Abbild des Todes

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Eine erste Spur führt sie ins Blue Moon, ein Nachtclub, der ausgerechnet Zoes Exmann Rick Vaughn gehört. Seine Sängerin wird vermisst. Während sie sich gemeinsam auf die Suche nach ihr machen, gerät Zoe selbst unversehens ins Visier des Mörders - und erst im Angesicht des eigenen Todes kann sie sich eingestehen, was sie noch immer für Rick empfindet.


  • Erscheinungstag 29.02.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783955765521
  • Seitenanzahl 332
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Christiane Heggan

Abbild des Todes

Roman

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MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2012 by MIRA Taschenbuch
in der Harlequin Enterprises GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

Now You Die

Copyright © 2005 by Christine Heggan

erschienen bei: Mira Books, Toronto

Published by arrangement with

HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Titelabbildung: Milles Studio / shutterstock ; Yuganov Konstantin / shutterstock

eBook-Herstellung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN eBook 9783955765521

www.mira-taschenbuch.de

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PROLOG

New York City
10. Dezember – 23.00 Uhr

Lola Malone war nur noch einen Block vom Tompkins Square Park entfernt, als sie plötzlich stehen blieb. Kurz zuvor hatte sie den Gedanken, der ihr in diesem Moment wieder durch den Kopf schoss, schon einmal verworfen. Aber die Geräusche, die sie hinter sich hörte, wurden zwar vom leicht fallenden Schnee gedämpft, doch es waren eindeutig Schritte!

Ängstlich warf sie einen Blick über ihre Schulter. Die dunkle Seitenstraße erinnerte sie wieder daran, warum sie sich noch nie wohl dabei gefühlt hatte, nachts ganz allein in dieser Gegend von Manhattan unterwegs zu sein. Tagsüber pulsierte in den Straßen durch die unvergleichliche Mischung aus Künstlern, Studenten und Touristen das Leben, doch nach Einbruch der Dämmerung wurde die Stimmung hier im East Village nahezu bedrohlich. Zum Glück hatte der Schnee heute die Heimatlosen und Verzweifelten vertrieben. Zumindest die meisten von ihnen.

Lola starrte in die Dunkelheit. Außer einem Obdachlosen, der zusammengerollt im nächsten Hauseingang lag, und den Scheinwerfern eines Wagens, die in der Ferne aufleuchteten, war die Straße menschenleer. Vielleicht bildete sie sich das alles nur ein. Vielleicht trugen auch die beiden alten Gruselfilme, die sie sich diese Woche ausgeliehen hatte, ihren Teil dazu bei. Aber “Warte, bis es dunkel wird” und “Was passierte mit Baby Jane?” konnte sie einfach nicht widerstehen – auch wenn sie wie jedes Mal angespannt und ängstlich auf der Kante ihres Sofas gehockt hatte. Kein Wunder, dass sie so nervös war. Sie hätte darauf bestehen sollen, dass der Taxifahrer sie erst einen Block später raussetzte, doch er war auf seinem Nachhauseweg gewesen, und weiter als bis zur Sixth Avenue wollte er nicht fahren.

Die Hände tief in den Taschen ihres Mantels vergraben, hastete sie weiter, beschleunigte ihre Schritte und schimpfte mit sich, dass sie sich mitten in der Nacht auf so ein Risiko eingelassen hatte. Was hatte sie sich nur dabei gedacht?

Da! Plötzlich hörte sie es erneut. Schritte. Sie hielten mit ihren mit, gingen, wenn sie ging, und hielten an, wenn sie anhielt.

Gehetzt blickte sie sich um. Direkt vor ihr war ein kleiner Weg, der die Seventh Street mit der First Avenue verband, und genau dort musste sie hin. Der Gedanke daran, durch diese rattenverseuchte Gasse zu laufen, behagte ihr zwar überhaupt nicht, aber das tat die Möglichkeit, überfallen oder – schlimmer noch –, vergewaltigt zu werden, auch nicht.

