Milliardär sucht Braut

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Heiratet er nicht binnen zwei Monaten, verliert er den Familienbesitz … Völlig in Gedanken, wie er so schnell eine Frau herbeizaubern soll, prallt Milliardär Grayson beim Joggen auf eine Schöne, die ihm gleich gefällt. Er ahnt ja nicht, dass ihr Treffen kein Zufall war …


  • Erscheinungstag 03.08.2020
  • Bandnummer 4
  • ISBN / Artikelnummer 9783733718077
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

Juli

Grayson Hunt, kurz Gray genannt, war äußerst verstimmt über den Einberufungsbefehl, den er wie seine drei jüngeren Brüder von seinem Vater erhalten hatte. Um dem Aufruf zur „Hütte“ zu folgen, wie sie das eindrucksvolle Familienanwesen am Lake Washington seit frühester Jugend nannten, hatte Gray sechs wichtige Meetings absagen müssen. In seinem Büro in der Innenstadt von Seattle warteten darüber hinaus unzählige dringende Aufgaben auf ihn.

Die viele Arbeit wäre natürlich keine Entschuldigung gewesen. Denn als Vorsitzender des Familienunternehmens musste er stets fähig sein, sämtliche Verantwortlichkeiten zu bewältigen.

Sein Vater Harrison Hunt ließ sich jedenfalls nie für längere Zeit durch unvorhergesehene Ereignisse von der Pflicht abhalten. Als einziges Kind eines Ladenbesitzers und einer Hausfrau hatte er eine bahnbrechende Software entwickelt, die Computerfirma HuntCom gegründet und sie zu einem internationalen Multimilliarden-Konzern ausgebaut.

Gray war zweiundvierzig, Harrys Erstgeborener und sein Stellvertreter in sämtlichen Belangen. Angeblich war er seinem Vater sehr ähnlich. Das war Fluch und Segen gleichermaßen.

Gemeinsam warteten die vier Brüder nun in der geräumigen Bibliothek. Zum wiederholten Male misslang Gray ein Stoß am Billardtisch. Er schüttelte den Kopf über sich selbst und überließ seinem Bruder Justin, der mit vierunddreißig der Jüngste in der Runde war, das Feld.

Gekonnt lochte Justin eine Kugel ein und fragte: „Weiß eigentlich jemand, warum uns der alte Herr herbestellt hat?“

„Er hat nichts dazu sagen wollen.“ Als sein Handy vibrierte, holte Gray es aus der Tasche und blickte auf das Display. Es war eine SMS von seiner Sekretärin Loretta, die ihn überall und jederzeit in den wichtigsten Angelegenheiten auf dem Laufenden hielt.

Alex saß in einem der schweren Ledersessel und beugte sich vor. „Harry hat dich höchstpersönlich zu sich zitiert? Mich auch.“ Mit seinen sechsunddreißig Jahren war Alex der Zweitjüngste und leitete die Harrison Hunt Foundation, den wohltätigen Zweig der Firma. Auch er hatte wichtige Termine absagen müssen. Mit seiner Bierflasche deutete er zum Vierten im Bunde. „Und was ist mit dir, J.T.? Hat dich Harry auch mit einem persönlichen Anruf beehrt?“

„Allerdings.“ Der achtunddreißigjährige J.T. hielt ein Glas Bourbon in einer Hand und sah völlig erledigt aus. Als führender Architekt war er für sämtliche Immobilien und Baupläne von HuntCom verantwortlich und daher fast ständig auf Reisen. „Ich habe ihm erklärt, dass ich in Neu-Delhi für den Rest der Woche alle Termine absagen und für den Hin- und Rückflug jeweils einen Tag im Flugzeug verbringen muss. Aber er hat darauf bestanden, dass ich trotzdem komme.“ Müde blickte er zu Justin. „Und bei dir, Justin?“

„Dasselbe. Ich war auf der Ranch. Er wollte unbedingt, dass ich sofort komme.“ Nachdenklich drehte Justin das Queue zwischen den Fingern. „Aber er hat nicht gesagt, warum es so eilig ist.“

Niemand kannte den Grund für dieses Meeting. Und das ärgerte Gray. Schließlich wusste Harry, wie beschäftigt sie alle waren. Wozu trommelte er seine Söhne so überstürzt zusammen und ließ sie dann so lange warten?

