Neubeginn in Virgin River

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Von vorn anfangen, das wünscht sich Mel Monroe von ganzem Herzen! Nach dem Tod ihres Mannes kann sie das Leben in der Großstadt nicht mehr ertragen - es gibt zu viele Erinnerungen. Da kommt der Job im beschaulichen Virgin River gerade recht. Allerdings beginnt der Neuanfang mehr als holprig: mieses Wetter, das Haus eine Ruine. Schnell stellt Mel fest, dass das Landleben nicht so idyllisch ist wie gedacht. Doch der attraktive Barbesitzer Jack setzt alles daran, sie vom Gegenteil zu überzeugen …

Band 1 der Romanreihe »Virgin River« von Bestsellerautorin Robyn Carr: Jetzt als Netflix-Serie!


  • Erscheinungstag 18.02.2020
  • Bandnummer 1
  • ISBN / Artikelnummer 9783745752199
  • Seitenanzahl 416
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Blinzelnd sah Mel in die Dunkelheit und den Regen hinaus, während sie die schmale, kurvenreiche Straße entlangschlich, die von dunklen Bäumen überschattet wurde und durch die Nässe sehr rutschig war. Und zum hundertsten Mal fragte sie sich: Bin ich jetzt völlig verrückt geworden? Dann vernahm sie einen dumpfen Aufschlag, als das rechte Hinterrad ihres BMW von der Straße auf den Seitenstreifen abrutschte und im Matsch versank. Schlingernd kam der Wagen zum Stillstand. Sie trat aufs Gaspedal, um den Wagen wieder auf die Straße zu bringen, doch außer dass die Räder durchdrehten, passierte nichts.

Ihr erster Gedanke war: Jetzt habe ich alles vermasselt.

Sie schaltete die Deckenbeleuchtung an und sah auf ihr Handy. Schon über eine Stunde hatte sie keinen Empfang mehr, seitdem sie von der Bundesstraße abgebogen und in die Berge gefahren war. Genauer gesagt, war es mitten in einer recht lebhaften Diskussion mit ihrer Schwester Joey, als die steilen Berge und die unglaublich hoch aufragenden Bäume das Signal abgeblockt und die Verbindung unterbrochen hatten.

„Ich kann nicht fassen, dass du das wirklich tust“, hatte Joey gesagt. „Ich hatte gehofft, du würdest noch zur Besinnung kommen. Das bist doch nicht du, Mel! Du bist einfach kein Mädel vom Lande!“

„Ach? Nun, wie es aussieht, werde ich das wohl sein. Ich habe den Job angenommen und alles verkauft, damit ich nicht in Versuchung gerate zurückzugehen.“

„Hättest du nicht einfach mal eine Auszeit nehmen oder vielleicht an eine kleine Privatklinik gehen können? Einfach mal versuchen, in Ruhe über alles nachzudenken?“

„Ich will bloß, dass alles anders wird“, hatte Mel entgegnet. „Ich will niemals wieder mit so einem Kriegsschauplatz zu tun haben, wie es dieses Krankenhaus war! Natürlich kann ich es bloß vermuten, aber ich gehe davon aus, dass ich hier in den Wäldern nicht mehr so oft gerufen werde, um ein Crack-Baby zur Welt zu bringen oder Schusswunden zu versorgen. Die Frau sagte, dass Virgin River ein ruhiger und sicherer Ort ist und dass hier nicht viel passiert.“

„Und dann sitzt du im Wald fest. Weit und breit kein Coffeeshop. Und man wird dich mit Eiern und Schweinshaxen bezahlen und …“

„Und keine Patientin wird mir mehr in Handschellen vorgeführt und von einem Gefängnisbeamten bewacht.“ Bei dem Gedanken atmete Mel tief durch und lächelte sogar. Dann sagte sie: „Schweinshaxen? Oh … oh … Joey, gleich bin ich wieder unter den Bäumen. Kann sein, dass die Verbindung abbricht …“

„Warte noch! Es wird dir leidtun. Du wirst es bedauern. Es ist verrückt und unüberlegt und …“

An diesem Punkt gab es dann, Gott sei Dank, kein Funksignal mehr. Joey hatte ja recht. Mit jeder weiteren Meile zweifelte Mel zunehmend daran, ob ihre Flucht aufs Land die richtige Entscheidung war.

Nach jeder Kurve war die Straße schmaler geworden und der Regen ein wenig stärker. Es war erst sechs Uhr, aber bereits stockdunkel. Die Bäume standen so dicht und hoch beieinander, dass nicht einmal mehr die sinkende Nachmittagssonne hindurchscheinen konnte. Natürlich gab es auf dieser kurvigen Strecke auch keinerlei Straßenbeleuchtung. Der Wegbeschreibung nach müsste sie sich in der Nähe des Hauses befinden, wo sie ihre neue Arbeitgeberin treffen sollte, aber sie wagte nicht, ihr im Matsch stecken gebliebenes Auto zu verlassen und zu Fuß zu gehen. Schließlich könnte sie sich in diesem Wald verlaufen und für immer verloren gehen.

Stattdessen fischte sie die Bilder aus ihrer Aktentasche. Sie wollte versuchen, sich ein paar der Gründe, weshalb sie diesen Job angenommen hatte, ins Gedächtnis zu rufen. Da waren Fotos, die ein idyllisches kleines Dorf zeigten. Die holzverschalten Häuser besaßen eine Frontveranda und Giebelfenster. Da war ein altmodisches Schulhaus abgebildet, ein Kirchturm, Stockrosen, Rhododendronbüsche und Apfelbäume in voller Blütenpracht. Nicht zu vergessen die sattgrünen Wiesen, auf denen Vieh graste. Es gab ein Konditorei-Café, einen kleinen Lebensmittelladen, eine kleine frei stehende Bücherei, die nur aus einem Raum bestand, und das hinreißende Ferienhäuschen im Wald, das ihr gemäß Arbeitsvertrag für ein Jahr mietfrei zur Verfügung stehen würde.

Der Ort war umgeben von fantastischen Sequoia-Redwoods und Nationalparks, die sich Hunderte von Meilen weit über die Wildnis der Trinity- und Shasta-Gebirge hinweg erstreckten. Der Virgin River, dem das Dorf seinen Namen verdankte, war breit, lang und tief. In ihm waren riesige Lachse, Störe und Forellen zu Hause. Im Internet hatte sie sich Bilder aus diesem Teil der Welt angesehen und war schnell davon überzeugt gewesen, dass es kein schöneres Fleckchen auf Erden geben könne. Und klar – alles, was sie nun zu sehen bekam, waren Regen, Matsch und Dunkelheit.

Nachdem sie sich einmal entschlossen hatte, aus Los Angeles wegzugehen, hatte sie ihren Lebenslauf bei der Schwesternagentur eingereicht und eine der Vermittlerinnen hatte Virgin River vorgeschlagen. Der Dorfarzt würde langsam alt und brauche Hilfe, hieß es. Eine Frau aus dem Ort, Hope McCrea, war bereit, ein kleines Haus zur Verfügung zu stellen und auch ein Jahresgehalt zu stiften. Die Kreisverwaltung wollte mindestens ein Jahr lang die Rechnung der Haftpflichtversicherung übernehmen, um zu gewährleisten, dass es in diesem abgelegenen, ländlichen Teil der Welt einen praktischen Arzt und eine Hebamme gab. „Ich habe Mrs. McCrea Ihren Lebenslauf und Ihre Empfehlungsschreiben gefaxt“, sagte die Vermittlerin, „und sie will Sie haben. Vielleicht sollten Sie einmal dort hochfahren und sich den Ort ansehen.“

Mel ließ sich die Telefonnummer geben und rief noch am selben Abend an. Virgin River war zwar sehr viel kleiner, als sie es sich vorgestellt hatte, aber dafür war Mrs. McCrea sehr überzeugend. Bereits am nächsten Morgen hatte Mel begonnen, ihren Plan, Los Angeles zu verlassen, in die Tat umzusetzen. Das war kaum einmal zwei Wochen her.

Weder der Schwesternvermittlung noch irgendjemandem in Virgin River war bekannt, wie verzweifelt Mel Abstand zu ihrem alten Leben gewinnen wollte. Schon seit Monaten träumte sie von einem Neubeginn, von Ruhe und Frieden. Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann sie zuletzt eine Nacht ruhig durchgeschlafen hatte. Die Gefahren der Großstadt, wo das Verbrechen alle Wohngebiete zu überrollen schien, hatten begonnen, sie fertigzumachen. Schon ein Gang zur Bank oder in ein Geschäft versetzte sie in Angst. Überall schien Gefahr zu lauern. Ihre Arbeit in dem mit dreitausend Betten ausgestatteten Bezirkskrankenhaus und Traumazentrum brachte es mit sich, dass sie einfach zu viele Opfer von Verbrechen pflegen musste. An die Täter mochte sie gar nicht erst denken, die bei der Flucht oder ihrer Verhaftung verletzt worden waren und dann auf der Station oder in der Notaufnahme an ihre Betten gefesselt und von Polizeibeamten bewacht wurden. Was von Mels Seele noch übrig war, war verletzt und schmerzte. Und hinzu kam die grenzenlose Einsamkeit, die sie in ihrem leeren Bett empfand.

Ihre Freunde hatten sie gedrängt, gegen den Impuls anzukämpfen, in ein kleines unbekanntes Dorf zu flüchten, aber sie hatte bereits an einer Trauergruppe teilgenommen, Einzeltherapie gemacht und in den letzten neun Monaten häufiger Kirchen aufgesucht als in den letzten zehn Jahren. Und nichts hatte geholfen. Das Einzige, was sie ein wenig ruhiger werden ließ, war die Vorstellung, sich in irgendein kleines Dorf auf dem Lande zurückzuziehen, wo die Menschen ihre Türen nicht verschließen mussten und nichts weiter zu befürchten hatten, als dass die Rehe in ihren Gemüsegarten einbrachen. Es müsste geradezu paradiesisch sein.

Jetzt aber, während sie in ihrem Wagen saß und unter der Deckenleuchte die Fotos betrachtete, wurde ihr bewusst, wie lächerlich sie sich angestellt hatte. Mrs. McCrea hatte ihr geraten, für ihre Arbeit auf dem Lande nur strapazierfähige Kleidung einzupacken, Jeans und Stiefel also. Und was hatte sie getan? Ihre Stiefel stammten von Stuart Weitzman, Cole Haan und Frye, und sie hatte sich nicht gescheut, die stattliche Summe von vierhundertfünfzig Dollar pro Paar hinzulegen. Die Jeans, mit denen sie vorhatte, Ranchen und Farmen zu besuchen, waren von Rock & Republic, Joe’s, Lucky und 7 For All Mankind. Sie kosteten zwischen hundertfünfzig und zweihundertfünfzig das Stück. Für ihren Haarschnitt und die Strähnchen hatte sie pro Sitzung dreihundert Dollar gezahlt. Nachdem sie während der Jahre am College und auch noch als examinierte Krankenschwester lange Zeit jeden Pfennig hatte umdrehen müssen, hatte sie, sobald sie als Oberschwester über ein sehr gutes Gehalt verfügte, ihre Liebe für die schönen Dinge entdeckt. Den größten Teil ihres Arbeitstages verbrachte sie schließlich in OP-Klamotten, und wenn sie die ablegte, wollte sie einfach gut aussehen.

Mit Sicherheit würden die Fische und Rehe zutiefst beeindruckt sein.

