Gemeinsam stark in Virgin River

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Die Bestsellerreihe zur Netflix-Serie »Virgin River«

Pfarrer Noah Kincaid hat die alte Kirche von Virgin River im Internet ersteigert. Er möchte sie zu neuem Leben erwecken, doch dazu benötigt er Hilfe. Tatsächlich meldet sich jemand auf seine Anzeige – und zwar die vorlaute Ellie Baldwin. Ihre Vergangenheit ist so bunt wie ihre Kleidung. Noah ist skeptisch. Aber je näher er Ellie kennenlernt, desto mehr spürt er: Sie ist genau der frische Wind, den er braucht. Sosehr sie sich auch äußerlich unterscheiden, in ihrem Inneren haben sie dieselben Träume und Sehnsüchte. Und gibt es einen besseren Platz auf der Welt, um sich diese zu erfüllen, als die charmante Kleinstadt?

»Robyn Carr ist eine bemerkenswerte Geschichtenerzählerin.«
The Library Journal


  • Erscheinungstag 26.01.2021
  • Bandnummer 8
  • ISBN / Artikelnummer 9783745752519
  • Seitenanzahl 416
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Dieses Buch widme ich meiner Tochter und besten Freundin, Jamie Lynn. Danke, dass du so ein wundervoller Mensch bist. Ich bin unglaublich stolz auf dich.

1. KAPITEL

Der kürzlich ordinierte Pfarrer Noah Kincaid vertrieb sich die Zeit im Internet und entdeckte dabei durch Zufall, dass eine Kirche über eBay versteigert werden sollte. Die Kirche befand sich in Virgin River – einem kleinen Ort, von dem Noah vorher noch nie gehört hatte. Er lachte über die verrückte Idee, eine Kirche im Internet zu versteigern. Andererseits faszinierte ihn das Angebot aber auch. Er wartete zwar gerade darauf, dass man ihm eine eigene Gemeinde zuwies, fand allerdings, es könne nicht schaden, sich diese Kirche und den Ort einmal persönlich anzuschauen. Und wenn es nur dazu diente, dass er einmal aus der Stadt herauskam und etwas anderes sah. Außerdem hatte er gehört, dass es im nördlichen Kalifornien sehr schön sein sollte.

Das Erste, das ihm auf der Reise auffiel, war die überwältigende Schönheit der Berge, der Mammutbäume und der Flüsse. Das Städtchen selbst wirkte ein wenig heruntergekommen, und die Kirche war in Wirklichkeit nur eine Ruine. Dennoch herrschte in diesem Ort eine friedliche und unkomplizierte Atmosphäre, der sich Noah nicht entziehen konnte. Alles wirkte so frisch und einfach.

In dem kleinen Städtchen nahm man von ihm nicht groß Notiz. Noah fiel auf, dass die männlichen Bewohner entweder militärisch kurz geschnittene Haare hatten oder Pferdeschwanz und Bart trugen, wie die Fischer, mit denen Noah im Laufe der Jahre zusammengearbeitet hatte. Noah fügte sich nahezu nahtlos in das Bild ein. Seine Stiefel waren abgewetzt, seine Jeans verwaschen und an einigen Stellen durchgescheuert, und sein Hemd war an Kragen und Manschetten völlig zerschlissen und wurde an den Ellbogen schon recht fadenscheinig. Sein schwarzes, inzwischen viel zu langes Haar reichte ihm bereits bis über den Hemdkragen. Sobald er eine eigene Gemeinde bekäme, würde er als Erstes zum Friseur gehen und sich die Haare schneiden lassen. Das hatte er sich fest vorgenommen. Doch im Augenblick passte er genau hierher und sah aus wie andere Arbeiter eben auch nach einem harten Tag Arbeit aussahen. Er war genauso fit und gebräunt wie diejenigen, die seit Jahren als Fischer oder Hafenarbeiter arbeiteten, Netze flickten oder täglich den tonnenschweren Fang mit der Kraft ihrer Hände einholten.

Die Kirche war leicht zu finden. Noah benötigte nicht einmal einen Schlüssel, um hineinzugelangen. Der Haupteingang war zwar zugenagelt und die Kirche wirkte wie seit Jahren verlassen, aber die Tür im Seitenschiff war nicht abgeschlossen. Das Innere der Kirche stand, bis auf den Müll, den irgendwelche Besucher im Laufe der Zeit hinterlassen hatten, leer. Vor die zerbrochenen Fenster hatte man Holzlatten angebracht. Als Noah in den Altarraum gelangte, entdeckte er jedoch eine umwerfende Glasmalerei auf einem Kirchenfenster, das zum Schutz von der Außenseite her mit Brettern verschalt war. Es war völlig unbeschädigt.

Später schaute er sich die Gegend um die Kirche herum an. Das dauerte nicht lange. Er trank einen Kaffee in dem einzigen Laden, in dem es etwas zu essen gab, und schoss noch ein paar Fotos mit seiner Digitalkamera, bevor er wieder nach Hause fuhr. Als er wieder in Seattle war, nahm er Kontakt zu der Frau auf, die die Kirche über eBay versteigerte. Sie hieß Hope McCrea. »Diese Kirche ist schon seit Jahren dicht«, klärte sie ihn mit heiserer Stimme auf. »Diese Stadt lebt seit vielen Jahren ohne ein Gotteshaus.«

»Aber Sie sind sich sicher, dass die Stadt eines braucht?«, wollte Noah von ihr wissen.

»Nicht ganz sicher«, antwortete sie ihm. »Aber ein bisschen Religion kann verflucht noch mal nicht schaden. Die Kirche muss entweder wieder für Gottesdienste genutzt oder dem Erdboden gleichgemacht werden. Eine leer stehende Kirche bringt Unglück.«

Darin stimmt Noah völlig mit ihr überein.

Obwohl er sehr mit der Arbeit in der Schule, in der er unterrichtete, beschäftigt war, gingen ihm Virgin River und die Kirche nicht mehr aus dem Kopf.

Er erzählte seinen presbyterianischen Vorgesetzten von der Idee, die Kirche zu kaufen, und erfuhr, dass man dort bereits von der Existenz dieser Kirche gehört hatte. Noah zeigte ihnen die Fotos. Alle Anwesenden stimmten mit ihm in seiner Beurteilung das mögliche Potenzial der Kirche betreffend überein. Der Gedanke, einen ihrer Pfarrer dorthin zu entsenden, erschien ihnen ausgesprochen reizvoll. Virgin River hatte genau die richtige Größe für eine neue Kirchengemeinde. Darüber hinaus gab es außer dieser kleinen Kirche keine weiteren Kirchen in der Stadt. Allerdings würde die Restaurierung vermutlich ein Vermögen kosten, von der Ausstattung ganz zu schweigen. Die Presbyterianer sahen keine Möglichkeit, das entsprechende Budget dafür aufzutreiben. Sie dankten Noah aufrichtig für die Anregung und versprachen ihm, bald eine andere Gemeinde für ihn zu finden.

Die Presbyterianer wussten nicht, dass Noah erst kürzlich zu etwas Geld gekommen war. Für ihn ein kleines Vermögen. Er war fünfunddreißig und hatte seit seinem achtzehnten Lebensjahr immer nur gearbeitet und studiert. Während seiner Zeit an der Universität hatte er nebenbei auf Bootswerften, in Hafenanlagen und auf Fischmärkten im Hafen von Seattle geschuftet, um sich sein Studium zu finanzieren. Doch im vorigen Jahr war seine Mutter gestorben und hatte ihm, zu seiner großen Überraschung, ein ansehnliches Erbe hinterlassen.

Also bot Noah seinen Vorgesetzten an, die finanziellen Mittel für die Renovierung des Gotteshauses zu stiften, wenn sie ihn dafür zum Pastor dieser Gemeinde ernannten. Sein Vorschlag wurde begeistert aufgenommen.

Bevor Noah den Vertrag unterschrieb, rief er seinen besten Freund an, den Mann, der ihn dazu überredet hatte, Pastor zu werden. George Davenport dachte, Noah hätte den Verstand verloren. George war ein ehemaliger presbyterianischer Pfarrer im Ruhestand. Er hatte die letzten fünfzehn Jahre an der Pacific University von Seattle gelehrt. »Ich hätte tausend bessere Ideen, womit du dein Geld verschwenden könntest«, sagte George. »Fahr nach Las Vegas und setze alles auf Rot. Oder finanziere dir eine eigene Missionsstation in Mexiko. Falls diese Menschen wirklich einen Geistlichen brauchten, hätten sie sich längst einen gesucht.«

»Witzig, dass diese Kirche dennoch immer noch völlig ungenutzt in Virgin River herumsteht, als ob sie auf ihre Wiederbelebung warten würde. Es muss doch einen Grund geben, dass sie ausgerechnet mir zufällig auf eBay aufgefallen ist«, erwiderte Noah. »Ich war vorher noch nie auf eBay.«

Nach langem Hin und Her lenkte George schließlich ein. »Wenn die Bausubstanz des Gebäudes prinzipiell noch gut und der Preis in Ordnung ist, könnte es vielleicht klappen. Du könntest diese großzügige Spende steuerlich absetzen. Und die Chance, in einer winzigen, armen Gemeinde irgendwo in den Bergen und ohne Handyempfang als Pastor zu wirken, scheint mir für dich gerade richtig.«

»Noch gibt es dort keine Gemeinde, George«, erinnerte ihn Noah.

»Dann musst du dir eben eine suchen, mein Sohn. Falls jemand dazu in der Lage ist, dann du. Du bist für so etwas geboren. Verstehe mich nicht falsch, ich rede hier nicht von deiner DNA oder deinen Genen, sondern von deinem angeborenen Talent. Ich habe dich beim Fischeverkaufen beobachtet und dachte mir immer, dass da noch mehr dahintersteckt. Geh – wenn es das ist, was du willst. Öffne Türen und Herzen und gib alles, was du zu bieten hast. Außerdem bist du der einzige Pfarrer, den ich kenne, der überhaupt ein paar Cent in der Tasche hat.«

Noah unterschrieb also den Vertrag mit den Presbyterianern und hoffte, dass sich seine Mutter nicht im Grab umdrehte. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, sie hatte ihn heimlich ermutigt, als er vor Jahren fest entschlossen gewesen war, dem theologischen Seminar den Rücken zu kehren. Und sie hatte allen Grund dazu gehabt. Noahs Vater war ein mächtiger, halbprominenter Fernsehprediger – und ein eiskalter Kontrollfreak. Seinetwegen war Noah von zu Hause weggegangen – etwas, was seine Mutter nicht hatte tun können.

Wenn ihm jemand vor siebzehn Jahren, als er vor seinem Vater geflohen war, gesagt hätte, dass er selbst eines Tages einmal als Pfarrer arbeiten würde, hätte er ihn ausgelacht. Und jetzt war er nicht nur Pfarrer, er wollte auch diese Kirche. Diese Ruine einer Kirche in dieser unkomplizierten, friedlichen kleinen Stadt in den Bergen.