Um denjenigen, der hinter ihr her war, zu verwirren, bog sie erst in allerletzter Sekunde in die dunkle Straße ein. Dann betete sie, dass sie nicht ausrutschen würde, und begann zu rennen. Die Ratten, die in alle Richtungen davonstoben, weil sie ihre nächtlichen Streifzüge durch die Müllberge störte, ignorierte sie, so gut es ging.

Sie rannte, so schnell sie konnte, und hielt ihren Blick starr auf die Lichter der First Avenue gerichtet, die am anderen Ende der Gasse zu sehen waren. Panik erfasste sie, als ihr bewusst wurde, dass ihr Verfolger ebenfalls zu rennen begonnen hatte. Und aufholte.

Sie würde es nicht schaffen.

Wie um ihre Befürchtungen zu bestätigen, legte sich eine stählerne Hand auf ihre Schulter und drückte so fest zu, dass die Knie unter ihr nachgaben.

“Bitte, tun Sie mir nichts”, flehte sie. “Sie können alles von mir haben, was Sie …”

Er schleuderte sie herum. Ein Keuchen entfuhr ihr, als sie ihn erkannte. Entsetzt starrte sie ihn an, denn diesen Blick in seinen Augen hatte sie noch nie gesehen.

“Ich habe dich gewarnt, Lola, mit mir keine Spielchen zu spielen”, knurrte er mit unterdrückter Wut in der Stimme. “Aber du hast es trotzdem getan. Das war dumm von dir.”

“Es tut mir leid!” Sie schluckte. “Ich war enttäuscht, ich habe nicht nachgedacht.” Sie suchte in seinen Augen nach einem Anflug von Verständnis oder Mitleid. Doch sie entdeckte nichts als Verachtung. “Lass mich gehen, und ich schwöre dir, dass ich verschwinden werde. Hierher zu kommen war ein Fehler, das weiß ich jetzt.”

“Als ob ich dir das glauben würde.” Er trat so nah an sie heran, dass ihre Gesichter sich beinahe berührten. “Niemand droht mir. Denk daran, wenn du jetzt stirbst.”

Er legte seine Hände um ihren Hals. Die Angst raubte ihr beinahe das Bewusstsein. Er würde sie erwürgen. Voller Panik versuchte sie, ihre Finger zwischen ihren Hals und seine Hände zu zwängen – vergeblich. Er war zu stark.

Durch ihre halb geschlossenen Lider sah sie die Straßenlampe über sich, aber ihr Schein begann langsam zu verschwimmen. Als alle ihre Hoffnungen schwanden, hörte sie etwas – ein leises Rascheln. Das Geräusch kam von dem Müllcontainer neben ihr. Da war jemand!

Sie blickte in die Richtung, ihre Lippen formten die Worte, doch sie hatte nicht mehr die Kraft, sie auszusprechen: “Hilf … mir. Bitte … hilf … mir.”

1. KAPITEL

“Gib’s mir zurück, du mieses, nichtsnutziges Stück!” Fluchend versuchte Zoe Foster, den Absatz ihres teuersten schwarzen Pumps aus dem Gitterrost im Bürgersteig zu befreien. Verärgert, weil ihre verzweifelten Versuche ins Nichts führten, zog sie mit aller Kraft – und stöhnte auf, als sie schließlich zwar den Schuh in der Hand hielt, der Absatz aber immer noch feststeckte.

“Diese Dinger sollten auf Bürgersteigen verboten werden.” Grummelnd ließ sie sich auf alle viere nieder und rüttelte an dem abgebrochenen Absatz. Nach ungefähr einer Minute hatte sie es geschafft, doch schön war das, was sie nun in den Händen hielt, wahrlich nicht mehr. Der schwarze Samt hing in Fetzen herunter, und im Holz klaffte eine tiefe Scharte.

Zoe steckte den ramponierten Absatz in ihre Handtasche und humpelte zur Bordsteinkante, wo sie ihren Arm hob, um ein Taxi anzuhalten, das in diesem Moment die Straße entlangkam.

Obwohl es leer war, fuhr das Taxi einfach an ihr vorbei – nicht ohne sie dabei von oben bis unten mit Schneematsch zu besprühen. Konnte es noch schlimmer kommen? “Hey”, rief sie dem verschwindenden Auto hinterher. “Haben Sie schon mal was von Straßenetikette gehört?”