Während der letzten halben Stunde war ihr nur einmal ein alter Laster auf der Straße begegnet, und Mrs. McCrea hatte sie auch nicht darauf vorbereitet, dass die Straßen hier steil und gefährlich waren, voller Haarnadelkurven und jäh abfallenden Steilhängen. An manchen Stellen war die Straße so schmal, dass zwei Autos nur mit Mühe aneinander vorbei fahren konnten. Fast war sie froh, als es dunkel wurde, denn so konnte sie wenigstens das Scheinwerferlicht entgegenkommender Autos vor den scharfen Kurven erkennen. Ihr Wagen war auf der Standspur der Bergseite stecken geblieben, nicht auf der Seite des Abhangs, wo es keine Leitplanken gab. Da saß sie nun, im Wald verirrt und dem Schicksal ausgeliefert. Seufzend drehte sie sich um, griff nach ihrem schweren Mantel, der auf den Kisten lag, die sie auf den Rücksitzen verstaut hatte, und zog ihn nach vorne. Sie hoffte, dass Mrs. McCrea auf ihrem Weg von oder zu dem Haus, wo sie verabredet waren, hier vorbeikäme. Andernfalls würde sie wohl die Nacht im Auto verbringen müssen. Sie hatte noch zwei Äpfel, ein paar Cracker und zwei Käsesnacks dabei. Blöderweise aber keine Cola light mehr. Morgen früh würde sie vor lauter Koffeinentzug zittern und Kopfschmerzen haben.

Und weit und breit kein Starbucks. Sie hätte sich wirklich besser eindecken können.

Sie stellte den Motor ab, ließ aber die Scheinwerfer an für den Fall, dass ein Auto die enge Straße passieren würde. Falls man sie nicht rettete, wäre die Batterie bis zum Morgen leer. Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen. In ihrer Vorstellung tauchte ein sehr vertrautes Gesicht auf: Mark. Manchmal war das Bedürfnis, ihn noch einmal zu sehen, wenigstens noch einmal kurz mit ihm sprechen zu können, einfach überwältigend. Ganz abgesehen von ihrer Trauer – sie vermisste ihn einfach. Vermisste es, einen Partner zu haben, auf den sie sich verlassen konnte, auf den sie nachts wartete, neben dem sie erwachte. Selbst ein Streit wegen seiner langen Arbeitszeiten erschien ihr jetzt geradezu reizvoll. Er hatte ihr einmal gesagt: „Du und ich, das ist für immer.“

Dieses „für immer“ hatte vier Jahre gedauert. Von nun an würde sie alleine sein, und sie war erst zweiunddreißig Jahre alt. Er war tot. Und sie innerlich gestorben.

Ein lautes Klopfen an der Fensterscheibe ließ sie hochfahren, und sie hätte nicht sagen können, ob sie tatsächlich geschlafen hatte oder nur in Gedanken verloren gewesen war. Es war der Griff einer Taschenlampe, der so hart geklungen hatte, und dieser steckte in der Hand eines alten Mannes. Seine finstere Miene war so erschreckend, dass sie glaubte, nun müsse genau das eintreten, was sie befürchtet hatte.

„Missy“, rief er, „Missy, Sie stecken im Schlamm fest.“

Sie ließ das Fenster runter, und der Nebel legte sich ihr feucht aufs Gesicht. „Ich … ich weiß. Ich bin auf einen matschigen Seitenstreifen geraten.“

„Diese Blechkiste wird Ihnen hier nicht viel nützen“, sagte er.

Also wirklich, Blechkiste! Es war ein nagelneues BMW Cabrio. Einer ihrer vielen missglückten Versuche, sich die Qual der Einsamkeit zu erleichtern. „Nun, das hat mir niemand gesagt! Aber vielen Dank, dass Sie mich aufklären.“

Sein dünnes weißes Haar klebte dem alten Mann nass am Kopf, und seine buschigen weißen Augenbrauen schossen spitz nach oben. Regentropfen glitzerten auf seiner Jacke und rannen von seiner großen Nase. „Bleiben Sie nur sitzen. Ich werde die Kette an Ihrer Stoßstange befestigen und Sie rausziehen. Wollen Sie zum Haus der McCrea?“

Nun gut, es war ja genau das, was sie sich gewünscht hatte – ein Ort, an dem jeder jeden kannte. Sie wollte ihm noch sagen, dass er darauf achten sollte, die Stoßstange nicht zu zerkratzen, aber alles, was sie stotternd herausbrachte, war ein: „J … ja.“

„Es ist nicht weit. Sie können hinter mir herfahren, wenn ich Sie rausgezogen habe.“

„Danke“, sagte sie.

Also würde sie schließlich doch noch zu einem Bett kommen. Und falls Mrs. McCrea ein Herz besaß, würde es auch etwas zu essen und zu trinken geben. Sie begann, sich ein glühendes Feuer in dem Häuschen auszumalen. Wie der Regen auf das Dach prasselte, während sie sich auf dem frisch bezogenen Bett tief in eine Daunendecke kuschelte. Endlich sicher und geschützt.

Ihr Wagen ächzte und schien sich zu strecken. Schließlich kam er mit einem Ruck aus dem Loch heraus und stand auf der Straße. Der alte Mann schleppte sie noch ein Stückchen weiter, bis sie wieder sicheren Boden unter den Rädern hatte. Dann hielt er an und nahm die Kette ab. Er warf sie hinten auf die Ladefläche seines Autos und bedeutete ihr, ihm zu folgen. Dagegen hatte sie nichts einzuwenden, denn falls sie noch einmal stecken bleiben sollte, wäre er gleich zur Stelle, um sie wieder herauszuziehen. Sie folgte ihm in kurzem Abstand und brachte Unmengen von Scheibenreiniger zum Einsatz, um zu verhindern, dass der Matsch, den sein Truck aufspritzen ließ, ihr völlig die Sicht nahm.

Es dauerte keine fünf Minuten, und der Blinker des Trucks leuchtete auf. Sie folgte ihm, als er an einem Briefkasten rechts abbog. Die Zufahrt war schmal, holprig und voller Schlaglöcher. Sie erreichten jedoch schnell eine Lichtung, wo der Truck in großem Bogen wendete, um gleich wieder zurückfahren zu können. Damit gab er Mel den Weg frei, und schon stand sie vor … einer armseligen Hütte!

Das war kein reizendes kleines Ferienhäuschen. Gut, es besaß ein Giebeldach und eine Veranda, aber wie es aussah, war diese nur noch an einer Seite befestigt, während sie auf der anderen schräg abfiel. Die Holzverschalung war schwarz vom Regen und wirkte alt. Eins der Fenster war mit einem Brett vernagelt. Weder von innen noch von außen war das Haus beleuchtet, und es stieg auch kein heimeliger Rauch aus dem Kamin.

Auf dem Beifahrersitz lagen noch die Fotos. Sie hupte und sprang gleich darauf aus dem Wagen, während sie in einer Hand die Fotos hielt und sich mit der anderen die Kapuze ihrer Wolljacke über den Kopf zog. Als sie auf den Truck zulief, kurbelte der Alte sein Fenster herunter und sah sie an, als ob sie eine Schraube locker hätte.

„Sind Sie sicher, dass dies das Haus von Mrs. McCrea ist?“, fragte sie ihn.

„Klar.“

Sie zeigte ihm das Foto von dem süßen kleinen Ferienhäuschen mit Spitzdach, Adirondack-Stühlen auf der Veranda und vielen mit bunten Blumen gefüllten Töpfen, die an der Balustrade hingen. Auf dem Bild war alles in Sonnenlicht gebadet.

„Hmm“, sagte er. „Es ist schon eine Weile her, dass es so aussah.“

„Das hat man mir nicht gesagt. Sie hat mir versichert, ich könnte ein Jahr lang mietfrei in dem Haus wohnen. Zusätzlich zum Gehalt. Ich soll dem Arzt im Ort helfen. Aber das hier …?“

„Wusste gar nicht, dass der Doc Hilfe braucht. Er hat Sie doch nicht eingestellt, oder?“

„Nein. Man hat mir gesagt, er würde langsam zu alt, um mit der ganzen Arbeit im Dorf fertig zu werden, und dass sie einen anderen Arzt brauchen werden. Aber für ein Jahr oder so würde ich reichen.“

„Und wozu?“

Sie sprach lauter, damit er sie im Regen verstehen konnte. „Ich bin Krankenschwester und approbierte Hebamme.“

Das schien ihn zu amüsieren. „Ach, wirklich?“

„Kennen Sie den Arzt?“, fragte sie.

„Jeder kennt hier jeden. Vielleicht hätten Sie erst einmal herkommen sollen, um sich den Ort anzusehen und den Doc kennenzulernen, bevor Sie sich entscheiden.“

„Ja, sieht so aus“, räumte sie zerknirscht ein. „Lassen Sie mich kurz mein Portemonnaie holen, damit ich Ihnen etwas dafür geben kann, dass Sie mich da rausgezogen haben …“ Aber er winkte sofort ab.

„Ich will dafür kein Geld von Ihnen. Hier wirft niemand mit Geld für Nachbarschaftshilfe um sich.“ Und während er eine seiner wilden Augenbrauen hochzog, fügte er humorvoll hinzu: „Also, wie es aussieht, dürfte sie Sie über den Tisch gezogen haben. Das Haus hier steht seit Jahren leer.“ Er gluckste. „Mietfrei! Hah!“

Scheinwerferlicht fiel in die Lichtung, als nun ein alter Suburban die Zufahrt herauffuhr. Als er angekommen war, sagte der alte Mann: „Da ist sie. Viel Glück.“ Und dann lachte er. Tatsächlich wieherte er vor Lachen, während er davonfuhr.

Mel stopfte das Foto unter ihre Jacke und blieb im Regen neben ihrem Auto stehen, während der Geländewagen parkte. Sie hätte auf die Veranda gehen können, um sich vor den Naturgewalten in Sicherheit zu bringen, aber die machte ihr doch einen allzu instabilen Eindruck.

Die Karosserie des Suburban lag hoch über riesigen Reifen. Dieses Ding würde auf keinen Fall im Matsch stecken bleiben. Er war ziemlich vollgespritzt, aber man konnte doch erkennen, dass es sich um ein älteres Modell handelte. Die Fahrerin richtete das Scheinwerferlicht aufs Haus und ließ es an, als sie die Tür öffnete. Dann stieg eine winzig kleine ältere Frau aus dem Geländewagen. Sie hatte dichtes, kräftiges weißes Haar und trug eine Brille mit schwarzem Rahmen, die viel zu groß für ihr Gesicht war. Ihre Füße steckten in Gummistiefeln, und in ihrem Regenmantel war kaum etwas von ihr zu erkennen, aber sie musste weniger als ein Meter fünfzig groß sein. Sie warf eine Zigarette in den Schlamm und kam mit einem breiten Lächeln, bei dem sie die Zähne aufblitzen ließ, auf Mel zu. „Willkommen!“, rief sie betont fröhlich, und Mel erkannte die tiefe, kehlige Stimme, mit der sie telefoniert hatte.

„Willkommen?“, imitierte Mel sie. „Willkommen?“ Sie zog das Foto aus der Jacke hervor und hielt es der Frau entgegen. „Dies“, mit dem Finger tippte sie auf das Haus auf dem Bild, „ist nicht das!“ Sie deutete auf die heruntergekommene Hütte.

