Liebeschaos und Familienglück

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Sein Leben gerät völlig aus den Fugen: Eben noch ein bekannter Möbeldesigner, der sich nur um sich selber gekümmert hat, muss Chase plötzlich Verantwortung für das Baby seiner verstorbenen Schwester übernehmen! Und als wäre das nicht genug Gefühls-Wirrwarr, verliebt sich der eiserne Junggeselle auch noch in seine Schulfreundin Hadley, die nach zehn Jahren wieder in der Stadt auftaucht. Sie ist so süß und sexy, und so liebevoll zu seinem Neffen! Hadley wäre seine ideale Frau - wenn er sich nicht vorgenommen hätte, niemals vor den Traualtar zu treten …


  • Erscheinungstag 02.05.2016
  • Bandnummer 14
  • ISBN / Artikelnummer 9783733773427
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Chase müsste jeden Augenblick hier sein“, erklärte Hadley der Sozialarbeiterin Neily Pratt-Grayson. „Sein Umzugswagen hatte eine Panne, mein Bruder holt ihn gerade ab.“

Hadley hatte keine Ahnung, was Neily von Chase Mackey wollte, dem besten Freund und Geschäftspartner ihres Bruders. Und die Sozialarbeiterin machte auch keinerlei Anstalten, es ihr zu verraten. Auf einmal war sie bei Hadley hereingeschneit, an diesem Samstagmorgen im September.

„Tut mir leid, dass ich euch so überfalle, wo ihr sowieso schon so viel um die Ohren habt mit der Hochzeit morgen“, sagte Neily.

Allerdings, dachte Hadley. Seit ein paar Tagen war sie nur noch durcheinander. Das lag aber nicht an der bevorstehenden Hochzeit ihres Bruders, sondern daran, dass Chase Mackey heute in die Kleinstadt Northbridge, Montana, zurückkehrte. Seit sie als Teenager zusammen auf die Highschool gegangen waren, hatten sie sich nicht mehr gesehen. Und seitdem hatte Hadley gut und gern fünfzig Kilo abgenommen. Außerdem war sie damals heimlich in Chase verliebt gewesen.

„Habe ich das richtig mitbekommen, dass Chase jetzt wieder nach Northbridge zieht?“, erkundigte sich Neily. „Er ist nicht nur wegen der Hochzeit hier, stimmt’s?“

Hadley zog sich der Magen zusammen. „Ganz genau“, bestätigte sie. „Seit heute wohnt er nebenan im riesigen Loft über der alten Scheune, die wir inzwischen zu einer Werkstatt mit Showroom umgebaut haben.“

Die alte Scheune war der neue Standort des Unternehmens, das Chase und Hadleys Bruder Logan gegründet hatten: Mackey and McKendrick Furniture Designs. Gemeinsam entwarfen und verkauften die beiden Männer Designermöbel. Und jetzt war auch Hadley in das Geschäft eingestiegen, um Seite an Seite mit Logan und Chase zu arbeiten …

Der Gedanke daran ließ ihr keine Ruhe mehr. „Kann ich dir wirklich nichts zu trinken anbieten?“, erkundigte sie sich bei der Sozialarbeiterin. Hadley brauchte dringend einen Vorwand, das Wohnzimmersofa zu verlassen. Sie konnte vor Nervosität kaum still sitzen.

„Nein, danke“, sagte Neily. „Ich bin rein beruflich hier und auch nur deswegen, weil es so dringend ist. Sonst hätte ich dich heute bestimmt nicht gestört.“

Das Ganze kam Hadley äußerst mysteriös vor. Was konnte die Sozialarbeiterin von Chase wollen? Immerhin hatte er sich über siebzehn Jahre lang kaum in Northbridge blicken lassen, auch Hadley selbst war erst im Frühjahr in ihre Heimatstadt zurückgekehrt. Und jetzt war er auf dem Weg hierher!

„Ich … verschwinde mal eben kurz“, sagte sie und sprang auf. Dann lief sie die Treppe hinunter und schloss sich im Gäste-WC ihres Bruders ein. Einfach, um noch mal einen Blick in den Spiegel zu werfen und zu überprüfen, ob sie sich auch wirklich so sehen lassen konnte, wenn Chase gleich auftauchte.

