihre Armbanduhr. „Ich habe nur noch ein paar Minuten Zeit, dann muss ich zu einer Sitzung. Ich helfe Ben ein bisschen, weil er wahnsinnig viel zu tun hat. Aber ich muss mich auch auf das Herbstsemester vorbereiten. Deshalb kann ich nicht immer hier sein. Soll Ben deinen Koffer schnell in das Verwalterhäuschen bringen?“

In Clairs Bewusstsein drang nur, dass Cassie nicht mehr lange bleiben würde, und sie spürte erneut einen Anflug von Panik. Doch sie ließ sich nichts anmerken. „Okay“, sagte sie matt.

Cassie hakte sich bei ihr unter und führte sie in die Küche. Dort hatte sich ebenfalls nichts verändert. Es war ein großer weiter Raum mit professionellen Geräten und sehr wenig Dekor, abgesehen von den Wandfliesen mit ihrem Blumenmuster. Auf der einen Seite befand sich eine Arbeitsinsel mit Marmorplatte und Barhockern. An dem langen rechteckigen Tisch mit Bänken zu beiden Seiten wurde zu Abend gegessen.

Cassie schob Clair zu einem Barhocker und ging zum Kühlschrank. „Es ist schwer für dich, wieder hier zu sein, wo dein Vater nicht mehr lebt, nicht wahr?“, fragte sie, als ihr Bruder außer Hörweite war.

„Ein bisschen“, gab Clair zu, denn dies war ebenfalls ein Grund für ihre Nervosität.

„Ist es okay für dich, allein im Verwalterhäuschen zu wohnen? Ich wünschte, du könntest bei mir übernachten. Aber der Bruder meiner Mitbewohnerin schläft zurzeit auf unserer Couch. Aber wenn du möchtest, kann ich auch gerne hier herauskommen und bei dir bleiben.“

Das war ein verlockendes Angebot. Nicht nur, weil Cassie sie von Ben ablenken würde. Es wäre schön, mehr Zeit mit der Freundin zu verbringen. Doch Clair hatte noch mehr vor, als Ben Walker bei der Eröffnung seiner Schule zu helfen. Und das konnte sie nur, wenn sie sich nicht ablenken ließ. Deshalb sagte sie: „Vielen Dank, das ist nicht nötig. Ich komme bestimmt zurecht.“

„Na gut.“ Cassie brachte Clair das Glas mit der Limonade und deutete auf die Wanduhr. „Es tut mir aufrichtig

Leid, dass ich verschwinden muss, obwohl du gerade erst angekommen bist.“

„Das macht wirklich nichts“, log Clair.

„Ich komme morgen wieder. Ben wird inzwischen gut auf dich Acht geben – nicht wahr?“

Clair hatte Ben nicht eintreten hören und blickte über die Schulter zur Schiebetür.

„Hm“, brummte er.

Cassie schien diese Antwort zu genügen, denn sie sagte: „Also gut, dann sollte ich schleunigst gehen. Wir sehen uns morgen.“

Plötzlich waren Clair und Ben allein. Die Stille wog so schwer, dass man sie beinahe fühl en konnte. Clair wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Sollte sie Ben erzählen, was ihr bei dem Klassentreffen und am nächsten Morgen durch den Kopf gegangen war? Sollte sie eine Ausrede vorschieben oder lieber versuchen, Ben davon zu überzeugen, dass sie sich in einer Extremsituation befunden hatte?

Oder sollte sie einfach so tun, als wäre nichts passiert …

„Es ist eine ziemlich lange Fahrt von Denver hierher“, unterbrach Ben ihre Überlegungen und stellte sich auf die andere Seite der Arbeitsinsel. Er streckte seine Arme seitlich aus und fasste die Ränder des Hochschranks.

„Ja, das stimmt“, gab Clair zu. „Aber ich bin schon früh losgefahren, und es war ein schöner Tag für die Reise. Sonnig, aber nicht zu heiß.“

Sie konnte nicht glauben, dass sie über das Wetter sprachen. Doch sie brachte es nicht fertig, über wichtigere Dinge zu reden.