Völlig ungerührt antwortete Mrs. McCrea: „Richtig, man muss das Haus ein wenig auf Vordermann bringen. Ich hatte vorgehabt, gestern hierherzukommen, aber dann ist mir der Tag aus dem Ruder gelaufen.“

„Auf Vordermann bringen? Mrs. McCrea, es bricht zusammen! Sie haben gesagt, es sei hinreißend! Von liebenswert haben Sie gesprochen!“

„Also wirklich“, beschwerte sich Mrs. McCrea, „bei der Schwesternagentur haben sie mir nicht gesagt, dass Sie so melodramatisch sind.“

„Und mir wurde nicht gesagt, dass Sie unter Wahnvorstellungen leiden!“

„Nun aber mal langsam. So kommen wir doch nicht weiter. Möchten Sie im Regen stehen bleiben, oder wollen Sie mit hineinkommen und sehen, was wir da haben?“

„Ehrlich gesagt, ich würde am liebsten gleich wieder umdrehen und diesen Ort hinter mir lassen, aber ich fürchte, ohne einen Geländewagen werde ich nicht weit kommen. Das ist noch so eine Kleinigkeit, die zu erwähnen Sie vergessen haben.“

Ohne darauf einzugehen, stapfte der kleine Wicht die drei Stufen zur Veranda des Häuschens hinauf. Sie brauchte keinen Schlüssel, um die Tür zu öffnen, sondern setzte ihre Schulter ein, um sie mit einem kräftigen Ruck aufzustoßen. „Vom Regen aufgequollen“, erklärte sie mit heiserer Stimme und war schon im Innern des Hauses verschwunden.

Mel ging ihr nach, stampfte aber nicht wie Mrs. McCrea über die Veranda, sondern prüfte sie vorsichtig bei jedem Schritt. Da war eine gefährliche Neigung, aber vor der Tür schien sie doch einigermaßen stabil zu sein. In dem Moment, als Mel die Tür erreichte, ging drinnen ein Licht an, und dem schwachen Lichtschein folgte gleich darauf eine immense Staubwolke, als Mrs. McCrea das Tischtuch ausschüttelte. Mel blieb die Luft weg, und hustend zog sie sich wieder auf die Veranda zurück. Nachdem sie sich erholt hatte, atmete sie einmal tief die kalte, feuchte Luft ein und wagte sich dann wieder hinein.

Wie es aussah, war Mrs. McCrea damit beschäftigt, trotz des ganzen Schmutzes in diesem Haus aufzuräumen. Sie schob die Stühle an den Tisch, blies den Staub von den Lampenschirmen und stellte mit Buchstützen die Bücher in den Regalen auf. Mel sah sich um, aber nur aus Neugier. Sie wollte bloß sehen, wie schrecklich alles war, denn sie würde auf gar keinen Fall hierbleiben. Da stand eine abgewetzte Couch mit Blumenmuster, ein dazu passender Stuhl und eine Ottomane, eine alte Truhe, die als Couchtisch diente, und ein Bücherregal aus Ziegeln und rohen Brettern. Nur ein paar Schritte weiter und vom Wohnzimmer durch einen Tresen abgetrennt befand sich die kleine Küche. Die hatte kein Putztuch mehr gesehen, seit zuletzt jemand ein Essen hier zubereitet hatte. Vermutlich vor ein paar Jahren. Die Türen des Kühlschranks und des Ofens standen offen; ebenso die meisten Schranktüren. Die Spüle war mit Geschirr und Töpfen vollgestopft, und in den Schränken stapelten sich staubige Teller und Unmengen von Tassen, alles viel zu schmutzig, um es gebrauchen zu können.

„Ich bedaure, aber das hier ist wirklich inakzeptabel“, sagte Mel laut.

„Es ist doch nur ein bisschen Schmutz. Weiter nichts.“

„Da liegt ja ein Vogelnest im Ofen!“ Mel war jetzt völlig außer sich.

Mit ihren matschigen Gummistiefeln kam Mrs. McCrea in die Küche geschlurft, griff in den Ofen hinein und zog das Vogelnest heraus. Sie ging zum Eingang und warf es in den Hof. Dann schob sie die Brille auf der Nase nach oben, sah Mel an und sagte in einem Ton, der bedeutete, dass ihre Geduld wirklich einer harten Probe unterzogen wurde: „Jetzt gibt es kein Vogelnest mehr.“

„Verstehen Sie doch, ich weiß wirklich nicht, ob ich das aushalte. Dieser alte Mann in dem Transporter musste mich ein Stück weiter unten auf der Straße aus dem Matsch ziehen. Ich kann hier nicht bleiben, Mrs. McCrea. Das steht außer Frage. Außerdem habe ich Hunger und nichts zu essen dabei.“ Sie lachte hohl. „Sie haben gesagt, dass eine angemessene Unterkunft für mich vorbereitet sei, und ich hatte Sie so verstanden, dass Sie damit ‚sauber‘ meinten, und auch, dass genug Lebensmittel vorhanden wären, die mir über die ersten zwei Tage hinweghelfen, bis ich selbst einkaufen könnte. Aber das hier …“

„Sie haben einen Vertrag“, hielt ihr Mrs. McCrea vor.

„Den haben Sie auch“, konterte Mel. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie irgendjemanden davon überzeugen können, dass das hier ‚angemessen‘ oder ‚vorbereitet‘ genannt werden kann.“

Mrs. McCrea richtete ihren Blick nach oben. „Immerhin regnet es nicht durch. Das ist ein gutes Zeichen.“

„Ich fürchte, das reicht nicht ganz.“

„Diese verfluchte Cheryl Creighton sollte hier runterkommen und es ordentlich putzen. Aber drei Tage hintereinander hatte sie irgendwelche Entschuldigungen. Sie wird wohl wieder trinken, nehme ich an. Im Wagen habe ich Bettzeug, und ich werde Sie auch mitnehmen, damit Sie ein Essen bekommen. Morgen früh wird alles schon wieder besser aussehen.“

„Gibt es hier nichts anderes, wo ich heute Nacht bleiben könnte? Ein Bed & Breakfast? Ein Motel an der Bundesstraße?“

„Bed & Breakfast?“ Hope lachte. „Haben Sie etwa den Eindruck, dies hier könnte eine Touristenattraktion sein? Die Bundesstraße ist eine Stunde entfernt, und das ist kein gewöhnlicher Regen. Ich habe ein großes Haus, aber kein einziges Zimmer frei. Es ist bis unters Dach mit Mist vollgestopft. Wenn ich einmal sterbe, werden sie ein Streichholz dranhalten müssen. Es würde die ganze Nacht dauern, auch nur die Couch freizuschaufeln.“

„Es muss doch etwas geben …“

„Am ehesten noch das Haus von Jo Ellen. Sie hat ein schönes Zimmer über der Garage, das sie nicht braucht und manchmal vermietet. Aber Sie würden dort nicht wohnen wollen. Ihr Mann kann nämlich schon ein Problem sein. Der hat sich von mehr als einer Frau in Virgin River eine Ohrfeige gefangen. Und dann Sie – im Nachthemd, Jo im Tiefschlaf. Und er kommt auf dumme Gedanken. Er ist ein Grapscher. Das kann man so sagen.“

Oh Gott, dachte Mel. Mit jeder Sekunde kam ihr dieser Ort schlimmer vor.

„Ich sag Ihnen, was wir tun werden, Mädchen. Ich werde jetzt den Boiler anstellen, den Kühlschrank und die Heizung, und dann gehen wir essen.“

„In dem Konditorei-Café?“

„Das wurde vor drei Jahren geschlossen.“

„Aber Sie haben mir doch ein Bild davon geschickt, so als ob ich dort im nächsten Jahr mittags oder abends essen gehen könnte.“

„Mein Gott, diese Details. Sie können sich wirklich ganz schön in was hineinsteigern.“

„Hineinsteigern?“

„Los, jetzt setzen Sie sich schon in den Wagen! Ich komme gleich nach“, befahl Mrs. McCrea und ließ Mel einfach stehen, ging zum Kühlschrank und bückte sich, um ihn anzuschließen. Sofort sprang das Licht an. Sie langte hinein, regulierte die Temperatur und schloss die Tür. Mit einem ungesund schleifenden Geräusch setzte sich der Motor des Kühlschranks in Gang.

Wie befohlen begab Mel sich zu dem Suburban. Dieser lag nun allerdings so weit über dem Boden, dass sie sich an der Innenseite der offenen Tür festhalten und letztlich beinahe hineinkriechen musste. Hier fühlte sie sich dann doch sehr viel sicherer als im Haus, wo ihre Gastgeberin damit beschäftigt war, den Gasboiler anzuzünden. Flüchtig schoss es ihr durch den Kopf, dass es geradezu eine Schadensbegrenzung wäre, wenn er explodieren und das Haus in die Luft jagen würde.

Vom Beifahrersitz aus konnte sie über die Schulter hinweg erkennen, dass im Fond des Suburban jede Menge Kissen, Decken und Kisten verstaut waren. Vermutlich Ausstattungsmaterial für die Bruchbude, dachte sie. Nun, falls ich es heute Nacht nicht schaffe, von hier wegzukommen, könnte ich notfalls im Wagen schlafen. Mit all diesen Decken werde ich mich wohl kaum zu Tode frieren. Aber dann, sobald es hell wird …

Ein paar Minuten später kam Mrs. McCrea aus dem Haus und zog die Tür hinter sich zu, ohne sie abzuschließen. Mel war beeindruckt, mit welcher Behändigkeit die alte Frau in den Suburban stieg. Sie setzte einen Fuß auf das Trittbrett, hielt sich mit einer Hand am Griff über der Tür fest, legte die andere auf die Armlehne und hüpfte direkt in den Sitz. Sie saß auf einem ziemlich dicken Kissen, und der Sitz war weit nach vorne geschoben, damit sie die Pedale erreichen konnte. Ohne ein Wort zu verlieren, ließ sie den Wagen an und fuhr gekonnt auf dem schmalen Zufahrtsweg zurück auf die Straße.

„Bei unserem Gespräch vor ein paar Wochen haben Sie mir gesagt, dass Sie ziemlich hart im Nehmen sind“, erinnerte sich Mrs. McCrea.

„Das bin ich auch. Ich habe die letzten zwei Jahre die Frauenstation in unserem Bezirkskrankenhaus geleitet, das dreitausend Betten hat. Da hatten wir ständig mit den schwierigsten Fällen und den hoffnungslosesten Patienten zu tun, und wenn ich das einmal selbst so sagen darf, ich habe dort verdammt gute Arbeit geleistet. Davor war ich jahrelang im Zentrum von L. A. auf der Unfallstation. Auch ein ziemlich harter Posten, nach allgemeinem Verständnis. Als Sie von ‚hart‘ sprachen, bin ich davon ausgegangen, dass Sie das im medizinischen Sinne meinten. Ich wusste nicht, dass Sie eine erfahrene Pionierin suchen.“

„Guter Gott, Sie können sich ja vielleicht aufregen. Nach einer Mahlzeit werden Sie sich besser fühlen.“

„Das hoffe ich auch“, sagte Mel, dachte jedoch: Ich kann hier nicht bleiben. Es war völlig verrückt, und ich gebe es zu und werde so schnell wie möglich wieder von hier verschwinden. Das Einzige, wovor sie wirklich zurückschreckte, war, es Joey gegenüber einräumen zu müssen.

Während der Fahrt schwiegen sie. Mel wusste nicht, was sie hätte sagen sollen, und war im Übrigen davon fasziniert, wie leicht, schnell und geschickt Mrs. McCrea den riesigen Suburban handhabte, mit dem sie im Regen über die von Bäumen gesäumte Straße und durch die engen Kurven holperten.

Sie hatte sich eine Pause von Schmerz, Einsamkeit und Angst erhofft. Eine Befreiung von dem Stress, der sich im Umgang mit Patienten ergab, die entweder Täter oder Opfer von Verbrechen waren oder völlig verarmt hoffnungslos ihrem verhängnisvollen Schicksal ausgeliefert. Als sie die Fotos des reizenden Dörfchens gesehen hatte, konnte sie sich sofort einen anheimelnden Ort ausmalen, wo die Menschen sie brauchen würden. In ihrer Vorstellung sah sie sich bereits, wie sie unter den Dankesbekundungen der rotbäckigen Landpatienten aufblühte. Schon immer hatte ihr sinnvolle Arbeit dabei geholfen, schwierige persönliche Probleme zu meistern. Und abgesehen davon war es eine Erleichterung, dem Smog und dem Verkehrslärm entfliehen und in der unberührten Schönheit der Wälder zur Natur zurückkehren zu können. Nur hatte sie einfach nie daran gedacht, so weit zur Natur zurückzukehren.

