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Die extravagante Modedesignerin Joanna ist absolut nicht Marcus Barlows Typ. Doch aus rätselhaften Gründen fasziniert ausgerechnet sie den konservativen Geschäftsmann mehr als jede Frau zuvor. Bei ihrer Ausstellung in seiner Galerie kommt er ihr gegen jede Vernunft näher …


  • Erscheinungstag 07.09.2020
  • Bandnummer 9
  • ISBN / Artikelnummer 9783733719265
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Happy Birthday, liebe Joanna … Happy Birthday to youuu.“

Alle Spinellis erhoben ihre Gläser, und Joanna lächelte. Hoffentlich sah man ihr nicht an, dass das Lächeln nicht von Herzen kam.

Dreißig Jahre.

Jetzt war sie dreißig Jahre alt. Anstatt an diesem Punkt inmitten einer erfolgreichen Karriere als Modedesignerin zu stehen, mit dem Mann ihrer Träume verheiratet und – mindestens – mit ihrem ersten Kind schwanger zu sein, kämpfte sie immer noch beruflich um Anerkennung und arbeitete immer noch als Assistentin, und zwar für ihren Ex, der sie vor weniger als zwei Wochen abserviert hatte.

Und um alles auf die Spitze zu treiben, hatte sie heute Abend nicht einmal ein Date. Doch ihre Familie konnte ja nichts für ihren jämmerlichen Zustand, also hatte sie sich angestrengt, um fröhlich und glücklich zu wirken. Und ihre Familie hatte sich weiß Gott um das Geburtstagskind bemüht. Ihre Mutter hatte Joanna einen wunderschönen überdimensionalen dunkelroten Kaschmirschal gestrickt – perfekt für das kühle Herbstwetter von Seattle. Ihr Dad war seiner einzigen Tochter gegenüber immer großzügig und hatte ihr einen Gutschein im Wert von über hundert Dollar geschenkt. Und ihre vier Brüder hatten tatsächlich zusammengelegt, um ein iPad zu kaufen.

Ganz ehrlich, sie konnte es immer noch kaum fassen, dass ihre Brüder ihr dieses Geschenk gemacht hatten. Sie konnte es kaum erwarten, sich ein paar Design-Apps herunterzuladen. Jetzt konnte sie von überall arbeiten, ohne ihren Laptop mit sich herumschleppen zu müssen.

Dann war da noch Granny Carmela, die Mutter ihres Vaters, die fünfhundert Dollar in ihre Geburtstagskarte gesteckt hatte. Granny ist wirklich ein Schatz, dachte Joanna, als sie ihre sechsundachtzigjährige Großmutter noch einmal fest umarmte. Wenn fünfhundert Dollar nur Joannas finanzielle Probleme lösen könnten … Aber das war eine andere Geschichte, an die Joanna heute nicht einmal denken wollte.

„Wer will ein Stück Kuchen?“, fragte ihre Mutter und lächelte erwartungsvoll.

„Auch zwei“, sagte Tony, Joannas ältester Bruder.

„Tony!“, warnte ihn seine Frau. Sharon warf einen vielsagenden Blick auf seine Gürtellinie.

„Ich weiß, ich weiß.“ Er grinste. „Morgen verhalte ich mich ganz brav. Versprochen.“

Alle lachten. Tonys Versprechungen, was Essen anging, waren selten ernst gemeint und wurden ebenso wenig gehalten.

Nach dem Kuchenessen und ihrem Lieblingseis beschloss Joanna, dass sie ihre familiären Verpflichtungen erfüllt hatte.

„Oh, Liebling, ich habe gedacht, du bleibst über Nacht?!“, protestierte ihre Mutter.

„Geht nicht, Mom. Ich muss morgen früh raus.“

„Aber Liebling … Morgen ist doch Donnerstag. Da hast du frei!“

Joanna hatte eine Abmachung mit ihrem Ex, der immer noch ihr Boss war. Sie arbeitete nur vier Tage in der Woche und bekam dennoch nicht nur ein gutes Gehalt, sondern auch alle Sozialleistungen. „Ja, aber …“

„Ann Marie, setz dem Mädchen nicht so zu“, sagte Joannas Vater.

