Das Glück wartet in Virgin River

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Die Erfolgsromane zu der herzerwärmenden Netflix-Serie »Virgin River«

Für Clay Tahoma kommt das Jobangebot aus Virgin River genau zur rechten Zeit. Der Navajo-Pferdeflüsterer will sein Leben in eine neue Richtung lenken und wünscht sich nichts mehr, als dass sein Sohn zu ihm zieht. Vom ersten Augenblick an fühlt er sich in der Kleinstadt inmitten der idyllischen Wälder wohl und wird von den Bewohnern des Ortes herzlich empfangen – von fast allen. Nur ausgerechnet Lilly Yazhi scheint nicht allzu begeistert von ihm zu sein. Dabei schlägt in ihrer Nähe sein Herz höher. Clay ist entschlossen, Lilly zu zeigen, dass es sich lohnt, der Liebe eine Chance zu geben …

»Dieser Teil von Robyn Carrs moderner, mitreißender, in Kalifornien spielender Kleinstadtserie ist voller romantischer Verwicklungen und ist eine beeindruckende Ergänzung der Reihe.« Booklist

»Robyn Carr ist eine bemerkenswerte Geschichtenerzählerin.« Library Journal


  • Erscheinungstag 21.07.2022
  • Bandnummer 11
  • ISBN / Artikelnummer 9783745703047
  • Seitenanzahl 432
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Susan Elizabeth Phillips
Aus ganzem Herzen und tiefster Dankbarkeit

1. KAPITEL

Clay Tahoma fuhr auf dem Highway 36 durch die Berge im Humboldt County, Nordkalifornien. Es war eine schmale Straße mit vielen scharfen Kurven, und seinem GPS zufolge musste die nächste Abzweigung links der Weg nach Virgin River sein. Sein Ziel waren der Stall und die Tierklinik Jensen. Virgin River war offenbar der nächstliegende Ort dazu, und er wollte sich dort einfach mal ein wenig umschauen. Als er sich der Abzweigung näherte, entdeckte er ein Stück weiter oben auf der Straße etwas, das seine Aufmerksamkeit erregte … mehrere Pick-ups, die am Straßenrand parkten.

Neugierig geworden, ging er vom Gas und hielt schließlich an. Er wollte wissen, was los war. Also stieg er aus seinem Truck und lief an ein paar Wagen vorbei auf einen Tieflader zu, um den sich mehrere Männer geschart hatten und zusahen, wie ein Gabelstapler, an dem ein Kabel befestigt war, vom Straßenrand zurücksetzte. Clay marschierte auf einen der Männer zu, der etwa so groß war wie er selbst und ein kariertes Hemd, Jeans, Stiefel und eine Baseballkappe trug. »Was ist los, mein Freund?«, fragte er.

»Jemand aus unserem Ort ist von der Straße abgerutscht und hängt fest. Zum Glück hat ihn ein großer Baum nicht allzu weit unten aufgefangen. Er konnte sich allein aus dem Auto befreien und die Böschung hochklettern.«

»Und wer zieht den Wagen rauf?«

»Ach, einer unserer Jungs verfügt über jede Menge Baumaschinen. Er ist Bauunternehmer.« Der Mann reichte ihm seine kräftige Hand. »Jack Sheridan. Sind Sie hier aus der Gegend?«

»Mein Name ist Clay Tahoma, ursprünglich komme ich aus Flagstaff und dem Navajo-Nation-Reservat, zuletzt habe ich in L. A. gewohnt. Ich bin hier, um für meinen alten Freund Nathaniel Jensen zu arbeiten.«

Jacks Miene hellte sich bei Clays Worten auf. »Nate ist auch ein Freund von mir! Freut mich, Sie kennenzulernen.«

Jack stellte Clay ein paar der anderen Männer vor: ein Mann namens John, den sie Preacher nannten; Paul, dem der Tieflader und der Gabelstapler gehörten; Dan Brady, Pauls Bauführer; und Noah, der Pastor, dessen Truck von der Straße abgekommen war. Noah lächelte geknickt, während er Clay die Hand schüttelte. Niemand schien sich darüber zu wundern, einen amerikanischen Ureinwohner vom Stamm der Navajos hier anzutreffen, der einen taillenlangen Pferdeschwanz und eine Adlerfeder am Hut trug. Endlich tauchte Noahs alter blauer Ford-Truck am Straßenrand auf.

»Habt ihr denn hier keine Straßenwacht oder Feuerwehr, die ihr hättet rufen können, damit die das übernehmen?«, fragte Clay.

»Sicher, wenn wir den ganzen Tag Zeit hätten, zu warten«, erklärte Jack. »Hier draußen helfen wir uns lieber selber. Das große Problem ist der unbefestigte Straßenrand. Nach jedem Absturz wird er vom Straßenbauamt wieder nachgebessert, aber was wir wirklich brauchen, ist etwas Solideres. Eine breitere Straße und Leitplanken. Eine lange Leitplanke, die etwas aushält. Den Antrag haben wir gestellt, aber auf dieser Straße herrscht nicht viel Verkehr, also wird unser Antrag einfach ignoriert oder abgelehnt.« Mit einer Kopfbewegung wies er auf die Stelle, von der er sprach. »Vor zwei Jahren ist da ein Schulbus abgerutscht. Alle sind mit kleineren Verletzungen davongekommen, das hätte allerdings schrecklich enden können. Jetzt halte ich jedes Mal die Luft an, sobald die Straßen überfrieren.«

»Was hindert sie denn daran, wenigstens Leitplanken anzubringen?«

Jack zuckte mit den Schultern. »Die geringe Einwohnerzahl in einem gemeindefreien Gebiet, und das in einem County, das durch die Rezession mit größeren Herausforderungen zu kämpfen hat. Wie gesagt, wir gewöhnen uns daran, die Dinge so gut wie möglich selbst in die Hand zu nehmen.«

»Im August liegt aber doch kein Eis auf der Straße. Was ist dem Pastor denn passiert?«

»Das war ein Reh«, beantwortete Noah die Frage selbst. »Als ich aus der Kurve kam, stand es dort. Ich bin nur leicht ausgeschert, doch wenn man auch nur ein bisschen zu nahe an den Straßenrand gerät, ist man gleich unten. Ohhhh, mein armer Truck«, rief er, sowie das Fahrzeug auf die Straße rollte.

»Sieht nicht schlimmer aus als vorher, Noah«, kommentierte Jack.

»Da hat er recht«, bestätigte Preacher, die Hände in die Hüften gestemmt.

»Wovon redet ihr?«, erwiderte Noah empört. »Jetzt hat er mehrere neue Beulen!«

»Woher willst du das wissen?«, fragte Jack. »Dieser alte Truck ist doch eine einzige große Beule!« Dann wandte er sich wieder an Clay: »Fahren Sie langsam in diesen Kurven und grüßen Sie Doc Jensen von mir.«

Clay Tahoma setzte seine Fahrt zur Tierarztpraxis Jensen fort. An seinen Diesel-Truck hatte er einen großen Pferdetransporter gekoppelt, den er mit seinen persönlichen Sachen beladen hatte. Bei der Klinik eingetroffen, stellte er den Motor ab, sprang aus dem Wagen und schaute sich um. Die Klinik bestand aus den Praxisräumen, die an einen großen Stall angrenzten, einem gut bemessenen überdachten Longierzirkel für die Untersuchungen, mehreren Wiesen, auf denen die Pferde bewegt werden konnten, der großen Koppel sowie zwei kleineren Paddocks, die es erlaubten, die Pferde voneinander zu trennen. Wenn Pferde sich nicht kennen, kann man sie nicht ohne Weiteres zusammen auf eine Koppel lassen, es könnte zu Aggressionen kommen.

Gegenüber, auf der anderen Seite einer freien Fläche, die als Parkplatz für Trucks und Anhänger genutzt wurde, befand sich ein Haus, das für eine große Familie gebaut worden war. Das ganze Anwesen war von Bäumen umringt, die Anfang August im vollen Sommergrün standen und sich in der leichten Brise kaum bewegten.

Clay schnupperte die Luft; es roch nach Heu, Pferden, Erde, Blumen und Zufriedenheit. Irgendwo in der Nähe musste Geißblatt wachsen, er hatte den Duft in der Nase. Er ging in die Knie, hockte sich auf einen Stiefelabsatz und berührte die Erde mit seinen langen, bronzefarbenen Fingern. Er fühlte, wie sich ein innerer Frieden in ihm ausbreitete. Dies war ein guter Platz. Ein vielversprechender Platz.

»Ist das ein altes Navajo-Ritual, was du da praktizierst?«

Bevor er sich aufrichten konnte, war Dr. Nathaniel Jensen schon aus der Tür seiner Praxis getreten und lief auf ihn zu, wobei er sich die Hände an einem kleinen blauen Handtuch abwischte.

Lachend richtete Clay sich auf. »Wollte nur hören, ob die Kavallerie anrückt.«

»Wie war die Fahrt?« Nate stopfte sich das Handtuch in die Tasche und streckte Clay zur Begrüßung die Hand hin.