Natürlich hatte sie sich seinetwegen besondere Mühe mit ihrem Aussehen gegeben und ihre engsten Jeans angezogen. Dazu trug sie ein ausgesprochen figurbetontes Oberteil, das ihren schlanken Körper besonders gut zur Geltung brachte. Während ihrer Arbeit in der Modebranche hatte sie den einen oder anderen Schmink- und Frisurtipp aufgeschnappt, heute hatte sie alles umgesetzt. Sie hatte ihre graugrünen Augen effektvoll umrahmt.

Und sie hatte ihre Wangenknochen betont, die nach ihrem massiven Gewichtsverlust langsam zum Vorschein gekommen waren. Das rosenholzfarbene Gloss ließ ihre Lippen unaufdringlich-natürlich schimmern, und ihr kinnlanges, kastanienbraunes Haar schmiegte sich glänzend um ihr Gesicht.

Hier in Northbridge hatten alle Leute, die sie noch von früher kannten, sie fassungslos angestarrt – so sehr hatte sie sich verändert. Hadley war dabei gelassen geblieben. Schließlich hatte sie ihre schlanke Figur schon länger, aber als Chase Mackey sie zuletzt gesehen hatte, war sie gut fünfzig Kilo schwerer gewesen. Da sollte es ihr ganz recht sein, wenn ihm bei ihrem Anblick der Mund offen stehen blieb. Insgeheim wünschte sie sich das sogar.

Und warum nicht? Das ist doch nur menschlich. Ich will eben jemanden beeindrucken, in den ich mal verliebt war. Inzwischen bin ich natürlich längst darüber hinweg.

In diesem Augenblick hörte sie, dass ein Wagen die Auffahrt hochfuhr. Wer konnte das sein? Entweder kam Logans Verlobte Meg gerade mit seiner dreijährigen Tochter Tia nach Hause … oder es waren Logan und Chase.

Hadley erschauerte, als sie an die zweite Möglichkeit dachte. Auf einmal fühlte sie sich wieder wie damals mit sechzehn. Dabei bin ich jetzt dreiunddreißig, sagte sie sich. Inzwischen hatte sie geheiratet – und sich auch wieder scheiden lassen. Die letzten zehn Jahre hatte sie in Europa gelebt. Da war es doch lächerlich, dass sie jetzt so ein Nervenbündel war.

Und das auch noch wegen jemandem, der in ihrer Jugend nur am Rande eine Rolle gespielt hatte. Andererseits hatten ihre romantischen Fantasien über diese „Randfigur“ fast ihre ganze Freizeit ausgefüllt. Sie hatte für Chase geschwärmt wie andere Teenager für Popstars.

Egal, das war inzwischen lange her. Jetzt würde sie sich ihm gegenüber genauso verhalten wie gegenüber anderen Freunden oder Kollegen ihres Bruders: professionell und unverbindlich-freundlich.

Außerdem hatte Chase nie etwas von ihrer Verliebtheit mitbekommen, wie Logan ihr bestätigte. Daher brauchte sie sich gar keine Sorgen zu machen.

Plötzlich hörte sie Männerstimmen an der Hintertür. Spätestens jetzt war ihr klar, dass nicht Meg und Tia nach Hause gekommen waren, sondern Logan und Chase.

Hadley atmete tief durch, um sich innerlich zu wappnen. Dann öffnete sie die Badezimmertür. Im gleichen Moment kam Chase Mackey aus der Küche in den Flur.

Der aufregend geschwungene Mund blieb ihm bei ihrem Anblick zwar nicht offen stehen. Dafür zog er die Brauen hoch und schaute sie durchdringend an. Sie hatte ganz vergessen, wie himmelblau seine Augen waren.

„Hadley?“, fragte er. Es klang fassungslos … und schwer beeindruckt. Das gefiel ihr.

„Ja, ich bin’s“, erwiderte sie und musterte ihn ihrerseits. Er sah ja sogar noch besser aus als damals! Allerdings nicht so glatt und makellos wie die Models, mit denen sie es in der Modebranche zu tun gehabt hatte. Chase war ein sehr männlicher, kantiger Typ. Seine Nase war überdurchschnittlich lang, seine Unterlippe voller als seine Oberlippe, und auch seine breite Stirn sprengte das Idealmaß.