Die Aussicht, im abgelegenen Virgin River den Frauen, die vermutlich überwiegend nicht versichert waren, bei der Geburt ihrer Kinder helfen zu können, hatte den Ausschlag gegeben. Die Arbeit als Krankenschwester war zwar befriedigend, aber ihre eigentliche Berufung sah sie in der Geburtshilfe.

Joey war jetzt ihre ganze Familie. Sie hatte sich gewünscht, Mel würde nach Colorado Springs kommen und dort bei ihr, ihrem Mann Bill und den drei Kindern wohnen. Mel aber hatte nicht ihre Stadt gegen eine andere tauschen wollen, selbst wenn Colorado Springs wesentlich kleiner war. Da ihr jetzt aber nichts Besseres mehr einfiel, würde sie wohl gezwungen sein, sich dort nach Arbeit umzusehen.

Als sie bemerkte, dass sie etwas durchkreuzten, das einem Dorf ähnlich sah, verzog sie wieder das Gesicht. „Ist das der Ort? Der sah auf den Fotos, die Sie mir geschickt hatten, aber auch anders aus.“

„Ja, Virgin River. So wie es ist. Bei Tageslicht sieht es sehr viel besser aus, das steht fest. Verfluchter Regen. Der März bringt uns immer dieses scheußliche Wetter. Dort drüben, das ist Docs Haus. Dort hält er seine Sprechstunde ab. Aber er macht auch viele Hausbesuche. Dort drüben, das ist die Bücherei“, erklärte Mrs. McCrea. „Dienstags geöffnet.“

Sie fuhren an einer freundlich wirkenden Kirche mit Turm vorbei. Sie schien zwar verbarrikadiert zu sein, aber immerhin erkannte Mel sie wieder. Dort drüben war der Laden, der ebenfalls älter und renovierungsbedürftiger wirkte als auf den Fotos. Der Besitzer war gerade dabei, die Tür für die Nacht zu verriegeln. Entlang der Straße standen etwa ein Dutzend Häuser, alle alt und klein. „Wo ist die Schule?“, fragte Mel.

„Welche Schule?“, fragte Mrs. McCrea zurück.

„Die auf dem Bild, das Sie der Agentur geschickt hatten.“

„Hmm. Keine Ahnung, wo ich das herhatte. Wir haben keine Schule. Noch nicht.“

„Oh Gott“, stöhnte Mel.

Die Straße war breit, jedoch dunkel und verlassen. Eine Straßenbeleuchtung gab es nicht. Die alte Frau musste ihre uralten Fotoalben durchforstet haben, um diese Bilder zu finden. Vielleicht hatte sie aber auch einfach in anderen Dörfern irgendwelche Aufnahmen gemacht.

Gegenüber der Arztpraxis parkte Mrs. McCrea vor einem Gebäude, das wie ein riesiges Landhaus aussah. Es hatte eine breite Veranda und einen großen Vorhof. Erst als sie im Fenster ein Neon-Schild „GEÖFFNET“ entdeckte, wurde Mel klar, dass es eine Art Gasthaus oder Café sein musste. „Kommen Sie schon“, forderte Mrs. McCrea sie auf. „Jetzt wollen wir einmal Ihren Bauch aufwärmen und auch Ihre Stimmung.“

„Vielen Dank“, sagte Mel in dem Versuch, höflich zu sein. Sie hatte Hunger und wollte nicht wegen ihrer schlechten Manieren auf ein Abendessen verzichten müssen. Allerdings war sie davon überzeugt, dass außer ihrem Magen nichts aufgewärmt würde. Sie sah auf die Uhr. Es war sieben.

Bevor sie eintraten, schüttelte Mrs. McCrea ihren Regenmantel auf der Veranda aus. Mel hatte weder Mantel noch Schirm dabei. Ihre Jacke war inzwischen durchnässt, und sie roch wie ein feuchtes Schaf.

Kaum war sie eingetreten, war sie aber angenehm überrascht. Der Raum war dunkel und holzgetäfelt, und in einem großen gemauerten Kamin brannte ein Feuer. Die geschliffenen Holzdielen glänzten vor Sauberkeit, und irgendetwas roch angenehm nach Essen. Über den Regalen hinter einer langen Theke, auf denen die Flaschen mit den alkoholischen Getränken standen, hing ein riesiger Fisch an der Wand und an einer anderen ein Bärenfell, das so groß war, dass es die halbe Wand bedeckte. Und über der Tür war der Kopf eines Rehs angebracht. Wow! Eine Jagdhütte? Es gab ungefähr ein Dutzend Tische ohne Tischtücher. Und nur einen einzigen Gast an der Theke. Es war der alte Mann, der sie aus dem Schlamm gezogen hatte und der jetzt über einen Drink gebeugt dort saß.

Hinter der Theke stand ein großer Mann. Er trug ein kariertes Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln und polierte mit einem Geschirrtuch ein Glas. Er schien so Ende dreißig zu sein und hatte braunes, kurz geschnittenes Haar. Als sie eintraten, reckte er zur Begrüßung kurz das Kinn und hob die markanten Augenbrauen. Und dann weiteten seine Lippen sich zu einem Lächeln.

„Setzen Sie sich hierher“, sagte Hope McCrea und deutete auf einen Tisch in der Nähe des Kamins. „Ich werde Ihnen etwas holen.“

Mel zog ihre Jacke aus und hängte sie zum Trocknen über einen Stuhl. Um sich zu wärmen, rieb sie ihre eiskalten Hände vor dem Feuer. Das war mehr, als sie erwartet hatte – ein behagliches, sauberes Haus, ein offener Kamin und auf dem Herd ein fertiges Gericht. Auf die toten Tiere hätte sie gut verzichten können, aber so war das nun einmal in Jagdgebieten.

„Hier“, sagte die alte Frau und drückte ihr ein kleines Glas mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit in die Hand. „Das wird Sie aufwärmen. Jack hat einen Eintopf auf dem Herd und wärmt gerade das Brot auf. Wir werden Sie schon wieder auf die Beine bringen.“

„Was ist das?“, fragte Mel.

„Brandy. Glauben Sie, dass Sie das hinunterbringen?“

„Darauf können Sie sich verlassen.“ Dankbar nahm Mel einen Schluck und fühlte, wie die brennende Wärme in ihren leeren Magen strömte. Einen Moment lang hielt sie die Augen geschlossen und genoss die unerwartet gute Qualität. Dann sah sie wieder zur Theke hinüber, der Barkeeper war jedoch verschwunden. „Der Kerl dort“, sagte sie schließlich und wies auf den einzigen Gast, „er hat mich aus dem Graben gezogen.“

„Doc Mullins“, erklärte Mrs. McCrea. „Sie können ihn sofort kennenlernen, falls Sie es fertigbringen, sich vom Kamin zu entfernen.“

„Ach, wozu?“, entgegnete Mel. „Ich sagte Ihnen ja bereits – ich werde nicht bleiben.“

„Auch gut“, meinte die alte Frau erschöpft. „Dann können Sie ja gleichzeitig Hallo und Auf Wiedersehen sagen. Kommen Sie schon.“ Sie drehte sich um und ging auf den alten Arzt zu, und mit einem müden Seufzer folgte ihr Mel. „Doc, das ist Melinda Monroe, falls du ihren Namen nicht bereits kennst. Miss Monroe, darf ich vorstellen, Doc Mullins.“

Mit schnupffeuchten Augen blickte er von seinem Drink auf und sah sie an, aber seine arthritischen Hände ließen das Glas nicht los. Er nickte nur einmal kurz.

„Nochmals vielen Dank, dass Sie mich da rausgezogen haben“, sagte Mel.

Der alte Arzt nickte ein zweites Mal und widmete sich dann gleich wieder seinem Getränk.

So viel zu der freundlichen Atmosphäre kleiner Dörfer, dachte Mel. Mrs. McCrea ging zurück ans Feuer und ließ sich dort auf einen Stuhl fallen.

„Entschuldigen Sie“, wandte Mel sich nochmals an den Arzt. Der sah sie über den Rand seines Glases hinweg zwar an, aber mit seinen zusammengezogenen buschigen weißen Brauen wirkte seine Miene geradezu grimmig. Sein weißes Haar lag so dünn über dem gefleckten Schädel, dass es fast aussah, als hätte er mehr Haare in seinen Brauen als auf dem Kopf. „Ich freue mich, Sie kennenzulernen. Sie brauchen also Hilfe hier oben?“ Er funkelte sie nur weiter an. „Sie wollen keine Hilfe? Was ist denn nun?“

„Ich brauche keine großartige Hilfe“, kam die schroffe Antwort. „Aber diese Alte will schon seit Jahren einen anderen Arzt, der mich ersetzen soll. Sie ist besessen davon.“

„Und warum ist das so?“, fragte Mel mutig weiter.

„Keine Ahnung.“ Er starrte wieder in sein Glas. „Vielleicht kann sie mich nicht leiden. Und da ich sie nicht besonders mag, ist es auch egal.“

Der Barkeeper, der vermutlich auch der Besitzer der Bar war, kam mit einer dampfenden Schale in der Hand aus der Hintertür, blieb aber am Ende der Theke stehen und sah zu, wie Mel mit dem Arzt sprach.

„Nur keine Sorge“, erwiderte Mel, „ich bleibe eh nicht. Es wurde alles völlig falsch dargestellt. Ich werde morgen früh wieder abfahren, sobald der Regen nachlässt.“

„Jetzt haben Sie also Ihre Zeit verschwendet, nicht wahr?“, fragte er, ohne sie anzusehen.

„Ja, sieht so aus. Es ist schon schlimm genug, dass der Ort nicht so ist, wie man es mir erzählt hat. Jetzt wird aber alles noch komplizierter, weil Sie ja gar keinen Bedarf an einer Krankenschwester oder Hebamme haben?“

„Sie sagen es.“

Mel seufzte. Hoffentlich würde sie einen guten Job in Colorado finden.

Ein junger Mann, ein Teenager, trug ein Gestell mit Gläsern aus der Küche in die Bar. Mit seinen kurz geschnittenen dicken braunen Haaren, dem Flanellhemd und den Jeans sah er dem Barkeeper ziemlich ähnlich. Ein hübscher Junge, dachte Mel und betrachtete sein ausgeprägtes Kinn, die gerade Nase und die dichten Augenbrauen. Als er das Gestell unter den Tresen schieben wollte, unterbrach er seine Arbeit und starrte Mel überrascht an. Er bekam große Augen, und einen Moment lang öffnete sich sein Mund. Sie neigte den Kopf leicht zur Seite und schenkte ihm ein Lächeln. Langsam schloss er den Mund wieder, blieb aber weiter regungslos mit den Gläsern in der Hand stehen.

Mel wandte sich von dem Arzt und dem Jungen ab und ging wieder auf den Tisch zu, an dem Mrs. McCrea saß. Der Barkeeper stellte die Schale mit dem Eintopf, die Teller und das Körbchen mit den Servietten und dem Besteck vor sie hin und blieb dann abwartend hinter einem Stuhl stehen, den er für Mel bereithielt. Jetzt, aus der Nähe, sah sie erst, wie groß und kräftig er war – mindestens ein Meter achtzig und mit beeindruckend breiten Schultern. „Ein schreckliches Wetter für Ihre erste Nacht in Virgin River“, sagte er freundlich.