„Aber Tony, sie hat doch frei, und da habe ich gedacht, wir könnten …“

„Ich wollte nur sagen, dass ich unbedingt an meiner Kollektion weiterarbeiten muss“, unterbrach Joanna ihre Mutter. Sie musste mindestens zwölf Entwürfe vorzeigen können, vielleicht sogar mehr – natürlich nur, falls sie überhaupt eine Präsentationsmöglichkeit auftun konnte. Im Augenblick hatte sie nur neun Skizzen fertig und gerade erst mit der zehnten angefangen. Wenn es ihr nicht gelang, mehr Geld aufzutreiben – die geschenkten fünfhundert Dollar reichten kaum, um ein Drittel der Schulden auf ihrem Kreditkartenkonto zu tilgen –, dann war sie sowieso am Ende.

Joanna zwang sich, diese trübseligen Gedanken zu verscheuchen. Stattdessen lächelte sie, während sie sich verabschiedete und ihre Geschenke einsammelte. Die Fahrt vom Haus ihrer Eltern in Georgetown zu ihrem kleinen Apartment in Tremont dauerte nur zwanzig Minuten.

Trotzdem war es Mitternacht, als sie sich ins Bett fallen ließ – genauer gesagt, auf ihr Sofa. Als ihr Wecker um sechs Uhr morgens losging, stöhnte sie. Die Versuchung war groß, ihn auszuschalten und weiterzuschlafen. Tabitha, ihre zehn Jahre alte Katze, sah das offensichtlich genauso, denn sie kuschelte sich zusammen und schloss noch einmal die Augen.

Immer noch schlaftrunken stolperte Joanna zu ihrer winzigen Küchenzeile und stellte die Kaffeemaschine an. Nachdem sie Tabithas Futterschale gefüllt und frisches Wasser hingestellt hatte, duschte sich Joanna. Eine Stunde später war sie angezogen. In Jeans und einem warmen Sweatshirt ging sie ins Wohnzimmer und zu ihrem Arbeitstisch, wo ein wunderschönes Stück meergrüner Samt auf sie wartete.

Joanna trank ihren Kaffee und lächelte. Sie hatte zwar früh aufstehen müssen, aber es war großartig, den ganzen Tag vor sich zu haben, um an ihren Entwürfen zu arbeiten. Dann war sie eben dreißig Jahre alt geworden und hatte ihre Ziele noch nicht erreicht – na und? Dreißig war nicht das Ende der Fahnenstange. Je nachdem, wie sie darüber nachdachte, waren dreißig Jahre eher ein Anfang. Und wenn ihr demnächst das Geld komplett ausging? Dann würde sie das irgendwie schon hinbekommen. Sie schaffte es schon immer irgendwie. Ihre Eltern hatte sie noch nie um Geld gebeten. Auch wenn sie bei Gott schon oft daran gedacht hatte, doch ihre Eltern waren eben nicht reich und sie wurden älter. Sie hatten genug für Joanna getan, indem sie ihr geholfen hatten, das College und die Kunstschule zu finanzieren.

Bald war sie in die Gestaltung ihres neuen Entwurfs vertieft. Die Stunden verflogen. Erst als ihr Magen knurrte, hörte sie auf zu arbeiten. Sie warf einen Blick auf die Uhr und bemerkte überrascht, dass es schon fast drei Uhr nachmittags war. In ihrem Kühlschrank fand sich Thunfischsalat, der noch gut roch, also bereitete sie sich ein Sandwich zu und nahm sich noch einen Apfel. Dann ging sie zurück zu ihrer Schneiderpuppe, an der der Samtstoff leider nicht so fiel, wie sie es sich erhofft hatte.

Vielleicht war der Samtstoff als Material der Fehler. Für diese Kollektion hatte sie sich entschieden, mit leichteren, elastischeren Stoffen zu arbeiten – mit Chiffon, Seide, Spitze und Ähnlichem. Samt verlangte geradezu danach, zu einem bodenlangen Abendkleid verarbeitet zu werden.