In der Hoffnung, ein anderes Taxi zu entdecken, blickte sie die First Avenue auf und ab und seufzte. Wem wollte sie etwas vormachen? Bei diesem Wetter und um diese Uhrzeit waren ihre Chancen, ein Taxi zu erwischen, gleich null. Sie hätte E.J.s Angebot, sie mit seiner Limousine nach Hause zu fahren, annehmen sollen. Ihr Boss hatte den Wagen allen zur Verfügung gestellt, denen es nichts ausmachte zu warten, bis die Weihnachtsfeier zu Ende war. Einige hatten das Angebot angenommen, doch Zoe, die seit Tagesanbruch an ihrem neuen Comic arbeitete, hatte sich entschieden, früher zu gehen, um zu Hause noch ein bisschen zu zeichnen.

Sie schlug den Kragen ihres weißen Mantels hoch und machte sich – wegen des fehlenden Absatzes etwas unsicher auf den Beinen – auf den Weg zur Houston Street, wo die Chancen auf eine Mitfahrgelegenheit deutlich besser standen. Als sie die Gasse neben dem Herald Building passierte, bemerkte sie aus den Augenwinkeln ein Funkeln.

Sie drehte ihren Kopf und schnappte nach Luft.

Eine Frau in einem langen schwarzen Mantel und mit schwarzen Stiefeln lag auf der Erde. Sie sah aus, als ob sie schliefe. Zoe eilte zu ihr und ließ sich neben ihr auf die Knie sinken. Die Frau war wunderschön, mit langem blondem Haar, das über ihre Schultern reichte, makelloser Haut und einem aufregenden roten Mund. Ihr linker Arm lag quer über ihrem Körper, und um das Handgelenk trug sie ein glänzendes goldenes Armband – das Glitzern, das Zoe gesehen hatte.

“Miss?” Zoe berührte die Frau an der Schulter. “Sie sollten hier nicht schlafen.” Als sie keine Antwort erhielt, rüttelte sie sie sanft. “Miss, sind Sie verletzt? Können Sie mich hören?”

Die Frau rührte sich nicht. Von einer schrecklichen Vorahnung erfüllt, schob Zoe zwei Finger unter den Schal der Frau, um den Puls zu fühlen. Doch da war kein Puls mehr!

Sie wollte nach ihrem Handy greifen, als ihr einfiel, dass es nicht in ihre kleine Abendhandtasche gepasst und sie es deshalb zu Hause gelassen hatte.

Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Zoe sprang auf, rannte den Weg zurück, den sie gekommen war, und stürmte in die Lobby des Herald.

“Aaron, schnell!”, rief sie dem Wachmann zu, als er aufblickte. “Ruf 9-1-1. Da liegt eine tote Frau in der Seitenstraße.”

Erschrocken hob Aaron seine dichten weißen Augenbrauen, verschwendete jedoch keine Zeit mit unnötigen Fragen und griff sofort zum Telefon. Während er mit der Polizei sprach, nahm Zoe sein Handy, das wie immer auf dem Tresen lag, und wählte die Nummer des Herald, auch wenn sie sich nicht sicher war, dass irgendjemand abnehmen würde. Beim siebten Klingeln ging Eddy, der interne Postbote, ran. Er musste schreien, um den fröhlichen Partylärm im Hintergrund zu übertönen.

The Herald. Frohe Weihnachten!”

“Eddy, hier ist Zoe Foster.” Sie sprach schnell. “Gib mir bitte Mr. Greenfield, es handelt sich um einen Notfall.”

Sekunden später war E.J. am Apparat. “Zoe, was ist los? Ist alles in Ordnung mit dir?” Seine Stimme klang beunruhigt.

“Mir geht’s gut, aber du musst sofort in die Eingangshalle kommen. Ich habe in der Gasse neben unserem Gebäude eine tote Frau gefunden.”

“Ach, du liebe Güte. Ist es jemand, den wir kennen?”

“Ich habe sie noch niemals zuvor gesehen.”

“Hast du die Polizei angerufen?”

“Aaron ist gerade dabei.”