Einige Wochen später saß Noah in seinem zwanzig Jahre alten blauen Ford Kombi und zog seinen fünfzehn Jahre alten Wohnwagen, der für die nächste Zeit sein Zuhause sein würde, bis nach Nordkalifornien hinter sich her. Zwischendurch und bevor er unter den hohen Bäumen in den Bergen keinen Empfang mehr haben würde, rief er mit seinem Handy bei George im Büro an. »George, ich bin auf dem Weg nach Virgin River.«

»Und, mein Junge, wie fühlst du dich?« George konnte das leise Lachen in seiner Stimme kaum verbergen. »Fühlt es sich an wie das Geschäft deines Lebens oder eher so, als würdest du in wenigen Tagen völlig abgebrannt auf der Straße sitzen?«

Noah lachte. »Weiß ich noch nicht so genau. Vermutlich werde ich dir diese Frage erst beantworten können, wenn die Kirche wieder in einem präsentablen Zustand ist. Aber, falls es mir nicht gelingt, eine Gemeinde zu gründen, bin ich schneller wieder in Seattle und verkaufe Fisch, als mir lieb ist.« Er bezog sich damit auf seinen ehemaligen Job auf dem Fischmarkt von Seattle. Er hatte im wahrsten Sinne des Wortes mit großen Fischen zu tun gehabt. Es war ihm vorgekommen wie ein nicht enden wollendes Theaterstück. Dabei hatte George ihn entdeckt. »Ich werde sofort mit den Instandhaltungsmaßnahmen beginnen und hoffe, dass das Presbyterium mich nicht im Regen stehen lässt, falls niemand zu den Messen erscheint. Ich meine, soweit man der Kirche vertrauen kann …«

George beantwortete diesen Kommentar mit einem herzhaften Lachen. »Das sind die Letzten, denen man trauen sollte. Diese Presbyterianer denken zu viel! Ich weiß, dass mir die Idee zuerst auch nicht besonders gefiel, Noah, aber ich wünsche dir viel Erfolg. Ich bin stolz auf dich, weil du die Gelegenheit beim Schopf packst.«

»Danke, George. Wir bleiben in Verbindung.«

»Noah«, sagte George diesmal in einem ernsten Tonfall. »Viel Glück, mein Sohn. Ich hoffe, du findest, wonach du suchst.«

Noah traf am ersten Juli mit seinem Wohnwagen in Virgin River ein und steuerte schnurstracks auf die kleine Kirche zu. Vor dem Gebäude parkte ein großer alter Jeep, dessen Reifen mit Schlamm verschmiert waren. Daneben wartete eine winzige alte Frau mit drahtigen weißen Haaren, einer dicken Brille und einer Zigarette, die an ihren Lippen festzukleben schien. Sie trug große Turnschuhe, die aussahen, als seien sie noch nie weiß gewesen, und trotz der sommerlichen Temperaturen ein Jackett mit eingerissenen Taschen. Noah stellte seinen Wagen ab und stieg aus. Die Frau trat die Zigarette aus. Die Lady gehört vermutlich zu den sagenhaften Schönheiten dieser Stadt, dachte er ironisch.

»Sie sind vermutlich Pfarrer Kincaid?«, fragte sie.

Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hatte sie wohl einen feineren Pastor erwartet, kam es Noah in den Sinn. Vielleicht einen, der Kakihosen und ein ordentlich gebügeltes weißes Oberhemd trug? Und polierte Slipper? Einen Pfarrer mit ordentlich geschnittenen Haaren? Oder wenigstens frisch rasiert? Noahs Haare waren zottelig, sein Bart stoppelig, und auf seiner Jeans gab es ein paar Motorölflecken, das Resultat eines unfreiwilligen Halts vor ungefähr hundert Kilometern, als er seinen Kombi hatte reparieren müssen. »Mrs McCrea«, begrüßte er sie und reichte ihr die Hand.

Sie schüttelte sie kurz und übergab ihm die Schlüssel. »Willkommen. Möchten Sie eine Führung?«

»Brauche ich Schlüssel?«, fragte er. »Bei meinem letzten Besuch war das Gebäude nicht abgeschlossen. Ich habe mir die Kirche schon einmal etwas genauer angesehen.«

»Sie haben sie schon gesehen?«, fragte die Frau offensichtlich überrascht.

»Ja. Ich war kurz hier, bevor ich im Namen der presbyterianischen Kirche ein Gebot abgegeben habe. Die Tür war nicht abgeschlossen, deshalb bin ich einfach hineingegangen. Meine Vorgesetzten benötigen von Ihnen lediglich eine Bestätigung des Statikers, dass die Bausubstanz der Kirche grundsätzlich noch in Ordnung ist. Ich habe ihnen bereits eine Menge Fotos gezeigt.«

Hope McCrea schob sich die übergroße Brille auf der Nase zurück. »Sind Sie wirklich Pastor oder arbeiten Sie vielleicht als Geheimagent?«

Er grinste sie an. »Haben Sie geglaubt, die Presbyterianer kaufen die Katze im Sack?«

»Das dachte ich tatsächlich, weil ich mir nichts anderes vorstellen konnte. Gut, wenn damit alles geklärt ist, lassen Sie uns doch zu Jacks gehen – es ist Zeit für meinen Drink. Vom Arzt verordnet. Ich gehe vor.«

»Hat der Arzt Ihnen auch das Rauchen verordnet?«, fragte Noah lächelnd.

»Sie sind verdammt direkt, mein Lieber. Verscherzen Sie es sich lieber nicht mit mir!«

»Den Arzt muss ich kennenlernen«, murmelte Noah, während er ihr folgte. Plötzlich blieb Hope stehen und sah ihn über die Schulter hinweg an. »Er ist tot«, sagte sie nur, drehte sich wieder um und stapfte vor ihm in Jacks Bar.

Noah war erst wenige Tage in der Stadt, als ihn die Suche nach einer Reinigung in den Nachbarort Fortuna führte. Eine schmale, gewundene Bergstraße brachte ihn zum Freeway, und Noah staunte, dass er es mit seinem alten Kombi überhaupt bis nach Virgin River geschafft hatte. Er hatte noch nicht einmal die halbe Strecke nach Fortuna zurückgelegt und schon seine erste Lektion über den dramatischen Unterschied zwischen dem Stadtleben im Hafen von Seattle und dem Leben in den Bergen erhalten.

Am Straßenrand entdeckte er ein regloses Tier, und da die Straße ein paar Meter weiter etwas breiter wurde, konnte er anhalten. Er stieg aus dem Wagen und ging zu dem verletzten Tier zurück. Als er nur noch wenige Meter entfernt war, stellte er fest, dass es sich um einen Hund handelte, der vielleicht von einer Familie vermisst wurde. Er trat näher heran. Das Fell glänzte feucht vor Blut, und Hunderte von Fliegen umschwärmten die Wunden. Noah bemerkte eine schwache Regung. Er hockte sich neben das Tier, das ihn mit offenen Augen und hängender Zunge anschaute. Es atmete zwar noch, doch es schien mit dem Tod zu ringen. Der Zustand der armen Kreatur ging Noah zu Herzen.

In dem Moment kam ein alter Lieferwagen angefahren. Der Fahrer stellte seinen Wagen hinter Noahs Kombi ab. Noah hielt den Mann für einen Bauern oder Viehzüchter. Er trug Jeans, Stiefel, einen Cowboyhut und bewegte sich, als ob er unter Rückenschmerzen litt. »Haben Sie ein Problem?«, fragte der Mann.

Noah musterte ihn kurz. »Der Hund«, sagte er. »Vermutlich von einem Auto angefahren worden. Muss schon etwas her sein. Aber er lebt noch.«

Der Bauer kniete sich neben ihn und sah sich die Sache ebenfalls etwas genauer an. »Hm«, murmelte er, bevor er aufstand. »In Ordnung. Ich kümmere mich darum.«

Noah vertrieb die Fliegen und streichelte dem Hund über den Kopf. »Ruhig, jetzt wird dir geholfen.« Er kraulte den Hund immer noch im Nacken, als die Stiefel des Mannes in Noahs Gesichtsfeld zurückkehrten – zusammen mit einem Gewehrlauf, der auf die Brust des Hundes gerichtet war. »Treten Sie mal einen Schritt zurück, mein Lieber«, sagte der Mann.

»Hey!«, rief Noah und stieß den Gewehrlauf beiseite. »Was tun Sie da?«

»Ich will das arme Viech aus seiner misslichen Lage erlösen«, antwortete der Mann in einem Tonfall, der keinen Zweifel daran ließ, wie lächerlich er diese Frage fand. »Was würden Sie denn unternehmen?«

»Ihn zum Tierarzt bringen«, erklärte Noah, der sich inzwischen erhoben hatte. »Vielleicht kann man dem Hund noch helfen.«

»Mein Lieber, sehen Sie sich das Vieh doch mal an. Es ist völlig ausgemergelt. Der war schon halb tot, bevor er von einem Auto erwischt wurde. Es wäre nicht gut, wenn wir ihn sterbend zurückließen.« Er zielte erneut auf den Hund.

Noah stieß das Gewehr erneut weg. »Wo finde ich den nächsten Tierarzt?«, wollte er wissen. »Ich nehme den Hund mit. Falls der Tierarzt ihm nicht mehr helfen kann, kann er ihn einschläfern, ohne dass man ihn erschießen muss.«

Der Bauer kratzte sich am Kinn und schüttelte den Kopf. »Nathaniel Jensen ist gleich auf dieser Seite von Fortuna zu finden, doch er behandelt eigentlich nur große Tiere, obwohl er selbst zwei Hunde hat. Wenn er nicht helfen kann, dann kann er Ihnen vielleicht jemanden nennen, der es kann. Aber, mein Lieber, dieser Hund wird es nicht mehr bis zum Tierarzt schaffen.«

»Wie komme ich dahin?«, fragte Noah.

»Folgen Sie der Hauptstraße bis zur Ausfahrt 36, und da biegen Sie in die Waycliff Road ein. Dann sehen Sie schon ein Schild, das sie zu den Jensen-Ställen und der Tierklinik von Dr. Jensen führt. Es ist nur ein paar Minuten entfernt von hier die Straße runter.« Der Mann schüttelte immer noch den Kopf. »Es könnte in dreißig Sekunden erledigt sein.«

Noah ignorierte seinen Einwand und ging zu seinem Wagen, um die Beifahrertür zu öffnen. Dann kehrte er zu dem Hund zurück und hob ihn hoch. Bei dieser Gelegenheit entdeckte er, dass es sich um eine Hündin handelte. Das bereits getrocknete Blut störte ihn nicht, allerdings schwirrten die Fliegen um die Wunde herum. Er war sich ziemlich sicher, dass er anschließend ein paar Maden auf seinem Hemd finden würde. Als er beinahe schon wieder an seinem Wagen war, hörte er, dass der Viehzüchter ihm Glück wünschte.

»Ja«, grummelte Noah. »Danke.«

Dr. Nathaniel Jensen entpuppte sich als ein freundlicher Zeitgenosse. Er war ein wenig jünger als Noah und wesentlich hilfsbereiter als der Viehzüchter. Er sah sich die Hündin genauer an und sagte: »Das könnte Lucy sein. Ihr Besitzer war ein hiesiger Viehzüchter. Er kam vor ein paar Monaten oben im Norden in der Nähe von Redding bei einem Unfall ums Leben. Er und das Pferd, das er im Anhänger hatte. Man hat seine Border-Collie-Hündin nie gefunden. Vielleicht wurde sie aus dem Auto geschleudert und verletzt. Oder vielleicht hatte sie auch Angst und ist davongelaufen. Oh, Mann, falls das Lucy ist, wette ich, dass sie versucht hat, nach Hause zu kommen.«

»Gibt es noch eine Familie, die sich um sie kümmern könnte?«

»Das ist der Punkt – der alte Silas war Witwer. Er hatte eine Tochter, die einen Soldaten geheiratet hat und schon vor zwanzig Jahren weggezogen ist. Silas’ Hof und die Ställe wurden sofort verkauft. Die verbliebenen Tiere – Pferde und Hunde – wurden ebenfalls verkauft oder woanders untergebracht. Ich glaube, die Tochter ist nicht einmal zum Verkauf hier heruntergekommen. Ich könnte ein paar Leute anrufen, um herauszufinden, ob jemand weiß, wo sie steckt. Aber das kann dauern, und der alten Lucy bleibt vielleicht nicht mehr so viel Zeit. Die Tochter hat keines der Tiere ihres Vaters aufgenommen. Und wir wissen nicht einmal sicher, ob das …«

»Die alte Lucy?«, fragte Noah.