Sein gewelltes goldbraunes Haar trug er an den Seiten kurz, das Deckhaar dafür ein Stück länger. Das kleine Grübchen in seinem Kinn fand Hadley besonders attraktiv. Außerdem war er ziemlich groß gewachsen – ungefähr eins neunzig –, schlank und durchtrainiert. Wahrscheinlich blieb den meisten Frauen der Mund offen stehen, wenn sie ihn sahen – so, wie er jetzt in Jeans und T-Shirt vor ihr stand.

„Du siehst … toll aus!“, rief er begeistert aus. Dasselbe hatte sie gerade über ihn gedacht. „Wenn wir uns in der Stadt über den Weg gelaufen wären, hätte ich dich nicht wiedererkannt.“

„Tja, inzwischen ist nur noch halb so viel von mir da“, erwiderte Hadley.

„Ich habe das nicht nur gesagt, weil du so viel abgenommen hast …“

Das Thema war ihr unangenehm. Dadurch, dass sie jahrelang stark übergewichtig gewesen war, hatte sie kein besonders ausgeprägtes Selbstwertgefühl. Und obwohl sie seine Reaktion ziemlich schmeichelhaft fand, konnte sie es trotzdem nicht gelassen hinnehmen, dass er sie jetzt so eindringlich musterte.

Daher wechselte sie schnell das Thema: „Wir können uns ja nachher weiter unterhalten. Du hast nämlich gerade Besuch. Erinnerst du dich noch an Neily Pratt? Sie wartet im Wohnzimmer auf dich.“

Jetzt kam auch Hadleys Bruder Logan ins Haus. „Wer ist im Wohnzimmer? Neily?“

„An die Familie Pratt erinnere ich mich noch“, erwiderte Chase. „Aber Neily habe ich gerade nicht vor Augen …“

„Gleich siehst du sie wieder. Sie ist gerade hier und will mit dir sprechen“, erklärte Hadley.

Neily hatte offenbar mitbekommen, dass die Männer inzwischen angekommen waren. Plötzlich stand sie neben ihnen im Flur. „Hi.“

Logan begrüßte die Sozialarbeiterin herzlich, und diese stellte sich Chase noch einmal vor. „Tut mir leid, dass ich euch so überrumple, und das auch noch am Tag vor deiner Hochzeit, Logan“, sagte sie. „Aber es ist wirklich sehr dringend.“

„Geht es um unsere Möbelfirma?“, erkundigte sich Logan.

„Nein, ich bin als Sozialarbeiterin hier und muss mit Chase eine Familienangelegenheit besprechen.“

Chase und Logan wirkten genauso verwirrt wie Hadley vorhin.

„Ihr unterhaltet euch wohl am besten unter vier Augen“, schlug Hadley aus Höflichkeit vor – obwohl sie unheimlich neugierig war.

„Nein, ihr könnt ruhig dabei sein“, widersprach Chase. „Ich habe zwar keine Ahnung, worum es geht, aber höchstwahrscheinlich erzähle ich es euch hinterher sowieso weiter.“

„Ich habe auch noch ein paar Unterlagen dabei, sie liegen auf dem Couchtisch“, erklärte Neily.

„Dann setzen wir uns am besten ins Wohnzimmer“, schlug Logan vor.

Dort nahm die Sozialarbeiterin wieder auf dem Sofa Platz, und Hadley setzte sich auf den Sessel daneben. Chase und Logan blieben einfach gegenüber stehen.

„Ich habe keine Ahnung, wie viel du über deine Herkunft weißt …“, begann Neily.

Chase runzelte die Stirn. „Nicht viel. Meine Eltern sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als ich drei Jahre alt war. Etwa ein halbes Jahr nachdem wir nach Northbridge gezogen sind.“

„Dass du Geschwister hattest, wusstest du aber?“

Diese Information war zumindest für Hadley völlig neu. Und Chase wirkte mindestens ebenso erstaunt. „Ich dachte, ich wäre Einzelkind“, sagte er.