“Ich bin gleich unten.”

Einige Minuten später trat der Besitzer und Chefredakteur des New York Herald aus dem Fahrstuhl. Statt der fröhlichen Miene von vorhin hatte sich nun eine steile Falte zwischen seinen Brauen gebildet. Besorgt kam er auf Zoe zu. Elijah James Greenfield, von seinen Angestellten liebevoll E.J. genannt, war ein kleiner rundlicher Mann mit einem Mondgesicht, funkelnden blauen Augen und schütterem grauem Haar. Zoe betete ihn an, so wie jeder, der je das Glück hatte, mit ihm arbeiten zu dürfen.

“Wo ist sie?”, fragte er und setzte, als Zoe zu ihm humpelte, hinzu: “Und was ist mit deinem Fuß?”

“Nichts. Ich habe mir nur den Absatz abgebrochen.” Als sie sich zusammen auf den Weg zu der kleinen Seitenstraße neben dem Gebäude machen wollten, hielt ein Polizeiwagen am Bürgersteig direkt vor ihnen. Zwei uniformierte Beamte stiegen aus, und Zoe und E.J. gingen zu ihnen, um sie zu begrüßen.

“Guten Abend”, sagte der ältere Polizist. “Ich bin Officer Curtis. Das hier ist Officer Barnes.” Er schaute zu E.J. “Sind Sie derjenige, der wegen der Leiche angerufen hat?” Er sprach so ruhig, als ob es etwas ganz Alltägliches wäre, dass man einen Leichenfund meldete. Angesichts der Tatsache, dass dies New York City war, war das gar nicht so unwahrscheinlich.

Zoe trat einen Schritt vor. “Ich war das. Sie liegt da drüben.” Zoe deutete in Richtung der Gasse, doch als sie die Polizisten zum Tatort führen wollte, hielt der Officer sie zurück.

“Wir werden uns das mal ansehen, Ma’am. Sie warten bitte hier.”

E.J. wandte sich zu ihr. “Bist du sicher, dass du sie noch nie zuvor gesehen hast? Henry hat vor Kurzem zwei neue Schreibkräfte eingestellt. Ich habe keine von beiden auf der Party gesehen.”

“Sie kam mir nicht bekannt vor.” Zoe schaute an dem hohen Gebäude empor.

E.J. folgte ihrem Blick. “Ich weiß, was du denkst. Vergiss es. In New York City fallen die Leute nicht mehr aus Fenstern.”

“Doch, wenn sie gestoßen werden.”

E.J. wollte gerade antworten, als die Polizisten zurückkamen. Officer Curtis, der offensichtlich der Verantwortliche war, sprach zuerst. Er wandte sich direkt an Zoe. Seine Stimme hatte einen schneidenden Ton angenommen. “Soll das ein schlechter Witz sein, Ma’am?”

Zoe und E.J. tauschten Blicke. “Ich verstehe nicht …”

“Da liegt keine Leiche – weder in der Gasse noch sonst irgendwo in der Nähe.”

2. KAPITEL

“Aber das ist unmöglich!” Zoe blickte von einem Officer zum anderen. “Ich habe sie doch mit eigenen Augen gesehen. Ich habe sie berührt. Ich habe nach ihrem Puls gefühlt. Sie hat überhaupt nicht reagiert.”

Einer der Polizisten zog ein kleines Notizbuch aus seiner Jackentasche. “Wann war das, Ma‘am?”

“Vor weniger als zehn Minuten.”

Er begann zu schreiben. “Ihr Name bitte, Ma‘am?”

“Zoe Foster.” Weil sie dank ihrer Recherchearbeiten für ihren Comic wusste, was jetzt folgen würde, fügte sie gleich hinzu: “Ich wohne 1232 Wooster Street.”

“Was haben Sie in der Passage gemacht?”

“Ich hatte gerade die Weihnachtsparty des New York Herald verlassen und war auf dem Weg zur Houston Street, um mir ein Taxi zu nehmen. Als ich die Straße entlangging, fiel mir etwas Glitzerndes, ein goldenes Armband, ins Auge. Und im nächsten Moment habe ich die Frau entdeckt. Ich habe versucht, sie zu wecken, aber sie hat nicht reagiert.”