Sie hatte ihren Lunch zur Hälfte gegessen, als ihr Handy klingelte. Der Klingelton sagte ihr, dass der Anruf von Georgie Prince kam, ihrer allerbesten Freundin.

„Hey, mein Mädchen“, sagte Georgie.

„Hey.“ Weil sie wusste, dass ein Anruf von Georgie immer mindestens eine halbe Stunde dauerte, setzte sich Joanna auf einen Küchenstuhl und legte die Füße auf den anderen.

„Was machst du heute so?“, fragte Georgie.

„Ich arbeite an dem neuen Entwurf.“

„Den du mir gemailt hast?“

„Jawohl.“

„Oh, Joanna, der ist wunderschön. Weißt du, ich wünschte, du würdest dieses Kleid für mich machen. Es wäre perfekt für die Feiertage. Zach und ich müssen auf ein paar Partys, und ich würde das Kleid so gerne zu mindestens einer davon anziehen.“

Joanna setzte sich auf. „Ehrlich?! Das meinst du ernst?“

„Auf jeden Fall. Ich wäre hin und weg.“

„Ich würde es liebend gerne für dich machen. Wie bald brauchst du es denn?“

„Mitte November. Geht das?“

„Klar, dafür sorge ich schon.“

„Also, wie war die Party gestern Abend?“

Joanna seufzte. „Schön.“

„Oh, so hörst du dich aber nicht wirklich an.“

„Nein, es war wirklich okay. Die Jungs haben mir ein iPad geschenkt. Und meine Mom hat mir den schönsten Kaschmirschal gestrickt, den du dir nur vorstellen kannst.“ Joannas Mutter hatte vor Kurzem den Laden ihres langjährigen Arbeitgebers übernommen und war jetzt stolze Eigentümerin eines kleinen Wollgeschäfts.

„Rot?“

Joanna lachte. „Ja, dunkelrot.“

„Deine Mutter gibt wohl nie auf, was?“

Damit bezog sich Georgie auf die Tatsache, dass Joanna am liebsten Schwarz trug. Sogar heute waren ihre Jeans schwarz und ihr Sweatshirt auch.

„Sie denkt eben immer noch, dass sie mich ändern kann“, sagte Joanna.

„Ach, genau wie meine Mom“, meinte Georgie.

Joanna sagte lieber nicht, was sie dachte, nämlich, dass Georgie sich durchaus geändert hatte – ganz im Gegensatz zu Joanna. Sie war eben so, wie sie war. Ganz egal, wer immer auch sie lieber anders hätte.

„Also, geht’s dir jetzt besser, was die große Drei-null angeht?“, fragte Georgie.

„Ja. Ich habe beschlossen, dass ich kein Problem damit habe, dreißig zu sein.“ Doch sobald sie es ausgesprochen hatte, wusste Joanna, dass ihre Bemühungen nicht mehr wirkten und sie sich selbst nicht aufmuntern konnte. „Ich wünschte nur, ich hätte irgendetwas, worauf ich mich richtig freuen könnte“, fügte sie in einem plötzlichen Anfall von Ehrlichkeit hinzu. Das würde sie außer Georgie niemandem sonst eingestehen.

„Ach, hör doch auf. Du kannst dich noch auf dein ganzes Leben freuen!“

„Ja klar, das sagt die Frau, die schon eine fantastische Karriere vorzuweisen hat. Nicht zu vergessen einen echten Traumprinzen als Mann.“ Joanna verabscheute den neidischen Unterton in ihrer Stimme, denn sie freute sich aufrichtig für ihre beste Freundin.

„Du wirst fantastischen Erfolg haben, und deine Karriere wird noch viel aufregender als meine“, sagte Georgie, „und was den perfekten Mann angeht, das kommt schon noch – wahrscheinlich, wenn du es am allerwenigsten erwartest.“

„Ja, ja, schon klar. Ich bin sicher, du hast recht. Ich schätze, ich bin momentan einfach kaputt und entmutigt.“

„Warst du bei Pacific Savings, wie ich dir geraten habe?“, fragte Georgie.