„Nein, du hattest noch eine ältere Halbschwester, eine jüngere Schwester und zwei jüngere Brüder. Die beiden waren Zwillinge“, erklärte Neily und öffnete den Ordner auf ihrem Schoß.

Chase kniff die Augen zusammen und betrachtete Logan skeptisch. „Hast du dir das als Willkommensscherz für mich ausgedacht, um mich erst mal ordentlich zu erschrecken?“

Logan schüttelte den Kopf, er wirkte selbst verwirrt. „Glaubst du wirklich, dass ich mit meiner Hochzeit noch nicht genug zu tun habe?“

„Das ist ganz bestimmt kein Scherz“, bestätigte Neily. „Aber es ist vollkommen nachvollziehbar, dass du dich an deine Geschwister nicht erinnerst, denn du warst damals knapp drei Jahre alt.“ Sie betrachtete Chase aufmerksam. „Was ist denn deine erste Erinnerung?“

„Meine Zeit im Kinderheim. An Geschwister erinnere ich mich überhaupt nicht.“

„Und wie ist das mit deinen Eltern?“, hakte Neily nach.

„Ich habe ein altes Hochzeitsfoto von ihnen, das ich mir schon so oft angeguckt habe, dass es mir inzwischen fast vorkommt, als wäre ich selbst dabei gewesen … Aber abgesehen von diesem Foto kann ich mich überhaupt nicht an die beiden erinnern. Weder an ihre Stimmen noch daran, wie sie aussahen. Und schon gar nicht daran, mit ihnen zusammen gewesen zu sein.“ Er seufzte. „Aber wenn ich Geschwister hatte, müsste ich das doch eigentlich wissen, oder?“

Neily hob die Schultern. „So pauschal kann man das nicht sagen. Du warst jedenfalls kein Einzelkind. Deine Halbschwester hieß Angie Cragen …“

„Wie meinst du das – sie hieß Angie Cragen?“, unterbrach er sie.

„Das erkläre ich dir gleich“, erwiderte Neily ruhig. „Deine Mutter hat Angie bekommen, als sie gerade erst siebzehn war. Den Vater hat sie nie geheiratet. Leider hatte Angie Cragen von Geburt an einen Herzfehler, und letzte Woche ist sie gestorben. Es tut mir leid, dir das sagen zu müssen.“

Hadley erschrak. Das war ja ein Schock nach dem anderen! Wie sollte sich Chase bloß so schnell von diesen Nachrichten erholen? Um ihm etwas Zeit zu geben, schaltete sie sich ins Gespräch ein und wandte sich an die Sozialarbeiterin. „Woher weißt du das eigentlich alles, Neily?“

„Über einen Anwalt in Billings, der das Sozialamt eingeschaltet hat“, erklärte Neily. Billings war eine Großstadt im Bundesstaat Montana und lag einige Autostunden von North­bridge entfernt. „Ich habe inzwischen mit beiden gesprochen – mit der zuständigen Sozialarbeiterin und dem Anwalt. Anscheinend hat Angie Cragen ihn engagiert, als sie wusste, dass sie nicht mehr lange leben würde.“

Erneut wandte Neily sich an Chase. „Als eure Eltern tödlich verunglückt sind, war deine Halbschwester schon acht, daher konnte sie sich noch an dich und ihre anderen Geschwister erinnern. Nach dem Unfall hat ihr leiblicher Vater sie bei sich aufgenommen, während du und die anderen Kinder in Pflegefamilien unterkommen seid.“

Chases Miene verfinsterte sich. Soweit Hadley wusste, hatte er keine besonders glückliche Zeit in seiner Pflegefamilie verbracht.

„Deine drei Geschwister wurden alle irgendwann adoptiert und haben dann die Nachnamen ihrer Adoptiveltern angenommen. Du hast als Einziger den Namen Mackey behalten, nur darum konnte deine Halbschwester dich überhaupt ausfindig machen. Sie hätte gern selbst Kontakt mit dir aufgenommen, aber sie war schon so krank und schwach …“

„Moment mal!“, unterbrach Chase die Sozialarbeiterin und stützte die Hände auf seine schmalen Hüften.