“Was haben Sie dann getan?”

“Ich bin zurück zum Herald gelaufen und habe den Nachtwächter gebeten, Sie zu rufen.”

“Können Sie die Frau beschreiben, von der Sie … behaupten, sie gesehen zu haben?”

Die Skepsis in seiner Stimme war nicht zu überhören, aber sie ließ sich davon nicht stören. Wenn sie die Frau nicht mit ihren eigenen Augen gesehen hätte, würde sie auch Zweifel haben. “Sie war sehr attraktiv, gut angezogen und frisiert. Langes blondes Haar und ein heller Teint. Das Armband, das ich erwähnte, war ungefähr fünfeinhalb Zentimeter breit, und sie trug es an ihrem linken Handgelenk.” Fast hätte sie hinzugefügt, dass es sich offenbar nicht um einen Raubüberfall gehandelt habe, da der Räuber das Armband zurückgelassen habe, doch sie besann sich eines Besseren – der Polizist wirkte nicht so, als würde ihn Zoes Meinung zu dem Fall interessieren.

Der jüngere Polizist, der sie die ganze Zeit beobachtet hatte, während sein Kollege mit ihr sprach, zeigte mit dem Finger auf sie. “Warten Sie einen Moment. Sind Sie die Zoe Foster? Die Erfinderin von Kitty Floyd, der Privatdetektivin?”

Dankbar, dass dieser Polizist deutlich freundlicher klang als sein Kollege und sie wiedererkannte, erwiderte Zoe sein Lächeln. “Ja, das bin ich.”

“Sie sehen auch aus wie Kitty. Vielleicht ist es Ihr rotes Haar …”

Sein Partner warf ihm einen warnenden Blick zu, und Officer Barnes hielt den Mund.

Als der ältere Officer seine Aufmerksamkeit wieder Zoe zuwandte, war sein Ton jedoch auch etwas sanfter. “Sehen Sie, Miss Foster. Ich bin mir sicher, dass Sie es nur gut gemeint haben, aber Tatsache ist, dass zu dieser Jahreszeit in Manhattan viele Partys stattfinden. Vielleicht hatte die Frau, die Sie gesehen haben, nur zu viel getrunken und schlief ihren Rausch aus.”

“In einer schmutzigen kleinen Gasse? Während es schneit?”

“Wir wissen nicht, in welchem Zustand sie sich befunden hat.”

Officer Barnes nickte zustimmend. “Und als Sie sie berührt haben, hat sie sich erschreckt und ist davongelaufen.”

Ungeduldig schüttelte Zoe ihren Kopf. “Die Frau konnte nirgendwo mehr hinlaufen. Sie war tot.”

Wie um ihrer Überzeugung Ausdruck zu verleihen, ging Zoe die paar Schritte zur Seitenstraße hinüber. Als sie den Eingang erreichte, blieb ihr Blick an der Stelle hängen, an der vor ein paar Minuten die tote Frau gelegen hatte. Jetzt bedeckte eine dünne Schneeschicht die Straße. Außer einem Müllcontainer auf der einen Seite war die Straße leer.

Der ältere Officer sah sie zurückhumpeln. “Ist irgendetwas mit Ihrem Schuh nicht in Ordnung, Ma‘am?”

Sie deutete hinter sich. “Ich bin mit dem Absatz in dem Gitterrost da hinten stecken geblieben, und beim Versuch, ihn zu befreien, ist er abgebrochen.”

Der Blick, den er seinem jüngeren Partner zuwarf, sprach Bände.

“Ich habe nicht getrunken, wenn Sie das meinen. Und ich bin auch nicht dafür bekannt, mir wüste Geschichten auszudenken. Oder Dinge zu sehen, die nicht da sind. Ich habe eine tote Frau gefunden und habe, wie es sich für einen anständigen Bürger gehört, die Polizei gerufen.”

“Ich glaube ihr”, ließ E.J. sich zum ersten Mal vernehmen.

“Und wer sind Sie, Sir?”