»So habe ich es nicht gemeint. Sie ist noch gar nicht so alt. Vielleicht drei oder vier Jahre. Silas hatte eine Menge Hofhunde. Hirtenhunde. Doch Lucy war sein Lieblingshund und begleitete ihn überallhin. Sie ist in einem furchtbaren Zustand.«

»Können Sie ihr helfen?«

»Ich könnte ihr eine Spritze geben, ihre mutmaßliche Kopfverletzung behandeln, die Ursache der Blutung finden, Lucy sauber machen und nötigenfalls betäuben, ihr ein paar Antibiotika verpassen und sie im schlimmsten Fall einschläfern – aber das bedeutet größere Ausgaben, die Silas’ einzige Tochter möglicherweise nicht übernehmen wird. Die Leute hier in der Gegend – Bauern und Viehzüchter – sind meistens nicht so sentimental, wenn es um ihre Hunde geht. Sie würden nie mehr ausgeben, als das Tier wert ist.«

»Ich fange langsam an, das zu begreifen«, erklärte Noah und holte sein Portemonnaie heraus. Dann nahm er die Kreditkarte und sagte: »Ich habe noch kein Telefon – ich bin gerade erst angekommen, und hier gibt es kein Handynetz. Ich rufe entweder an, sobald es geht, oder komme kurz vorbei. Tun Sie bitte, was immer Sie für das Tier tun können.«

»Es wäre nichts Schlimmes dabei, sie einfach gehen zu lassen, Noah«, gab der Tierarzt sanft zu bedenken. »So geschunden, wie sie ist, wäre das die Lösung, die die meisten Menschen bevorzugen würden. Und selbst falls sie durchkommt, gibt es keine Garantie, dass aus ihr je wieder ein brauchbarer Hund wird.«

Noah streichelte die Hündin und dachte, von uns kann auch niemand garantieren, brauchbar zu sein, aber wir versuchen es trotzdem. »Geben Sie ihr bitte etwas gegen die Schmerzen und schauen Sie mal, was man noch tun kann.«

»Sind Sie sicher?«, fragte Nathaniel noch einmal.

Noah lächelte. »Ja. Ich rufe Sie morgen Nachmittag an. Und danke.«

Am nächsten Tag erfuhr Noah, dass Lucy ein paar gebrochene Rippen, einige Platzwunden und Abschürfungen hatte. Sie war unterernährt und von Würmern befallen. Außerdem litt sie unter Krämpfen und an einer ernst zu nehmenden Infektion. Dr. Jensen war der Meinung, sie könne sich möglicherweise wieder erholen, doch ihr Allgemeinzustand war sehr schlecht. Der Tierarzt bestand darauf, dass sie kastriert werden müsse, sollte sie jemals wieder zu Kräften kommen. Noah ließ sich darauf ein und gab Nathaniel Jensen die Telefonnummer der benachbarten Bar; für den Fall, dass etwas sein sollte. Wie sich herausstellte, kannte Dr. Jensen den Barbesitzer Jack.

Noah entdeckte recht bald, dass die Kommunikationszentrale von Virgin River sich gleich neben der Kirche in Jacks Bar befand. Jack war ein sehr netter Mensch, der jeden zu kennen und alles zu wissen schien. Er fragte Noah kurz über seine Herkunft und Ausbildung aus und wollte wissen, welche Pläne er mit der Kirche habe. Kurz darauf wusste die ganze Stadt Bescheid. Noah war auf derbe Witze und lockere Sprüche auf Kosten des Pastors, der sich eine Kirche bei eBay ersteigert hatte, gefasst, und er wurde nicht enttäuscht. Dennoch schien es, als ob die Bewohner der Stadt erleichtert auf die Nachricht reagierten, dass er, der von seiner Arbeit auf Fischerbooten und in den Hafendocks vernarbte Hände hatte und der eigentlich eher aussah wie ein arbeitsloser Holzfäller, ein echter ordinierter Pfarrer war. Immerhin wiesen ihn diese Narben als jemanden aus, dem harte körperliche Arbeit nicht unbekannt war.

Noah erklärte ihnen, dass das Gebäude offiziell der Kirche gehörte, aber von einer Gruppe Kirchenältester verwaltet würde, sobald es in Betrieb genommen werden konnte und sich eine Gemeinde gebildet hatte. Irgendwann würde der Besitz der Gemeinde übertragen, die im Laufe der Zeit hoffentlich wachsen und gedeihen und Gelder für den Erhalt des Gebäudes sammeln würde. Seine Pläne? »Wie wäre es denn für den Anfang erst mal mit einem netten Ort, wo sich die Leute versammeln und sich gegenseitig unterstützen und gemeinsam beten könnten?«, hatte Noah geantwortet. »Keine Wiedererweckungsrituale oder Tieropfer, bis wir uns besser kennen.« Und dann hatte er breit grinsend in die Runde geschaut.

Noah schätzte es sehr, dass Jack sich nicht nur um seinen guten Ruf kümmerte, sondern sich nach kurzer Zeit auch schon als Freund entpuppte. Noah ging täglich zu Jacks zum Kaffeetrinken. Dabei lernte er eine Menge Einheimischer kennen. Und Jacks Telefon diente inzwischen als direkte Hotline zum Tierarzt. »Noah, Nate hat angerufen«, richtete ihm Jack aus. »Diese Hündin hält immer noch durch. Es geht ihr besser.«

»Ist sie inzwischen schon mehr wert als mein Ford Kombi?«, fragte Noah.

Jack lachte. »Vermutlich war die Hündin schon mehr wert, als du sie von der Straße gekratzt hast. Ich kenne deinen Kombi, Noah.«

»Wie witzig«, entgegnete Noah. »Mein Auto bringt mich überallhin. Jedenfalls meistens.«

Jacks Freund und Koch, den alle Preacher nannten, bot Noah an, die drahtlose Satelliten-Internet-Verbindung der Bar zu nutzen, um mit dem Laptop E-Mails zu checken und ab und zu etwas im Netz zu recherchieren. Er warnte Noah aber auch eindringlich vor Geschäften mit Hope McCrea.

Wenn Noah nicht gerade damit beschäftigt war, die Kirche auf Vordermann zu bringen oder sich mit der Stadt vertraut zu machen, besuchte er Lucy in Jensens Tierklinik. Da es warm war, hielt Nate sie in einem leeren Stall, wo Noah meist eine Stunde oder so damit verbrachte, neben ihr zu knien, um mit ihr zu reden und sie zu streicheln. Es hatte ungefähr eine Woche gedauert, bis ersichtlich wurde, dass sie durchkommen würde. Nach zehn Tagen ging sie, wenn auch nur sehr langsam, schon wieder herum. »Zeigen Sie mir bloß nicht die Rechnung«, bat Noah Dr. Jensen während einer seiner zahlreichen Besuche. »Ich möchte ungern vor Ihnen in Tränen ausbrechen.«

Es gab kein Pfarrhaus, das Noah sein Zuhause hätte nennen können, aber er fühlte sich wohl in seinem Wohnwagen und hatte außerdem noch den alten Ford, um in den Bergen herumzufahren. Er klopfte an ein paar Türen und ließ die Leute wissen, dass er neu in der Stadt war und vorhatte, die Kirche wieder aufzubauen. Er hatte gehofft, dass sich ein paar Freiwillige melden würden, um ihn bei den Aufräumarbeiten zu unterstützen, doch weil er niemanden darum bitten mochte, hatte bis jetzt auch noch niemand seine Hilfe angeboten. Die Leute schienen extrem freundlich zu sein, dennoch vermutete Noah, dass sie sich noch etwas zurückhielten, bis sie wussten, mit welcher Art von Pastor sie es in seinem Fall zu tun hatten. Gut möglich, dass er ihren Vorstellungen überhaupt nicht entsprach, aber das würde sich erst mit der Zeit erweisen.

Noah hatte so viele Kuchen und Kekse geschenkt bekommen, dass es gereicht hätte, um einen Kuchenbasar zu veranstalten. Die Frauen der Stadt hatten ihm Süßes gebracht, um ihn in der Gegend willkommen zu heißen. Obwohl Noah sich eigentlich erschreckend viel aus süßen Sachen machte, wurde er dieser üppigen Süßspeisen trotzdem so langsam überdrüssig. Deshalb schoss ihm der Gedanke an einen Kuchenbasar durch den Kopf.

Noah besuchte auch das nächstgelegene Krankenhaus – das Valley Hospital. Er sprach mit Patienten und trauernden Hinterbliebenen. Sein Job war zwar das Predigen, aber seine wahre Berufung lag darin, Trost zu spenden.

Da es bislang noch keinen offiziellen Krankenhausseelsorger gab und man nur in Notfällen den örtlichen Geistlichen hinzurief, erkundigte sich Noah einfach bei einer ehrenamtlichen Mitarbeiterin der Klinik, welcher Patient eventuell einen freundlichen Besuch gebrauchen konnte. Die Frau musterte ihn skeptisch von Kopf bis Fuß. Noah trug seine üblichen Jeans, Stiefel und ein Flanellhemd … und ein T-Shirt ohne Löcher. Er hatte nichtsdestotrotz den Eindruck, dass die Mitarbeiterin ihn ohne die Bibel, die er in der Hand hielt, ernsthaft infrage gestellt hätte. Offensichtlich musste sich ein Pfarrer erst ein wenig herausputzen, bevor er Krankenbesuche machen durfte.

Noahs erster Patient war ein älterer Mann, ein echter Griesgram, der schon beim Anblick der Bibel sagte: »Ich bin nicht in Stimmung.«

Noah lachte. »Die Bibel passte leider nicht in meine Hosentasche. Erzählen Sie mir doch einfach, worauf Sie Lust haben. Möchten Sie reden, Witze erzählen, Fernsehen gucken?«

»Wo kommen Sie her, mein Junge?«, wollte der alte Mann wissen.

»Ich bin ursprünglich aus Ohio, aber ich wohnte zuletzt in …«

»Nein! Ich meine, welcher Religion Sie angehören.«

»Oh. Ich bin Presbyterianer.«

»Ich bin seit fünfzig Jahren in keiner Kirche mehr gewesen. Vielleicht sogar noch länger nicht.«

»Was Sie nicht sagen«, erwiderte Noah trocken.