Erneut holte er sein vibrierendes Handy heraus. Verdammt! Schon wieder ein Problem mit dem Aufkauf des neuesten Unternehmens für HuntCom. Um ungestört telefonieren zu können, wollte er den Raum verlassen. Bevor er jedoch die Tür erreichte, flog sie auf – sein Vater trat ein.

„Ah, da seid ihr ja alle. Hervorragend.“ Harry eilte zu seinem massiven Schreibtisch aus Mahagoniholz. Trotz des Herzanfalls, den er kürzlich erlitten hatte, legte Harry eine erstaunliche Energie an den Tag. „Kommt her, Jungs“, lud er sie beinahe so freundschaftlich ein, als täte er es jeden Tag.

Was nicht der Fall war. Dass er ein fürsorglicher aktiver Dad war, konnte man beim besten Willen nicht von ihm behaupten.

Ebenso wie seine Brüder ignorierte Gray Harrys Aufforderung, und die vier Stühle vor dem Schreibtisch blieben leer.

Harry dagegen setzte sich. Seine scharfen blauen Augen blitzten verärgert hinter der schwarzen Hornbrille. Ungehalten zuckte er die Achseln und murmelte: „Wie ihr wollt. Ob ihr sitzt oder steht, macht keinen Unterschied.“ Er räusperte sich. „Seit meinem Zusammenbruch im letzten Monat habe ich eine Menge über diese Familie nachgedacht. Bisher hat es mich nicht weiter gestört, dass ihr keine Anstalten macht, die Zukunft unseres Familiennamens zu sichern. Aber ich hätte an dem Herzinfarkt sterben können“, sagte er tonlos. „Ich kann jeden Augenblick sterben.“

Gray konnte sich das nur schwer vorstellen.

Denn Harry wirkte noch immer sehr vital und äußerst starrsinnig. Trotz seiner siebzig Jahre war sein Haar kaum ergraut. Doch obwohl er in vielerlei Hinsicht wie eine Maschine funktionierte, war es nicht von der Hand zu weisen, dass er älter wurde.

Er stand auf, beugte sich vor und stützte die Hände auf den Schreibtisch. „Und mir ist klar geworden, dass ihr vier nie freiwillig heiraten werdet – was bedeutet, dass ich keine Enkelkinder bekomme. Doch der Name Hunt darf mit euch nicht aussterben. Ich werde die Zukunft unserer Familie nicht länger dem Zufall überlassen. Ich gebe euch ein Jahr. Am Ende dieses Jahres wird nicht nur jeder von euch verheiratet sein, sondern auch ein Kind haben oder zumindest mit seiner Frau eins erwarten.“

Absolutes Schweigen breitete sich nach diesen Worten aus.

„Klar“, murmelte J.T. schließlich.

Harry ließ sich nicht beirren. Ruhig erklärte er: „Wenn nur einer von euch sich weigert, werden alle ihre Positionen bei HuntCom verlieren. Und damit auch die Sonderrechte, die euch so viel bedeuten.“

„Das kann nicht dein Ernst sein“, wandte Gray ein.

„Das ist mein voller Ernst.“

„Bei allem Respekt, Harry: Wie willst du denn die Firma ohne uns führen?“, wollte J.T. wissen. „Ich weiß nicht, woran Gray, Alex oder Justin arbeiten. Ich bin gerade mit dem Ausbau von drei Niederlassungen gleichzeitig beschäftigt: hier in Seattle, in Jansen und in Neu-Delhi. Wenn ein anderer Architekt die Bauleitung übernimmt, wird es Monate dauern, bis er auf dem Laufenden ist. Die Verzögerung würde HuntCom ein Vermögen kosten.“

Harry zeigte sich unbeeindruckt. „Das spielt dann keine Rolle mehr: Wenn ihr vier euch weigert, werde ich HuntCom nämlich verkaufen. In Stücken, wenn es sein muss. Dann gibt es keinen Neubau in Neu-Delhi. Und Hurricane Island ist auch Geschichte.“

Die Insel war J.T.s Zufluchtsort. Auf sie verzichten zu müssen würde ihn vermutlich härter treffen als der Verlust der Firma.