Clay ergriff sie und schüttelte sie herzlich. »Lang und langweilig, bis ich hier in der Nähe gesehen habe, wie ein paar Männer aus Virgin River einen Truck den Berg raufzogen. Der Pastor aus dem Ort ist von der Straße gerutscht, als er einem Reh ausweichen wollte. Verletzt ist er nicht, aber ziemlich angefressen. Wie kommst du mit deinem Bau voran?«

»Ausgezeichnet. Ich hole dir etwas zu trinken, und dann machen wir einen Rundgang.« Noch während sie sich die Hände schüttelten, klopfte Nate seinem Freund mit der anderen Hand auf die Schulter und sagte: »Das mit Isabel tut mir wirklich leid, Clay.«

Wehmütig lächelte Clay. »Hätten wir uns nicht scheiden lassen, wäre ich jetzt nicht hier. Abgesehen davon hat sich zwischen uns nicht viel verändert, außer dass ich L. A. verlassen habe.«

»Eine Scheidung, bei der sich nicht viel verändert hat?« Nate schaute seinen alten Freund fragend an. »Vergiss es«, meinte er schließlich kopfschüttelnd. »Erzähl mir lieber nichts. So genau will ich es wahrscheinlich gar nicht wissen.«

Clay lachte gut gelaunt, wenn auch ein wenig unsicher, ob es wirklich so lustig war. Er und Isabel hatten nicht zusammengepasst, aber das hatte sie nicht daran gehindert, sich ineinander zu verlieben. Sie waren sich nicht im Geringsten ähnlich, und außer der Pferdebranche hatten sie keinerlei Gemeinsamkeiten. Und selbst da befanden sie sich an völlig entgegengesetzten Enden. Sie war eine reiche Reiterin, eine Züchterin und Pferdesportlerin schwedischer Abstammung. Eine hinreißende, überaus attraktive Blondine, die eine privilegierte Kindheit genossen hatte, während er Hufschmied und Veterinärassistent war, ein Navajo, der aus einem Reservat stammte. Sie hatten sich unvorstellbar voneinander angezogen gefühlt und geheiratet. Dann wurden sie mit vorhersehbaren Problemen konfrontiert, die sowohl mit der Kommunikation als auch mit der Wahl ihres Lebensstils zu tun hatten. Darüber hinaus musste er sich mit dem Widerstand ihrer Familie auseinandersetzen, die wahrscheinlich glaubte, dass er nur hinter ihrem Geld her gewesen war. Als Isabel schließlich vorschlug, sich scheiden zu lassen, hatte er es längst kommen sehen und keine Einwände erhoben. Die Scheidung war für sie beide das Beste, und er hatte in ihre Bedingungen eingewilligt. Aber damit hatten sie keineswegs aufgehört, Gefühle füreinander zu haben, und sie hatten auch nicht aufgehört, miteinander ins Bett zu gehen. Allerdings würde Isabels Vater nun nachts wahrscheinlich besser schlafen können, da er wusste, dass seine schöne, reiche Tochter nicht länger legal an einen Navajo mit geringem Einkommen und ein paar althergebrachten Vorstellungen seiner Stammeskultur gebunden war. Ebenso wenig war er davon begeistert gewesen, dass Clay bereits einen Sohn hatte, als er das Ehebündnis mit Isabel schloss. Gabe lebte noch im Navajo-Reservat bei Clays Eltern und im Kreis der erweiterten Familie, spielte in Clays Leben jedoch eine große Rolle, und Clay war durchaus bekannt, dass Isabels Familie über diese Geschichte nicht allzu glücklich gewesen war.

Vor Jahren hatte Nathaniel Jensen in Los Angeles mit Clay zusammengearbeitet. Das war lange, bevor Nathaniel von seinem Vater die Tierarztpraxis in der Nähe von Virgin River übernommen hatte. Es schien nur logisch, dass er bei Clay angerufen hatte, um sich bei ihm zu erkundigen, ob er einen guten Veterinärassistenten empfehlen könnte. Seine bisherige Assistentin wollte in Rente gehen, nachdem sie erst für seinen Vater und dann einige Jahre für ihn gearbeitet hatte.

»Mir fallen eine ganze Reihe ausgezeichneter Leute ein«, hatte Clay geantwortet. »Aber ich suche selbst nach einer Veränderung und habe auch Verwandte dort oben. Besteht irgendeine Möglichkeit, dass du mich in Erwägung ziehen könntest?«

Nathaniel hatte sofort zugeschlagen, denn Clay war ein sehr gefragter Veterinärassistent und konnte zugleich auch den Hufschmied ersetzen. Und so standen sie sich nun gegenüber.

»Ich habe Tee und Limonade im Haus«, sagte Nathaniel. »Kann ich dir beim Abladen helfen?«

»Ich denke, ich lasse vorerst alles im Trailer«, antwortete Clay. »Du bist dir sicher, dass es dich nicht stört, wenn ich einfach das Übernachtungsquartier der Assistentin benutze?«

»Das kannst du haben, solange du willst. Natürlich gibt es auch andere Möglichkeiten. Du bist herzlich willkommen, das Haus mit mir und Annie zu teilen. Da sind so viele Zimmer, und das nur für uns beide. Wenn du etwas Größeres für dich willst, greife ich dir gerne bei der Haussuche unter die Arme. Es liegt ganz bei dir, mein Freund. Ich bin einfach nur so verdammt froh, dass du hier bist.«

Clay lächelte warmherzig. »Danke, Nathaniel. Das Quartier der Assistentin wird mir reichen. Lass uns mal deine Limonade probieren und uns etwas umschauen.«

»Können wir heute Abend zum Dinner mit dir rechnen, Clay?«

»Es wäre mir eine Ehre. Ich kann mir gar keine Frau vorstellen, die bereit wäre, dich zu heiraten. Ich freue mich darauf, sie kennenzulernen.«

»Annie wird dich umhauen. Sie ist einfach großartig.«

Clay war vierunddreißig, und die legendären Männer der Navajos hatten seine Erziehung geprägt. Es war eine lange Tradition von Häuptlingen, Ältesten, Navajo-Code-Funkern im Zweiten Weltkrieg, von Mystikern und Kriegern. Sie waren Naturalisten und Spiritualisten. Als Kind waren ihm sein Vater und seine Onkel mit all ihren Geschichten und Lehren ganz schön auf die Nerven gegangen, aber irgendwann hatte er begonnen, den Wert einiger ihrer Lektionen zu schätzen. Mehr als einmal hatten sie ihn gerettet, hatten sich zusammengetan, um ihn dabei zu unterstützen, sein Leben zu ändern. Und schon allein deshalb schuldete Clay ihnen Respekt und Dankbarkeit.

Er war in den Bergen und Schluchten um Flagstaff auf einer großen Familienranch der Navajo-Nation aufgewachsen. Obwohl es im Reservat eine Menge Armut gab, ging es einigen Familien auch ganz gut. Die Navajos bauten keine Casinos, doch sie verfügten über sehr viel fantastisches Land. Im Vergleich zu den meisten anderen war die Familie Tahoma recht wohlhabend. Sie führten ein schlichtes Leben, sparten, investierten, expandierten, bauten auf und erhöhten den Wert dessen, was sie hatten. Man konnte sie nicht wirklich reich nennen, dennoch waren Clay und seine Schwestern in einem schönen, komfortablen Heim aufgewachsen, welches zu einem Familienverband gehörte, der Tanten, Onkel und Cousins umfasste.

Mit sechzehn hatte Clay eine Freundin gehabt. Sie war ein junges Mädchen, das er bei einem Footballspiel kennengelernt hatte, und sie hatten sich ineinander verliebt. Auf Druck ihrer Eltern hatte sie mit ihm Schluss gemacht. Als er ein paar Monate später einen verzweifelten Versuch unternahm, sie zurückzugewinnen, musste er feststellen, dass sie schwanger war. Obwohl sie es leugnete, wusste er, dass er der Vater war, und er war doch nur ein Junge.

Er hatte gar keine andere Wahl gehabt, als seinen Eltern und den Onkeln die peinliche Neuigkeit mitzuteilen. Natürlich setzten sie sich mit der Familie des Mädchens in Verbindung. Die Eltern behaupteten allerdings, dass Clay mit der Situation ihrer Tochter nichts zu tun habe; sie hatten bereits mit einer sehr wohlhabenden Familie in Arizona, die keinerlei Verbindung zum Reservat unterhielt, eine Adoption arrangiert.

Der Stamm stellte der Familie Tahoma sogleich einen Rechtsbeistand zur Seite. Auf der ganzen Welt existierte kein Stamm, der einen der ihren so leicht aufgab. Nachdem den Eltern des Mädchens klar wurde, wie weit die Tahomas gehen würden, um dieses Baby zu behalten – wenn Clay nachweislich der Vater wäre –, lenkten sie einfach ein. Es gab Gesetze, die die amerikanischen Ureinwohner davor schützten, dass Kinder gegen den Willen der Familie adoptiert werden konnten. Clays Sohn Gabe, der ihm viel zu ähnlich sah, als dass irgendwer ihre Verwandtschaft hätte leugnen können, wurde in die Familie heimgeholt.

Clay hatte Gabe großgezogen, solange er in der Navajo-Nation lebte, und selbst nachdem er nach L. A. gegangen war, um sich eine berufliche Karriere aufzubauen, hatte er seinen Sohn sooft wie möglich besucht und telefonierte noch heute fast täglich mit ihm. Allerdings wünschte er sich sehnlichst, dass sein Sohn bei ihm wäre, in seiner Nähe. Nachdem er nun von Isabel geschieden war und ihre intolerante Familie in seinem Leben keine Rolle mehr spielte, konnte er vielleicht daran denken, Gabe hierherzuholen. Seine Schwester Ursula hatte ihm schon vor langer Zeit angeboten, Gabe bei sich aufzunehmen, aber Clays Dad hatte darauf bestanden, dass sie sich auf ihre eigenen Kinder konzentrieren sollte, zumal sich Gabe draußen in Flagstaff bei der Familie Tahoma wohlfühlte. Aber vielleicht könnte Clay ihn jetzt von dort wegholen … vielleicht konnten sie endlich einmal wirklich wie Vater und Sohn zusammenleben. Gabe würde es guttun, hier in den Stallungen Umgang mit Pferden zu haben, so wie auch Clay als Kind immer mit Pferden zu tun gehabt hatte.

Bereits in jungen Jahren hatte Clay eine besondere Verbindung zu Pferden entwickelt. Wie es aussah, verstand er sie, und sie verstanden ihn. Daher war es nur logisch, dass er in der Pferdebranche gelandet war, auch wenn er damit keineswegs angefangen hatte. Erst einmal hatte Clay an der Northern Arizona University Wirtschaft studiert. Studienkollegen, die keine Navajos waren, hatten ihn damals gefragt, warum er sich nicht für Native American Studies eingeschrieben hätte, um die Kultur der Ureinwohner Amerikas zu erforschen, worauf er geantwortet hatte: »Soll das ein Scherz sein? Ich bin ein Tahoma und in der Abteilung Native American Studies aufgewachsen.« Nach zwei Jahren am College begann er, als Hufschmied zu arbeiten, wobei er sich die Fähigkeiten, die er bei seinem Vater und seinen Onkeln erworben hatte, zunutze machte. Er arbeitete auf Rodeos, Gestüten und Farmen. Schließlich absolvierte er auch eine Ausbildung zum Hufschmied und Veterinärassistenten, während er hier und dort Arbeiten annahm. Auf seinem Weg hatte es ein paar wirklich schwierige Phasen gegeben, aber mit achtundzwanzig Jahren hatte er schließlich von einem Rennpferdezüchter in Südkalifornien ein sehr gutes Angebot erhalten. Er sollte den Stall managen, wobei mehrere Hilfskräfte unter seiner Aufsicht arbeiten würden. Clay hatte sich schwergetan, Gabe und seine Familie zu verlassen, allerdings konnte er sich diese Chance nicht entgehen lassen, zumal er gedacht hatte, lange genug dort zu bleiben, um später seinen Sohn nachholen zu können.