»Doch als ich das letzte Mal dort war, war es mit Sicherheit keine presbyterianische!«

»Aha.«

»Ich bin Katholik!«

»Im Ernst?«, fragte Noah. »Nun, dann lassen Sie uns mal sehen.« Er griff in die Hosentasche und fischte einen Rosenkranz heraus. »Können Sie damit etwas anfangen?«

»Was zum Henker macht ein presbyterianischer Pastor denn mit so was? Benutzen Sie die jetzt etwa auch?«

»Nein, wir bleiben schön bei unseren Leisten, aber ich bin ein ziemlich guter Mehrzweckgeistlicher. Wollen Sie den Rosenkranz haben?«

»Ich würde ihn nicht benutzen«, entgegnete der alte Mann misstrauisch. »Sie können ihn zwar hierlassen, allerdings werde ich ihn ganz bestimmt nicht benutzen.«

»Klar«, erwiderte Noah. »Also, was schauen Sie sich da gerade im Fernsehen an?«

»Die Andy-Griffith-Show«, antwortete er.

»Ach nein! Ich liebe diese Sendung. Haben Sie die Folge gesehen, in der Barney dieses Motorrad mit Beiwagen fuhr?« Noah blieb nicht länger an der Tür stehen. Er betrat das Krankenzimmer und rückte sich einen Stuhl ans Bett des alten Mannes, wobei er ihm den Rosenkranz in die gichtigen Hände drückte.

»Ja, hab ich. Kennen Sie die, in der er sich selbst in die Zelle gesperrt hat?«

»Macht er das nicht alle paar Wochen?«, fragte Noah grinsend. »Wie sieht es mit der Folge aus, in der Tante Bea sich aus Versehen betrunken hatte? Haben Sie die auch gesehen?«

»Otis, der stadtbekannte Alkoholiker – das ist ein Typ nach meinem Geschmack«, sagte der alte Mann.

Es dauerte zwar eine Zeit, doch dann erfuhr Noah, dass der alte Mann Salvatore Salentino hieß und von allen nur Sal genannt wurde. Sie unterhielten sich noch ein bisschen über ihre Lieblingssendung, bis Sal zur Toilette musste und Hilfe brauchte. Danach sprachen sie über seinen alten Kombi, den er wahnsinnig vermisste, seit man ihn ins Pflegeheim gebracht hatte. Als Nächstes erzählte Sal von seiner erwachsenen Tochter, die aus den Bergen weggezogen war und nur selten zu Besuch kam, was ihn direkt zu seiner Abneigung gegen Computer brachte. Und zum Schluss fragte er Noah, ob er bald wiederkommen würde, da man ihn in den nächsten Tagen wieder ins Pflegeheim entlassen würde.

»Wenn Sie mögen, kann ich gerne noch einmal vorbeikommen, Sal«, antwortete Noah.

»Wenn es Ihnen nichts ausmacht«, meinte der alte Mann. »Aber denken Sie bloß nicht, Sie könnten einen verdammten Presbyterianer aus mir machen!«

Noah lächelte. »Lieber Himmel, nein. Ich habe einfach nur schon lange niemanden mehr getroffen, mit dem ich Fernsehen gucken konnte.«

An der alten Kirche war nicht viel zu retten. Die Kirchenbänke waren entfernt, die Einrichtung der Kirchenküche herausgerissen worden, Kanzel und Altar und Taufbecken verschwunden. Es war nichts mehr da – man hatte alles verkauft, bevor die Kirche geschlossen worden war. Immerhin gab es wenigstens noch dieses unglaubliche Kirchenfenster, ein faszinierendes, wertvolles Kunstwerk.

Am Anfang seiner Aufräumarbeiten hatte Noah sich gleich als Erstes eine Leiter von Jack ausgeliehen und die Sperrholzplatte vor dem Fenster entfernt. Das Tageslicht enthüllte ein weitaus größeres und schöneres Kirchenfenster, als er gedacht hatte. Wie konnte sich eine arme Gemeinde so etwas leisten? Außerdem überraschte es Noah, dass dieses Fenster weder entfernt noch verkauft oder zu einer anderen Kirche gebracht worden war. Wann immer er zu diesem Fenster hinaufschaute, wusste er, dass es richtig war, was er tat, und dass er hierher gehörte. Die Fenstermalerei zeigte einen zugänglich wirkenden, weiß gekleideten Jesus mit ausgebreiteten Armen. Auf Jesus Schulter saß eine Taube, und zu seinen Füßen lagen ein Lamm, ein Hase und ein Rehkitz. Wenn die Sonne unterging, fielen ihre Strahlen direkt durch die Augen von Jesus Christus und bildeten im Inneren der Kirche einen Pfad aus Licht, auf dem die Staubpartikel tanzten. Noah hatte zwar keinen Betstuhl, auf dem er niederknien konnte, doch er stand vor diesem Bild und betete das schönste Gebet, das er kannte. Es war ein Gebet von Franz von Assisi. O Herr, mache mich zum Werkzeug deines Friedens …

In Noahs dritter Woche in Virgin River wurde Lucy in seine Obhut entlassen. Dr. Nathaniel Jensen überreichte ihm die Rechnung für die Behandlung. Noah faltete sie zusammen und steckte sie in die Tasche seiner Levis. Er wollte sie sich erst ansehen, wenn er Lucy nach Hause gebracht hatte. Als er dort angekommen auf die Abrechnung blickte, fasste er sich ans Herz. »Zum Glück habe ich dich heil heimgebracht«, sagte er zur Hündin. Lucy leckte ihm die Hand. »Erinnere mich daran, dass ich zukünftig immer gut auf die Straße achte, wenn wir gemeinsam in den Bergen unterwegs sind.«

Lucy war immer noch weit davon entfernt, ein verspielter junger Hund zu sein – sie musste weiterhin mit einer speziellen Ernährung, Vitaminen und Antibiotika aufgepäppelt werden. Die schwarz-weiße Border-Collie-Hündin, die vermutlich noch ein wenig von einer anderen Hunderasse im Blut hatte, hatte schöne große braune Augen, die herzergreifend traurig in die Welt gucken konnten. Noah kaufte ihr ein weiches Hundekörbchen, das er zwischen Wohnwagen und Kirchenbüro hin und her trug, um es ihrem schmerzenden Körper überall so angenehm wie möglich zu machen. Preacher hatte sich einverstanden erklärt, ihr zwei Mal am Tag eine spezielle Hühnchen-Reis-Mahlzeit zuzubereiten, weil Noah in seinem Wohnwagen in Hinsicht aufs Kochen sehr eingeschränkt war. Lucy schaffte zwar die drei Treppenstufen zur Veranda vor der Bar, wo sie viele ihrer Mahlzeiten einnahm, aber sie hatte schreckliche Mühe, die Stufen zum Kirchenbüro hochzukommen. Normalerweise endete es damit, dass Noah sie hinauftrug.

Da die Unterstützung beim Aufbau der Kirche bislang ausblieb, Noah sich um die Hündin kümmern musste und gleichzeitig nur langsam mit den Aufräumarbeiten vorankam, blieb ihm nichts anderes übrig, als zuzugeben, dass er Hilfe brauchte. Also gab er, sobald die Telefonleitung stand, eine entsprechende Anzeige in der Zeitung auf. Assistent/in für Pastorat gesucht. Daraufhin erhielt er wesentlich mehr Anrufe, als er erwartet hatte. Doch sobald er die Fragen nach Arbeitsstunden und Gehalt beantwortet hatte, sagten die meisten Anrufer, dass sie sich wieder bei ihm melden würden. Die Anforderungen waren außergewöhnlich – Aufräumarbeiten und das Streichen der Wände gehörten ebenso dazu wie die übliche Büroorganisation –, was den meisten Bewerbern vermutlich zu viel Arbeit war, wie Noah vermutete. Er verabredete sich mit drei Frauen, die sich nicht die Mühe gemacht hatten, nach den Einzelheiten zu fragen. Mit Lucy, die neben dem alten Schreibtisch, den er gefunden hatte, in ihrem Körbchen saß, bereitete er sich auf das Bewerbungsgespräch mit der ersten Kandidatin vor.

Sie hieß Selma Hatchet und war eine korpulente Frau um die sechzig, die sich beim Gehen auf einen Stock stützte. »Sind Sie der Pastor?«, fragte sie.

»Ja«, sagte er und erhob sich. »Es freut mich, Sie kennenzulernen. Nehmen Sie bitte Platz.« Er deutete auf den Stuhl vor seinem Tisch. Nachdem sie sich schließlich gegenübersaßen, erfuhr Noah, dass die Frau ihre Kinder und die Kinder ihrer berufstätigen Tochter großgezogen und sich in den letzten zwanzig Jahren bereits an einer Vielzahl ehrenamtlicher Projekte der presbyterianischen Kirche beteiligt hatte.

»Mrs Hatchet, die Stelle beinhaltet zwar die üblichen Sekretariatsarbeiten, aber im Augenblick ist sie auch mit harter körperlicher Arbeit verbunden. Ich brauche nicht nur Hilfe im Büro und in der Bibliothek, sondern auch beim Renovieren, Wände streichen, Spachteln und vermutlich auch beim Schleppen schwerer Gegenstände. Es entspricht vielleicht nicht so ganz den Aufgaben, die Sie suchen.«

Sie erstarrte und hob das Kinn. »Ich möchte Gottes Aufgaben erfüllen«, sagte sie schmallippig. »Ich bin bereit, die Bürden zu tragen, die unser Herr mir auferlegt.«

Noah fragte sich kurz, ob Mrs Hatchet glaubte, dass er eine Berufsunfallversicherung für sie abschließen würde, für den Fall, dass sie sich den Rücken verrenken oder von der Leiter stürzen würde. »Nun, das ist sehr bewundernswert, doch in diesem Fall wird die Arbeit des Herrn schmutzig und anstrengend, und unsere Gebete werden sich vermutlich einzig um Arnikasalbe oder Franzbranntwein drehen.«

Er brachte sie zur Tür und versprach, mit ihr in Kontakt zu bleiben.

Die nächste Interessentin schien körperlich besser für die harte Arbeit geeignet, und sie war mehr als willig, sich darauf einzulassen, egal wie schmutzig und schwer es werden würde. Rachael Nagel war ungefähr Mitte vierzig, Frau eines Viehzüchters und hatte bereits viele schwere Arbeiten in ihrem Leben verrichtet. Allerdings war sie Noah ein wenig unheimlich. Ihr verbissener Blick sprach Bände. Ihr Missfallen stand ihr ins Gesicht geschrieben, als sie damit anfing, ihn auszufragen, bevor er auch nur ein Wort sagen konnte. »Sie gehören aber nicht zu diesen liberalen Pfarrern, oder?«

Liberal war Noahs zweiter Vorname. Noahs Vater war derjenige, der für Feuer, Schwefel, Hölle und Verdammnis zuständig gewesen war und möglicherweise auch Grund dafür, dass Noah nun das absolute Gegenteil darstellte. »Hm, manche Menschen bezeichnen mich schon als liberal. Andere halten mich eher für konservativ. Sagen Sie, Mrs Nagel, spielen Sie zufällig Klavier oder Orgel?«

»Bei der vielen Arbeit auf dem Hof hatte ich für solche Mätzchen keine Zeit, aber ich habe sieben Kinder mit strenger Hand aufgezogen. Und ich kann Ihnen versichern, dass ich dafür sorgen würde, dass die Kirchendoktrin den Buchstaben der Bibel folgt.«

»Was für eine wunderbare Gabe«, meinte Noah. »Ich melde mich bei Ihnen.«

»Sie sollten so einen Hund übrigens nicht in der Kirche halten«, wies sie ihn zurecht. »Das macht nur Probleme.«

»Und wo soll ich die Hündin Ihrer Meinung nach lassen?«

»Da Sie kein großes Grundstück haben, könnten Sie sich einen Hundezwinger besorgen oder das Tier draußen an einem Baum anketten.«

In jenem Moment wusste Noah, dass Mrs Nagel nicht die Richtige war.