Harry heftete den stählernen Blick auf Justin. „Natürlich würde ich auch die HuntCom-Anteile an der Ranch in Idaho verkaufen.“ Er wandte sich an Alex. „Außerdem würde ich die Stiftung schließen.“ Schließlich betrachtete er Gray und teilte den letzten Tiefschlag aus. „Und wenn es keine Firma mehr gibt, braucht sie auch keinen Vorsitzenden mehr.“

Gray erstarrte und ignorierte ausnahmsweise sein vibrierendes Handy. HuntCom portionsweise verkaufen? Was für eine wahnwitzige Idee! Harry hatte die Firma gegründet, und sie war Grays Leben. Er konnte die Drohung nicht ernst nehmen.

Doch seit dem Herzanfall vor einem Monat verhielt Harry sich immer unberechenbarer – und er besaß die Aktienmehrheit. Somit konnte er praktisch schalten und walten, wie es ihm gefiel. Selbst wenn sich der gesamte Vorstand, der aus seinen Söhnen, seiner ältesten Freundin Cornelia und deren vier Töchtern bestand, gegen ihn stellte: Er konnte nicht überstimmt werden.

Alex trat einen Schritt vor. „Das ist doch verrückt! Was willst du damit denn erreichen?“

„Dass ihr alle eine Familie gegründet habt, bevor ich sterbe. Und zwar mit einer Frau, die eine gute Ehefrau und Mutter ist.“

Gray unterdrückte ein sarkastisches Lachen. Das war köstlich! Denn Harry selbst hatte nie eine solche Frau gewählt – für keine seiner insgesamt vier Ehen, aus denen die vier Brüder hervorgegangen waren.

„Ach ja. Cornelia wird sich eure Auserwählten vorher ansehen.“

„Tante Cornelia weiß Bescheid?“, fragte Justin fassungslos.

„Noch nicht“, gestand Harry ein.

Justin wirkte erleichtert. Offensichtlich baute er darauf, dass Cornelia Fairchild, die Witwe von Harrys bestem Freund, sich nicht als Komplizin für diesen absurden Plan hergab.

Da war Gray sich jedoch nicht so sicher. Ihre „Tante ehrenhalber“ bemutterte die vier Brüder zwar mehr, als ihre leiblichen Mütter das taten. Außerdem war sie die einzige Person, von der Harry sich wirklich etwas sagen ließ. Doch das bedeutete noch lange nicht, dass sie sich gegen ihn stellte, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. Immerhin kannten die beiden sich schon ewig und waren seit Kindertagen eng befreundet.

„Sie ist eine kluge Frau“, meinte Harry. „Sie wird erkennen, ob eure Kandidatinnen sich für die Ehe eignen.“

Zu schade, dass sie damals nicht deine Frauen ausgesucht hat. Dann wäre unser Leben ganz anders verlaufen …

„Ach ja, das hätte ich beinahe vergessen: Ihr dürft ihnen nicht verraten, dass ihr reich seid. Oder dass ihr meine Söhne seid. Ich will keine Schwiegertochter, die nur aufs Geld aus ist. Auf solche Frauen bin ich schließlich selbst immer reingefallen. Meine Fehler braucht ihr nun wirklich nicht nachzumachen.“

Dann sollte keiner von uns dazu gezwungen werden, in sein Unglück zu rennen. Denn nichts anderes bedeutet der Gang zum Altar.

Justin fasste noch einmal zusammen: „Tante Cornelia muss also unseren Bräuten zustimmen, die nicht erfahren dürfen, wer wir sind. Ist das schon alles?“

„Das ist alles.“ Harry holte tief Luft und sagte laut und deutlich in die angespannte Stille: „Ihr habt jetzt Zeit, darüber nachzudenken, und zwar genau bis in drei Tagen um Punkt acht Uhr abends – keine Minute später. Wenn ich bis dahin nichts von euch gehört habe, werde ich meine Anwälte anweisen, nach Käufern für die HuntCom-Unternehmen zu suchen.“

Und damit verließ er den Raum.