Doch dann hatte er sich in die Tochter des Züchters verliebt. Der Rest war Geschichte.

Der Anruf von Nathaniel, der einen Veterinärassistenten und eine Hilfe für seine relativ kleine Praxis suchte, hatte ihn überrascht, obwohl dazu keinerlei Grund bestand. Nathaniel Jensen hatte immer vorgehabt, eine große Pferdeklinik zu betreiben sowie Renn- und Dressurpferde zu züchten. Die Tierklinik für Großtiere war von seinem Vater mit dem Ziel aufgebaut worden, das heimische Nutzvieh zu betreuen, wozu auch Pferde gehörten, und Nathaniel hatte die Praxis übernommen, sobald sein Vater sich zur Ruhe gesetzt hatte. Mit der richtigen Unterstützung würde er beides können – Pferde züchten und seine Dienste als Tierarzt leisten. Er expandierte und baute gerade einen zweiten Stall, der in ein paar Wochen fertig sein würde. Seine Verlobte Annie war eine erfahrene Reiterin, die Reitunterricht erteilen konnte, und Nathaniel war ein begnadeter Tierarzt. Der Standort lag vielleicht ein wenig ab vom Schuss, was eher den einheimischen Farmern und Ranchern zugutekam, die davon lebten, was der Boden hergab. Dennoch sprach nichts dagegen, weshalb Nathaniel in der Welt des Pferdesports nicht deutlich an Einfluss gewinnen könnte.

Solche Anrufe erhielt Clay ständig. Stellenangebote und Bitten um Hilfe. Pferdebesitzer, Züchter und Tierärzte – alle wollten ihn und hatten ihm Gehälter geboten, die das, was Nathaniel ihm zahlte, weit in den Schatten stellten. Clay hütete sich davor, es auszunutzen, aber von seinen fachlichen Fähigkeiten einmal abgesehen, wurde ihm nachgesagt, dass er auf besondere Weise mit den tausend Pfund schweren Tieren kommuniziere. Es hieß, er könne ihre Gedanken lesen, und sie die seinen. Er wurde als Pferdeflüsterer gehandelt.

Vielleicht war er das, vielleicht auch nicht. Er hatte Glück bei den Pferden, doch niemals drängte er sie oder war sich ihrer sicher, und das wussten sie zu schätzen. Es gab drei Gründe, weshalb er ohne zu zögern Nathaniels Angebot angenommen hatte. Der erste war, dass seine Schwester in der Nähe wohnte. Ursula Toopeek war mit dem Polizeichef in Grace Valley verheiratet, ein Ort nicht weit von hier. Clay hatte ein enges Verhältnis zu Ursula, Tom und ihren fünf Kindern. Der zweite Grund war, dass er Nathaniels Fähigkeiten und Berufsethik respektierte. Er glaubte daran, dass der Tierarzt mit seinen Expansionsplänen Erfolg haben würde. Hinzu kam, dass Nathaniel seinen möglichen Erfolg nicht an irgendeiner mystischen Fähigkeit festmachte, die Clay möglicherweise besaß.

Und drittens wurde es Zeit, endlich einen Schlussstrich unter die Beziehung mit Isabel zu ziehen.

Clay kannte Nathaniel zwar schon seit Jahren, hatte jedoch seine Praxis und den Stall in Nordkalifornien noch nicht gesehen. In der Umgebung kannte er sich ein wenig aus, denn er hatte öfter seine Schwester in Grace Valley besucht. Mit den Gläsern in der Hand machten Nathaniel und Clay einen Rundgang über das Gelände. Clay fand es wirklich beeindruckend; der neue Stall, der noch nicht ganz fertiggestellt war, würde fantastisch werden. Seine provisorische Unterkunft im ursprünglichen Stall war klein, aber ausreichend. Eigentlich war sie für den seltenen Fall gedacht, dass ein krankes Tier in der Klinik untergebracht war und jemand im Stall schlafen musste, um es zu versorgen. Sie bestand aus einem Raum, an den ein kleines Bad mit Dusche angeschlossen war. Es gab eine Kochnische mit Kühlschrank und ein paar kleinen Einbauschränken. Das Klappbett war in eine Schrankwand eingebaut – komplett mit Schränken, Schubladen und Regalen. Gegenüber unter dem einzigen Fenster befand sich noch ein Schreibtisch. Die frühere Assistentin Virginia, die erst vor Kurzem in Rente gegangen war, hatte noch eine Mikrowelle und eine Kochplatte beigesteuert, damit sie sich Tee und Popcorn zubereiten konnte, und hatte beides großzügig zurückgelassen.

Im Stall stand eine Waschmaschine mit Trockner im Industrieformat, aber Nathaniel bot Clay an, seine Wäsche im Haus zu waschen, um sie nicht mit Tierexkrementen und Blut zu vermischen. Clay lachte. »Als wären meine Klamotten nicht eh voll davon.«

»Trotzdem«, erwiderte Nathaniel. »Vielleicht ist das ja auch psychologisch gedacht. Clay, ich befürchte, du wirst dich in der Stallunterkunft nicht lange wohlfühlen.«

»Woher willst du das wissen?«, fragte Clay und zog eine schwarze Augenbraue hoch.

»Sie ist zu klein. Es gibt keine Annehmlichkeiten. Keinen Fernseher, keinen DVD-Player. Das ist nichts auf Dauer. Und ich will nicht, dass du mir kündigst, weil du beengt wohnst. Wir haben andere Möglichkeiten. Wenn du dich nicht bei uns im Haus einquartieren willst, können wir immer noch auf einen Trailer zurückgreifen. Hier gibt es genügend Land, um ihn zu parken. Oder wenn der neue Stall in ein paar Wochen fertig ist, können wir hier auch eine Wand rausschlagen und dein jetziges Quartier ausbauen.«

Clay schmunzelte. »Ich werde darüber nachdenken, bevor ich dir meine Kündigung einreiche, nur weil meine Bude nicht schick genug ist. Du hast keine Ahnung, wie ich gewohnt habe, als ich den Rodeos gefolgt bin, und in mancherlei Hinsicht war ich damals glücklicher als je.« Sein Lächeln wurde breiter, während er sich erinnerte.

»Das war damals. Jetzt ist jetzt.«

Richtig, dachte Clay. Denn es kommt der Punkt, an dem ein Mann Stabilität braucht, wenn er schon keine Wurzeln schlägt. Er hatte in Isabels großem Haus gewohnt, wo tagtäglich das Kochen und Saubermachen von einer Frau namens Juanita und ihrer Tochter erledigt wurde. Obwohl es ein schönes Heim gewesen war, hatte er sich dort nie wohlgefühlt. Das Haus war viel zu groß und eher darauf angelegt, Gäste zu bewirten, als für das tägliche Leben. Isabel hatte viele reiche und einflussreiche Bekannte in der Pferdebranche und anderswo.

Ihre erste Begegnung lag jetzt schon sechs Jahre zurück. Vor fünf Jahren war er bei ihr eingezogen, vor vier Jahren hatte er sie geheiratet, vor zwei Jahren in die Scheidung eingewilligt, und nachdem sie endgültig geschieden waren, hatte er vor eineinhalb Jahren neben dem Anwesen ihrer Familie ein kleines Haus gemietet. Doch häufig war er wieder in Isabels großes Haus eingeladen worden, zurück in ihr Bett. Ein paarmal hatte sie es sogar tapfer ertragen, sein Haus zu betreten. Wie es aussah, gab es zu viele Komplikationen, als dass ihre Ehe funktionieren konnte, dennoch war es nicht zu leugnen, dass es zwischen ihnen einfach funkte. Die einzige Möglichkeit, dem ein Ende zu setzen, hatte für Clay darin bestanden, Hunderte von Meilen nach Norden zu ziehen.

Sie verließen den Neubau und gingen über die Koppel. »Die Unterkunft im Stall ist in Ordnung, Nathaniel«, versicherte Clay. »Ich will mich erst einmal akklimatisieren, dann schaue ich mich vielleicht etwas um. Übrigens, ich habe einen Flachbildschirm dabei und auch meinen iPod. Dann habe ich noch die Gitarre und die Flöte …«

»Sag mir einfach Bescheid, wenn ich dir helfen kann. Hey, da ist Annie.« Nathaniel stiefelte über die Koppel auf eine große Frau zu, die beim alten Stall stand und ein schönes Vollblutpferd striegelte.

Clay folgte ihm. Er lächelte anerkennend, vielleicht sogar ein wenig neidisch, sowie Nathaniel einen Arm um ihre Taille legte und ihr einen kleinen Kuss auf die Wange gab. Währenddessen spähte Annie über Nathaniels Schulter zu Clay hin und schenkte ihm ein spontanes Lächeln, wobei ihre Augen glitzerten. Der Kuss war noch kaum beendet, als sie schon sagte: »Du musst Clay sein. Endlich! Ich freue mich so sehr, dich kennenzulernen.« Sie nahm die Bürste in die linke Hand und hielt ihm die rechte hin.