“Elijah James Greenfield.” Er deutete mit dem Daumen auf das Gebäude hinter sich. “Ich bin der Besitzer des Herald. Zoe rief mich an, als sie die Tote entdeckt hatte.”

“Nun, Mr. Greenfield, Tatsache bleibt, dass wir ohne eine Leiche oder Augenzeugen eines möglichen Verbrechens nichts anderes tun können, als die Nachbarn zu befragen und einen Bericht zu schreiben. Ihnen beiden würde ich empfehlen, nach Hause zu fahren und sich ordentlich auszuschlafen.”

Zoe schluckte die passende Erwiderung, die ihr bereits auf der Zunge lag, hinunter. Vor zwei Polizisten die Beherrschung zu verlieren, würde ihrer Glaubwürdigkeit auch nicht nützen.

“Wie findest du das?” Zoe stemmte die Hände in die Hüften und schaute den beiden Polizisten hinterher, die zurück zur Gasse gingen. “Sie haben mir nicht ein einziges Wort geglaubt.”

“Sie sind ein bisschen skeptisch, das ist alles. Und das ist verständlich.”

“Du scheinst auch nicht recht überzeugt zu sein, obwohl du den Polizisten gegenüber etwas anderes behauptet hast.”

“Lass dich durch mich nicht verunsichern. Ich mache mir nur Sorgen, dass es sich bei der Frau eventuell doch um eine unserer Angestellten gehandelt hat. Diese Art von Publicity wäre nicht so gut für das Geschäft.”

“Oder für die tote Frau.”

“Ja, natürlich. Ich wollte nicht unsensibel klingen.” Ungewohnt nervös betrachtete er den Weg zur Seitenstraße. “Wieso kommst du nicht noch eine Minute mit hinauf? Ich muss mit meiner Sekretärin sprechen und herausfinden, ob die beiden neuen Schreibkräfte heute auf der Party waren oder nicht. Dann bringe ich erst dich nach Hause und danach die anderen.”

In diesem Moment tauchte wie durch ein Wunder ein Taxi auf. Zoe hob ihren Arm. “Ich denke, ich nehme das Taxi, wenn es dir nichts ausmacht, E.J. Aber ruf mich unbedingt an, nachdem du mit Maureen gesprochen hast. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich heute Nacht sowieso nicht schlafen kann.”

Als das Taxi vor ihnen hielt, gab E.J. ihr einen Kuss auf die Wange. “Ich melde mich, sobald ich etwas weiß.” Er öffnete die Wagentür, ließ Zoe einsteigen und reichte dem Fahrer einen Zwanzigdollarschein.

“E.J., das musst du nicht …”

Aber er hatte die Tür schon wieder geschlossen.

3. KAPITEL

Zoe beruhigte sich erst wieder, als sie zehn Minuten später ihr Loft betrat und die Tür hinter sich schloss. Diesen tröstlichen Effekt hatte ihre Wohnung immer auf sie. Egal, in welcher Stimmung sie sich befand oder in welches Desaster sie geriet – zur Lösung aller Alltagsprobleme konnte sie sich stets auf die warme Behaglichkeit ihres gemütlichen Zuhauses verlassen.

In Manhattan ein Apartment zu finden, das sie sich leisten konnte, war nicht einfach gewesen. Die Mieten in der Stadt waren in den letzten zehn Jahren explosionsartig angestiegen, besonders in SoHo, das inzwischen zu einer der beliebtesten Adressen in New York City geworden war. Aber als ihre beste Freundin Lizzy ihr von der Bonbonfabrik erzählt hatte, deren Besitzer zurück nach Brooklyn ziehen wollte, hatte Zoe den Sprung vom Mieter zum Eigentümer gewagt, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern.