Seine dritte Bewerberin hieß Ellie Baldwin. Noah saß hinter seinem Schreibtisch, als sie sein marodes Büro betrat. Er brauchte einen Augenblick, bis er sich erhob, um sie zu begrüßen. Sie wirkte sehr jung und war, wenn es hochkam, höchstens Anfang zwanzig. Und groß – fast einen Meter achtzig – ohne Haare und Schuhe mit eingerechnet. Diese Eins achtzig bestanden größtenteils aus Beinen, die unter einem kurzen Rüschenrock herausragten und in hochhackigen Sandaletten endeten. Die Frau hatte ihre üppige Haarpracht toupiert. Ihre kupferroten, von goldenen Strähnen durchzogenen Locken reichten ihr bis fast zum Po. Ihr gelber Pulli saß nicht nur hauteng an ihrem Körper und enthüllte mehr, als er verbarg, sondern aus dem weit ausgeschnittenen Ausschnitt blitzte auch noch ein pinkfarbener BH-Träger hervor … absichtlich. Dieser Look war schon seit einiger Zeit in Mode – Push-up-BHs, deren Träger wie zufällig irgendwo hervorblitzten. Noah konnte nicht leugnen, dass es ein netter Anblick war, aber in der Kirche sah er diesen unpassenden Aufzug höchst selten.

Die Frau hielt eine zerknitterte Zeitung in der Hand. »Ich suche Pfarrer Kincaid«, sagte sie.

»Ich bin Noah Kincaid. Was führt Sie zu mir?«

»Sie sind …?«

»Der Pfarrer. Und Sie müssen Mrs Baldwin sein.«

Ihre Augen waren mit schwarzem Eyeliner und dunkler Wimperntusche geschminkt. Auf den Wangen leuchtete dick aufgetragenes Rouge, und ihre Lippen glänzten knallrot. Mrs Baldwin hatte ihre langen Fingernägel blau glitzernd lackiert, und ein Blick ans Ende ihrer langen Beine bestätigte, dass sie ihre Fußnägel in demselben blauen Glitzerton bemalt hatte. Sie lächelte Noah an. Dann drehte sie sich abrupt um, um unauffällig ihr Kaugummi aus dem Mund zu nehmen. Er hatte keine Ahnung, wohin sie es verschwinden ließ. Doch ihr Lächeln brannte sich ihm sofort ins Gedächtnis – es war wundervoll. Voller Hoffnung. Aber was hatte sie sich bloß dabei gedacht, in diesem Tingeltangel-Aufzug zu einem Vorstellungsgespräch in der Kirche einer kleinen Stadt zu gehen? Mit einem innerlichen Seufzer dachte er, o mein Jesus, warum immer ich?

Noah hielt ihr die Hand hin und hoffte, dass sie ihr Kaugummi nicht in der Hand verbarg. »Wie geht es Ihnen?«

»Danke. Gut«, antwortete sie. »Haben Sie den Job schon vergeben?«

»Es gibt ein paar vielversprechende Bewerber. Aber reden wir erst einmal über die Stelle«, schlug er vor. Er hatte ein schlechtes Gewissen – weil ein alleinstehender, fünfunddreißigjähriger Pastor wie er unter keinen Umständen jemanden wie sie anstellen durfte. Die Leute hätten für so etwas kein Verständnis. Oder schlimmer noch, sie würden so tun, als hätten sie Verständnis dafür. Dieses Bewerbungsgespräch war reine Zeitverschwendung.

»Oh, ist das Ihr Hund?«, fragte Mrs Baldwin und schenkte Lucy ein Lächeln.

»Das ist Lucy«, erklärte Noah, und die Hündin hob bei der Erwähnung ihres Namens den Kopf.

»Ist sie schon alt? Sie sieht so müde aus.«

»Sie erholt sich gerade von einem üblen Unfall. Ich habe sie am Straßengraben aufgelesen, und schon gehörte sie mir«, sagte er. »Die Stelle«, fuhr er fort. »Sie besteht nicht nur aus Büroarbeit. Wie Sie sehen, ist hier eine Menge zu reparieren und restaurieren. In dieser Kirche können erst wieder Gottesdienste abgehalten werden, nachdem ein paar sehr schwere und schmutzige Arbeiten erledigt sind. Es dauert mindestens noch ein paar Monate. Mindestens.«

Sie nickte. »Ja«, meinte sie. »Fein.«

Skeptisch betrachtete Noah sie. »Nehmen Sie mir bitte nicht übel, dass ich das sage, aber Sie wirken etwas zu zerbrechlich für diese Art von Arbeit.«

Wenn sie lachte, schien ihr ganzes Gesicht zu strahlen. »Ach ja? Na ja, dieses zerbrechliche Wesen hat schon für einen ganzen Haufen Blödmänner geputzt und auch schon mehr als genug schwere Sachen gehievt, Hochwürden.«

Er räusperte sich. »Nennen Sie mich Noah. Bitte. Ich bin nicht der Papst.«

»Das weiß ich«, entgegnete sie in einem ironischen Tonfall. »Ich wollte witzig sein.«

»Ach so. Waren Sie auch«, gab er zu. »Also, ich brauche nicht nur jemanden fürs Büro, am Telefon und die Terminplanung, sondern außerdem auch noch Hilfe beim Möbelrücken, Streichen, Saubermachen und so weiter.«

»Kapiert«, sagte sie.

Er beugte sich über den Tisch. »Mrs Baldwin, weshalb wollen Sie diese Stelle haben?«

»Ist es denn keine gute Stelle?«, fragte sie. »Es standen nicht viele Jobs in der Zeitung, aber es klang nach einer anständigen und ordentlichen Arbeit.«

»Klar. Und Sie suchen nach so etwas, weil …?«

»Ich muss mich verändern. Brauche etwas Sicheres. Weniger Stress.«

»Und Sie haben zuletzt als was gearbeitet …?«

»Tänzerin. Aber die Arbeitszeiten sind nichts mehr für mich. Ich habe Kinder. Sie leben momentan bei meinem Ex, doch ich hätte gerne eine Arbeit, die ich machen kann, wenn sie in der Schule sind. Verstehen Sie?«

»Aber haben Sie denn Erfahrung als Sekretärin?«

»Für die Zeit nach dem Möbelrücken und der Renovierung? Klar. Ziemlich viel Erfahrung sogar. Ich habe eine Liste meiner vorherigen Jobs mitgebracht«, verkündete sie und zog ein ziemlich zerfleddertes, zusammengefaltetes Stück Papier aus ihrer Tasche.

Er warf einen kurzen Blick darauf. Das Wort Tänzerin tauchte auf dieser Liste nicht auf, aber ohne noch mal nachfragen zu müssen, ahnte er bereits, welche Art von Tänzerin sie war. Allein schon ihre eindeutig wenig kirchliche Art, sich zu kleiden, verriet sie. Allerdings hatte sie auch schon für einen Immobilienmakler, eine Wohnungsverwaltung und einen Rechtsanwalt gearbeitet. »Rechtsanwalt?«, stieß Noah überrascht aus.

»Hm. Netter Typ. Ich habe wirklich gute Arbeit geleistet. Sie können ihn gerne anrufen, er wird es Ihnen bestätigen. Er hat mir versprochen, mir ein Empfehlungsschreiben auszustellen, wenn ich ihn darum bitte.«

»Und weshalb haben Sie dort aufgehört?«

Sie wandte den Blick ab. Ihr schien mit einem Mal unbehaglich zumute zu sein. »Er war mit meiner Arbeit zufrieden. Das schwöre ich. Aber seine Frau war nicht gerade begeistert von mir. Bitte rufen Sie ihn an!«, sagte sie und sah ihm wieder ins Gesicht. »Ich war wirklich gut.«

Diese junge Frau hatte tatsächlich schon überall gearbeitet. Ob am Ladedock eines Hafens oder in einem Supermarkt. »Wann haben Sie das denn alles geschafft?«, wollte Noah perplex wissen.

»Immer zwei Jobs auf einmal«, antwortete sie achselzuckend. »Tagsüber, um Erfahrungen zu sammeln und wegen der Sozialleistungen, im Büro und nachts oder an den Wochenenden dann zusätzlich noch in einem zweiten Job. Zum Beispiel nachts im Supermarkt, bis ich überfallen wurde. Danach habe ich gemeinsam mit einer Putzkolonne Büros gereinigt. Ich verfüge über eine Menge Erfahrung.«

»Und der Job auf dem Verladedock?«, fragte Noah und schaute von ihrem Lebenslauf auf.

»Das war für einen Großhandel. So eine Art Zeitarbeit, bis ich einen neuen Job gefunden hatte, bei dem mir nicht die Nägel abbrachen.« Freundlich lächelte sie ihn an. »Ich glaube nicht, dass Sie etwas finden, was ich noch nicht gemacht habe.«

»Großartig«, sagte er. »Darf ich den Lebenslauf behalten?«

Sie sah ihn erschrocken an. »Könnten Sie ihn nicht einfach kopieren? Die Namen und Adressen, die Sie brauchen? Ich hatte ziemlich viel Stress damit und besitze nur diese eine Kopie.«

»Natürlich«, erwiderte Noah.

»Ich sollte mir mal ein paar Kopien davon machen«, meinte sie. »Ich habe nämlich keinen eigenen Computer. Ein Freund hat mir dabei geholfen.«

»Kein Problem«, sagte er. Und er notierte sich ein paar Dinge aus ihrem Lebenslauf, obwohl er nicht vorhatte, irgendwo anzurufen. Als er hochsah, stellte er fest, dass es nicht leicht war, ihr nicht in den Ausschnitt zu starren. Er konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass ihre Brüste ihm am liebsten die Augen ausgestochen hätten. »Sagen Sie – Sie spielen nicht zufällig Klavier oder Orgel?«

»Orgel? Nein. Aber meine Großmutter hat mir Klavierspielen beigebracht. Kirchenlieder mochte sie am liebsten. Das könnte ich vermutlich hinkriegen. Ich bräuchte ein bisschen Zeit zum Üben. Es ist schon eine Weile her.«

»Kirchenlieder?«

Sie grinste. »Bin damit aufgewachsen. Ob Sie es glauben oder nicht.«

»Echt?«, fragte Noah fasziniert, bevor er sich beim Anstarren ertappte. »Ähm«, entgegnete er verlegen und versuchte, seine Fassung wiederzuerlangen. »Wo wohnen Sie, Mrs Baldwin?«

Als sie sich über den Tisch beugte, sprangen ihr fast die Brüste aus dem Pulli. Er zwang sich, keine Stielaugen zu machen. Doch die Versuchung war groß. »Ellie«, sagte sie. »Ich meine, wenn ich Sie nicht Hochwürden nennen muss, dann dürfen Sie mich auch Ellie nennen. Momentan wohne ich in Eureka, aber ich würde gerne mit meinen Kindern woandershin ziehen. Am liebsten würde ich mit ihnen in einen kleinen, freundlichen Ort ziehen, wo sie sicher und behütet aufwachsen können.«

»Wenn Sie mir die Frage erlauben: Wie alt sind Ihre Kinder?«

»Danielle ist acht und Trevor vier.« Sie lächelte stolz. »Sie sind wunderbar. Hübsch und intelligent und … na ja.« Sie richtete sich auf. »Ich finde sie natürlich fabelhaft. Sie sind auch sehr gesund. Ich würde also bestimmt nicht oft fehlen, weil die Kinder krank sind oder so.«

Er war sprachlos. »Sie wirken selbst noch gar nicht alt genug, um …« Er hielt inne. Das ging ihn nichts an.