Sie ist so hübsch, dachte er. Eine irdische Schönheit. Schlank und mit langen Beinen, die in Stiefeln steckten. Annie hatte glänzende dunkelrote Haare, braune Augen, einen gesunden Teint mit ein paar Sommersprossen. Ihr Lächeln war herzlich, und mit festem Griff schüttelte sie Clay die Hand. »Ich freue mich auch, dich kennenzulernen«, erwiderte Clay. »Wie hat er es geschafft, dich dazu zu überreden, ihn zu heiraten?«

Sie ging auf den Scherz nicht ein, sondern kicherte nur und sagte: »Wir sind ganz aufgeregt, weil du zu uns kommst. Nate hat mir ein paar Geschichten von euren gemeinsamen Erlebnissen erzählt. Wenn ich richtig verstanden habe, hast du eine besondere Verbindung zu Pferden, und ich habe da zwei, denen man mal ein paar Manieren beibringen müsste. Könntest du vielleicht mal ein Wörtchen mit ihnen reden?«

Clay nahm den Kopf leicht zurück, lächelte geduldig und schwieg.

»Keine Sorge«, fuhr sie fort. »Mir ist schon erklärt worden, dass du diese Fähigkeit nicht an die große Glocke hängen willst.«

»Wenn ich mich auf diese Fähigkeiten verlassen könnte, würde ich es vielleicht sogar machen. Aber ein paar Tiere sind zurückhaltender als andere. Ich würde äußerst ungern Erwartungen enttäuschen. Doch keine Sorge, ich habe noch andere Talente.«

»Auch das wurde mir berichtet. Der beste Hufschmied im Geschäft, voll ausgerüstet mit digitalen Messgeräten zur Koordinierung von Bewegungsablauf und sportlicher Leistung. Ich kann es kaum erwarten, dass du mir das einmal vorführst.«

Als er das hörte, vertiefte sich sein Lächeln. »Das ist die ONTRACK EQUINE Software. Ich freue mich schon darauf, sie dir zu zeigen.«

»Außerdem will ich mehr über deine Fähigkeiten wissen.« Sie senkte die Stimme. »Das Flüstern

Er neigte den Kopf zur Seite. »Hast du einen Garten?«

»Sie ist die Tochter eines Farmers. Sie bringt alles zum Wachsen«, antwortete Nathaniel an ihrer Stelle.

Clay wandte sich wieder Annie zu. »Sprichst du mit den Pflanzen?« Nachdem sie genickt hatte, sprach er weiter: »Und reagieren sie darauf, indem sie groß werden und gesund sind? Und kräftig wachsen?«

»Manchmal. Ich habe gehört, es liegt an dem Sauerstoff, den man beim Ausatmen über sie bläst.«

Er schüttelte den Kopf. »Man atmet mehr Kohlenstoffdioxid aus als Sauerstoff. Vielleicht ist es der Klang deiner Stimme, deine Intention oder auch so etwas wie Hypnose.« Er zuckte die Achseln. »Was es auch sein mag, es funktioniert, seit die Sonne zum ersten Mal den Boden erwärmt hat. Manchmal ist es besser, nicht danach zu fragen, sondern es einfach zu akzeptieren. Und auch zu akzeptieren, dass es dafür keine Garantie gibt.«

Sie kam näher. »Auch wenn ich verspreche, nichts über diese Magie zu verraten, die manchmal funktioniert, wirst du mir dann ein bisschen darüber erzählen? Ein paar Erfahrungen, die du gemacht hast? Unter Freunden?«

»Ja, Annie. Ich kann dir ein paar Trainingsgeschichten erzählen, unter der Bedingung, dass du mir versprichst, daran zu denken, dass niemand weiß, ob das Pferd und ich miteinander kommuniziert haben oder ob das Pferd einfach beschlossen hat, nicht länger rumzuzicken und sich ans Programm zu halten.«

»Versprochen«, antwortete sie lachend. »Ich sollte lieber mal sehen, dass ich unter die Dusche komme. In eineinhalb Stunden habe ich das Essen fertig. Kann ich in der Zwischenzeit noch etwas für dich tun?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich werde meine Reisetasche holen. Nathaniel wird mir zeigen, wo ich den Truck und den Trailer parken kann, und vielleicht komme ich auch noch dazu, vor dem Essen zu duschen.«

Nathaniel macht sich also Sorgen, weil es mir in meiner Unterkunft an Annehmlichkeiten mangeln könnte, überlegte Clay. Das größte Problem, das er erkannte, während er sich den Raum genauer betrachtete, stellte das Bett dar. Seine Beine waren ein wenig zu lang für ein Doppelbett von normaler Größe. Und der Duschkopf war ein bisschen niedrig angebracht. Aber es hatte Zeiten gegeben, da hatte er in seinem Truck oder Anhänger geschlafen, in Zelten, auf Klappbetten oder Sofas genächtigt oder sich in irgendeinem Stall einen Schlafplatz gesucht, wie es sich gerade so ergab. Das Beste an Isabels Haus war ihr übergroßes Futon-Bett, das sogar dann noch gut war, wenn sie nicht darin lag.

Einen Vergleich hatte es in ihrem Scheidungsverfahren nicht gegeben; er hatte nichts von ihr gewollt, und sie konnte wohl kaum von einem Hufschmied Geld verlangen, wenn sie über ein so großes persönliches Vermögen verfügte. Interessant war, dass sie vorher keinen Ehevertrag abgeschlossen hatten. Sie hatte ihm vertraut, sowohl was die Ehe als auch was die Scheidung anging. Er fragte sich kurz, ob er daran gedacht hatte, ihr dafür zu danken. Vertrauen hatte für Clay einen größeren Wert als Geld. Allerdings bedauerte er, dass er sie nicht um dieses Bett gebeten hatte. Es war ein gutes Bett. Fest wie der Boden … nicht hart wie Asphalt, aber ein wenig nachgiebig, wie die Erde selbst. Es war geräumig, großzügig und vor allem war es lang.

Clay zog eine saubere Jeans aus der Tasche und ein frisches Jeanshemd. Er bürstete seine Stiefel ab und band sich das lange feuchte Haar wieder zu einem Pferdeschwanz. Mit seiner bronzenen Haut, den hohen Wangenknochen und dem langen seidenschwarzen Pferdeschwanz hätte er es eigentlich nicht nötig gehabt, seinen indianischen Stolz zu betonen, dennoch prangte an seinem Cowboyhut eine Adlerfeder. Wenn einer seiner Hüte vollkommen abgetragen war, wurde diese Feder auf den neuen Hut, den er sich kaufte, angesteckt. Es bedeutete Glück, eine Adlerfeder zu finden.

Er hörte ein schleifendes Motorgeräusch und entferntes Hundebellen. Natürlich war sein erster Gedanke, dass es ein Patient sein müsste. Also setzte er sich den Hut auf und trat in den Stall. In diesem Moment hielt gerade ein alter Ford Pick-up rückwärts vor der Doppeltür. Der Wagen war beladen mit Heu und Pferdefutter, und während Clay zuschaute, sprang eine schwarzhaarige, braun gebrannte junge Frau schwungvoll aus der Fahrkabine, lief nach hinten, zog sich schwere Arbeitshandschuhe an, ließ die Rückklappe an der Ladefläche nach unten fallen und griff nach einem an die fünfzig Pfund schweren Heuballen. Sie war klein und schlank, vielleicht einen Meter zweiundsechzig groß und mochte zweiundfünfzig Kilo wiegen. Dennoch hievte sie den Heuballen aus dem Truck und schleppte ihn in die Futterkammer.

Clay ging wieder zurück in sein Zimmer und holte ein paar Arbeitshandschuhe aus seinem Reisesack. Als die Frau zurückkam, stand er hinter dem Truck.

Sowie sie ihn entdeckte, blieb sie stehen und riss überrascht die Augen auf, als hätte sie einen Geist gesehen. »Nate hat nichts davon erwähnt, dass er einen neuen Helfer hat«, sagte sie und schielte auf die Arbeitshandschuhe.

»Ich bin Clay«, stellte er sich vor. »Ich will Ihnen helfen.«

»Das schaffe ich schon«, erwiderte sie und schob sich an ihm vorbei an den Truck. Sie sprang auf die Ladefläche und zog einen weiteren Ballen zu sich heran.

Clay ignorierte die Ablehnung, musste allerdings über den Anblick lächeln, während sie diesen schweren Heuballen anhob und damit in den Stall lief. Sie trug eine Jeansjacke und er hätte gewettet, dass sie darunter Schultern und Muckis hatte, für die andere Frauen morden würden. Und auch dieser feste kleine runde Po war ziemlich süß. Sie war zierlich, knackig und jung.

Er griff nach zwei Ballen und folgte ihr in die Futterkammer. Tatsächlich zuckte sie überrascht zusammen, sowie sie sich umdrehte und ihn mit zwei fünfzig Pfund schweren Heuballen in den Händen hinter sich stehen sah. Eine Sekunde lang schien sie mit den Worten zu kämpfen, schließlich entschied sie sich für: »Danke, doch ich schaffe das wirklich locker allein.«

»Ich auch«, antwortete er. »Liefern Sie immer das Futter?«

»Jeden Montag und Donnerstag«, antwortete sie, senkte den Blick und ging schnell um ihn herum zurück zum Truck. Sie zog einen weiteren Heuballen heran, womit nur noch zwei Futtersäcke weiter hinten auf dem Pick-up übrig blieben.

Er folgte ihr. »Haben Sie auch einen Namen?«, fragte er unumwunden.

»Lilly«, sagte sie und zerrte den Ballen von der Ladefläche. »Yazhi«, fügte sie stöhnend hinzu.

»Sie sind eine Hopi?«, wollte er wissen und schaute sie erstaunt an. »Eine Hopi mit blauen Augen?«

Sie zögerte mit der Antwort. Man brauchte die DNA für blaue Augen von beiden Elternteilen, damit das Kind später blaue Augen hatte. Lilly hatte keine Ahnung, wer ihr Vater war, aber es wurde ihr immer erzählt, dass ihre Mutter fest davon überzeugt gewesen war, selbst eine hundertprozentige Hopi zu sein. »Ungefähr zur Hälfte, ja«, meinte sie nach einer Weile und hob den Ballen an. »Woher kommen Sie?«

»Flagstaff«, antwortete er.