„Erst gestern in der Mittagspause. Und ich habe das fünfzehnte ‚Nein‘ in ebenso vielen Tagen kassiert.“

Georgie schwieg einen Augenblick. Dann sagte sie: „Vielleicht könnte ich Harry dazu bringen, bei denen anzurufen.“

„Nein! Wag es bloß nicht.“ Joanna hatte immer noch ihren Stolz. Harry Hunt, Seattles legendärer Millionär, der vor Kurzem Georgies Mutter geheiratet hatte, kannte sie nicht einmal persönlich. Na ja, er wusste vielleicht, dass sie mit Georgie gut befreundet war. Aber abgesehen davon war sie eine Fremde für ihn. Wenn Joanna ihren eigenen Vater schon nicht um Hilfe bitten würde, dann würde sie bestimmt nicht Harry Hunt anbetteln!

„Harry würde das überhaupt nichts ausmachen“, sagte Georgie.

„Ihm vielleicht nicht, aber mir.“

„Ach, du bist so stur. Jeder braucht doch mal Hilfe.“

„Sagt die Frau, die in der Vergangenheit jeden beim Versuch, ihr zu helfen, erdrosselt hätte.“

Einen Augenblick herrschte Schweigen. Dann sagte Georgie: „Was willst du jetzt machen?“

Joanne verzog das Gesicht. „Da habe ich eigentlich keine Wahl.“

„Dann willst du weiter für Chick arbeiten?“

„Von wollen kann nicht die Rede sein, aber wie viele Teilzeitjobs gibt es wohl, die so gut bezahlt sind wie meiner?“

„Ich will nicht, dass du weiter für Chick arbeitest“, sagte Georgie heftig. „Der Typ ist so ein Vollidiot!“

„Das ist mir jetzt auch klar. Anscheinend wirke ich anziehend auf solche Typen.“ Joanna seufzte tief. Was passiert war, war passiert. „Lass uns zur Abwechslung mal über dich reden.“

Dann erzählte Georgie, was es bei der Familie Prince Neues gab. Als Joanna gerade sagen wollte, dass sie sich besser wieder an die Arbeit machte, sagte Georgie schließlich: „Es gibt noch etwas, was ich dir erzählen muss, aber du musst versprechen, nicht zu lachen.“

Lachen? Was hast du jetzt wieder angestellt?“

„Also, nach all den Jahren, wo ich immer gesagt habe, dass ich keine Kinder will …“ Georgie verstummte.

Es dauerte ein paar Sekunden, bis Joanna die Bedeutung von Georgies Erklärung aufging. Dann quietschte sie los. „Georgie! Bist du schwanger?! Das glaub ich nicht!“

Georgie lachte. „Ich weiß. Ich kann es auch nicht glauben.“

„Oh, Georgie, das ist wundervoll.“ Joanna ermahnte sich, nicht neidisch zu sein. Schließlich war es ja nicht so, als ob sie ihrer Freundin ein Kind nicht gönnte. „Im … im wievielten Monat bist du denn?“ Georgie und Zach hatten im April geheiratet.

„Gerade erst im vierten Monat. Ich war gestern beim Arzt.“

„Wahnsinn.“

„Ja. Wahnsinn.“

„Du bist doch glücklich, oder?“

„Oh, Joanna, ich bin so glücklich, dass ich es gar nicht glauben kann.“

Sie unterhielten sich noch ungefähr zehn Minuten über das Baby und darüber, wie das Abendkleid aus Samt sogar mit Babybauch gut aussehen könnte. Dann verabschiedeten sie sich. Bevor sie auflegte, sagte Georgie noch: „Halt die Ohren steif, Jo.“

„Mach ich. Ach ja, Montag will ich mir ‚Up and Coming‘ ansehen – die Kunstgalerie, von der ich dir erzählt habe. Wer weiß, vielleicht lassen die mich ja meine Kollektion vorführen, und dann ändert eine der Banken ihre Meinung und leiht mir das Geld, das ich brauche …“ Joanna verzog das Gesicht. „Und wahrscheinlich gewinne ich dann noch im Lotto!“

„Siehst du, ich hab doch gewusst, dass dir noch was einfällt“, sagte Georgie und ignorierte Joannas Bemühungen, sich in Galgenhumor zu retten. „Falls es mit der Galerie und dem Darlehen nicht klappt, würden Zach und ich uns sehr freuen, den Rest deiner Kollektion zu finanzieren.“

„Ich weiß, aber das kann ich nicht zulassen, Georgie. Was ist, wenn …“ Doch Joanna konnte ihre größte Angst nicht aussprechen, nicht einmal vor Georgie.