»Ich war noch zu jung, als ich mit dem Kinderkriegen angefangen habe. Das weiß ich. Aber ich bin froh, dass ich meine Kinder habe.«

Nach einem Moment der Stille sagte er: »Ja. Natürlich. Also, Sie haben offenbar gute Qualifikationen für den Job. Darf ich mich wieder bei Ihnen melden?«

Sie machte ein langes Gesicht. »Ja«, meinte sie. »Sicher.« Und dann erhob sie sich. »Ich wünschte, Sie würden meine Bewerbung ernst nehmen. Ich brauche den Job. Ich habe schon überall nach einer Arbeit gesucht, die ich machen kann, wenn die Kinder in der Schule sind, und es ist einfach die Hölle, wissen Sie? Entschuldigung – ich hätte besser nicht Hölle gesagt …«

Er konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.

»Ich kann wirklich fast alles machen«, sagte sie. »Harte Arbeit schreckt mich nicht.«

»Sie sind tatsächlich sehr qualifiziert«, erklärte er und nickte. »Ich melde mich bei Ihnen.«

Ellie reichte ihm niedergeschlagen die Hand. »Danke«, sagte sie total entmutigt.

2. KAPITEL

Ellie fand selbst den Weg nach draußen, während Noah an seinem Schreibtisch sitzen blieb. Er hatte nicht ernsthaft damit gerechnet, sofort jemanden zu finden, den er einstellen konnte. Stattdessen war er von Anfang an davon ausgegangen, dass sich die Suche hinziehen und schwierig gestalten würde. Das Letzte, was er erwartet hätte, war jedoch jemand, der sich mit Push-up-BH und kurzem Rock für die Stelle im Kirchenbüro bewarb. Uah, dachte er, als er spürte, dass sein Körper schon alleine auf die Vorstellung reagierte. Er schob den Stuhl zurück, um es sich bequemer zu machen, und versuchte, seinen Körper zu ignorieren. Die Natur spielte einem manchmal ziemlich merkwürdige Streiche.

Als Noah an die letzten Wochen und Ellies entmutigten Blick dachte, geriet er ins Grübeln. Nach dem Tod seiner Frau Merry, die vor ein paar Jahren gestorben war, hatte ihn der Kummer überwältigt. Sie hatten eine gute Ehe geführt, und Noah empfand den Verlust als niederschmetternd. Merrys Tod hatte ihn mit dreißig zum Witwer gemacht. Damit hatte er nie im Leben gerechnet. Danach war er sich ein Jahr lang vorgekommen wie ein einsamer Kieselstein in einer leeren Dose. Doch dann hatte er sich, dank Georges Hilfe, im theologischen Seminar eingeschrieben.

Wegen seines Vaters, den er für einen böswilligen Heuchler hielt, hatte Noah eine extreme Aversion gegen dieses Amt gehegt. Jasper Kincaid war ein halbberühmter Prediger, der seinen eigenen Fernsehkanal in Columbus, Ohio, betrieb. Große Kirche, großes Geld, große Bekanntheit, Ruhm, Macht. Doch für Sohn und Ehefrau hatte Jasper nur kühle Gleichgültigkeit übrig – an guten Tagen. Viel öfter waren sie allerdings Opfer seiner schlechten Laune und seiner Schuldzuweisungen gewesen. Noah wollte nie in die Fußstapfen seines Vaters treten.

»Hör auf, die Menschen danach zu beurteilen, wie sie mit ihrem jeweiligen Glauben umgehen, und studiere besser deinen eigenen Glauben«, hatte George ihm geraten. »Es hat dich ganz schön viel gekostet, so weit zu kommen.«

In der Tat. Noch als Teenager war Noah vor seinen Wurzeln in Ohio an die Nordwestküste des Pazifiks geflohen. Er hatte überall, wo er Arbeit fand, gearbeitet und sich schließlich in die Fischindustrie, den Ozean und die Einkommensmöglichkeiten, die sie ihm boten, verguckt. Sein Studium betrieb er nebenbei – manchmal nur halbtags, manchmal aber auch ganztags.

Seine Mutter, die zu loyal und gutherzig gewesen war, um seinem Vater die Stirn zu bieten, hatte immer Kontakt zu Noah gehalten und ihn sogar heimlich besucht. Sie hatte ihm Geld geben wollen, um seine Ausbildung zu unterstützen, aber Noah hatte es abgelehnt. Seine Mutter war Merry nur einmal in ihrem Leben begegnet. Noah hatte gesehen, wie sie sich die Tränen fortgewischt hatte, weil sie so glücklich gewesen war, dass er eine so liebevolle und fröhliche junge Frau gefunden hatte. Zwei Jahre später war seine Mutter wiedergekommen, aber diesmal, um bei Merrys Begräbnis dabei zu sein.

Noah und sein Vater hatten in den letzten siebzehn Jahren nur einmal miteinander gesprochen, das war bei der Beerdigung von Noahs Mutter vor einem Jahr gewesen. Noah verspürte kein Bedürfnis, sich mit seinem Vater auszusöhnen.

Seit ungefähr einer Stunde saß Noah nun an seinem Schreibtisch, um sich zu organisieren. Doch als er auf seine Uhr blickte, fiel ihm auf, dass er nur dagesessen und gegrübelt hatte. Drei Uhr nachmittags. Um diese Zeit war es in Jacks Bar noch nicht so voll, und Noah hielt eine Kaffeepause für angebracht. Er tätschelte Lucys Kopf und versprach ihr, bald wieder zurück zu sein.

Als er die Bar betrat, überraschte es ihn, Ellie Baldwin an einem Tisch in der Nähe des Kamins zu entdecken. Sie saß vor einem Kaffee und starrte reglos aus dem Fenster. Dabei wirkte sie ziemlich verloren und gar nicht mehr sexy oder vulgär. Noah hob die Hand, um sie zu grüßen, aber sie nahm, tief in Gedanken versunken, keine Notiz von ihm. Also setzte er sich an die Theke.

»Hallo, Noah«, begrüßte ihn Jack.

»Was macht sie denn hier?«, fragte Noah.

Jack zuckte mit den Achseln. »Sie ist enttäuscht, glaube ich. Aber was will man machen?« Jack stellte Noah eine Tasse hin und schenkte ihm, ohne zu fragen, Kaffee ein.

»Enttäuscht?«, fragte Noah.

»Sie sagte, sie hat den Job nicht gekriegt.«

»Ich habe ihr gesagt, dass ich mich deswegen noch mal bei ihr melde«, erklärte Noah.

»Vielleicht hat sie etwas anderes gehört, Noah.«

»Hm.« Er trank einen Schluck Kaffee. »Was hältst du von zwei Stückchen Kuchen, die du gleich da drüben an den Tisch bringst?«

»Gute Idee«, sagte Jack.

Noah zog um an Ellies Tisch. Er blieb so lange neben ihr stehen, bis sie ihn schließlich bemerkte. Oh, Mann, er war ganz schön in der Bredouille. Ihre feucht schimmernden Augen waren gerötet und die Wimperntusche ganz verlaufen. Herr, lass mich trachten; nicht, dass ich verstanden werde, sondern dass ich verstehe. »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich zu Ihnen setze?«, fragte er.

Sie richtete sich auf, und ihr finsterer Blick erhellte sich ein wenig. Sie war wirklich eine harte Nuss. »Tun Sie sich keinen Zwang an«, sagte sie kühl.

Er rückte sich einen Stuhl zurecht und stellte seine Tasse auf dem Tisch ab. »Sie wirken verärgert, Ellie. Habe ich etwas Falsches gesagt?«

»Es geht eigentlich eher darum, was Sie nicht gesagt haben.«

»Ach? Und was ist das?«

»Sie sind eingestellt«, sagte sie.

»Ich dachte, ich sollte allen Bewerbern eine faire Chance geben.«

»Wollen Sie mich veräppeln? Ich habe draußen in meinem Wagen gesessen und gewartet, bis ich drankam. Ich habe die anderen Bewerberinnen gesehen – alle beide. Die eine kam kaum die Stufen hoch; also keine gute Wahl für jemanden, der Möbel rücken soll. Die andere hatte eine so böse, sauertöpfische Miene, dass sie allein mit ihrem Gesichtsausdruck Glas zum Zerspringen bringen könnte.«

»Sauertöpfisch?«, fragte er.

»Meine Großmutter hätte auch miesepetrig dazu gesagt. Ja, die war eine typische Kirchenfrau – wenn man nach jemandem sucht, der bösartig wie ein Kettenhund ist.«

Er lachte, bevor er sich zurückhalten konnte. »Wer hätte denn ahnen können, dass Sie die Konkurrenz so genau im Auge hatten?« Jack servierte den Kuchen und ließ Noah und Ellie so schnell wie möglich wieder alleine. Noah griff nach der Gabel. »Gut beobachtet. Aber ich hatte Ihnen doch gesagt, ich würde mich bei Ihnen melden.«

»Genauso gut hätten Sie sagen können, dass ich den Job nicht bekomme.«

Er schwieg einen Augenblick. »Probieren Sie den Kuchen. Niemand backt besser als Preacher.«

»Preacher?«

»Ja, der Koch – Preacher ist sein Spitzname.« Er deutete mit dem Kinn auf den Teller. »Probieren Sie.«

»Danke«, erwiderte sie. »Ich habe keinen Hunger.«

»Los, probieren Sie mal. Sie werden begeistert sein. Und zwischen den Bissen erzählen Sie mir bitte, weshalb Sie an mir zweifeln.«

Endlich probierte sie langsam und bedächtig einen Bissen des Johannisbeerkuchens. Sie kaute und schluckte, aber die Göttlichkeit dieses Kuchens entging ihr ganz offensichtlich. Nach dem ersten Bissen legte sie die Gabel neben den Teller und wartete ab. Noah musste sich anstrengen, ihr in die Augen zu sehen. Dieses Dekolleté brachte ihn um. »Ich bin Ihnen nicht böse«, sagte sie leise. »Ich hatte halt in letzter Zeit nicht besonders viel Glück auf dem Arbeitsmarkt. Ich glaube, das macht mich ein bisschen reizbar.«

»Na gut. Was suchen Sie denn?«, fragte er, während er die Gabel in den Kuchen grub.

»Irgendwas Anständiges«, erwiderte sie. »Es ist, wie gesagt, wegen meiner Kinder.«

»Die davon profitieren, wenn Mama einen anständigen Job hat?«

Ellie biss sich auf die Lippe. »Das ist eine Privatangelegenheit – meine Kinder machen gerade eine schwere Zeit durch. Ich glaube nicht, dass ich darüber sprechen sollte. Ich will nicht, dass die Leute davon erfahren …«

Noah überlegte kurz und sagte dann wider besseres Wissen: »Falls Sie darüber reden möchten, Ellie, können Sie sich mir gerne anvertrauen.«

»Wie soll ich mir denn da so sicher sein?«, fragte sie ihn skeptisch.