»Navajo?«

Er lächelte träge. »Yes, Ma’am.«

»Historisch sind wir Feinde.«

Nun lächelte er enthusiastisch. »Darüber bin ich längst hinweg. Und Sie? Sind Sie uns noch immer böse?«

Sie verdrehte die Augen und wandte sich ab, um ihren Ballen davonzutragen. Das kleine Hopi-Mädchen wollte nicht mit ihm spielen. Wieder kam er nicht umhin, die Kraft in ihren Schultern, die festen Muskeln unter der Jeans zu bemerken. »Dieser ganze Kram interessiert mich nicht die Bohne«, erwiderte sie und ging in den Stall.

Clay schmunzelte. Er schnappte sich die beiden letzten Futtersäcke, legte sie aufeinander und warf sie sich über die Schulter. Dann folgte er ihr. Als er sie eingeholt hatte, fragte er Lilly: »Wohin soll ich die Futtersäcke bringen?«

»In die Futterkammer zum Heu. Wann haben Sie hier angefangen?«

»Heute ist tatsächlich mein erster Tag. Liefern Sie das Futter schon lange?«

»Seit ein paar Jahren, nebenbei. Ich arbeite für meinen Großvater. Ihm gehört die Futterhandlung. Er ist ein alter Hopi und will seine Geschäfte nicht aus der Hand der Familie geben. Das Problem ist nur, dass es nicht viel Familie gibt.«

Clay verstand alles, die Sache mit ihrem Volk und ihrer Familie. Die meisten Leute legten den größten Wert darauf, dass ihre Stammeszugehörigkeit erwähnt wurde, wenn man von ihnen sprach, und Familie bedeutete alles. Es fiel ihnen schwer, jemandem außerhalb ihres Stamms, ihrer Familie Vertrauen zu schenken.

»Ich habe auch zwei alte Großväter in meiner Familie«, bemerkte er und wollte so sein Verständnis zum Ausdruck bringen. »Es ist gut, dass Sie ihm helfen.«

»Er würde mir keine Ruhe lassen, wenn ich es nicht täte.«

Clay begann, ihr Gesicht genauer zu betrachten. Sie trug das Haar im Nacken kurz und zum Kinn hin länger werdend, ein gepflegter moderner Schnitt. Ihre Augenbrauen waren schön geschwungen. Sie hatte kein Make-up aufgelegt, und ihre Haut schimmerte wie Karamell. Weich und zart. Sie war schön. Er nahm an, dass sie höchstens Anfang zwanzig war.

»Und wenn Sie nicht donnerstags und freitags Futter liefern, was machen Sie dann?«

»Montags und donnerstags«, korrigierte sie ihn. »Passen Sie besser auf. Dann arbeite ich in der Futterhandlung.«

Neugierig zog er die Augenbrauen hoch: »Und verpacken es in die Säcke?«

Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Ich mache die Buchhaltung. Kümmere mich um die Rechnungen, die bezahlt werden müssen, und die Außenstände.«

»Aha. Verheiratet?«

»Hören Sie …«

»Lilly! Wie sieht’s aus?«, rief Nathaniel, der gefolgt von drei Border Collies auf sie zumarschierte. »Ich habe dich gar nicht kommen hören. Ah, du hast Clay, meinen neuen Assistenten, bereits kennengelernt.«

»Assistent?«, stieß sie hervor.

»Veterinärassistent, Hufschmied … ein Alleskönner, wenn es um Pferde geht«, stellte Nathaniel klar. »Beim Aufbau unseres Geschäfts kann Clay an vielen Ecken und Enden mit anfassen und die verschiedensten Aufgaben übernehmen.«

»Hat Virginia sich tatsächlich aus dem Staub gemacht? Ist sie nicht mehr hier?«, erkundigte sich Lilly.

»Sowie Clay auf dem Weg war, hat sie ihre Drohungen wahr gemacht und sich zur Ruhe gesetzt. Jetzt hat sie mehr Zeit für ihren Mann und die Enkelkinder. Bei meinem Pferdeprojekt wird es zu viele neue Anforderungen geben, und dazu war sie wirklich nicht bereit. Ich kenne Clay seit Langem. Er hat in der Pferdebranche einen guten Ruf. Vor Jahren haben wir im Los Angeles County zusammengearbeitet.«

»Ich habe Virginia erst vor ein paar Tagen noch getroffen und hatte keine Ahnung, dass sie so kurz vor ihrem letzten Tag stand. Eigentlich hatte ich geglaubt, dass es noch Monate dauern würde.«

»Davon waren wir auch ausgegangen, Virginia und ich. Aber ich hatte das Glück, dass Clay nur ein paar Tage brauchte, um von L. A. hier hochzukommen. Sobald er den Job angenommen hatte, meinte Virginia: ›Gott sei Dank‹ und ist nach Hause gegangen. Sie hat angeboten, noch mal vorbeizuschauen und Clay einzuarbeiten, falls das nötig sein sollte, doch sie ist wirklich reif für etwas Privatleben. Seit mindestens zwei Jahren spricht sie nun davon, sich zur Ruhe zu setzen, aber bis ich Annie gefunden hatte, wollte sie mich nicht allein hierlassen. Sie dachte, ich würde die Praxis herunterwirtschaften.« Nathaniel schüttelte den Kopf und lachte in sich hinein.

»Du wirst sie vermissen«, sagte Lilly.

»Ich weiß, wo ich sie finden kann, wenn ich sie vermisse, und das gilt auch für dich! Besuch sie doch ab und zu. Sie hat außerdem versprochen, die Praxis regelmäßig mit Plätzchen zu versorgen.«

»Das werde ich tun. Auf jeden Fall. Hier sind noch die Vitaminzusatzmittel«, erklärte sie und ging wieder zum Truck, um von der Ladefläche ein sehr großes Plastikglas zu holen, das sie Nathaniel reichte. Dann nahm sie ihr Klemmbrett aus der Fahrerkabine, damit Nathaniel die Futterlieferung abzeichnen konnte.

»In zwei Tagen wird mir ein Pferd gebracht, Lilly. Ein Araber. Er bleibt hier in Pension und wird trainiert, obwohl ich glaube, dass die Besitzerin mehr Training braucht als das Pferd. Kannst du bitte das Futter bei meiner nächsten Lieferung entsprechend erhöhen? Und grüß deinen Großvater von mir.«

»Mach ich. Wir sehen uns!« Sie sprang in den Wagen und fuhr los.

Nachdem der Truck außer Sichtweite war, fragte Clay: »Ist sie immer so schnell wieder weg?«

»Sie ist ziemlich effizient und hält ihre Termine genau ein. Ihr Großvater Yaz zählt auf sie. Ich weiß nicht, ob es noch weitere Familienangehörige gibt. Soweit ich informiert bin, ist Lilly die einzige andere Yazhi, die in dem Geschäft arbeitet.«

»Du erwartest ein neues Pferd?«, wechselte Clay das Thema. »Was hat es damit auf sich?«

»Das Geschäft habe ich gerade erst an Land gezogen«, erklärte Nathaniel. »Eine Frau, die nicht viel von Pferden versteht, aber dafür nur so in Geld schwimmt, hat sich einen teuren Araber mit gutem Stammbaum gekauft. Sie hat sich gerade so viel Wissen angeeignet, dass sie ihn am Leben halten kann, doch er lässt sie nicht an sich heran. Ihr Stallhelfer schafft es kaum, ihm das Halfter anzulegen, und ihn zu satteln kommt schon gar nicht infrage. Wenn sie es schaffen, ihn in den Transporter zu verladen, wird der Stallbursche ihn herbringen, damit wir eine Weile mit ihm arbeiten können. Die Besitzerin möchte ihn reiten, aber falls das nicht möglich sein sollte, denkt sie daran, ihn zu verkaufen und durch ein sanfteres Pferd zu ersetzen. Sie denkt, das Pferd hätte einen Schaden.«

Clay zog eine Augenbraue hoch. »Ein Wallach?«

»Oh nein«, antwortete Nathaniel lachend. »Ein zweijähriges Hengstfohlen aus der Abstammungslinie des Landesmeisters Magnum Psyche. Ich habe ihn mir angesehen. Der Junge wäre für die meisten Leute zu viel des Guten.«

»Sie hat sich einen jungen Zuchthengst zugelegt?«, stieß Clay hervor und pfiff durch die Zähne.

Nathaniel klopfte ihm kräftig mit der Hand auf die Schulter. »Hatte ich schon erwähnt, dass ich froh bin, dich hier zu haben?«

»Ich habe noch nicht einmal ausgepackt, und da kommst du mir schon mit einem Sonderauftrag«, schimpfte er und versuchte, seine Freude zu verbergen.

Nathaniel grinste. »Du kannst mir nichts vormachen. Gib’s zu, du hattest doch ein bisschen Angst, dich hier zu langweilen, und jetzt bist du erleichtert, weil ein schwieriges Pferd unterwegs ist. Das steht dir ins Gesicht geschrieben. Komm jetzt, Annie hat einen Schmorbraten zubereitet, der ist einfach himmlisch.«

2. KAPITEL

Lilly war ein wenig aufgewühlt, als sie vom Jensen-Stall wegfuhr. Der neue Assistent sah einfach gnadenlos gut aus und hatte ohne Zweifel mit ihr geflirtet. Zwei fünfzig Pfund schwere Futtersäcke gleichzeitig in die Futterkammer zu tragen! Das hätte er sich echt sparen können. Das war reine Angeberei, ein Versuch, sie mit seiner Kraft und seinen muskulösen Armen zu beeindrucken.

Nun, er würde ein paar Überraschungen erleben, wenn er damit bei ihr landen wollte. Erstens hatte sie von Kindesbeinen an mit vielen männlichen Stammesangehörigen zu tun gehabt und durchschaute sie alle. Viele von ihnen bekamen während der Pubertät Probleme mit ihrem Selbstwertgefühl, was an der Diskriminierung lag, der sie meist ausgesetzt waren. Die anscheinend beste Möglichkeit für diese jungen Männer, sich wieder aufzurichten, war es, ein Mädchen aufzureißen. Das brachte ihr Testosteron in Wallung und gab ihrem Selbstbewusstsein neuen Schwung. Sie wusste das so genau, weil auch sie schon aufgerissen und dann grausam abserviert worden war. Aber sie hatte es überlebt und würde nicht zulassen, dass ihr das noch einmal geschah.