„Sag das nicht, Joanna! Du wirst nicht versagen. Deine Kollektion wird ein Riesenhit. Hör zu, ich kenne mich mit Mode aus. Meine Schwestern auch, und wir alle lieben deine Sachen.“

Mit diesem überschwänglichen Lob in den Ohren verabschiedete sich Joanna. Sobald das Handy aus war, verlor sie den Mut. Ja, Georgie und deren Schwestern liebten ihre Kleidung, aber die waren ja auch voreingenommen.

Sogar falls der Eigentümer von „Up and Coming“ am Montag zustimmte, sogar wenn eine der Banken ihr das Darlehen gewährte, damit sie ihre Kollektion vollenden konnte – sie konnte immer noch scheitern.

Sobald ihr dieser Gedanke kam, wurde sie wütend auf sich selbst. Was stimmte nicht mit ihr? Warum hatte sie überhaupt so negative Gedanken? Sie war noch nie eine Pessimistin gewesen. Sie glaubte an sich und an ihr Talent.

Georgie hatte recht. Sie würde erfolgreich sein!

Ganz egal, was ihre Karriere kostete.

„Kommst du heute Abend zum Essen nach Hause, Marcus?“

Marcus Osborne Barlow III schüttelte den Kopf. „Ich fürchte nicht, Mutter. Walker und ich haben ein Arbeitsessen angesetzt.“ Walker Creighton war der Anwalt der Familie und Mitglied des Aufsichtsrats von Barlow International. Als seine Mutter nichts erwiderte, schaute Marcus von der Zeitung auf. „Was ist los?“

Sie senkte den Blick. „Es ist nichts.“

Wenn es um seine Mutter ging, war es nie nichts. Sein Vater war vor fünfzehn Jahren unerwartet nach einem Herzinfarkt gestorben. Kurz vor Marcus’ einundzwanzigstem Geburtstag in seinem dritten Studienjahr. Seither war Laurette Bertrand Barlow kaum noch imstande zu entscheiden, was sie zum Abendessen wollte. So war sie nicht immer gewesen. Als sein Vater noch am Leben war, hatte sie das Auftreten einer anderen Frau besessen.

Marcus trank seinen Kaffee aus und legte die Zeitung hin. Er hatte gelernt, dass es bei seiner Mutter nichts brachte, nachzuhaken. Also saß er einfach schweigend da. Nach ein paar langen Sekunden begegnete sie endlich seinem Blick. „Es geht um Vanessa.“

„Was ist mit ihr?“, fragte er in einem schärferen Tonfall, als er wollte.

Vanessa war seine zwanzigjährige Schwester. Sie war erst fünf gewesen, als ihr Vater gestorben war. Vanessa verehrte ihren großen Bruder, und er wiederum betete seine kleine Schwester an, auch wenn er manchmal an der Aufgabe verzweifelte, eine junge Dame aus ihr zu machen, auf die die Familie stolz sein konnte.

Ihre Mutter wurde rot. „Sie hat gesagt, ich wäre dumm.“

„Dumm?!“ Marcus war schockiert. Manchmal verstand er, warum Vanessa mit ihrer Mutter ungeduldig wurde, schließlich war Laurette oft schwierig im Umgang. Doch einen Mangel an Respekt, ganz egal warum, fand er nicht akzeptabel.

Er unterdrückte einen Seufzer. „Ich werde mit ihr reden.“

Fünf Minuten später klopfte Marcus an Vanessas Schlafzimmertür.