Er lehnte sich zurück und grinste. »Ich bin Pfarrer. Verschwiegenheit stand auf meinem Lehrplan ganz oben.«

»Aber Sie sind nicht mein Pfarrer«, erinnerte sie ihn. »Es geht um eine ziemlich schmutzige Angelegenheit.«

»Und natürlich habe ich in meinem Amt vorher noch nie etwas Schmutziges gehört«, kommentierte Noah sarkastisch. »Ich wollte nicht neugierig sein, sondern Ihnen nur die Möglichkeit geben, zu …«

»Ich habe meine Kinder verloren«, platzte sie plötzlich heraus. »Mein Exmann hat ums Sorgerecht gekämpft und es bekommen. Das hätte nicht passieren dürfen, ist jetzt aber so. Ich habe in einem Klub getanzt, wo die Mädchen ab und zu ihre Sachen ausziehen.« Sie zuckte mit den Achseln. »Nein, nicht nur manchmal – immer. Sie glauben, dass die Trinkgelder besser sind, je mehr man auszieht, und normalerweise trifft das auch zu.« Ellie schluckte und wandte den Blick ab, weil ihre Augen sich schon wieder mit Tränen füllten. »Meine Trinkgelder waren eher durchschnittlich.«

»Sie haben als Stripperin gearbeitet?«, fragte er. Sie erwiderte seinen Blick. »Ja, da ist eigentlich auch nicht groß was dabei.«

Um die Wahrheit zu sagen, wirkte sie tatsächlich wie jemand, der sich wohler fühlte, wenn er sich auszog. Noah war nicht besonders schockiert. Während seiner Zeit im Predigerseminar hatte er manchmal Gottesdienst in den Hafendocks abgehalten. Damals gehörten Obdachlose, Stripperinnen und Drogensüchtige zu seinen besten Kunden.

»Geht es den Kindern bei ihrem Vater gut?«, fragte Noah so behutsam wie möglich.

Diese Frage löste eine spontane Reaktion bei Ellie aus. Ihr Gesicht nahm einen wütenden, harten Ausdruck an, der ihre jugendliche Schönheit, die sie unter zu viel Make-up zu verbergen versuchte, beinahe komplett auslöschte. »Er ist nicht ihr Vater. Er war nur ihr Stiefvater, und zwar nicht länger als drei Monate, und er wird es ihnen bestimmt nicht leicht machen. Es geht ihm nur darum, die Kinder als Geiseln zu halten. Eigentlich will er mich. Das ist alles. Ich habe mich eine Zeit lang mit ihm getroffen und dachte, dass er ein netter, normaler Kerl ist, aber das stimmt nicht. Er ist sogar ziemlich sonderbar und behandelt die Kinder manchmal schlecht. Außerdem ist er ein bösartiger Kontrollfreak. Deshalb sind wir da weg.

Nachdem wir ihn verlassen hatten, fand ich etwas Schönes für uns – ich habe eine Doppelhaushälfte neben einer sehr netten Frau gemietet, die auf die Kinder aufpasste, wenn ich arbeiten musste. Ich brauchte einen Babysitter, und sie brauchte etwas Taschengeld. Es war also eine gute Vereinbarung. Sie war großartig zu den Kindern, die es fast gar nicht mitbekamen, dass ich weg war. Ich habe ihnen Essen gekocht und bin um sechs Uhr abends los. Sie hat sie gebadet, ihnen etwas vorgelesen und sie dann ins Bett gebracht. Dann hat sie auf der Couch gedöst, bis ich wiedergekommen bin. Ich konnte mir zum ersten Mal leisten, Miete und Babysitter mit dem Geld von nur einem Job zu bezahlen. Aber Arnie wollte, dass wir zu ihm zurückkommen. Er mag es nicht, wenn die Sachen anders laufen, als er es sich vorstellt. Mir die Kinder wegzunehmen, war das Einzige, was er noch tun konnte. Er gehört zu den Leuten, die ständig alles unter Kontrolle haben wollen.«

Noahs Gabel stoppte auf dem Weg zum Kuchen. Nach allem, was sie ihm erzählt hatte, wiederholte er nur: »Er behandelt die Kinder schlecht?«

»Er ist bösartig«, sagte sie. »Er schlägt sie zwar nicht, aber er ist wahnsinnig streng und fordert absoluten Gehorsam und er beleidigt und verletzt. Wenn man nicht isst, was auf dem Teller liegt, dann geht man hungrig zu Bett, wird aber vorher noch mit allen möglichen Schimpfworten belegt. Wenn man ihn nicht beachtet, ist man ein Depp oder ein Idiot. Wenn man die Teller nicht ordentlich abspült und den Tisch blitzblank sauber wischt, geht man ohne Gutenachtgeschichte zu Bett. Fernsehen gibt es nicht, bei Tisch wird nicht gesprochen und es wird nicht draußen gespielt, jedenfalls nicht, ohne dass ein Erwachsener dabei ist, der einen ständig im Auge behält. Man darf auch nicht gemeinsam in einem Bett schlafen – das ist unanständig.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Trevor ist erst vier! Sie waren immer mit mir zusammen, und wir haben viel gekuschelt, auch als sie noch eigene Zimmer hatten. Das machen Kinder nun mal!«

Noah war sprachlos. Ellie berührte da ein paar Punkte, an die er lieber nicht erinnert worden wäre. Er hörte die Stimme seines Vaters. Was verlange ich denn von euch außer Respekt und Bescheidenheit? Du musst lernen, diszipliniert zu sein, und du musst lernen, wie man sich beherrscht. Das ist zu deinem eigenen Besten, bevor du dich völlig verlierst! Nachtisch, Fußball, Sommerferien, Fernsehen, Freunde, et cetera, et cetera sind gestrichen.

Ihr Tonfall beruhigte sich. »Danielle ist erst acht, aber man erwartet von ihr, dass sie bereits alles perfekt sauber und in Ordnung hält. Und wenn es nicht so aussieht, wie er es sich vorgestellt hatte, weil sie einfach noch zu jung ist, um alles perfekt zu erledigen, beschimpft er sie und streicht ihr alles Mögliche – das Abendessen, die Lesestunde vorm Schlafen gehen. Er nennt so etwas Privilegien. Ich nenne es Notwendigkeiten. Wie soll Danielle denn gebildet aufwachsen, wenn sie nicht lesen darf?

Noah räusperte sich. »Und das soll besser für die Kinder sein als eine Mutter, die tanzt?«

Ellie hob resigniert die Achseln und blickte zu Boden. »Es lag vermutlich an der Art des Tanzes, nehme ich an.« Dann sah sie ihn an. »Ich sehe da kein Problem. Es ist ja nicht so, dass ich die Kinder mit in den Klub genommen hätte. Und es war auch kein illegaler Klub.«

»Aber der Richter hat das Sorgerecht an den Stiefvater übertragen?«

Ihre Lippen verformten sich zu einem zynischen Lächeln. »Der Richter gibt nicht mal gute Trinkgelder«, sagte sie.

Noah fühlte sich plötzlich krank. Er legte die Gabel auf den Tisch. »Welche Rolle spielt der Richter bei dieser Geschichte, Ellie? Kannten Sie ihn schon vorher?«

»Er kam manchmal in den Klub. Er hat mich ein paar Mal zum Essen eingeladen, aber ich habe immer abgelehnt – er ist ein alter Mann! Und außerdem gehen wir nicht mit unseren Kunden aus. Ich habe versucht, es ihm zu erklären, aber die Antwort gefiel ihm trotzdem nicht. Dafür hat er mich ganz schön geleimt, was?«

»Hat der Richter Ihnen erklärt, was er sich unter einem ›angemessenen‹ Job vorstellt, der Ihnen helfen würde, das Sorgerecht wiederzubekommen?«

»Nein«, sagte sie und schüttelte den Kopf. »Er sagte, er könne die Kinder nicht mit gutem Gewissen in der Obhut einer Stripperin lassen, wo es doch eine offensichtlich bessere Lösung gäbe. Dabei weiß er von Arnie nur, dass er eine Privatschule leitet. Er kennt den echten Arnie gar nicht. Der echte Arnie hat so ein böses Mundwerk. Der Richter sagte, es sei nur vorübergehend – und dass er in neunzig Tagen noch einmal neu über das Sorgerecht entscheiden würde.« Sie wandte den Blick ab. »Noch zweiundachtzig Tage.«

»Sehen Sie die Kinder ab und zu?«

Sie nickte. Doch dann konnte sie die Tränen nicht mehr länger zurückhalten. Eine dicke Träne rollte ihr über die Wange. »Jeden Samstag, tagsüber. Sie dürfen nicht mal über Nacht bei mir bleiben. Sie waren vorher noch nie von mir getrennt. Seit ihrer Geburt habe ich noch keine Nacht ohne sie verbracht, außer zum Arbeiten! Wissen Sie, weshalb ich sie mir nicht einfach geschnappt habe und mit ihnen abgehauen bin? Weil Arnie nicht verlieren und es generell nicht leiden kann, wenn etwas anders läuft, als er es sich vorstellt. Ich glaube, er würde mich aufspüren und dafür sorgen, dass man mich einsperrt. Und das wäre noch schlimmer für die Kinder, als es ohnehin schon ist.«

Noahs Kuchen blieb nun ebenfalls unangetastet. Ihm war der Appetit vergangen. »Haben Sie versucht, Hilfe zu bekommen, Ellie? Die Unterstützung eines Rechtsanwalts?«

»Klar«, sagte sie. »Sie waren alle sehr nett zu mir. Aber es gibt kein Gesetz, das mir im Moment helfen könnte. Alle rieten mir nur, ich solle mir einen anständigen Job suchen. Sie sagten, dass sie dann vielleicht auch schon vor Ablauf der neunzig Tage erneut vor Gericht gehen und dafür sorgen würden, dass ich meine Kinder zurückbekomme. Und dass sie außerdem dafür sorgen würden, dass Arnie nicht einmal mehr ein Besuchsrecht erhalten würden – wir waren nur drei Monate miteinander verheiratet, und die Kinder haben überhaupt nichts mit ihm zu tun. Sobald ich meine Kinder wieder zurückhabe, werde ich mit ihnen wegziehen. Und zwar so weit weg wie möglich. Ich werde unsere Namen ändern. Ich werde nicht zulassen, dass ihnen so etwas noch einmal passiert. Ich habe viele Fehler gemacht … Ich weiß, dass ich nicht die beste aller Mütter bin – die beste Mutter würde nicht für fremde Männer tanzen. Aber ich liebe meine Kinder. Ich kümmere mich so gut ich kann um sie, und ich liebe sie über alles. Und sie werden, um Himmels willen, in Zukunft in der Lage sein, zu lesen, wann es ihnen passt!«

Er schenkte ihr ein Lächeln. »Ich glaube, darauf würde eine gute Mutter in jedem Fall immer bestehen.«

»Ich versuche es. Ich tue alles in meiner Macht Stehende. Was soll ich auch sonst machen? Es ist echt hart, wenn man in zwei Jobs gleichzeitig arbeiten muss. Von der Arbeit im Klub konnte ich wenigstens auch ohne Zweitjob existieren. Und außerdem konnte ich arbeiten, während die Kinder schliefen.«

»Ellie, bitte entschuldigen Sie die Frage – aber wie alt sind Sie?«

»Fünfundzwanzig.«

Sie hatte gesagt, dass sie die Kinder jung bekommen hat, dachte er. »Wo ist der leibliche Vater?«