„So ein Mistkerl“, fluchte Justin nach einer Weile leise. „Ich glaube, er meint es wirklich ernst.“

Spöttisch verzog J.T. den Mund. „Es wird bestimmt nicht so weit kommen. Er wird HuntCom nicht verkaufen. Was den Rest angeht …“

Alex verzog das Gesicht. „Und wenn er es nun tatsächlich tut?“

Gray zog sich das Jackett an. Er hatte bereits genug Zeit in der „Hütte“ verschwendet. „Wir stecken gerade mitten in den Verhandlungen, um eine andere Firma aufzukaufen. Auf keinen Fall stößt er HuntCom ab, bevor diese Sache abgewickelt ist, und das kann noch Monate dauern. Er blufft nur.“

„Bist du dir da ganz sicher?“, hakte Alex nach. Er machte sich nichts aus Reichtum und Privilegien. Was sein eigenes Leben anging, hätte er auf jeden Cent verzichtet. Doch er hatte eben eine ausgeprägte wohltätige Ader – und das Firmenkapital gestattete ihm, Gutes in der Welt zu tun und es an Bedürftige zu verteilen. „Was ist, wenn du dich irrst? Willst du das Risiko wirklich eingehen und alles aufs Spiel setzen, wofür du achtzehn Jahre lang gearbeitet hast? Ich will jedenfalls nicht, dass die Hunt Foundation geschlossen oder von einem anderen geführt wird.“

„HuntCom ist das einzige Baby, an dem Harry je etwas gelegen hat“, gab Gray zu bedenken. „Letztendlich wird er nichts tun, das nicht zum Besten für die Firma ist. So ist es doch schon immer gewesen.“

„Ich kann nur hoffen, dass du recht hast“, murmelte Justin. „Wie ist er überhaupt auf die Idee gekommen, dass wir uns alle Bräute suchen sollen? Ich begreife das nicht.“

J.T. verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. „Also sind wir uns alle einig?“, fragte er. „Keiner von uns lässt sich auf diesen verrückten Plan ein?“

„Im Leben nicht“, bestätigte Gray, und das war für ihn das Ende der Diskussion.

1. KAPITEL

Zehn Monate später

Gray steigerte den Laufrhythmus und mobilisierte seine letzten Kräfte, als der Joggingpfad vor ihm steil anstieg.

Keuchend blieb er auf der Kuppe des Hügels stehen. Er atmete tief durch und schaute hinab in das Tal, das noch fast im Dunkeln lag. Der Schweiß, der sein T-Shirt tränkte, fühlte sich kalt an.

Fast jeden Morgen kostete es ihn wertvolle Zeit, zu diesem Gelände zu fahren. Doch es befand sich eben so weit entfernt von seiner Wohnung an der Küste, dass er niemals auf Bekannte stieß.

Der Park war nicht besonders schön angelegt. Es gab keine befestigten Wege, keine Grillplätze oder Denkmäler. Nur selten begegnete Gray anderen Joggern. Meistens hatte er die bewaldete Hügellandschaft ganz für sich allein.

Genau so gefiel es ihm, denn beruflich hatte er ständig andere Menschen um sich und musste sich mit ihnen auseinandersetzen. Das war der Preis dafür, dass er der Leiter eines riesigen Konzerns war. Er zahlte ihn gern: Es war ihm in die Wiege gelegt worden, einmal das Ruder von HuntCom zu übernehmen.

Weder er noch sonst jemand hatten je daran gezweifelt, dass er seinen Vater eines Tages ablösen und Vorstandsvorsitzender werden würde.

Bis vor Kurzem.

Leise fluchend setzte er sich wieder in Bewegung, als gerade die ersten goldenen Sonnenstrahlen am klaren Horizont emporstiegen.

Beinahe ein ganzes Jahr war vergangen, seit Harry seinen verdammten Heiratsbefehl erteilt hatte. Bald darauf waren die vier Brüder übereingekommen, dass sie sich den Wünschen ihres Vaters beugen mussten: Letztendlich war keiner von ihnen bereit gewesen, genau das kampflos zu verlieren, was ihm am wichtigsten war.