Es dauerte etwas, bis Hadley merkte, dass sie schon seit einigen Sekunden wie gebannt auf eben diese Hüften starrte. Schnell riss sie den Kopf hoch und zwang sich dazu, ihm ins Gesicht zu sehen und sich auf seine Worte zu konzentrieren.

„Warum ist meine Schwester ausgerechnet jetzt auf die Idee gekommen, mich zu suchen, nachdem sie gut zweiunddreißig Jahre Zeit dafür hatte?“

„Angie Cragen hatte einen Sohn“, erwiderte Neily leise. „Er ist elf Monate alt, und es gibt niemanden, der ihn zu sich nehmen könnte. Sehr viel mehr weiß ich auch nicht, aber sie hat eine Aufzeichnung hinterlassen, auf der sie alles erklärt. Ich habe dir die DVD mitgebracht.“ Die Sozialarbeiterin klopfte auf den Ordner, in dem sich das Dokument offenbar befand.

„Sie wollte, dass ihr Sohn bei einem ihrer Halbgeschwister aufwächst“, fuhr sie fort. „Und du bist der Einzige, den sie ausfindig machen konnte.“

„Dann soll ich jetzt also das Kind einer wildfremden Frau großziehen?“, fragte Chase. „Unglaublich. Das kann nur ein schlechter Scherz sein.“

„Ich meine das absolut ernst“, beharrte Neily. „Deine Halbschwester hätte dir das alles bestimmt gern persönlich gesagt, aber das konnte sie nicht mehr. Es war ihr letzter und größter Wunsch, dass du deinen Neffen zu dir nimmst … du oder eines deiner Geschwister, sobald du sie aufgespürt hast.“

Chase runzelte die Stirn. Aber bevor er etwas dazu sagen konnte, sprach Neily schon weiter. „Ich weiß, dass das ein ganz schöner Schock für dich sein muss. Du bist auch auf keinen Fall verpflichtet, deinen Neffen bei dir aufzunehmen. Nach Angie Cragens Tod hat das Sozialamt den Jungen erst mal bei Pflegeeltern untergebracht …“

„Wie bitte?“ Chase klang entsetzt – als hätte Neily ihm gerade etwas ganz Schreckliches verraten.

„Ja, im Moment ist er in Billings, bei einer Pflegefamilie. Sie können ihn aber nur noch ein paar Tage bei sich behalten, weil sie jetzt schon völlig überlastet sind. Angie Cragens Anwalt hat darauf bestanden, dass ich dir die Sache erst erkläre, bevor der Junge zu einer anderen Pflegefamilie kommt – für den Fall, dass du dich um ihn kümmern würdest, wie deine Halbschwester es sich gewünscht hat.“

Chase schloss die Augen und schüttelte den Kopf. Dann blickte er Neily an. „Bist du dir auch hundertprozentig sicher, dass er wirklich mein Neffe ist?“

„Absolut“, bestätigte Neily. „Aber du bist natürlich trotzdem nicht gesetzlich verpflichtet …“

„Dann kümmere ich mich um ihn“, unterbrach er sie. „Zumindest vorübergehend.“

Hadley konnte kaum glauben, was sie da hörte. War das wirklich der Chase Mackey, den sie von früher kannte? Der Mann, der sämtlichen persönlichen Verpflichtungen konsequent aus dem Weg ging? Nach allem, was Logan ihr über ihn erzählt hatte, hatte er sich in den letzten Jahren nicht verändert. Und jetzt nahm er auf einmal ein elf Monate altes Baby bei sich auf?

„Ist dir eigentlich bewusst, was für eine Verantwortung du damit übernimmst?“, hakte Neily nach. Es sah so aus, als wäre ihr nicht ganz wohl bei Chases Entscheidung. „Ich meine … der Junge ist nicht mal ein Jahr alt. Er muss gewindelt und gefüttert werden, auch mitten in der Nacht … Hast du so etwas überhaupt schon mal gemacht?“

„Das ist doch völlig unerheblich“, gab Chase zurück. „Wenn Logan das bei seiner Tochter Tia hingekriegt hat, schaffe ich das auch. Er kann mir ja dabei helfen. Wenn der Junge wirklich mit mir verwandt ist, will ich auf keinen Fall, dass er in ein Heim kommt. Oder zu fremden Pflegeeltern.“ Er klang, als gäbe es an dieser Entscheidung nichts mehr zu rütteln.