Ben machte den Anfang.

„Cassie weiß nicht, was auf dem Klassentreffen zwischen dir und mir geschehen ist. Niemand weiß es“, begann er und stieß einen seltsamen Laut aus, der nur von fern einem Lachen ähnelte. „Ich selber in vieler Hinsicht eingeschlossen.“

„Mir ist auch nicht alles klar“, gab Clair zu und starrte auf die Wassertropfen an der Außenseite ihres Glases. „Nicht einmal, was die Augenblicke betrifft, an die ich mich erinnere.“

„Wir hatten beide eine Menge getrunken“, sagte Ben, um es ihr leichter zu machen. „Aber am nächsten Morgen … Ich war wieder völlig nüchtern, und du musst es ebenfalls gewesen sein.“

„In mehr als einer Beziehung“, flüsterte sie.

„Was soll das heißen?“

Sie musste es ihm erklären, ob es ihr gefiel oder nicht. „Das passte überhaupt nicht zu mir. Ich steige sonst nicht einfach mit einem Fremden ins Bett. So etwas hatte ich noch nie getan.“ Das eigene Verhalten war ihr so fremd, dass sie nicht wusste, wie sie es erklären sollte. „Ich …“ Sie räusperte sich verlegen. „Vorher war ich nur – nur mit Rob zusammen gewesen.“

„Rob?“

„Rob Cabot. Mein Exehemann.“

Ben zuckte mit den Schultern. „Müsste ich ihn kennen?“

„Wir waren in derselben Klasse. Rob war ebenfalls auf dem Treffen. Mit seiner neuen Frau. Das hatte ich nicht erwartet. Er hatte mir geschrieben, er würde nicht kommen. Es war unsere erste Begegnung nach der Scheidung, und sie brachte mich ziemlich aus der Fassung. Deshalb hatte Cassie dich gebeten, mir Gesellschaft zu leisten.“ Erwartungsvoll sah sie Ben an. Doch dem schien kein Licht aufzugehen.

„Ich weiß nur, dass es ein lausiger Abend war. Ich hätte mich niemals von meiner Schwester überreden lassen dürfen, zu dem Klassentreffen zu gehen. Ich war mir in dem letzten Jahr auf der Schule immer wie ein Fisch auf dem Trockenen vorgekommen und fühlte mich auch an dem Abend so. Als ich Cassie sagte, dass ich heimgehen wollte, erzählte sie mir, dass du dich ebenfalls unwohl fühltest, und bat mich, dir Gesellschaft zu leisten, bis sie wieder Zeit für dich hatte.“

„Dann wusstest du nicht …“ Clair hielt inne, denn sie wollte jetzt nicht über Rob sprechen. „Es war nicht nur Mitleid?“, fuhr sie fort und erschrak, weil sie ihre Gedanken laut ausgesprochen hatte.

Ben lächelte plötzlich. Es war ein träges freundschaftliches Lächeln, das die Spannung im Raum sofort lockerte.

„Du dachtest, die ganze Nacht wäre … reines Mitleid gewesen?“

„Ich konnte die Möglichkeit nicht ausschließen“, gab Clair leise zu.

Ben versuchte ernst zu bleiben. „Ich wusste nicht, dass es etwas gab, weshalb ich Mitleid mit dir hätte haben sollen“, sagte er.

„Das freut mich.“

„Jetzt hast du mich allerdings neugierig gemacht.“

„Dein Pech“, antwortete Clair in einem Ton, der ihm zeigte, dass sie nicht die geringste Absicht hatte, seine Neugier zu befriedigen.

Aus einem seltsamen Grund musste Ben lachen, und die restliche Spannung verflog.

Autor

Victoria Pade
Victoria Pade ist Autorin zahlreicher zeitgenössischer Romane aber auch historische und Krimi-Geschichten entflossen ihrer Feder. Dabei lief ihre Karriere zunächst gar nicht so gut an. Als sie das College verließ und ihre erste Tochter bekam, machte sie auch die ersten schriftstellerischen Gehversuche, doch es sollte sieben Jahre dauern, bis ihr...
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