„Miss Melinda Monroe, das ist Jack Sheridan. Jack, das ist Miss Monroe.“

Mel wollte sie korrigieren und ihnen sagen, dass es Mrs. heißen müsste, tat es dann aber doch nicht, weil sie keine Lust hatte, zu erklären, dass es keinen Mr. Monroe mehr gab. Dr. Monroe, um genau zu sein. Daher sagte sie einfach nur: „Schön, Sie kennenzulernen“, und fügte auf den Eintopf bezogen hinzu: „Danke.“

„Es ist wirklich ein schöner Ort, wenn das Wetter mitspielt“, setzte er das Gespräch fort.

„Davon bin ich überzeugt“, murmelte sie, ohne ihn anzusehen.

„Sie sollten ihm ein bis zwei Tage lang eine Chance geben“, schlug er vor.

Sie tauchte ihren Löffel in den Eintopf und probierte ein wenig. Einen Moment lang hielt er neben dem Tisch die Luft an. Dann sah sie zu ihm auf und sagte einigermaßen überrascht: „Das ist ja köstlich.“

„Eichhörnchen“, bemerkte er trocken.

Sie verschluckte sich.

„Das war nur ein Witz“, erklärte er grinsend. „Es ist Rindfleisch. Maisgefüttert.“

„Verzeihen Sie bitte, wenn mir mein Sinn für Humor etwas abhanden gekommen ist“, erwiderte sie gereizt. „Es war ein langer und ziemlich anstrengender Tag.“

„Ach ja? Dann ist es ja gut, dass ich den Remy schon entkorkt habe.“ Mit diesen Worten begab er sich wieder hinter die Theke, und Mel sah ihm über die Schulter nach. Leise schien er kurz mit dem jungen Mann zu sprechen, der sie weiterhin anstarrte. Sein Sohn, vermutete Mel.

„Ich weiß gar nicht, warum Sie so bissig sind“, sagte Mrs. McCrea. „Bei unserem Telefonat habe ich davon nichts bemerkt.“ Sie griff in ihre Tasche und zog Zigaretten heraus, schüttelte eine aus der Packung und steckte sie an. Daher also die raue Stimme, dachte Mel.

„Müssen Sie jetzt rauchen?“, fragte sie vorwurfsvoll.

„Unglücklicherweise ja“, antwortete Mrs. McCrea und nahm einen tiefen Zug.

Frustriert schüttelte Mel den Kopf und hielt den Mund. Es war alles klar. Morgen früh würde sie wieder abreisen und diese Nacht wohl im Auto verbringen müssen. Warum sollte sie alles noch schlimmer machen, indem sie sich ständig beklagte? Hope McCrea dürfte die Botschaft inzwischen verstanden haben. Also widmete sie sich wieder dem köstlichen Eintopf und nippte an dem Brandy. Als ihr Magen voll und ihr Kopf ein wenig leichter geworden war, fühlte sie sich auch wieder etwas zuversichtlicher. Nun gut, dachte sie. Das ist schon besser. Ich werde die Nacht in dieser Bruchbude schon überleben. Weiß Gott, ich habe Schlimmeres hinter mir.

Neun Monate war es jetzt her, dass ihr Mann Mark nach einer langen Nachtschicht auf der Unfallstation noch an einem Laden angehalten hatte, der Tag und Nacht geöffnet war. Er wollte Milch für sein Müsli kaufen. Was er erhielt, waren drei Kugeln aus kurzer Distanz in die Brust. Er war sofort tot. In einem Laden, wo er und Mel mindestens dreimal die Woche einkaufen gingen, war er in einen Raubüberfall geraten. Das hatte innerhalb von Sekunden das Leben beendet, das sie liebte.

Im Vergleich dazu war es gar nichts, eine regenreiche Nacht im Auto zu verbringen.

Jack brachte Miss Monroe einen zweiten Remy Martin. Eine weitere Schale Eintopf lehnte sie jedoch ab. Er blieb hinter der Theke, während sie aß, trank und Hope anzufunkeln schien, als sie rauchte. Er musste schmunzeln. Das Mädchen hatte Temperament. Und nicht nur das, sie sah auch klasse aus. Zierlich, blond, strahlend blaue Augen, ein kleiner herzförmiger Mund. Und in den Jeans ein Hintern, der einfach bewundernswert war. Nachdem die Frauen gegangen waren, sagte er zu Doc Mullins: „Herzlichen Dank. Du hättest ruhig etwas freundlicher zu dem Mädchen sein können. Hier gab’s nichts Hübsches mehr zu sehen, seit letzten Herbst Bradleys alter Golden Retriever gestorben ist.“

„Hmm“, sagte der Arzt.

Ricky kam hinter die Theke und stellte sich neben Jack. „Genau“, stimmte er aus vollem Herzen zu. „Mein Gott, Doc. Was ist denn mit Ihnen los? Könnten Sie nicht gelegentlich auch mal an andere denken?“

„Komm wieder runter, Junge.“ Jack lachte und legte ihm einen Arm um die Schultern. „Sie spielt nicht in deiner Liga.“

„Ach ja? In deiner aber auch nicht.“ Rick grinste.

„Du kannst gehen, wenn du willst“, sagte Jack. „Heute Nacht wird wohl niemand mehr ausgehen. Und nimm deiner Großmutter etwas von dem Eintopf mit.“

„Ja gut. Danke. Bis morgen.“

Nachdem Rick gegangen war, beugte sich Jack zu Doc hinunter und sagte: „Wenn du ein wenig Hilfe hättest, könntest du doch öfter angeln gehen.“

„Ich brauche keine Hilfe, danke“, war die knappe Antwort.

„Ach, jetzt kommt das schon wieder“, sagte Jack mit einem Lächeln. Alle Vorschläge, die Hope gemacht hatte, um Doc ein wenig zu entlasten, hatte er hartnäckig abgelehnt. Gut möglich, dass Doc der sturste Dickkopf im ganzen Ort war. Obendrein war er alt, litt an Arthritis und schien jedes Jahr ein wenig langsamer zu werden.

„Gib mir noch einen“, forderte der Arzt.

„Ich dachte, wir hätten da eine Abmachung“, sagte Jack.

„Dann eben einen Halben. Dieser verdammte Regen bringt mich noch um. Mir ist kalt bis auf die Knochen.“ Er sah zu Jack hoch. „Ich hab dieses leichtsinnige Mädchen im strömenden Regen aus dem Graben gezogen.“

„Ich bezweifle, dass sie leichtsinnig ist“, sagte Jack. „So viel Glück habe ich nie.“ Jack hielt die Flasche mit dem Bourbon über das Glas des alten Mannes und schenkte ihm einen Schluck ein. Dann stellte er die Flasche aber wieder ins Regal zurück. Er achtete immer darauf, wie viel Doc trank, denn wenn er es nicht tat, könnte es leicht ein wenig überhand nehmen. Auch hatte er keine Lust, in den Regen hinauszugehen, um sicherzustellen, dass Doc heil über die Straße kam. Bei sich zu Hause hatte Doc keinen Alkohol. Er trank nur bei Jack, womit er seinen Konsum unter Kontrolle hielt.

Jack konnte es dem alten Jungen nicht verübeln. Er war überarbeitet und einsam und, gelinde ausgedrückt, etwas ruppig.

„Du hättest dem Mädchen wenigstens einen warmen Schlafplatz anbieten können“, warf Jack ihm vor. „Es ist doch wohl ziemlich offensichtlich, dass Hope es nicht auf die Reihe gebracht hat, dieses alte Haus für sie herzurichten.“

„Mir war nicht nach Gesellschaft zumute.“ Doc hob den Blick und sah Jack ins Gesicht. „Du scheinst sowieso stärker an ihr interessiert zu sein als ich.“

„Sie schien jedenfalls im Moment niemandem hier besonders zu trauen“, sagte Jack. „Aber sie ist doch ein nettes kleines Ding, oder etwa nicht?“

„Kann nicht behaupten, dass mir das aufgefallen wäre“, grummelte Doc. „Jedenfalls hatte ich nicht den Eindruck, dass sie für den Job kräftig genug ist.“

Jack lachte. „Ich dachte, es wäre dir nicht aufgefallen?“ Er selbst zumindest hatte es bemerkt. Sie war vielleicht ein Meter zweiundsechzig groß und mochte fünfzig Kilo wiegen. Sie hatte weiches, gewelltes blondes Haar, das sich in der Feuchtigkeit stärker lockte. Augen, die irgendwie traurig aussahen, doch im nächsten Moment lebhaft funkeln konnten. Ihm hatte gefallen, wie sie kurz aufgeblitzt waren, als sie ihn anfuhr und sagte, sie wäre nicht sonderlich zum Scherzen aufgelegt. Und als sie gegen Doc angetreten war, hatten sie in einer Weise geblitzt, die vermuten ließ, dass sie eine ganze Menge Dinge recht gut im Griff hatte. Das Schönste an ihr aber war der Mund – dieser kleine herzförmige Mund. Oder vielleicht doch ihr Po?

„Ja“, sagte Jack, „du hättest wirklich mal an andere denken und etwas freundlicher sein können. Einmal etwas zur Verbesserung des Szenarios hier beitragen können.“

2. KAPITEL

Als Mel und Mrs. McCrea zurückkamen, war es in der Hütte wärmer geworden, wenn auch natürlich nicht sauberer. Mel schauderte vor dem Schmutz, und Mrs. McCrea warf ihr vor: „Nach unserem Gespräch am Telefon hätte ich nie geahnt, dass Sie so zimperlich sein könnten.“

„Das bin ich auch nicht. Eine Entbindungsstation in einem so großen Krankenhaus wie dem, wo ich herkomme, ist ziemlich glanzlos.“ Und Mel fiel auf, dass sie sich seltsamerweise in diesem chaotischen und manchmal entsetzlichen Umfeld sicherer gefühlt hatte als in dieser wesentlich einfacheren Umgebung. Sie sagte sich, dass der Grund, weshalb sie so aus dem Konzept geraten war, der war, dass man sie offensichtlich beschwindelt hatte. Das und die Tatsache, dass sie dort immer in ein gemütliches und sauberes Zuhause hatte zurückkehren können, egal wie schwierig die Situation auf der Station auch gewesen sein mochte.

Hope überließ ihr Kissen, Decken, Federbetten und Handtücher, und Mel beschloss, dass es sinnvoller war, sich eher dem Schmutz zu stellen als der Kälte. Sie holte nur einen Koffer aus dem Wagen, zog sich ein Sweatshirt und dicke Socken an und bereitete sich ihr Bett auf der staubigen alten Couch. Die fleckige, durchgelegene Matratze sah einfach zu fürchterlich aus.

Wie ein Burrito wickelte sie sich in die Federbetten und kuschelte sich in die etwas muffigen weichen Kissen. Im Badezimmer hatte sie das Licht angelassen und die Tür nicht ganz zugezogen für den Fall, dass sie nachts aufstehen müsste. Und dank der zwei Brandys, der langen Fahrt und dem Stress enttäuschter Erwartungen fiel sie in einen tiefen Schlaf, der ausnahmsweise einmal nicht von Ängsten und Albträumen gestört wurde. Wie ein Wiegenlied trommelte der Regen leise aufs Dach und wiegte sie in den Schlaf. Als ihr am folgenden Tag schwaches Morgenlicht ins Gesicht fiel, erwachte sie und stellte fest, dass sie die ganze Nacht lang nicht einen Muskel bewegt hatte, sondern noch immer eingewickelt war und ruhig gelegen hatte. Entspannt. Mit leerem Kopf.

Das war etwas Seltenes.

Ungläubig blieb sie ein Weilchen liegen. Ja, dachte sie, obwohl es unter den gegebenen Umständen unmöglich scheint, ich fühle mich gut. Dann erschien ihr verschwommen Marks Bild vor Augen, und sie dachte: Was erwartest du? Du hast es doch heraufbeschworen!