Sie schüttelte den Kopf und seufzte. »Zum Teufel, was soll das? Sie geben mir diesen Job ja doch nicht. Obwohl eine Anstellung bei der Kirche echt super wäre, aber …« Sie holte tief Luft. »Alles, was wir hier besprechen, fällt doch unter das Beichtgeheimnis, oder?«

»Auf jeden Fall.«

»Ich wurde schwanger, als ich noch zur Highschool ging. Mein Freund starb bei einem Motorradunfall, bevor wir heiraten konnten. Ich habe ziemlich lange gebraucht, bis ich einigermaßen darüber weg war, und dann habe ich gleich meinen zweiten Fehler gemacht – Trevors Papa musste ins Gefängnis, als ich gerade schwanger war. Raubüberfall. Er besaß ein Feuerzeug, das aussah wie eine Pistole – wie finden Sie das? Er fand es wohl witzig, einen Ladenbesitzer zu erschrecken und die Tageseinnahmen zu verlangen. Wir haben keinen Kontakt mehr, und das wird auch so bleiben. Und dann, als ob ich nicht schon dumm genug gewesen wäre, habe ich Arnie Gunterson geheiratet.«

»Wow«, sagte Noah. »Weshalb haben Sie ihn geheiratet?«

»Als ich ihn kennenlernte, verhielt er sich noch nicht so verrückt. Im Gegenteil. Er war richtig nett. Und er bot mir etwas an, das mir noch nie jemand angeboten hatte – eine Chance, in einem echten Haus zu wohnen und mich nur um die Kinder kümmern zu können. Er hat mich mit Respekt behandelt und sich nie an mich rangemacht, weil er sich für die Hochzeit aufsparte – erinnern Sie mich bitte daran, dass ich nie wieder auf so etwas hereinfalle! Ich wusste nicht, dass mit ihm etwas nicht stimmt. Ich meine, ich wusste zwar, dass er nicht gerade ein Spaßvogel war. Aber der vorherige Spaßvogel, Chip, hat sich sogar noch auf dem Weg ins Gefängnis totgelacht.« Sie holte tief Luft. »Ich schwöre bei Gott, dass ich nicht mal weiß, weshalb sich Arnie ausgerechnet mich ausgesucht hat. Wir waren noch keine drei Tage verheiratet, da fing er an, eifersüchtig zu werden. Er fragte mich jeden Tag, ob ich mit anderen Männern gesprochen hätte, und benahm sich, als ob er mich gar nicht richtig leiden könnte. Aber er wollte, dass ich bei ihm im Haus blieb und seine Befehle entgegennahm. Ich bin kein guter Befehlsempfänger. Ich muss ein Albtraum für ihn gewesen sein, aber er wollte mich trotzdem nicht gehen lassen.

Aber wissen Sie was? Ich werde diese Sache schon irgendwie regeln. Ich werde mich auf die Hinterbeine stellen, meine Kinder zurückbekommen, und dann lassen wir es uns gut gehen. In meinem Leben gab es drei Männer, einer von ihnen ist tot, und die anderen beiden sind zu erbärmlich, um groß Worte über sie zu verlieren, aber mehr Männer wird es in meinem Leben nicht mehr geben. Wie finden Sie das? Es ist mir egal, was es mich kostet, darüber hinwegzukommen. Meine Oma hat immer gesagt, dass uns alles, was uns nicht tötet, nur härter macht. Pfarrer Kincaid, darf ich Ihnen Herkules Baldwin vorstellen?«

Noah dachte sofort: Du magst zwar den Männern abgeschworen haben, aber umgekehrt haben sie dir mit Sicherheit nicht abgeschworen – nicht solange du dieses Gesicht und diesen Körper vorzuweisen hast. Huh. Ihm wurde so langsam ein wenig warm. Herr, lass mich trachten; nicht, dass ich verstanden werde, sondern dass ich verstehe. Dass ich Hoffnung bringe, wo Verzweiflung droht. Und lieber Gott, könntest du bitte dafür sorgen, dass sie dieses Dekolleté wenigstens eine Zeit lang bedeckt?

»Sehen Sie, Reverend, ich brauche diesen Job nur neunzig Tage lang. Das ist alles. Vielleicht sogar noch kürzer. Ich muss einfach nur den Richter davon überzeugen, dass ich eine gute Mutter bin und einen ordentlichen Job habe, und dann sind Sie mich los.«

»Sie wissen aber schon, dass der Richter Ihnen die Kinder ohne ziemlich ausgedehnte Nachforschungen nicht hätte wegnehmen dürfen, oder? Sie wissen, dass er seine Befugnisse überschritten hat? Haben Ihnen die Rechtsanwälte das erklärt?«, wollte Noah wissen.

»Dass der Richter in diesem Fall einen neuen Weg eingeschlagen hat, weil er die Macht dazu hatte?«, fragte sie. »Oh ja, ich wusste, dass er mich beschissen hat. Aber man hat mir auch erklärt, dass es den Fall verzögern könnte, wenn ich mich dagegen zu wehren versuche – weil es dann mehr um die Richtigkeit seiner Entscheidung ginge als um das Sorgerecht. Und Sie können mir glauben, ich mache es ihm nicht mal zum Vorwurf, weil er nicht wissen konnte, was er damit angerichtet hat, dass er Arnie noch mehr Macht über die Kinder und mich gegeben hat als zu der Zeit, in der wir verheiratet waren. Ich bin sicher, dass er nicht ahnte, wie schrecklich sich seine Entscheidung auf die Kinder auswirkt. Das entschuldigt nicht, dass er ein paar fundamentale Rechte ignoriert hat, zum Beispiel das der Kinder auf einen eigenen Rechtsbeistand … Das wird aber kein zweites Mal passieren. Das schwöre ich!«

Noah starrte auf seinen Kuchen und dachte nach. Dann hob er den Kopf und sah sie an. »Ellie, ich würde Sie gerne etwas fragen, ich weiß aber nicht, wie ich es formulieren soll, ohne dass es beleidigend klingt. Es tut mir leid. Könnte es noch einen anderen Grund dafür geben, dass der Richter Ihrem Exmann das Sorgerecht für die Kinder zugesprochen hat?«

»Zum Beispiel?«, fragte sie irritiert.

Er hob die Achseln. »Probleme mit dem Gesetz? Erziehungsprobleme? Sie wissen schon …«

Sie warf ihm einen finsteren Blick zu. »Ich trinke nicht, ich rauche nicht und ich nehme auch keine Drogen. Ich habe das Gesetz nur einmal gebrochen, als ich mich nicht rechtzeitig um ein neues Kennzeichen gekümmert hatte, weil mir das Geld fehlte. Ich habe vielleicht ein loses Mundwerk, aber niemals in Gegenwart der Kinder … Ich erlaube mir nur selten mal einen Ausrutscher. Ich lasse meine Kinder nicht unbeaufsichtigt und ich habe schon Jobs verloren, weil mein Babysitter mich im Stich gelassen hatte. Ich kann meinen Kindern nicht alles bieten, was ich ihnen gerne bieten würde, aber ich kümmere mich so gut es mir möglich ist um sie.«

»Sie verstehen, dass ich Sie für diesen Job nicht in Betracht ziehen kann, wenn ich nicht nachfrage.«

»Ich kann Ihren albernen Job machen«, sagte sie trotzig. »Und Sie können sich drauf verlassen, dass ich einen verdammt guten Job mache. Es hat sich noch nie jemand über meine Arbeit beklagt. Ich arbeite hart. Ich erledige an einem einzigen Tag die Arbeit für zwei, schon allein für den Fall, dass eines meiner Kinder krank werden sollte und ich zu Hause bleiben müsste. Ich schwöre bei Gott, wenn es eine Sache gibt, die ich nicht bin, dann ist es faul!«

»Ellie, Sie wissen, dass ich nur ein kleines Gehalt zahlen kann? Sehr bescheiden«, sagte er. »Es gibt zwar ein paar Extrazuschüsse, aber das ist nicht die Welt.«

»Das habe ich mir schon gedacht«, sagte sie gleichgültig. »Das ist mir aber egal.«

»Wie würden Sie das denn machen? Sie brauchen doch offensichtlich Geld.«

»Ich muss mich verändern«, erklärte sie. »Die Doppelhaushälfte aufgeben. Und woanders ein Zimmer finden. Ich brauche kein Haus, wenn die Kinder nicht bei mir übernachten dürfen. Wir haben vorher in einem Zimmer zusammengewohnt, und das würden wir auch wieder hinkriegen.« Sie zuckte mit den Achseln. »Gemütlich. Wir kuscheln, kitzeln uns und lachen und spielen und …« Ihre Augen schienen überzufließen. »Ich komme mit allen Herausforderungen des Lebens klar. Ich bin es nicht anders gewohnt.«

»Die Stelle in der Kirche … ist nicht gerade ein Zuckerschlecken«, sagte er. »Ich brauche Hilfe bei ein paar ziemlich schweren Arbeiten. Sie haben es ja gesehen. Ich muss erst die Kirche renovieren, bevor ich anfangen kann zu predigen.«

Sie schenkte ihm ein Lächeln. »Klingt lustig. Jedenfalls lustiger als zu viele Bibellesungen.«

»Na ja, wenigstens muss ich mich nicht bemühen, Ihre scheue kleine Seele aus dem Schneckenhaus zu locken«, sagte Noah und brachte sie damit zum Lachen. »Sie stecken in der Klemme. Sie müssen den Richter in den nächsten drei Monaten davon überzeugen, Ihnen das Sorgerecht zu übertragen. Und ich muss jemanden finden, der dauerhaft bei mir arbeiten will. Wir könnten es probieren. Aber es wird nicht leicht.« Für keinen von uns beiden, dachte er.

»Sehe ich so aus wie jemand, der weiß, was er mit etwas Einfachem anfangen soll?«

Er schüttelte lächelnd den Kopf, obwohl er wusste, dass das Ganze eine ganz schlechte Idee war. Aber dieses Kind brauchte dringend eine Verschnaufpause, oder? Er wagte es, seinen Blick von ihrem Gesicht etwas weiter nach unten wandern zu lassen, und erschauderte. Sie sah mit Sicherheit nicht aus wie die Sekretärin einer Pfarrei. Andererseits sah er auch nicht aus wie ein Pastor. »Sie haben gerade keine andere Arbeit, oder?«

»Ich habe noch an dem Tag gekündigt, an dem der Richter Arnie das Sorgerecht für die Kinder zugesprochen hatte. Ich muss auf jeden Fall sofort etwas Neues finden.«

»Morgen ist Donnerstag. Falls Sie da anfangen wollen, dürfen Sie. Aber wie gesagt, es ist eine dreckige Arbeit. Haben Sie … ähm … Jeans? Sweatshirts? Etwas anderes als hochhackige Schuhe?«

»Klar«, sagte sie und strahlte. »Cool. Ich war schon seit Jahren nicht mehr in einer Kirche!«

»Im Ernst? Das hätte ich nie gedacht. Na ja, die Leute haben bestimmte Vorstellungen …«

Autor

Robyn Carr
<p>Seit Robyn Carr den ersten Band ihrer gefeierten <em>Virgin River</em>-Serie veröffentlichte, stehen ihre Romane regelmäßig auf der Bestsellerliste der <em>New York Times</em>. Auch ihre herzerwärmende <em>Thunder Point</em>-Reihe, die in einem idyllischen Küstenstädtchen spielt, hat auf Anhieb die Leserinnen und Leser begeistert. Robyn Carr hat zwei erwachsene Kinder und lebt mit...
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