Außerdem wusste sie, dass die meisten männlichen amerikanischen Ureinwohner – zumindest von denen, die sie kannte – altmodische Vorstellungen von der Machtverteilung in einer Beziehung hatten. Sobald sie in ihrem Leben das erste Mal an sich herabschauten und entdeckten, dass sie männliche Wesen waren, verfielen sie in die dominante Rolle. Lilly hatte schon mit ihrem alles bestimmenden Großvater genug zu tun, weshalb sie sich von anderen indianischen Männern fernhielt. Sie war in der Lage, auf sich selbst aufzupassen, und hatte nicht die geringste Angst davor, allein zu leben. Tatsächlich gefiel ihr das sogar ziemlich gut.

Und dann diese ganze Hopi/Navajo-Geschichte; ihre Stammestraditionen, ihre Sitten und Bräuche. Unendlich viel davon war ihr in Fleisch und Blut übergegangen, da ihr Großvater nicht aufhörte, davon zu reden. Sie hatte nie versucht, ihre Verbindung zur Gemeinschaft der amerikanischen Ureinwohner zu leugnen, aber schon lange bemühte sie sich, ein wenig Abstand von alledem zu gewinnen. Sie fand, sie könne auch eine stolze Hopi sein, ohne sich ständig mit dem ganzen Stammeskram zu beschäftigen. Schließlich war sie auch französischer, deutscher, polnischer und irischer Abstammung – zumindest hatte ihre Mutter das ihrem Großvater erzählt. Mit dem Namen ihres Vaters war sie nie herausgerückt, doch über seine Herkunft war Lilly informiert.

Ihre Mutter war bei Lillys Geburt selbst noch ein Teenager gewesen. Sie hatte ihr Baby bei seinen Großeltern abgegeben und war weggelaufen, und niemand wusste, wohin. Freunde aus dem Hopi-Reservat hatten gehört, dass ihre Mutter gestorben sei, allerdings gab es keinen Nachweis dafür, und niemand wusste Genaues. Lilly und ihre Großeltern hatten nie wieder etwas von ihr gehört, und keiner von ihnen hatte sich die Mühe gemacht, mehr über sie herauszufinden.

Ihr Großvater war ein starker, Respekt einflößender Mann. Als ihre Großmutter noch lebte, hatte er sie behandelt, als wäre sie aus purem Gold, aber dennoch hatte Grandma ihn sämtliche Entscheidungen treffen lassen. An einer solchen althergebrachten Beziehung war Lilly nicht interessiert. Das war einer der Gründe, weshalb sie sich lieber an andere Männer hielt, wenn sie sich einmal mit einem Typen verabredete, was selten genug vorkam. An den viel zu heißen Vertretern des männlichen Geschlechts unter den amerikanischen Ureinwohnern wollte sie sich die Hände jedenfalls nicht verbrennen.

Einmal hatte sie sich in einen Navajo verliebt. Damals war sie noch ein richtiges Kind gewesen, gerade einmal dreizehn Jahre. Er war achtzehn und hatte bei ihr all die richtigen Knöpfe gedrückt. Er war eine derart starke Versuchung für sie gewesen, dass sie sich ihrem Großvater widersetzt hatte, um mit diesem Jungen zusammen zu sein. Aber sie hatte mehr bekommen, als sie verkraften konnte. Und nachdem die Beziehung ihr tragisches Ende gefunden hatte, hatte sie geschworen, sich nie wieder von einem Mann wie ihm verführen zu lassen. Niemals.

Zweifellos war das auch der Grund, weshalb Clays plötzlicher Auftritt sie so aus der Fassung brachte. Er war mindestens so attraktiv wie dieser Junge, der sie vor ewigen Zeiten derart umgehauen hatte. Nein, nicht ebenso attraktiv. Clay war wahrscheinlich der schönste Mann, der ihr überhaupt je begegnet war. Groß. Kräftig. Exotisch.

Auf dem Rückweg zur Futterhandlung lenkte Lilly den Pick-up einmal mehr durch eine der vielen Kurven, da entdeckte sie etwas, das ihre Aufmerksamkeit erregte … eine schwarze Wölbung hinter einem heruntergekommenen Stacheldrahtzaun. Es war ein Pferd, das auf dem Boden lag. Eigentlich gar kein so ungewöhnlicher Anblick, aber Lilly fuhr langsamer. Während sie näher kam, verstärkte sich ihr Gefühl, dass etwas daran nicht in Ordnung war. Dann sah sie, dass das Pferd sich auf dem Boden hin und her wälzte.

Als sie mit ihren Großeltern im Hopi-Reservat lebte, hatte Lilly viel Zeit mit den Pferden ihrer Nachbarn verbracht und war als junges Mädchen oft geritten. Doch nachdem sie mit dreizehn Jahren mit ihrem Großvater nach Kalifornien umgezogen war, hatte sie wesentlich mehr Zeit mit dem Futter verbracht als mit den Tieren, die es fraßen. Ihr Großvater hatte zwar die Futter- und Getreidehandlung gekauft, hielt dennoch selbst kein Nutzvieh. Heute ritt sie nur noch selten, und das auch erst wieder seit zwei Jahren, trotzdem kannte sie sich mit Pferden sehr gut aus.

Sie parkte am Straßenrand und beobachtete das Tier. Plötzlich gab sich die Stute einen Ruck, rollte sich auf die Seite, stand auf und versuchte sich zu strecken. Sie zog die Oberlippe hoch, scharrte mit den Vorderhufen den Boden auf und schlug nach hinten aus. Dann ließ sie sich wieder fallen.

Verdammt, dachte Lilly. Das Pferd war krank. Sehr krank. Das einzige Haus in Sichtweite befand sich auf der falschen Straßenseite, aber vielleicht konnte ihr dort jemand sagen, wo die Besitzer dieser Wiese und des Pferdes zu finden waren. Sie ging zu dem Haus, und ein unrasierter Mann in T-Shirt öffnete die Tür. Den Namen des Pferdebesitzers kannte er nicht, aber er wusste, wo er herkam. Er beschrieb ihr den Weg. Ein Stück weiter die Straße hinauf bis zur nächsten Abzweigung, dann noch eine Viertelmeile und sie würde ein altes Farmhaus mit Stall finden. Sie beeilte sich, und was sie dort vorfand, verblüffte und verwirrte sie.

Sofort rief sie Dr. Jensen auf seinem Handy an. »Nathaniel, ich habe eine kranke Stute am Straßenrand entdeckt, und das Grundstück des Eigentümers ist menschenleer. Sieht aus, als wären sie getürmt. Niemand im Haus, alle Möbel fehlen, ein paar echt dünne Hunde halten sich noch im Stall auf, die Futtertonne ist noch halb voll, doch ihre Näpfe sind leer. Das Pferd wälzt sich auf dem Boden, schlägt aus, flehmt, schwitzt …«

»Wo bist du, Lilly?«

»Ich bin von der 36 runter und an einer Kreuzung von der Bell Road abgebogen in eine Straße, die sich Mercury Pass nennt. Allerdings gibt es da kein Straßenschild. Ein Nachbar hatte mir den Weg zu diesem alten Farmhaus beschrieben. Das Pferd wälzt sich gleich neben der Bell kurz nach der Abfahrt von der 36

»Ich kenne das Grundstück«, meinte Nathaniel. »Das gehört den Jeromes. Soweit ich weiß, haben sie nur dieses eine Pferd. Eine zwölf Jahre alte schwarze Stute. Aber ich war seit ungefähr einem Jahr nicht mehr bei ihnen … vielleicht auch länger.«

Tatsächlich war sie eine sehr hübsche schwarze Stute, mit weißen Socken an den Hinterbeinen und einer sternförmigen Blesse auf der Stirn. »Das ist sie. Sie ist eine Schönheit. Und es geht ihr richtig dreckig.«

»Ich komme so schnell wie möglich«, erwiderte er und legte auf.

Lilly wollte zu dem Pferd zurück, konnte sich allerdings nicht verkneifen, schnell noch mal den Stall und das Gelände abzusuchen, um sich zu vergewissern, dass es keine weiteren Opfer gab … Pferde, Ziegen, Kühe oder Hühner. Die kleine Koppel war verwahrlost und voller Pferdemist, der Stall ein einziges schmutziges Chaos. Überall verstreut lagen Mist und Abfall herum. An Ausrüstung für das Pferd konnte sie dort nichts entdecken, kein Zaumzeug, kein Sattel, keine Fellbürste. Dahinter fand sie einen Hühnerstall, dessen Tür offen stand. Ein paar zerbrochene Eierschalen und sehr viele Federn lagen herum. Hatten sie die Hühner etwa als Futter für Berglöwen, Kojoten und wilde Hunde zurückgelassen?

Lilly hatte genug gesehen. Sie sprang in den Truck und eilte wieder zurück zum Pferd. Die Stute hatte sich wieder aufgerappelt, streckte sich und zog die Oberlippe hoch. Sie hatte Koliken, so viel war klar. Erfolglos versuchte sie ein paarmal gegen ihre Körpermitte zu treten, dann sackte sie auch schon wieder zu Boden und wälzte sich herum, bis sie schlapp und schwitzend liegen blieb. Lilly sprang über den Zaun und kniete sich neben ihren Kopf, streichelte ihre Nüstern und versicherte ihr, dass alles gut würde, auch wenn sie sich dessen nicht wirklich sicher war.

Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bevor sie einen Truck mit Pferdeanhänger kommen sah. Als er näher kam, stellte Lilly fest, dass Nathaniel seinen neuen Assistenten mitgebracht hatte. Während die beiden ausstiegen, kämpfte das Pferd sich wieder auf die Beine und wiederholte die gleichen Bewegungsabläufe wir vorher.

»Was ist hier los, Lilly?«, fragte Nathaniel. Er stützte sich mit beiden Händen auf einen Zaunpfahl und sprang über den Stacheldraht, während Clay hinter den Transporter trat, ihn öffnete und die Rampe herunterließ.