Und weiter dachte sie noch: Es gibt keinen Ort, wo du hingehen kannst, um der Trauer zu entfliehen. Warum es also versuchen?

Es hatte einmal eine Zeit gegeben, in der sie völlig zufrieden gewesen war, besonders, wenn sie morgens aufwachte. Sie hatte eine seltsame und lustige Gabe – Musik im Kopf. Jeden Morgen, wenn sie aufwachte, hörte sie als Erstes ein Lied, so klar und deutlich, als käme es aus dem Radio. Jedes Mal war es etwas anderes. Und auch wenn Mel bei Tageslicht nicht in der Lage war, ein Instrument zu spielen oder auch nur einen Ton zu halten, erwachte sie doch jeden Morgen mit irgendeiner Melodie auf den Lippen. Wachte dabei auf, wie sie ein Lied falsch mitsummte. Mark richtete sich dann meist auf, beugte sich auf einen Ellbogen gestützt grinsend über sie, während er darauf wartete, dass sie die Augen aufschlug, und fragte: „Was ist es denn heute?“

„‚Begin the Beguine‘“, antwortete sie dann. Oder auch: „‚Deep Purple‘“, und immer konnte er sich vor Lachen kaum halten.

Nach seinem Tod war die Musik aus ihrem Kopf verschwunden.

In das Federbett eingewickelt, setzte sie sich auf. Das Morgenlicht betonte den Schmutz in der Hütte. Als sie draußen die Vögel singen hörte, sprang sie auf und lief zum Eingang. Sie öffnete die Tür und freute sich über einen klaren, hellen Morgen. Noch immer in das Federbett gewickelt, trat sie auf die Veranda hinaus und blickte nach oben. Jetzt, im Tageslicht, konnte sie erkennen, wie hoch die Pinien, Tannen und Gelbkiefern wirklich waren. Sie ragten mindestens fünfzehn bis achtzehn Meter über die Hütte hinaus, manche sogar wesentlich höher. Noch immer tropfte der Regen, der sie gewaschen hatte, von ihnen ab. Sie waren voller grüner Tannenzapfen, Zapfen, so groß, dass man eine Gehirnerschütterung davontragen könnte, falls einem einer auf den Kopf fiele. Darunter sattgrüne Farne. Sie konnte vier verschiedene Sorten ausmachen, von großstängligen schlappen Fächern bis hin zu zarten Gebilden wie Spitze. Alles wirkte frisch und gesund. Die Vögel sangen und hüpften von Zweig zu Zweig, und der Himmel hatte eine azurblaue Farbe angenommen, wie sie sie in Los Angeles seit zehn Jahren nicht mehr gesehen hatte. Ziellos trieb dort oben eine wattige weiße Wolke, und ein Adler schwang sich mit weit gespannten Flügeln über ihr in die Höhe und verschwand hinter den Bäumen.

Tief atmete sie die Luft dieses frischen Frühlingsmorgens ein. Ah, dachte sie. Es ist wirklich zu schade, dass es mit dem Haus, dem Dorf und dem Arzt nicht funktioniert hat, denn dieses Fleckchen Land ist wunderschön. Unberührt. Kraft spendend.

Sie hörte ein Krachen und runzelte die Stirn. Ohne Vorwarnung gab die Seite der Veranda, die bereits abgesunken war, nun endgültig nach und brach an der schwachen Stelle in sich zusammen. Dadurch ergab sich eine so starke Neigung, dass Mel den Halt unter den Füßen verlor und mit einem lauten Platsch geradewegs in ein tiefes, nasses Schlammloch rutschte. Dort lag sie dann wie ein schmutziger, feuchter, eiskalter Burrito in ihrem Federbett. „Mist“, fluchte sie, wickelte sich aus dem Federbett und kroch die Veranda, die ja steuerbords noch befestigt war, wieder nach oben und ins Haus.

Sie packte ihren Koffer. Das war’s jetzt.

Zumindest waren die Straßen nun passierbar, und bei Tageslicht würde sie auch nicht Gefahr laufen, auf einen schlammigen Standstreifen zu geraten und darin stecken zu bleiben. Dann aber überlegte sie, dass sie vermutlich ohne Kaffee nicht weit kommen würde, und schlug daher die Richtung zurück ins Dorf ein, obwohl ein Instinkt sie drängte, lieber das Weite zu suchen und irgendwo unterwegs einen Kaffee zu trinken. So früh am Morgen würde die Bar vermutlich noch nicht geöffnet sein, aber sie schien wenig Alternativen zu haben. Gut möglich, dass sie aus Verzweiflung an die Tür des alten Arztes klopfen und ihn um Kaffee anbetteln würde, auch wenn der Gedanke, seinem grimmigen Gesicht noch einmal zu begegnen, kaum eine angenehme Vorstellung war. Aber im Haus des Arztes war kein Lebenszeichen auszumachen, und auch auf der anderen Straßenseite, bei Jack, oder im Laden, schien sich nichts zu rühren. Koffein-Junkie, der sie war, versuchte sie es dann doch an der Tür der Bar, und sie sprang auf.

Das Feuer im Kamin brannte. Der Gastraum wirkte auch bei Tageslicht noch immer so einladend wie in der vergangenen Nacht. Er war groß und gemütlich, trotz der Tiertrophäen an den Wänden. Dann war sie überrascht, als sie einen großen glatzköpfigen Mann aus dem hinteren Nebenraum hereinkommen sah, der sich hinter die Theke stellte. In einem Ohr glitzerte ein Ohrring, und er trug ein schwarzes T-Shirt, das sich über seinem enormen Brustkorb spannte. Unter einem seiner aufgekrempelten Ärmel lugte das Unterteil eines großen blauen Tattoos hervor. Hätte ihr nicht schon allein seine Größe den Atem verschlagen, wäre es wohl sein unerquicklicher Gesichtsausdruck gewesen. Seine dunklen buschigen Brauen standen dicht beieinander, als er beide Hände auf die Theke stützte und fragte: „Was möchten Sie?“

„Hmm … Kaffee?“, fragte sie zurück.

Er drehte sich um und griff nach einer Tasse, die er auf die Theke stellte. Dann füllte er sie aus einer bereitstehenden Kanne. Sie dachte daran, sich die Tasse zu nehmen und an einen der Tische zu flüchten, aber sein Aussehen gefiel ihr, offen gesagt, gar nicht. Sie fürchtete, ihn zu beleidigen, und ging daher zur Bar und setzte sich auf den Stuhl, vor dem ihr Kaffee wartete. „Danke“, sagte sie kleinlaut.

Er nickte nur, dann trat er etwas von der Theke zurück und lehnte sich gegen den Tresen hinter ihm, wobei er seine mächtigen Arme vor der Brust verschränkte. Er erinnerte sie an einen Rausschmeißer oder Türsteher in einem Nightclub. Jesse Ventura in Positur.

Sie nahm einen Schluck des starken, heißen Gebräus. Mehr als alle anderen Annehmlichkeiten im Leben schätzte sie eine Tasse wirklich guten Kaffees. „Ah. Wunderbar“, lobte sie. Von dem riesigen Mann kam kein Kommentar. Auch gut, dachte sie. Mir ist eh nicht nach reden zumute.

Ein paar Minuten verbrachten sie so in seltsam kameradschaftlichem Schweigen, bis die Tür aufging und Jack eintrat, die Arme voller Feuerholz. Als er sie sah, grinste er und legte dabei einen schönen Satz gleichmäßiger weißer Zähne frei. Unter dem Gewicht des Holzes spannte sein Bizeps den Stoff seines Jeanshemds, und seine breiten Schultern wurden durch die schmale Taille betont. Ein wenig hellbraunes Brusthaar lugte aus dem offenen Kragen, und sein sauber rasiertes Kinn erinnerte sie daran, dass Wangen und Kinn am Abend zuvor vom Tageswuchs des Bartes leicht überschattet waren.

„Na so was“, rief er. „Guten Morgen.“ Er trug das Holz zum Kamin, und als er sich bückte, um es dort aufzuschichten, musste ihr einfach auffallen, dass er einen breiten, muskulösen Rücken und einen perfekten männlichen Hintern hatte. Die Männer hier in der Gegend dürften allein durch den rauen Alltag des Landlebens ziemlich gut trainiert sein.

Der übergewichtige kahlköpfige Mann hob gerade die Kanne, um ihr noch einmal nachzuschenken, als Jack sagte: „Lass mich das machen, Preacher.“

Jack kam hinter die Bar und „Preacher“ ging durch die Tür, die zur Küche führte. Jack füllte ihre Tasse nach.

„Preacher?“, fragte sie beinahe flüsternd.

„Sein Name ist eigentlich John Middleton, aber den Spitznamen hat er schon seit Langem. Wenn du ihn John rufst, dreht er sich nicht einmal um.“

„Und warum heißt er so?“, wollte sie wissen.

„Nun, er ist ziemlich tugendhaft. Er flucht kaum, man sieht ihn nie betrunken, und er belästigt die Frauen nicht.“

„Er wirkt ein bisschen furchterregend“, sagte sie, die Stimme noch immer gedämpft.

„Ach was, er ist sanft wie ein Kätzchen“, beruhigte sie Jack. „Wie haben Sie die Nacht verbracht?“

„Ganz passabel“, antwortete sie achselzuckend. „Ich dachte, ich könnte den Ort nicht verlassen, ohne vorher noch eine Tasse Kaffee zu trinken.“

„Hope werden Sie wohl jetzt am liebsten umbringen wollen. Sie hatte nicht einmal eine Tasse Kaffee für Sie?“

„Ich fürchte, nein.“

„Es tut mir leid, Miss Monroe. Sie hätten wirklich einen anderen Empfang verdient als das. Ich kann es Ihnen nicht verübeln, wenn Sie das Schlimmste von diesem Ort denken. Wie wär’s mit ein paar Eiern?“ Er wies über die Schulter nach hinten. „Er ist ein guter Koch.“

„Da sage ich nicht Nein“, antwortete sie. „Und nennen Sie mich Mel.“

„Die Abkürzung von Melinda“, bemerkte er.