Vielleicht ja, weil er selbst so schlechte Erfahrungen mit seinen Pflegeeltern gemacht hat? Wahrscheinlich war er früher deswegen so oft bei uns zu Besuch, überlegte Hadley.

„Das heißt natürlich noch lange nicht, dass er ganz bei mir aufwächst“, fuhr Chase fort. „Vielleicht kann ich ja herausfinden, was aus meinen anderen Geschwistern geworden ist. Wahrscheinlich ist er bei einem von ihnen besser aufgehoben als bei mir. Aber erst mal …“ Er drehte sich zu Logan um. „… kümmere ich mich um ihn. Würdest du mir dabei helfen?“

„Natürlich, auf jeden Fall. Das weißt du doch“, versprach er.

„Okay, dann kannst du die nötigen Schritte veranlassen“, sagte Chase zu Neily. „Oder hast du ihn etwa schon mitgebracht?“

Neily zuckte zusammen. Offenbar fand sie die Vorstellung erschreckend. „Nein, der Junge ist noch in Billings. Ich kann mich erst um Montag um alles Weitere kümmern. Aber falls du es dir übers Wochenende noch anders überlegst, sag mir bitte Bescheid. Dann hole ich ihn nämlich ab.“

„Ja, um ihn wieder zu irgendwelchen fremden Leuten zu bringen“, murmelte Chase so leise, dass Hadley die Worte nur so gerade eben hören konnte. Laut und deutlich sagte er zu Neily: „Gut, ich behalte das im Hinterkopf.“ Einige Sekunden lang schien er über etwas nachzudenken. Dann wandte er sich erneut an die Sozialarbeiterin. „Weißt du eigentlich, ob Angie Cragen schon irgendetwas über meine Geschwister herausgefunden hat?“

„Nein, tut mir leid.“ Die Sozialarbeiterin reichte ihm die Mappe mit den Unterlagen. „Hier ist die DVD drin, von der ich eben schon erzählt hatte. Vielleicht weißt du ja mehr, nachdem du sie dir angesehen hast. Ein Foto deines Neffen ist auch dabei.“

Hadley fiel auf, dass Chase zögerte, bevor er die Mappe in die Hand nahm. „Hat der Junge eigentlich einen Namen?“, erkundigte er sich. Er machte keinerlei Anstalten, nach dem Bild zu schauen.

Hadley hätte das gleich als Erstes getan.

„Er heißt Cody“, erwiderte Neily.

„Aha, Cody“, wiederholte Chase.

„Tja, wenn du das wirklich so willst …“, setzte Neily noch einmal an und schwieg für einen Moment, um Chase die Gelegenheit zu geben, doch noch einen Rückzieher zu machen. Aber er reagierte nicht.

„Okay, dann kümmere ich mich jetzt um alles“, sagte sie. „Und wir sehen uns erst mal morgen bei der Hochzeit. Am Montag bringe ich dir das Kind vorbei.“

Chase nickte bloß.

Hadley brachte Neily zur Tür.

Als sie zurück ins Wohnzimmer kam, beugte sich Chase gerade zu Logan. „Was hat Neily da eben erzählt?“, raunte er ihrem Bruder zu. „Ich habe Geschwister? Wirklich?“

„Ja, und außerdem einen kleinen Neffen, der ab übermorgen bei dir wohnt“, ergänzte Logan, der ebenfalls ziemlich perplex klang.

„Das ist doch wohl alles nicht wahr!“

„Komm, wir bringen erst mal deine Sachen ins Loft“, schlug Logan vor. „Danach können wir uns ja die DVD angucken.“

Chase nickte. Dann ging er wie benommen aus dem Zimmer. Als sein Blick auf Hadley fiel, blieb er abrupt stehen. „Und Hadley, wow … du hast mich auch völlig umgehauen.“

Sie lachte. „Keine Angst, ich bin immer noch dieselbe. Nur nicht mehr ganz so großzügig verpackt.“

„Das ist schön. Überhaupt ist es schön, dich … zu sehen.“

Statt etwas dazu zu sagen, lächelte Hadley bloß.