Nachzugeben war Gray nicht leichtgefallen. Er hatte sich erst dazu entschlossen, nachdem der letzte Versuch gescheitert war, Harry zur Vernunft zu bringen. Und dann hatte er von seinen Anwälten einen wasserdichten Vertrag aufsetzen lassen, den Harry nach hitzigen Diskussionen unterzeichnet hatte.

Harry war ein sachlicher und nüchterner Mensch und hatte keine große Begabung, was zwischenmenschliche Beziehungen jeder Art anging. Weder seine Ehen noch seine Bemühungen um so etwas wie ein Familienleben waren sonderlich erfolgreich gewesen – deshalb wollte er nun verhindern, dass seine Söhne wie er endeten. Also mussten sie schaffen, was ihm selbst nie gelungen war: Sie sollten anständige Frauen heiraten, Nachwuchs zeugen und somit ihr Leben von Grund auf umkrempeln.

Gray biss die Zähne zusammen und lief schneller den gewundenen Pfad entlang. Seine Muskeln waren warm und geschmeidig vom jahrelangen Training; sein Kopf hingegen fühlte sich unangenehm kühl und schwer an. Lange Zeit hatte er gehofft, dass sein Vater seinen Fehler mit dem Ultimatum doch noch einsehen würde.

Doch Harry hatte sich unerbittlich gezeigt. Er hatte sogar bereits Kontakt zu Industriellen aufgenommen, die am Kauf von HuntCom-Anteilen interessiert waren.

Bisher war es Gray gelungen, jedes Ziel im Leben zu erreichen. Er hatte jede Aufgabe mit Erfolg lösen können. Doch in dieser verdammten Angelegenheit stand er …

… kurz davor, eine Person über den Haufen zu rennen, die unverhofft mitten auf dem Pfad hockte.

Er war zu schnell, um rechtzeitig anhalten zu können. „Aus dem Weg!“, rief er, aber zum Ausweichen war nicht genug Platz zwischen den dichten Bäumen.

Spontan beschloss er, mit einem großen Satz über die hockende Frau – ja, es schien definitiv eine Frau zu sein – hinwegzuspringen. Genau in diesem Moment richtete sie sich jedoch auf.

Mit voller Wucht prallten sie aufeinander. Sie ging zu Boden. Als er eine Vollbremsung versuchte, schlitterten seine Schuhe über den rutschigen Boden.

Sobald er schließlich zum Stehen kam, drehte er um und lief zurück. Betroffen murmelte er: „Ich habe Sie nicht rechtzeitig gesehen.“

Die Frau lag flach auf dem Bauch. „Ach, wirklich nicht?“, gab sie gedämpft zurück, während sie sich aufrichtete und auf den Knien sitzen blieb. Zwischen dem Bund ihrer grauen Jogginghose und dem Saum des dünnen T-Shirts leuchtete ein Streifen nackter heller Haut in den ersten Strahlen der aufgehenden Sonne.

Gray presste die Lippen zusammen – sowohl wegen des verführerischen Anblicks als auch wegen der ironischen Antwort. „Ich habe noch versucht, Sie zu warnen.“

Sie hob den Kopf und blickte ihn finster an. „Und wenn Sie mir mehr als eine Sekunde Zeit gelassen hätten, dann hätte ich sogar darauf reagieren können.“ Als sie nun aufstehen wollte, bemerkte er, wie wohlgeformt und reizvoll ihr Po war.

„Da haben Sie wohl recht. Lassen Sie mich Ihnen helfen.“ Mit einer Hand ergriff er ihren Arm, ließ aber sofort los, als sie schlagartig erstarrte. „Keine Panik. Ich will nur helfen.“

„Lassen Sie es bleiben. Das kriege ich schon allein hin.“ Mit offenbar steifen Gliedern raffte sie sich mühsam auf und drehte sich zu ihm um. Im nächsten Augenblick geriet sie ins Taumeln.

Er reagierte blitzschnell und fasste sie an den Oberarmen. „Vorsicht.“

Energisch zuckte sie mit den Schultern, um seine Hände abzuschütteln, und sogleich löste er sich von ihr. Sie beugte sich vor und zupfte an den Beinen ihrer Jogginghose.