Dann rief er durch die Tür in die Küche: „Preacher! Wie sieht’s aus mit einem Frühstück für die Lady?“ Zurück an der Theke meinte er: „Also, das Mindeste, was wir tun können, ist, Sie mit einem guten Essen zu verabschieden – falls Sie nicht doch noch dazu überredet werden können, ein paar Tage zu bleiben.“

„Es tut mir leid“, sagte sie. „Diese Hütte – sie ist einfach unbewohnbar. Mrs. McCrea sagte etwas davon, dass irgendwer sie eigentlich putzen sollte, aber wohl Probleme hat, weil sie trinkt?“

„Das könnte Cheryl sein. Ich fürchte, sie hat in dieser Hinsicht tatsächlich ein kleines Problem. Aber Hope hätte jemand anders bitten sollen. Es gibt genug Frauen hier, die gerne ein wenig Arbeit annehmen.“

„Nun, jetzt ist es egal“, sagte Mel und nahm noch einen Schluck. „Jack, das ist der beste Kaffee, den ich je getrunken habe. Vielleicht bin ich aber auch einfach nur so leicht von der kleinsten Annehmlichkeit zu beeindrucken, weil die letzten Tage so schrecklich waren.“

„Nein, er ist wirklich so gut.“ Er runzelte die Stirn, streckte den Arm aus und hob eine Locke von ihrer Schulter. „Haben Sie da etwa Matsch im Haar?“

„Gut möglich“, sagte sie. „Ich stand auf der Veranda und habe die Schönheit dieses angenehmen Frühlingsmorgens genossen, bis die Veranda auf einer Seite wegbrach und mich geradewegs in ein großes, ekliges Schlammloch beförderte. Und danach hatte ich nicht den Mut, die Dusche auszuprobieren. Die ist jenseits von schmutzig. Aber ich dachte eigentlich, dass ich alles entfernt hätte.“

„Oh Mann“, rief er und lachte zu ihrem Erstaunen laut auf. „Schlimmer konnte es ja kaum kommen. Wenn Sie wollen – ich habe eine Dusche in meiner Wohnung. Blitzblank.“ Dann grinste er wieder. „Und sogar weichgespülte Handtücher.“

„Vielen Dank, aber ich glaube, ich werde einfach weiterfahren. Sobald ich an der Küste bin, nehme ich mir ein Hotelzimmer und gönne mir einen ruhigen, warmen, sauberen Abend. Vielleicht leihe ich mir noch einen Film aus.“

„Das klingt gut“, meinte er. „Und dann geht’s wieder zurück nach Los Angeles?“

Sie zuckte die Schultern und antwortete: „Nein.“ Das konnte sie nicht. Vom Krankenhaus bis zu dem Haus, in dem sie gelebt hatten, würde alles nur süße Erinnerungen in ihr wachrufen und ihre Trauer an die Oberfläche treiben. Solange sie in L. A. lebte, konnte sie einfach nicht weiterkommen. Abgesehen davon gab es dort auch nichts mehr für sie … keinen Mann, keine Arbeit. „Es ist Zeit für eine Veränderung. Aber wie es aussieht, war das hier ein zu großer Schritt für mich. Haben Sie immer hier gelebt?“

„Ich? Nein. Erst seit kurzer Zeit. Ich bin in Sacramento aufgewachsen. Damals suchte ich nach einem guten Platz zum Angeln und bin dann geblieben. Das Haus habe ich zu diesem Bar-Restaurant umgebaut und später um den Anbau erweitert, in dem ich wohne. Klein, aber gemütlich. Preacher hat oben ein Zimmer, über der Küche.“

„Was um alles in der Welt hat Sie dazu gebracht, hier zu bleiben? Ich will ja nicht vorschnell urteilen, aber in diesem Ort hier scheint doch wirklich nicht viel los zu sein.“

„Wenn Sie Zeit hätten, würde ich es Ihnen zeigen. Die Gegend ist einfach unglaublich. Über sechshundert Menschen leben im Ort und in der näheren Umgebung. Viele Städter besitzen entlang des Virgin River Ferienhäuser, denn es ist friedlich hier und man kann hervorragend angeln. Im Ort gibt es nur wenig Touristenverkehr, aber ziemlich regelmäßig kommen Angler hier vorbei und während der Jagdsaison auch einige Jäger. Preacher ist für seine Küche berühmt, und es ist der einzige Platz im Ort, wo man ein Bier bekommen kann. Nicht weit von hier gibt’s ein paar Mammutbäume, die einfach Ehrfurcht gebietend sind. Majestätisch. Den ganzen Sommer über kommen viele Camper und Bergwanderer in die Nationalparks. Und der Himmel und die Luft hier draußen – so etwas wird man in einer Stadt einfach nicht finden können.“

„Und Ihr Sohn hilft Ihnen hier?“

„Mein Sohn? Oh“, meinte er und lachte. „Ricky? Er ist ein Junge aus dem Dorf, der fast jeden Tag nach der Schule in die Bar kommt, um ein wenig zu arbeiten. Ein guter Junge.“

„Haben Sie Familie?“, wollte sie wissen.

„Schwestern und Nichten in Sacramento. Mein Vater lebt noch, aber vor ein paar Jahren habe ich meine Mutter verloren.“

Preacher kam mit einem dampfenden Teller, den er mit einer Serviette festhielt, aus der Küche. Er stellte ihn vor Mel auf die Theke, und Jack griff unter den Tresen und legte das Besteck mit einer Serviette dazu. Auf dem Teller lag ein Käseomelett, das herrlich aussah und mit Peperoni, Wurstscheibchen, Früchten, Bratkartoffeln und einer Scheibe Toast umlegt war. Auch ein Glas mit gekühltem Wasser wurde ihr gebracht und ihre Tasse noch einmal mit Kaffee aufgefüllt.

Mel nahm ein wenig von dem Omelett und führte es zum Mund. Es zerschmolz geradezu auf der Zunge, köstlich und fein. „Mmmm“, sagte sie und schloss die Augen. Nachdem sie es heruntergeschluckt hatte, meinte sie: „Zweimal habe ich jetzt hier gegessen, und ich muss sagen, es ist mit das beste Essen, das ich je hatte.“

„Preacher und ich – manchmal bringen wir ganz gute Mahlzeiten zustande. Preacher hat da eine echte Gabe. Und er war kein Koch, als er hierherkam.“

Sie langte noch einmal zu. Wie es aussah, würde Jack dort stehen bleiben, während sie aß, und zusehen, wie sie jeden einzelnen Bissen verschlang. „Also“, setzte sie ihre Unterhaltung fort, „was ist das jetzt für eine Geschichte zwischen dem Arzt und Mrs. McCrea?“

„Nun, woll’n mal sehen“, sagte er, lehnte sich an den Tresen hinter der Bar, breitete die Arme aus und stützte sich mit kräftigen Händen auf beiden Seiten ab. „Sie zanken gerne miteinander. Zwei eigensinnige alte Dickschädel, die sich über nichts einig werden können. Tatsache ist, meiner Meinung nach, dass Doc Hilfe brauchen könnte. Aber ich kann mir vorstellen, Ihnen ist bereits aufgefallen, dass er ein wenig verbohrt ist.“

Den Mund vollgestopft mit der wunderbarsten Eierspeise, die sie je gegessen hatte, konnte sie nur zustimmend brummen.

„Es ist so – in diesem kleinen Dorf kann es vorkommen, dass tagelang niemand ärztliche Hilfe benötigt. Dann gibt es Wochen, in denen jeder nach Doc ruft. Eine Grippe geht um, und drei Frauen stehen kurz vor der Geburt, und gerade dann stürzt auch noch jemand vom Pferd oder vom Dach. Wie es so geht. Und auch wenn er es nicht gerne zugibt, er ist siebzig.“ Jack zuckte die Schultern. „Der nächste Arzt ist mindestens eine halbe Stunde weit weg, und für die Leute draußen auf den Farmen und Ranchen mehr als eine Stunde. Das Krankenhaus ist noch weiter entfernt. Dann müssen wir auch daran denken, was passiert, wenn Doc einmal stirbt, was hoffentlich noch nicht so bald der Fall sein wird.“

Sie schluckte und trank etwas Wasser. „Und was hat Mrs. McCrea mit dem Problem zu tun?“, fragte sie. „Versucht sie wirklich, einen Ersatz für ihn zu finden, wie er sagt?“

„Ach was. Aber wegen seines Alters ist es Zeit, sich nach einer Art Protegé umzusehen, denk ich mal. Hopes Mann hat ihr genug hinterlassen. Sie ist gut versorgt. Soweit ich weiß, ist sie schon eine geraume Zeit verwitwet und tut, was sie kann, um den Ort zusammenzuhalten. Ebenso ist sie auf der Suche nach einem Prediger, einem Polizisten und einem Lehrer für die Grundschule, damit die Kleinen nicht zwei Dörfer weit mit dem Bus fahren müssen. Viel Erfolg hatte sie bislang nicht.“

„Doktor Mullins scheint ihre Bemühungen nicht sonderlich zu schätzen“, bemerkte Mel und tupfte sich die Lippen mit der Serviette ab.

„Er ist mit dem Gebiet verbunden, liebt seinen Beruf und ist weit davon entfernt, an Ruhestand zu denken. Vielleicht macht er sich auch Sorgen, es könnte einmal jemand auftauchen und seine Arbeit übernehmen, und er hätte dann nichts mehr zu tun. Ein Mann wie Doc, der nie geheiratet und sein ganzes Leben dem Dienst an einem Ort gewidmet hat, scheut vor so etwas zurück. Aber … sehen Sie … Es gab da vor ein paar Jahren einen Vorfall, kurz bevor ich hierherkam. Gleichzeitig zwei Notfälle. Ein Laster war von der Straße abgekommen, und der Fahrer war ernsthaft verletzt; und dann ein Kind mit einer schweren Grippe, die sich in eine Lungenentzündung ausgewachsen hatte. Es konnte nicht mehr atmen. Doc konnte die Blutung des Lastwagenfahrers stoppen, aber als er auf der anderen Seite des Flusses zu dem Kind kam, war es zu spät.“

„Oh Gott“, sagte sie. „Ich wette, das hat böses Blut gegeben.“

„Ich glaube nicht, dass ihm jemand wirklich einen Vorwurf macht. Er hat in seiner Zeit hier einige Leben gerettet. Aber der Eindruck, dass er etwas Unterstützung gebrauchen könnte, wurde dadurch verstärkt.“ Er lächelte. „Sie sind die Erste, die hier aufgetaucht ist und Hilfe anbietet.“

„Hmm“, sagte sie und nahm einen letzten Schluck Kaffee. Sie hörte, wie hinter ihr die Tür aufging und zwei Männer hereinkamen.

„Harv. Ron“, grüßte Jack. Die Männer erwiderten den Gruß und setzten sich an einen Tisch beim Fenster. Jack wandte sich wieder Mel zu. „Was hat Sie hierhergeführt?“, wollte er wissen.

„Burnout“, antwortete sie. „Es hat mich krank gemacht, mit Polizisten und Beamten des Morddezernats so vertraut zu sein, dass wir uns mit dem Vornamen angeredet haben.“

„Meine Güte, was hatten Sie denn für einen Job?“

„Waren Sie schon einmal im Krieg?“, fragte sie zurück.

„In der Tat“, sagte er und nickte.

„Nun, in den großen Krankenhäusern und Traumazentren der Stadt sieht es inzwischen ganz ähnlich aus. Nach meinem Examen habe ich jahrelang als Krankenschwester im Zentrum von L. A. auf der Unfallstation gearbeitet, während ich mich zur Hebamme weiterbildete. Und da gab es Tage, die mir vorkamen wie eine Feldschlacht. Wir hatten es mit Verbrechern zu tun, die man zur Unfallstation transportierte, nachdem sie sich bei der Festnahme Verletzungen zugezogen hatten – völlig ausgerastete Typen, die nicht anders zu bändigen waren, als dass drei oder vier Beamte sie festhalten mussten, während eine Schwester dann versuchte, eine Vene zu finden. Drogenabhängige, die so vollgepumpt waren, dass nicht einmal drei Schläge mit dem Elektroschocker eines Officers sie wieder zu sich brachten, geschweige denn eine Dosis Narcan. Und da es das größte Traumazentrum in L. A. war, hatten wir auch mit den schrecklichsten Verkehrsunfällen und Schusswunden zu tun. Dann Verrückte, die unbeaufsichtigt herumliefen und nicht wussten, wo sie hin sollten, die ihre Medikamente nicht einnahmen und … Verstehen Sie mich nicht falsch, wir haben dort gute Arbeit geleistet. Hervorragende Arbeit. Ich bin wirklich stolz auf das, was wir zuwege gebracht haben. Das beste Personal. Vielleicht sogar in ganz Amerika.“

Einen Moment lang sah sie gedankenverloren vor sich hin. Ja, das Umfeld damals war wüst und chaotisch, aber während sie mit ihrem Mann zusammengearbeitet und sich in ihn verliebt hatte, war es ihr eher aufregend erschienen und sie hatte es als befriedigend empfunden. Mit einem leichten Kopfschütteln fuhr sie fort. „Von der Unfallstation bin ich zur Frauenmedizin gewechselt. Es erwies sich als das, wonach ich gesucht hatte. Die Geburtshilfe. Ich fing an, als Hebamme zu arbeiten, und mir wurde klar, dass dies meine eigentliche Berufung war. Aber es war auch dort nicht immer die reinste Wonne.“ Sie lächelte traurig und schüttelte den Kopf. „Meine erste Patientin wurde von der Polizei gebracht, und ich musste schwer darum kämpfen, dass sie ihr die Handschellen abnahmen. Sie erwarteten von mir, dass ich ihr Baby zur Welt brachte, während sie mit Handschellen ans Bett gefesselt war.“

Er lächelte. „Nun, da haben Sie ja Glück. Ich glaube nicht, dass es ein einziges Paar Handschellen hier im Dorf gibt.“

„Es war nicht jeden Tag so, aber oft. Zwei Jahre lang war ich dann Oberschwester auf der Entbindungsstation. Aufregung und Unberechenbarkeit haben mich lange Zeit in Atem gehalten, aber dann bin ich schließlich an eine Grenze gestoßen. Die Arbeit in der Frauenmedizin liebe ich, aber mit den Bedingungen eines Großstadtkrankenhauses komme ich in der Form nicht mehr klar. Gott, ich muss einfach ruhiger treten, ich bin fertig.“

„Das ist aber eine Menge Adrenalin, die Sie da abzubauen haben“, sagte er.