»Ihrem Verhalten nach scheint sie eine Kolik zu haben, Doc. Und das anscheinend schon eine ganze Weile.«

»Hast du oben bei den Jeromes jemanden gefunden?«

»Nein. Wie es scheint, haben sie sich aus dem Staub gemacht. Hinter dem Stall habe ich noch einen Hühnerstall entdeckt, an dem die Türen aufstanden. Überall lagen zerbrochene Eier herum und Unmengen von Federn. Du glaubst doch nicht etwa …?«

»… dass sie das Pferd auf der Weide, die Tür zum Hühnerstall offen und die Hunde sich selbst überlassen haben, auf dass sie sich allein durchschlagen?« Nathaniel zog dem Pferd die Lippen zurück, damit er sich die Schleimhaut ansehen konnte. Dann horchte er mit einem Stethoskop seine Flanke ab, um festzustellen, ob abnormale Darmgeräusche zu hören waren, und schließlich tastete er den verkrampften Bauch ab, eine Aktion, bei der die Stute ein wenig zu tänzeln begann. »Seit der Depression hat es so etwas in dem Umfang nicht mehr gegeben, sagt mein Dad. Bei der hohen Arbeitslosenquote und der schlechten Finanzlage sind die Leute manchmal vor eine schwere Wahl gestellt. Es kommt vor, dass sie entscheiden müssen, ob sie ihre Kinder füttern wollen oder ihre Tiere. Ein paar von ihnen geben ihr Eigentum, ihre Hypotheken und ihre Tiere auf und suchen einfach irgendwo eine Zuflucht.«

»Ihre Möbel haben sie mitgenommen«, erklärte Lilly. »Das Haus ist leer. Ebenso der Getreidebehälter und der Futtertrog. Hältst du es für möglich, dass sie alles, was an Futter noch übrig war, reingeworfen haben und die Stute sich überfressen hat?«

»Möglich ist alles. Vor ein paar Wochen haben irgendwelche Leute weiter unten am Fluss einen toten siebenjährigen Wallach neben der Straße gefunden. Er war verhungert. Ich kannte das Pferd nicht. Möglich, dass jemand, der es sich nicht leisten konnte, es zu halten, es in der Hoffnung auf eine abgegraste Wiese gestellt hat, dass es jemand retten würde.«

»Hätten sie ihn nicht verkaufen können?«

»Bei dieser Wirtschaftslage? Das dürfte schwer sein.«

Clay gesellte sich mit Halfter und Führstrick in der Hand zu ihnen. Nathaniel nahm sie ihm ab und sagte: »Kannst du mir vielleicht meine Tasche holen, Clay? Und zieh doch bitte schon mal zehn Kubikzentimeter Flunixin auf.«

»Alles klar.«

»Wie kannst du ihr helfen, Nate?«, fragte Lilly.

»Ich will ihre Temperatur messen und mich vergewissern, dass keine andere Krankheit vorliegt. Sie könnten sie auch vergiftet haben, um sie einzuschläfern, bevor sie sie verlassen haben, doch das würde mich überraschen. Die meisten Menschen, die in eine Situation geraten, die sie zwingt, ihre Tiere aufzugeben, hoffen auf das Beste. Wenn wir es mit einer fortgeschrittenen Kolik zu tun haben, werde ich ihr Flunixin gegen die Schmerzen verabreichen, ihr einen Magenschlauch legen und etwas Öl einführen. Dann müssen wir abwarten, ob das die Verstopfung löst. Falls es eine Darmverschlingung ist und sie operiert werden muss … nun, wollen wir hoffen, dass es nur eine Blockade ist …«

Lilly biss sich auf die Lippe; sie verstand. Nathaniel konnte diese Stute nicht operieren, unterbringen und pflegen, wenn das Risiko groß war, dass sie nicht überlebte. Kein Tierarzt konnte sich allzu viele kostenaufwendige Wohlfahrtspatienten leisten.

Als Clay mit der Tasche und dem Medikament wiederkam, zog Lilly sich zurück, damit sie die beiden nicht bei ihrer Arbeit behinderte. Sie staunte, wie gut die beiden zusammenarbeiteten. Jetzt flirtete Clay nicht mit ihr; er war auf das Pferd konzentriert und assistierte dem Arzt. Es dauerte ungefähr dreißig Minuten, in denen das Pferd sehr aufgeregt war, sich ständig streckte und ausschlug. Clay hatte ihr das Halfter angelegt und hielt sie am Führstrick, sodass er ihre Bewegungen etwas kontrollieren und dafür sorgen konnte, dass sie stehen blieb, denn wenn sie sich am Boden wälzte, bestand die Gefahr, dass es zu einer Darmverschlingung kam. Aber vor allem streichelte er sie, um sie so ruhig wie möglich zu halten, während Nathaniel erst seine Untersuchung abschloss und ihr dann das Flunixin spritzte. Das schien das Tier beinahe auf der Stelle zu beruhigen, auch wenn sie alles andere als begeistert von dem Magenschlauch war, der ihr anschließend durch die Nase eingeführt wurde.

Clay und Nathaniel arbeiteten zusammen, als ob sie schon hundertmal in dieser Situation gewesen wären. Als die Stute sich gegen den Schlauch wehrte, trat Lilly einen Schritt vor, um irgendwie zu helfen, aber Clay hob abwehrend eine Hand und sagte ruhig und leise: »Nein, Lilly. Sie hat Schmerzen, und wenn sie ausschlägt, könnte sie Sie treffen. Bleiben Sie bitte zurück.«

Nachdem das Öl infundiert und der Schlauch wieder entfernt worden war, schien es, als wollte das Pferd wieder zu Boden sinken. Doch Nathaniel sagte Clay, dass er versuchen sollte, sie auf den Beinen zu halten und langsam und ruhig mit ihr umherzugehen.

»Wirst du sie in deinen Stall bringen?«, fragte Lilly.

»Nicht so bald«, antwortete Nathaniel. »Vielleicht später, falls das Öl hilft, eine Verstopfung zu lösen. Willst du die Wahrheit hören? Dieses Pferd wird von Glück reden können, wenn es nur eine Verstopfung ist und sich dadurch etwas in Bewegung setzt. Wenn wir sie aber in diesem Zustand in den Transporter stellen, wird das weder für sie noch für mich gut sein. Sie wird ihn unweigerlich zu Kleinholz machen oder sich auch selbst verletzen, solange sie versucht, mit allen Mitteln die Schmerzen in ihrem Bauch zu lindern.«

»Du willst sie hierlassen?«

»Wahrscheinlich bleibt mir nichts anderes übrig, Lilly. Allerdings mit etwas Glück wird die Behandlung anschlagen, und wir werden morgen früh ein schmerzfreies Pferd vorfinden. Du kannst fahren, Lilly. Clay und ich werden das jetzt übernehmen.«

»Aber … Aber wollt ihr sie denn hier draußen allein lassen?«

»In dieser Verfassung lassen wir sie nicht allein. Ich werde bleiben, bis ich weiß, wie sich die Dinge entwickeln. Und falls es schlimmer werden sollte …«

Sofort erstarrte sie. »Was ist dann?«

»Es gibt keinen Besitzer, und sie hat Schmerzen«, erklärte Nathaniel. »Wenn es schlimmer wird, werde ich sie einschläfern.«

»Nein …«

»Sie wird jede Chance und jede mögliche Behandlung erhalten, Lilly«, versicherte Clay ihr mit leiser freundlicher Stimme. »Wir geben kein Pferd auf, das noch eine Chance hat.«

»Versprechen Sie mir das?«

»Versprochen«, sagte er und nickte eindringlich. »Fahren Sie nur nach Hause. Sie haben genug getan. Und vielen Dank.«

Beinahe ängstlich wich sie zurück. »Nein. Ich danke Ihnen. Bitte kümmern Sie sich um sie.«

»Selbstverständlich. Versuchen Sie, sich keine Sorgen zu machen.«

Während Lilly zu ihrem Wagen zurückging, murmelte sie: »Wie kann man sie nur einfach so zurücklassen? Sie aufgeben …?« Aber Clay und Nathaniel hörten sie nicht mehr, denn sie waren mit dem Pferd beschäftigt.

Die Futterlieferungen für ihren Großvater Yaz, wie alle ihn nannten, erledigte Lilly mit einem der Firmentrucks. Sie selber besaß einen kleinen roten Jeep, den sie hinter dem Geschäft geparkt hatte. Den größten Teil ihrer Arbeitszeit brachte sie damit zu, Rechnungen zu bearbeiten, Nachschub zu bestellen und die Buchhaltung zu machen. Doch an zwei Nachmittagen in der Woche fuhr sie mit einem Firmentruck herum, den einer der Männer, die für Yaz arbeiteten, jedes Mal neu belud, wenn sie nach einer Lieferung zurückkam. Sie belieferte mehrere kleinere Ställe und Pferdehalter. Die größeren Fahrten zu den großen Ranches und Farmen erledigte Yaz mithilfe von zwei Angestellten selbst, wozu er den Tieflader benutzte. Yaz war neunundsechzig, aber noch immer stark wie ein Ochse. Einige Farmer und Rancher bauten ihr eigenes Futter an; andere holten ihr Futter selbst ab und sparten so etwas Geld.