Er stellte fest, dass der Stoff an beiden Knien zerrissen und blutig war. „Sie sind ja verletzt.“

„Wie kommen Sie denn darauf?“, entgegnete sie sarkastisch.

Gray verzog das Gesicht und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. „Sind Sie mit dem Auto hier?“

„Nein.“

„Schaffen Sie es den Hügel hinunter?“ Sein Handy lag in seinem Wagen. Er könnte einen Krankenwagen rufen und sie verarzten lassen. Dadurch würde er sichergehen, dass sie keine bleibenden Schäden davontragen würde, die ihm oder HuntCom angelastet werden könnten.

Sie nickte und wollte an ihm vorbeigehen. Im nächsten Moment stöhnte sie auf, beugte sich vor und umfasste ihr linkes Knie.

Stützend legte er einen Arm um ihre Schultern. Diesmal ignorierte er, dass sie sich erneut versteifte. „Wenn Sie sich setzen und hier warten, gehe ich schnell hinunter und rufe den Notarzt.“

„Nein.“

„Dann laufe ich mit Ihnen zusammen und stütze Sie. Sie haben die Wahl.“ Ihm fiel auf, dass ihre Hände ebenfalls aufgeschrammt waren. „Irgendetwas sagt mir, dass Sie sich nicht einfach von mir tragen lassen.“

Knapp versicherte sie ihm: „Das wird nicht nötig sein.“

Er musterte sie. In den Strahlen der aufgehenden Sonne glänzte ihr Haar goldbraun. Sie hatte eine zierliche Figur, und dennoch zeichneten sich zugleich sanfte Rundungen unter der Joggingkleidung ab. „Es tut mir sehr leid“, sagte er leise.

Sie presste die Lippen zusammen und blickte ihn an. Die Farbe ihrer Augen konnte er nicht erkennen, nur dass sie dunkel und von langen geschwungenen Wimpern umrahmt waren.

Schließlich entgegnete sie: „Mir auch. Ich bin stehen geblieben, um meinen Schuh zuzubinden.“ Sie wedelte mit dem linken Fuß.

„Das haben wir gleich.“ Behutsam ließ er ihre Schultern los und überzeugte sich davon, dass sie das Gleichgewicht halten konnte. Dann hockte er sich vor sie.

Sie stieß einen kleinen Laut aus.

Er hob den Kopf. „Ist etwas nicht in Ordnung?“

„Es ist nur … Ich … Es ist sehr lange her, dass mir jemand die Schuhe zugebunden hat.“

Sein Kopf war auf einer Höhe mit ihren Oberschenkeln. Er zwang sich, den Blick zu senken. Es fiel ihm schwerer, als ihm lieb war. Als er die Schleife festgezogen hatte, empfahl er ihr: „Machen Sie nächstes Mal lieber einen Doppelknoten.“

Er stand auf und bemerkte, wie ihre Mundwinkel belustigt zuckten. Doch sobald sie einen Schritt machte, verzog sie das Gesicht vor Schmerz.

„Wir müssen Sie ins Krankenhaus bringen.“

„Das ist wirklich nicht nötig.“

„Womöglich haben Sie sich den Fuß verstaucht. Oder sich sogar etwas gebrochen.“

Nachdrücklich schüttelte sie den Kopf. „Es ist nur eine Prellung. Mit Sicherheit.“

„Und Sie haben sich die Haut abgeschürft. Ich muss wenigstens dafür sorgen, dass die Wunden gereinigt werden. Außerdem können Sie ganz offensichtlich das linke Knie nicht belasten.“

Sie bedachte ihn mit einem Blick, den er nicht deuten konnte. „Ich brauche keinen Arzt.“

Und Gray konnte keine Anzeige wegen Körperverletzung gebrauchen. Er hatte seine gehobene Position nicht erreicht, ohne etwas über die Schattenseiten der menschlichen Natur zu lernen. Seiner Erfahrung nach gab es viele gierige Menschen auf der Welt. Er konnte nicht einmal behaupten, dass er in dieser Hinsicht eine Ausnahme bildete. Bisher deutete zwar nichts darauf hin, dass diese Frau ihn belangen wollte. Trotzdem wusste er, dass die Familie Hunt und HuntCom eine besonders reizvolle Zielscheibe darstellten – selbst für Leute, die normalerweise nicht an derartige Dinge dachten.