„Allerdings. Man hat mir schon vorgeworfen, ein Adrenalin-Junkie zu sein. Das kommt bei Notfallschwestern häufig vor.“ Sie lächelte ihn an. „Ich versuche, mich zu entwöhnen.“

„Haben Sie schon einmal in einem kleinen Ort gewohnt?“, fragte er und schenkte ihr noch einmal Kaffee nach.

Sie schüttelte den Kopf. „Die kleinste Stadt, in der ich je gelebt habe, hatte mindestens eine Million Einwohner. Ich bin in Seattle aufgewachsen und dann in Süd-Kalifornien aufs College gegangen.“

„Kleine Dörfer können nett sein. Und sie können ihre eigenen Dramen haben. Und auch ihre Gefahren.“

„Zum Beispiel?“, fragte sie und nippte an ihrem Kaffee.

„Überschwemmungen. Feuer. Wilde Tiere. Jäger, die sich nicht an die Vorschriften halten. Gelegentlich ein Krimineller. Hier draußen gibt es viele, die Pot anbauen, aber soweit ich weiß, nicht in Virgin River. Man nennt es hier ‚Humboldt Homegrown‘. Sie sind eine verschworene Gesellschaft und bleiben gewöhnlich unter sich. Kein Interesse daran, Aufmerksamkeit zu erregen. Hin und wieder kommt es aber auch schon einmal zu einem Verbrechen in Zusammenhang mit Drogen.“ Er grinste. „Davon haben Sie in der Stadt bestimmt noch nie etwas gehört, oder?“

„Bei meiner Suche nach einer Veränderung hätte ich es nicht ganz so übertreiben dürfen. Das hier ist fast wie ein Cold Turkey. Vielleicht sollte ich mich lieber langsam entziehen und es erst einmal mit einer Stadt versuchen, die ein paar Hunderttausend Einwohner hat und ein Starbucks.“

„Sie wollen doch wohl nicht behaupten, dass Starbucks einen besseren Kaffee macht als den, den Sie gerade trinken?“, fragte Jack und wies mit dem Kopf auf ihre Tasse.

„Der Kaffee ist hervorragend.“ Sie schenkte ihm ein freundliches Lächeln und fand, dass dieser Kerl in Ordnung war. „Ich hätte mich auch nach dem Zustand der Straßen erkundigen sollen. Wenn ich mir vorstelle, dass ich den Terror auf den Autobahnen in Los Angeles gegen die Kurven und steilen Abhänge in diesen Bergen hier eingetauscht habe, bei denen einem das Herz stehen bleibt … Oh Gott.“ Schon bei dem Gedanken musste sie zittern. „Wenn ich an einem solchen Ort bleiben würde, dann nur wegen Ihrer Küche.“

Die Hände auf den Tresen gestützt, beugte er sich ein wenig zu ihr herüber. Seine dunkelbraunen Augen unter den dichten Brauen strahlten ihr warm entgegen. „Ich könnte das Haus ganz schnell für Sie herrichten“, bot er an.

„Ja, das habe ich schon einmal gehört.“ Sie reichte ihm die Hand, und er ergriff sie. Als er sie leicht drückte, konnte sie seine Schwielen spüren. Er war ein Mann, der harte körperliche Arbeit leistete. „Danke, Jack. Ihre Bar war bei diesem Experiment das Einzige, das mir gefallen hat.“ Sie stand auf und fing an, in ihrer Handtasche nach dem Portemonnaie zu suchen. „Was schulde ich Ihnen?“

„Das geht aufs Haus. Es ist das Mindeste, was ich tun kann.“

„Ach, kommen Sie, Jack. Sie haben doch an all dem keine Schuld.“

„Gut. Dann werde ich Hope eine Rechnung schicken.“

In diesem Moment trat Preacher aus der Küche, in der Hand ein Gericht, das er mit einem Geschirrtuch abgedeckt hatte und an Jack übergab.

„Das Frühstück für Doc. Ich komme mit Ihnen nach draußen.“

„In Ordnung.“

Als sie an ihrem Wagen standen, sagte er: „Ganz im Ernst, ich wünschte, Sie würden es sich noch einmal überlegen.“

„Es tut mir leid, Jack. Das ist wirklich nichts für mich.“

„Ach verflixt. Wir haben einen echten Mangel an hübschen jungen Frauen hier. Kommen Sie gut an.“ Mit einer Hand drückte er sie leicht am Ellbogen, während er mit der anderen das Tablett balancierte. Sie dachte nur, was für ein attraktiver Mann er doch ist. Seine Augen, der kantige Unterkiefer mit dem Grübchen am Kinn. Er besitzt eine Menge Sex-Appeal. Und dann seine lockere Art, die darauf schließen lässt, dass er gar nicht weiß, wie gut er aussieht. Jemand sollte sich ihn an Land ziehen, bevor er es herausfindet. Wahrscheinlich wird es auch schon jemand getan haben.

Mel sah ihm nach, wie er über die Straße zum Haus des Arztes ging, und setzte sich dann ins Auto. In einem weiten Bogen wendete sie auf der verlassenen Straße und fuhr dann den Weg zurück, den sie gekommen war. Vor dem Haus des Arztes nahm sie den Fuß vom Gas, denn sie hatte beobachtet, wie Jack sich auf der Veranda hinhockte und irgendetwas entdeckt zu haben schien. Das zugedeckte Tablett hielt er dabei noch immer in der einen Hand, und mit der anderen signalisierte er ihr, sie solle anhalten. Als er zu ihrem Wagen hinübersah, wirkte er ziemlich geschockt und fassungslos.

Mel bremste und stieg aus. „Alles in Ordnung?“, fragte sie.

Er erhob sich und sagte: „Nein. Könnten Sie für einen Moment hierherkommen, bitte?“

Sie ließ den Wagen mit laufendem Motor und offener Tür stehen und stieg zur Veranda hinauf. Vor der Tür des Arztes stand eine Kiste, und Jack wirkte noch immer völlig bestürzt. Sie hockte sich nieder, sah hinein und entdeckte ein Baby. Es war in eine Decke gewickelt und zappelte unruhig hin und her. „Jesus“, flüsterte sie.

„Nein“, sagte Jack. „Ich glaube nicht, dass es Jesus ist.“

„Als ich vorher hier am Haus vorbeigekommen bin, stand die Kiste noch nicht da.“

Mel hob die Box mit dem Kind auf und bat Jack, sich um ihren Wagen zu kümmern. Dann schellte sie an der Tür des Arztes, und nach einigem nervösen Warten wurde endlich geöffnet. Doc trug einen karierten Flanellmorgenrock, der über seinem dicken Bauch nur locker zusammengebunden war und sein Nachthemd kaum bedeckte, während seine dünnen Beine unten herausstakten.

„Ah, Sie sind es. Immer schwer zu sagen, wann man kündigen soll, nicht wahr? Sie bringen mir mein Frühstück?“

„Mehr als das“, antwortete sie. „Das hier hat jemand auf Ihrer Türschwelle hinterlassen. Irgendeine Vorstellung, wer zu so etwas fähig wäre?“

Er nahm die Decke hoch und sah sich das Baby an. „Es ist ein Neugeborenes“, meinte er. „Wahrscheinlich erst ein paar Stunden alt. Bringen Sie es herein. Es ist doch aber nicht Ihres, oder?“

„Also wirklich“, sagte sie verärgert. Als ob der Arzt nicht wüsste, dass sie nicht nur zu dünn war, um schwanger gewesen zu sein, sondern auch viel zu munter, um gerade eine Geburt überstanden zu haben. „Glauben Sie mir, wenn es meins wäre, hätte ich es nicht hier abgestellt.“

Sie ging an ihm vorbei ins Haus hinein und stellte fest, dass sie sich nicht in einer Wohnung befand, sondern in einer Arztpraxis. Rechts lag das Wartezimmer. Zu ihrer Linken der Empfangsbereich, komplett ausgestattet mit Computer und Aktenschränken hinter einem Tresen. Ohne nachzudenken ging sie weiter nach hinten durch, und als sie ein Untersuchungszimmer entdeckte, dort hinein. Im Moment dachte sie nur daran, sicherzustellen, dass das Kind nicht krank war oder gar dringend ärztliche Hilfe brauchte. Sie stellte die Kiste auf den Tisch, zog ihren Mantel aus und wusch sich die Hände. Auf dem Untersuchungstisch lag ein Stethoskop. Sie fand auch Watte und Alkohol und reinigte die Olivenstecker damit, denn ihr eigenes Stethoskop lag ja verpackt im Auto. Eine Weile hörte sie das Herz des Kindes ab, und die weitere Untersuchung ergab dann, dass es ein kleines Mädchen war, dessen Nabelschnur mit einem Bindfaden abgebunden worden war. Zärtlich und behutsam hob sie die Kleine aus der Box und legte sie auf die Babywaage, während sie beruhigend mit ihm brabbelte.

Inzwischen war auch der Arzt hereingekommen. „Zwei Kilo, neunhundertsechsundsiebzig Gramm“, berichtete sie. „Reif geboren. Herz und Atmung normal. Farbe in Ordnung.“ Dann fing das Baby an zu schreien. „Kräftige Lunge. Irgendwer hat ein perfektes Baby ausgesetzt. Sie müssen dafür sorgen, dass jemand vom Sozialamt hierherkommt.“

Doc lachte trocken. „Klar, sie werden auch ganz bestimmt sofort hier sein.“ In dem Moment tauchte Jack hinter ihm auf und sah über Docs Schulter in den Raum.

„Und was gedenken Sie zu tun?“, fragte sie.

„Ich denke, ich werde etwas Milchpulver auftreiben“, antwortete er. „Das Geschrei klingt nach Hunger.“ Er drehte sich um und verließ das Untersuchungszimmer.

„Um Gottes willen“, stöhnte Mel, wickelte das Kind wieder in die Decke und wiegte es in den Armen.

Autor

Robyn Carr
<p>Seit Robyn Carr den ersten Band ihrer gefeierten <em>Virgin River</em>-Serie veröffentlichte, stehen ihre Romane regelmäßig auf der Bestsellerliste der <em>New York Times</em>. Auch ihre herzerwärmende <em>Thunder Point</em>-Reihe, die in einem idyllischen Küstenstädtchen spielt, hat auf Anhieb die Leserinnen und Leser begeistert. Robyn Carr hat zwei erwachsene Kinder und lebt mit...
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