„Bist du das, Mutter?“ Dann ging die Tür auf. Vanessa stand mit zerzaustem Haar, barfuß und in einem sehr kurzen blauen Morgenrock vor ihm. Das widerspenstige Funkeln in ihren Augen, die so dunkelblau waren wie die ihres Vaters, legte sich, als sie sah, dass ihr Bruder vor der Tür stand.

„Ich hab gedacht, du bist schon im Büro“, sagte sie lächelnd.

„Ich habe ein Meeting in Kirkland. Hast du heute keinen Unterricht?“ Vanessa hatte einige Kurse an der Kunstschule belegt, am Art Institute von Seattle.

„Abgesagt. Die Frau vom Kursleiter hat gestern die Wehen bekommen. Also hab ich mir gedacht, ich schau mir mal die neue Ausstellung im Frye an.“ Sie zog den Morgenmantel enger um sich. Zum ersten Mal schien sie seine Laune zu bemerken. „Stimmt was nicht?“

„Mutter sagt, du hättest sie dumm genannt.“

Vanessa schüttelte den Kopf. „Das stimmt nicht ganz.“

„Nicht ganz? Wie kann so etwas nicht ganz stimmen?“

„Ich habe nicht gesagt, dass sie dumm ist. Ich habe gesagt, das, was sie gesagt hat, ist dumm. Das ist nicht ganz dasselbe!“

„Das ist doch Haarspalterei. Das war in jedem Fall respektlos, und das weißt du auch ganz genau.“

„Willst du überhaupt wissen, was sie gesagt hatte?“

„Nein. Das ist mir egal. Wichtig ist, dass du deine Mutter immer respektvoll behandelst.“

„Aber Marcus …“

„Nein, kein Aber.“

„Dann kann ich nicht mal anderer Meinung sein?“ Der aufsässige Blick war wieder da.

„Das habe ich damit nicht gesagt. Es ist absolut möglich, eine Meinungsverschiedenheit zu haben, ohne dabei gleich unhöflich zu sein.“

Vanessa rollte die Augen. „Du klingst wie ein alter Mann.“

„Wie bitte?!“, sagte er steif. Wenn er sich älter anhörte, als er war, lag das vielleicht daran, dass er nie eine andere Wahl gehabt hatte. Hatte seine kleine Schwester daran schon einmal gedacht? Eine Woche nach dem Tod seines Vaters hatte er Anzug und Krawatte angezogen, um dem Aufsichtsrat von Barlow International gegenüberzutreten und alle davon zu überzeugen, dass er in fünf Jahren dazu fähig sein würde, die Leitung der Firma zu übernehmen. Das hatte er nie gewollt. Aber wer außer ihm war noch da?

„Jetzt zieh dich an und komm nach unten. Ich muss zu meinem Meeting. Wenn ich heute Abend nach Hause komme, erwarte ich, dass du hier bist und dass du dich bei Mutter entschuldigt hast.“

Als er sich umdrehte, erwartete er zu hören, wie die Tür zuknallte. Stattdessen herrschte Stille. Er ging den Flur hinunter. Dann blieb er stehen. Kopfschüttelnd ging er wieder zur Tür seiner Schwester. Es tat ihm leid, dass er so hart gewesen war. Schließlich wusste er ja, wie schwierig seine Mutter sein konnte.

Er streckte die Hand aus, aber er öffnete die Tür nicht. Das konnte er nicht. Mit zwanzig hatte er alle seine Träume und Hoffnungen für die Zukunft vergessen und ganz schnell erwachsen werden müssen, um die Verantwortung für seine Geschwister und seine Mutter zu übernehmen – ganz zu schweigen von der Verantwortung für eine ganze Firma und alle Mitarbeiter.

Er ließ den Türknauf los und ging zur Treppe. Diesmal schaute er nicht zurück.

2. KAPITEL

Am Montag fuhr Chick – Joannas Boss und Ex – nach Oregon auf Einkaufstour. Also stellte sie den Anrufbeantworter an und nahm sich Zeit für ihre Mittagspause. Zum Glück war es ein schöner Tag – kalt, aber sonnig. Daher ging sie die fünfzehn Blocks zur Galerie „Up and Coming“ im trendigen Viertel Belltown zu Fuß.