„Na, dann bis später“, verabschiedete Chase sich und ging in Richtung Küche.

Es fiel Hadley schwer, den Blick von ihm zu lösen – vor allem von seinem knackigen Po.

„Du musst mir unbedingt helfen“, raunte Logan ihr im Vorbeigehen zu.

Hadley hatte keine Ahnung, was ihr Bruder damit meinte, denn ihr ging gerade etwas ganz anderes durch den Kopf. Oder besser: jemand ganz anderes.

Und zwar Chase.

Unglaublich, was er eben alles erfahren hatte. Und wie er sich ohne zu zögern einverstanden erklärt hatte, die Verantwortung für den Sohn seiner Halbschwester zu übernehmen.

In diesem Moment fiel die Hintertür ins Schloss. Und Hadley wurde sich bewusst, dass sie gerade etwas hinter sich gebracht hatte, was ihr wochenlang bevorgestanden hatte: Sie war Chase Mackey nach siebzehn langen Jahren zum ersten Mal wieder begegnet.

Diese riesige Hürde hatte sie also erfolgreich hinter sich gebracht. Erleichtert atmete sie auf.

Natürlich war über das, was Neily ihm zu sagen gehabt hatte, alles andere in den Hintergrund gerückt. Aber Hadley fand, dass sie sich davor ziemlich anständig geschlagen hatte. Besonders souverän und schlagfertig war sie zwar nicht gewesen, aber immerhin hatte sie sich auch nicht blamiert.

Was Chase angeht, habe ich jetzt meine Feuertaufe hinter mir, sagte sie sich. Danach wird es immer leichter für mich, immer weniger peinlich. Und irgendwann denke ich gar nicht mehr daran, dass ich als Schülerin mal unsterblich in ihn verknallt war. Dann kann ich vielleicht ganz unbefangen mit ihm umgehen, wie mit einem ganz normalen Bekannten und Arbeitskollegen.

Genau das war ihr Ziel – zumindest redete sie sich das immer wieder ein. Obwohl sie ununterbrochen daran denken musste, wie er sie mit seinen blauen Augen angesehen hatte …

„Möchtest du, dass ich noch ein bisschen bei dir bleibe?“, erkundigte sich Logan.

Chase lächelte. Es berührte ihn, dass sein Freund jetzt für ihn da sein wollte – wo er doch morgen heiratete und jetzt noch dringend zahlreiche Last-Minute-Vorbereitungen treffen müsste. „Warum?“, fragte er zurück. „Glaubst du, dass ich einen Babysitter brauche?“

„Den brauchst du ab Montag wohl wirklich“, gab Logan trocken zurück.

„Oder eine hübsche Nanny.“ Damit spielte Chase bewusst auf Logans zukünftige Frau Meg an – die er ursprünglich als Betreuerin für seine Tochter Tia engagiert hatte.

Logan lachte. „Tja, die hübschen Nannys lässt du dir bestimmt nicht entgehen, so wie ich dich kenne.“

Darauf ging Chase nicht weiter ein. Stattdessen wurde er wieder ernst. „Ganz schön komisch, dass ich irgendwo auf der Welt vielleicht zwei Brüder und eine Schwester habe. Und dass ich in anderthalb Tagen ein Kind bei mir aufnehme, das aller Wahrscheinlichkeit nach mein Halbneffe ist. Aber damit komme ich schon klar. Kümmer du dich ruhig um eure Hochzeitsvorbereitungen.“

„Wirklich?“

„Ja, wirklich.“

Damit gab sich Logan zufrieden und ging zur Tür. „Meg hat dir schon ein paar Lebensmittel in den Kühlschrank gelegt. Aber du kannst dich auch jederzeit bei uns bedienen. Komm einfach rüber und hol dir, was du brauchst. Okay?“

Autor

Victoria Pade
Victoria Pade ist Autorin zahlreicher zeitgenössischer Romane aber auch historische und Krimi-Geschichten entflossen ihrer Feder. Dabei lief ihre Karriere zunächst gar nicht so gut an. Als sie das College verließ und ihre erste Tochter bekam, machte sie auch die ersten schriftstellerischen Gehversuche, doch es sollte sieben Jahre dauern, bis ihr...
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