Das ist nun mal die Realität.

Doch es entsprach ebenfalls der Realität, dass sie verletzt und er verantwortlich dafür war. Schließlich hatte sie ihren Schnürsenkel nicht mit Absicht gelockert.

„Ich bestehe darauf“, entgegnete er entschlossen.

Sie zog die Brauen so hoch, dass sie unter den Ponyfransen verschwanden. „Ach, tun Sie das?“ Sie wollte noch etwas hinzufügen, presste dann aber die Lippen vor Schmerz zusammen.

„Wir können gerne weiter darüber diskutieren, wenn wir Sie von hier weggebracht haben.“

„Sie wollen damit sagen, dass Sie in jedem Fall Ihren Kopf durchsetzen.“

Gray musste lächeln. Es war nun mal eine Tatsache, dass er fast alles schaffte, was er sich vornahm. „Haben Sie etwas gegen Ärzte?“

„Nur gegen ihre Rechnungen. Ich bin gerade in einer Übergangsphase und kann mir ehrlich gesagt keine weiteren Kosten leisten.“

„Was für eine Übergangsphase?“

„Ich bin neu in meinem Job. Meine Krankenversicherung tritt erst in ein paar Wochen in Kraft.“

Alle neuen Angestellten von HuntCom mussten eine Probezeit von neunzig Tagen überstehen, bevor sie versichert wurden. Es war eine übliche Geschäftspraktik, doch er begegnete nun zum ersten Mal persönlich jemanden in der „Übergangsphase“, wie sie es ausdrückte. „Wo arbeiten Sie denn?“

Mit verschlossener Miene presste sie die Lippen zusammen.

Er betrachtete ihr glattes ovales Gesicht näher. Sie war ohne Frage sehr hübsch. Außerdem hatte sie eine Ernsthaftigkeit an sich, die auf ihn beunruhigend entwaffnend wirkte. „Sind Sie neu in dieser Gegend?“, erkundigte er sich.

„Ziemlich.“

„Als Einheimischer darf ich Sie dann nicht in dem Glauben lassen, dass wir uns auf Joggingwegen immer wie Rowdys verhalten.“ Erneut legte er einen Arm um sie.

Diesmal protestierte sie nicht. Sie stützte sich sogar auf ihn, während sie mühsam über den abschüssigen Pfad humpelte.

„Platz da!“, rief eine Männerstimme hinter ihnen.

Gray schob das Mädchen beiseite, sodass der Jogger sie überholen konnte. „Bei ihm hat’s geklappt.“

Sie lachte leise. „Er ist allerdings auch nicht mit achtzig Sachen unterwegs.“

Tatsächlich war er auf der unübersichtlichen Strecke viel zu schnell gewesen. Vermutlich hatte er versucht, vor dem „Unternehmen Brautschau“ davonzurennen, das ihn so belastete. „Sie sollten sich verarzten lassen“, beharrte er. „Die Rechnung übernehme ich.“

Prüfend musterte sie ihn unter ihren langen dichten Wimpern. „Gehören Sie etwa zu den Leuten, die ein Vermögen im Internet gemacht haben oder so?“

„Oder so“, murmelte Gray. Erkannte sie ihn wirklich nicht, obwohl er im Raum Seattle bekannt wie ein bunter Hund war? Oder war sie eine zu gute Schauspielerin? „Was haben Sie gesagt, woher Sie kommen?“

„Ich habe gar nichts dazu gesagt.“

Hinter der nächsten Biegung wurde das Gelände ebener. Eine Viertelmeile fehlte noch bis zu dem Parkplatz, auf dem sein BMW stand. „Wenn ich Sie nicht ins Krankenhaus bringen darf, dann wenigstens in eine Arztpraxis. Sie brauchen Erste Hilfe. Selbst Sie müssen das einsehen.“

Sie blieb stehen und betrachtete ihn forschend. „Warum tun Sie das?“

„Weil ich Sie umgerannt habe?“

„Ja, aber … Ich bin schon ein großes Mädchen. Ich kann selbst auf mich aufpassen.“

„Groß ist relativ. Ich könnte Sie in meine Tasche stecken.“

„Oder in den Kofferraum.“

Er runzelte die Stirn. „Sie brauchen sich vor mir nicht zu fürchten, glauben Sie mir.“

Sie wandte den Blick ab.