Lilly ging mit dem Schlüssel des Pick-ups und dem Klemmbrett zum Schreibtisch ihres Großvaters im hinteren Teil des Geschäfts. »Alles erledigt, Grandpa«, verkündete sie und reichte ihm die Papiere und die Schlüssel. »Brauchst du mich heute noch?«

»Danke, Lilly. Gab es irgendwelche Probleme, von denen ich wissen sollte?«

»Mit der Lieferung war alles in Ordnung. Dr. Jensen nimmt ab morgen ein weiteres Pferd in Pension, deshalb werde ich die Ration beim nächsten Mal entsprechend erhöhen.«

»Braucht er eine Extratour?«

»Von einer Extralieferung hat er nichts gesagt, nur dass es beim nächsten Mal entsprechend mehr sein soll. Ich habe die Futterkammer gesehen, und der Vorrat reicht. Er hat jetzt einen neuen Mann, der für ihn arbeitet.« Ihr Großvater sah nicht einmal von den abgezeichneten Lieferzetteln hoch, die sie ihm gegeben hatte. »Virginia konnte es gar nicht abwarten und ist in dem Moment in Ruhestand gegangen, sowie der Neue unterwegs war.« Mit seinen Papieren beschäftigt, nickte Yaz nur. »Er hat sich einen Assistenten zugelegt. Ein großer Kerl. Ein Navajo.«

Nun blickte Yaz auf und schaute seiner Enkelin in die Augen. Sein Lächeln war nur angedeutet. »Tatsächlich? Warum ist er hierhergekommen?«

Fast wäre Lilly rot geworden; sie hatte keine Ahnung, weil sie Clay überhaupt keine persönlichen Fragen gestellt hatte. Er hatte sie dies und das gefragt, leicht flirtend und einfach, weil er freundlich sein wollte, wie sie annahm, aber von ihm wusste sie nur, dass er ein Navajo war und zwei Ballen Heu auf einmal tragen konnte. »Ich habe mich nicht wirklich mit ihm unterhalten. Nur so Hallo gesagt, weiter nichts.«

»Kann er gut mit Pferden umgehen?«

»Ja, er … Grandpa, auf dem Rückweg habe ich an der Straße ein krankes Pferd entdeckt. Wahrscheinlich eine Kolik. Ich habe Nathaniel angerufen, und er ist mit Clay rausgekommen. So heißt dieser Mann, Clay. Sie sind sofort da gewesen, doch wir haben nur herausgefunden, dass die Leute, denen die Wiese gehört, auf der die Stute steht, und das Haus und der Stall dazu, dass sie einfach auf und davon sind und ihre Tiere verhungern lassen. Nathaniel hat gemeint, dass so etwas jetzt immer öfter passiert, wegen der schlechten Wirtschaftslage und der Arbeitslosigkeit.«

»Den Menschen, die vorher schon ein hartes Leben hatten, geht es jetzt noch schlechter«, bestätigte Yaz.

»Er hat gesagt, dass sie manchmal vor der Wahl stehen, entweder ihre Kinder zu füttern oder ihre Tiere. Aber es gibt doch Organisationen, die in solchen Fällen helfen! Wieso haben sie sich nicht dort gemeldet?«

Yaz sah zu ihr hoch. Seine dunklen Augen glänzten feucht, die Haut darunter und in den Augenwinkeln war faltig wie Krepppapier. »Selbst die Rettungsorganisationen sind an ihre Grenzen gestoßen. Zudem spielen auch Stolz und Scham eine Rolle.« Er lehnte sich in seinem alten Schreibtischstuhl zurück. »Wenn ein Mensch vor seinen Schulden davonläuft, sagt er normalerweise nicht Auf Wiedersehen.«

»Man sollte doch meinen, dass wer auch immer das gewesen ist, seinen Stolz so weit hätte herunterschlucken können, um darüber zu informieren, dass die Tiere zurückbleiben«, erwiderte sie.

»Das sollte man meinen«, stimmte er ihr zu. »Wird das Pferd durchkommen?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Obwohl er dafür nicht bezahlt wird, hat Nathaniel die Stute mit einem Schmerzmittel und Öl behandelt, als ich gefahren bin.«

Yaz beugte sich wieder über sein Klemmbrett und blätterte die Lieferzettel durch. »Na, wenigstens hat sie den besten Arzt, und das für umsonst.«

»Ja, wirklich«, bestätigte Lilly leise. »Du wirst den neuen Mann kennenlernen wollen. Er kommt auch aus der Gegend von Flagstaff.«

In seinen Mundwinkeln deutete sich ein Lächeln an. »Es wird guttun, mal einen Nachbarn zu treffen, selbst wenn’s nur ein schwächerer Nachbar ist.« Die Hopis und Navajos hatten lange Zeit nebeneinander gelebt und sich abwechselnd gut verstanden oder gestritten. »Ich freue mich darauf, ihn kennenzulernen. Wir sehen uns Sonntag.« Das war der Tag, an dem sie ihn regelmäßig in seinem Haus besuchte, um mit ihm zu essen. Er pflegte die Traditionen, was bedeutete, dass Lilly kochte. Abgesehen davon sorgte sie auch dafür, dass das Haus ihres Großvaters immer sauber und seine Wäsche gewaschen war.

So viel zu ihrer nicht traditionellen Lebensweise …

»Bis Sonntag«, bestätigte sie und verließ sein Büro.

Das Gespräch mit ihrem Großvater hatte ihr zwar gutgetan, aber sie fühlte sich noch immer bedrückt. Wahrscheinlich hatte Lilly aus mehr als einem Grund ein Problem mit dieser Pferdegeschichte. Als Kleinkind hatte ihre Mutter sie verlassen und ihre Erziehung in die Hände der Großeltern gelegt, die im Reservat von Arizona lebten. Dann war ihre Großmutter gestorben, als Lilly neun war. Obwohl gramerfüllt, hatte Yaz die Aussicht, sie allein und ohne Hilfe einer Frau zu erziehen, keineswegs erschreckt. Tatsächlich zeigte er sich der Situation gewachsen und schien Gefallen an seinen erzieherischen Pflichten zu finden. Doch mit dreizehn hatte schließlich der Junge, den sie geliebt hatte, mit ihr Schluss gemacht und sie einfach mit Problemen, die sie überfordert hatten, im Stich gelassen. Verlassen zu werden war ein Thema für sie, das war ihr wohl bewusst.

Im selben Jahr noch war Yaz mit ihr nach Kalifornien gegangen. Über den Freund eines Freundes hatte er erfahren, dass diese Futterhandlung zum Verkauf stand. Sein ganzes Leben im Reservat hatte er auf eine solche Gelegenheit gespart. Das war nun vierzehn Jahre her. Erst mit fünfundzwanzig war Lilly aus dem Haus ihres Großvaters ausgezogen, und das war ein schwerer Schritt gewesen. Ihm wäre es eindeutig am liebsten, sie würde ewig bei ihm wohnen, oder wenigstens doch so lange, bis sie verheiratet war.

Auf dem Weg zu dem kleinen Haus, das Lilly am Stadtrand von Fortuna gemietet hatte, wurde ihr klar, dass sie zu der Wiese zurückmusste. Sie musste einfach wissen, ob die Stute dort allein geblieben war, ob sie Schmerzen hatte und krank war, oder ob sie gar … Sie weigerte sich, das Wort tot auch nur zu denken. Sie brauchte Gewissheit. Und falls Nathaniel und Clay sie dort sich selbst überlassen hatten, würde eben Lilly so lange bei ihr bleiben, bis sie sich entweder erholt hatte oder … Wieder wehrte sich ihr Geist, eine gewisse Möglichkeit in Betracht zu ziehen.

Aber wenn sie sich kurz erlaubte, in Gedanken so weit zu gehen, wusste sie auch, dass sie dann zur Stelle wäre, um der Stute den Kopf zu streicheln und sie mit liebevollen Worten zu verabschieden.

Zu Hause machte sie sich rasch ein Sandwich, das sie mit Portobello-Pilzen, Käse, Paprika und Tomate belegte und einpackte. Es war jetzt zwei Stunden her, seit sie das Pferd gefunden hatte. Sie schnappte sich noch je eine Tüte Soja-Nüsse und Mandeln, eine Flasche Apfelsaft und eine mit Wasser. Dann suchte sie in der Garage neben dem Haus nach ihrem alten Schlafsack, der leicht muffig roch, als sie ihn schließlich fand. Wenn das Pferd nicht ernsthaft an Verdauungsbeschwerden leiden würde, hätte sie ihm ein paar Möhren und Äpfel mitgenommen, aber fürs Erste durfte die Stute nichts fressen.

Kurz vor sieben war sie schließlich wieder auf der Straße, und gegen halb acht erreichte sie die Stelle, wo sie auf die Stute gestoßen war. Es war August, und die Sonne begann gerade erst im Westen unterzugehen, wobei es hier jedoch wegen der hohen Bäume etwas früher dunkel wurde als an der Pazifikküste. Sie erschrak, als sie sah, dass Truck und Trailer nicht nur noch dort standen, sondern inzwischen durch Warndreiecke gesichert waren, um alle Fahrzeuge, die nach Einbruch der Dunkelheit noch vorbeikommen mochten, zu warnen.

Lilly parkte vor dem Pick-up und stieg aus. Ihren Proviant ließ sie im Wagen zurück. Trotz der Dämmerung konnte sie erkennen, dass Clay das Pferd in einem großen Kreis über die Wiese führte, und aus Kindertagen wusste sie noch, dass dies zur Behandlung einer Kolik gehörte. Ein wenig Bewegung, nicht zu viel und nur in einem gemäßigten, sicheren Tempo. Dr. Jensen konnte sie nirgendwo ausmachen.

Sie sprang über den Zaun, um auf die Wiese zu gelangen. Es dauerte nicht lange, da kam Clay mit dem Pferd an der Hand auf sie zu. »Sie sind zurückgekommen«, stellte er fest. »Kann ich etwas für Sie tun?«

»Ja«, antwortete Lilly. »Ich muss wissen, dass sie durchkommen wird.«

»Sie hält sich tapfer, doch sie braucht noch etwas Zeit.«

»Aber es geht ihr doch nicht schlechter, oder?«

»Nein, sie macht sich gut. Sie ist allerdings auch vollgepumpt mit Flunixin. Jetzt ist es eine Geduldsprobe, bis wir sagen können, ob die Behandlung angeschlagen hat. Sie ist noch immer gestresst, scharrt mit den Hufen und streckt sich. Armes Mädchen. War das der einzige Grund, weshalb Sie hier sind?«

Schulterzuckend schob Lilly die Hände in die Gesäßtaschen ihrer Jeans. »Ich hatte Angst, Sie könnten wegfahren, und sie wäre dann … Ich wollte sie nicht allein lassen. Falls es … Also, falls sich ihr Zustand arg verschlechtern sollte.«

Autor

Robyn Carr
<p>Seit Robyn Carr den ersten Band ihrer gefeierten <em>Virgin River</em>-Serie veröffentlichte, stehen ihre Romane regelmäßig auf der Bestsellerliste der <em>New York Times</em>. Auch ihre herzerwärmende <em>Thunder Point</em>-Reihe, die in einem idyllischen Küstenstädtchen spielt, hat auf Anhieb die Leserinnen und Leser begeistert. Robyn Carr hat zwei erwachsene Kinder und lebt mit...
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