Joanna hatte in der Juliausgabe des Magazins „Around Puget Sound“ von „Up and Coming“ gelesen. Die Galerie stellte neue Künstler aus, und anscheinend nicht nur Maler und Bildhauer, denn im Herbst stand eine Präsentation eines Juweliers auf dem Programm. Als Joanna davon gelesen hatte, wollte sie sofort wissen, ob es möglich wäre, auch ihre Arbeit dort zu zeigen. Schließlich war sie ebenfalls eine Künstlerin – genau wie jemand, der Schmuck entwarf. Die Idee war aufregend und sie hatte sie im Hinterkopf behalten.

Und inzwischen entpuppte sich „Up and Coming“ als ihre letzte Hoffnung.

„Up and Coming“ lag in einer schattigen Allee in der Nachbarschaft von Restaurants und Boutiquen und einem halben Dutzend anderer Galerien. Das Gebäude hatte eine elegante Fassade mit einer Doppeltür aus Walnussholz. Zwei große Schaufenster präsentierten lebhaft glasierte Vasen und Schalen aus Keramik sowie fantasievolle Tiere aus Mahagoniholz. Eines davon – eine Maus mit frecher Miene – brachte Joanna zum Lächeln. Es ließ sie außerdem hoffen, dass der Eigentümer aufgeschlossen war, was die Definition von Kunst anging.

Winzige Silberglöckchen klingelten, als Joanna die Tür öffnete. Eine hochgewachsene Blondine, die ihr Haar streng nach hinten gekämmt in einem winzigen Ballerinaknoten trug, sah auf.

„Ja, bitte?“ Die Blondine lächelte nicht. Stattdessen ließ sie den Blick von Joannas kniehohen Stiefeln mit den ultrahohen Absätzen, ihren karierten Strümpfen über den schwarzen Minirock zur engen Lederjacke gleiten.

„Hallo“, sagte Joanna fröhlich. Sie ging zum Tresen und streckte die rechte Hand aus. „Ich bin Joanna Spinelli. Ich habe Ihnen letzte Woche geschrieben, ob es möglich wäre, meine Arbeit hier zu präsentieren.“

Die Blondine ignorierte ihre Hand. „Und was für eine Arbeit wäre das?“ Immer noch kein Lächeln. Sie betrachtete Joanna mit kalten dunkelblauen Augen, die vom Farbton her zu ihrem hochgeschlossenen Wollkleid passten, als ob Joanna sich in der Tür geirrt hatte.

„Ich bin äh … Modedesignerin.“ Joanna hätte sich ohrfeigen können, weil sie so zögerlich klang. „Vielleicht haben Sie schon von meinem Label gehört – J S Designs? Ich habe die Kleider der Brautjungfern für die Fairchild-Hochzeit dieses Frühjahr entworfen. Im ‚Around Puget Sound‘ war ein Artikel darüber …“

„Wir sind eine Kunstgalerie, Miss …“

„Spinelli“, wiederholte Joanna.

Die Blondine spielte an ihrer Perlenkette herum. „Spinelli.“ Das betonte sie so, als ob der Name an sich schon geschmacklos wäre.

„Und mir ist bekannt, dass Sie eine Kunstgalerie sind“, sagte Joanna, „aber ich habe einen Artikel gelesen, dass Sie demnächst den Schmuck einer hiesigen Künstlerin ausstellen werden, und da habe ich gedacht …“

„Ja. Also, die Juwelierin ist die Schwester des Eigentümers.“

„Oh.“ Joanna wurde bang ums Herz. „Äh, könnte ich dann bitte mit dem Eigentümer sprechen? Ich habe mein Portfolio dabei …“

Autor

Patricia Kay
Patricia Kay hat bis heute über 45 Romane geschrieben, von denen mehrere auf der renommierten Bestsellerliste von USA Today gelandet sind. Ihre Karriere als Autorin begann, als sie 1990 ihr erstes Manuskript verkaufte. Inzwischen haben ihre Bücher eine Gesamtauflage von vier Millionen Exemplaren in 18 verschiedenen Ländern erreicht!
Patricia ist...
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