„Wenn Sie so misstrauisch gegenüber Fremden sind, warum joggen Sie dann so früh am Morgen? Es wird jetzt erst richtig hell, und hier kommen selten Leute vorbei.“

„Ich schiebe es vor der Arbeit ein. Und warum sind Sie zu dieser Stunde hier?“

„Ich schiebe es vor der Arbeit ein“, konterte er.

„Na dann.“ Sie humpelte allein weiter. „Hören Sie, ich will ja nicht unhöflich sein, aber ich brauche Ihre Fürsorge wirklich nicht. Und ich habe noch einiges zu tun, bevor ich zur Arbeit muss.“

Inzwischen konnte Gray den Parkplatz sehen. Nur ein Auto stand dort. Sein eigenes. „Sie wollen also zu Fuß nach Hause?“

„So bin ich auch hergekommen.“

Dass sie sich scheute, zu ihm ins Auto zu steigen, war eine seltsame Erfahrung für ihn. Gewiss gab es Leute, die ihn nicht mochten, aber bisher war ihm nie jemand mit so viel Misstrauen begegnet. Sollte er über sich selbst lachen, weil ihn das so erstaunte? Oder sollte er ihr zu ihrer Vorsicht gratulieren?

Unzählige Dinge standen auf seinem Terminkalender für diesen Tag, zu denen auch einer Besprechung mit Harry zählte. Dennoch widerstrebte es ihm, diese junge Frau einfach gehen zu lassen. Zumal ihm aufgefallen war, dass sie keinen Ring an ihrer schlanken Hand trug.

Dies schien eine außerordentlich günstige Gelegenheit zu sein – das war der einzige Grund für sein Interesse. Es lag nicht an den reizvollen großen Augen, die so sanft und tiefgründig wirkten.

„Kann ich jemanden für Sie anrufen? Einen Ehemann? Oder einen Freund?“

„Ich habe keinen.“

Insgeheim atmete er auf. „Wenn Sie schon nicht zum Arzt gehen wollen, darf ich Ihnen dann wenigstens Verbandszeug spendieren? Das ist das Mindeste, was ich für Sie tun kann, Miss …?“ Fragend hob er die Brauen und wartete.

„White. Amelia White.“

Braun mit goldenen Pünktchen. So sahen ihre Augen aus. Das erkannte er nun, da die Sonne richtig aufgegangen war. „Es freut mich, Sie kennenzulernen, Amelia. Ich bin …“, begann er und zögerte beinahe unmerklich, „… Matthew Gray.“

Sie deutete mit dem Kopf zu dem BMW. „Ich nehme an, der gehört Ihnen, Matthew Gray.“

„Firmenwagen“, erwiderte er, was zumindest nicht ganz geschwindelt war. Er war verwundert, dass sie offenbar tatsächlich keine Ahnung hatte, wer er war. Und es kränkte ihn auch ein bisschen.

Sie merkte nichts von seinem angekratzten Ego und stieß einen leisen Pfiff aus. „Was für eine Firma?“

„Eine Vertriebsgesellschaft“, improvisierte er.

„Das muss sehr einträglich sein“, sagte sie so milde und ernst, dass er nicht sicher war, ob es sarkastisch gemeint war oder nicht.

Autor

Allison Leigh
<p>Allison Leigh war schon immer eine begeisterte Leserin und wollte bereits als kleines Mädchen Autorin werden. Sie verfasste ein Halloween-Stück, das ihre Abschlussklasse aufführte. Seitdem hat sich zwar ihr Geschmack etwas verändert, aber die Leidenschaft zum Schreiben verlor sie nie. Als ihr erster Roman von Silhouette Books veröffentlicht wurde, wurde...
Mehr erfahren