Sie konnte gar nicht mehr zählen, wie viele Wochenenden sie und Lizzy hier gearbeitet hatten – abreißen, neu aufbauen, verputzen, streichen, bis das einhundertachtzig Quadratmeter große Loft mit seinen roten Backsteinwänden sich in die warme behagliche Oase verwandelt hatte, in der Zoe nun stand. Meine Wohnung ist ein perfektes Spiegelbild meiner Persönlichkeit, dachte sie. Der großzügige Platz war geschickt in verschiedene Bereiche aufgeteilt. Kurz hinter dem kleinen Eingangsflur lag die offene Küche mit der großen Kochinsel in der Mitte. Der Wohn-Ess-Bereich war noch größer und explodierte förmlich vor Farben – bequeme Sessel in sonnigem Gelb, ein roter Lacktisch auf dem Perserteppich und Grünpflanzen auf jedem freien Platz. Eine Reihe Holzrahmenfenster, die bis zum Boden reichten, ließen so viel Licht herein, dass ein Künstler nur davon träumen konnte. Ihr Atelier, das aus einem Zeichentisch, einem Hocker und einem Tisch bestand, nahm eine weitere sonnige Ecke des Lofts ein, während ein dreiteiliger orientalischer Paravent, den ein Cousin von Lizzy handbemalt hatte, ihr Bett und das Badezimmer abschirmte.

Das Pièce de Resistance, wie sie es gerne nannte, und das Erste, was dem Betrachter ins Auge fiel, wenn er ihre Wohnung betrat, war eine riesige bunte Zeichnung von Kitty Floyd, die an der dem Eingang gegenüberliegenden Wand hing. Mit ihrem feuerroten Haar, den langen Wimpern und dem glänzend roten Mund gehörte die Comic-Privatdetektivin genauso zu der Wohnung wie Zoe selbst.

Auf einem Beistelltisch hatte sie alte Familienfotos arrangiert – ihre Großeltern mütterlicher- und väterlicherseits, alle schon lange tot, ihre Mutter, die mit vierundfünfzig Jahren immer noch wunderschön aussah, und ihr verstorbener Vater, ein Versicherungsvertreter, der bei einem Autounfall starb, als er von einem Kunden zurück nach Hause fuhr. Sie war erst drei, als es passierte, und so konnte sich Zoe nicht mehr an ihn erinnern, genauso wenig wie an den Umzug mit ihrer Mutter von Philadelphia nach New York direkt danach. Aber der Mann, den sie wundervolle drei Jahre lang Daddy genannt hatte, nahm noch immer einen besonderen Platz in ihrem Herzen ein.

Ihre Mutter war sich bewusst, dass Zoe ihren Vater vermisste, und so hatte sie die Erinnerung an Henry mit vielen Fotos und Geschichten stets lebendig gehalten. Als Moderedakteurin bei Trends konnte sie ihre Arbeitszeit selbst einteilen und achtete darauf, dass sie Zoe jeden Morgen zur Schule bringen konnte und immer da war, wenn sie nachmittags wieder nach Hause kam. Einmal hatte sie sogar einen Heiratsantrag abgelehnt, weil Zoe, damals sieben, mit aller Deutlichkeit klar gemacht hatte: “Ich will ihn hier nicht haben. Er ist nicht mein Daddy.”

Später, als Zoe ahnte, dass ihre Mutter sich sicher auch nach einem Mann in ihrem Leben sehnte, hatte sie das Thema Hochzeit noch einmal aufgebracht. Aber Catherine hatte die Bedenken ihrer Tochter mit einem Lachen fortgewischt. “Mein Leben ist perfekt so, wie es ist, Liebling”, hatte sie zu Zoe gesagt. “Also hör auf, dir Sorgen zu machen.”

Die Gedanken daran hoben Zoes Laune. Sie fühlte sich jetzt besser und schlüpfte aus ihrem Mantel. Als sie ihn an die Garderobe hängte, unterdrückte sie den Drang, den ruinierten Absatz noch einmal herauszuholen und einen genaueren Blick darauf zu werfen. Noch mehr Ärger konnte sie jetzt wirklich nicht gebrauchen. Wenn sie Glück hatte, würde Lizzys Onkel, der Schuhmacher, ihn retten können.

Auf Socken ging sie hinüber zum Kühlschrank und nahm sich eine Flasche Wasser heraus, bevor sie sich mit einem zufriedenen Seufzer in einen der Sessel im Wohnzimmer fallen ließ. Die Füße auf den Couchtisch gelegt, freute sie sich darüber, dass sie sich keine Gedanken über neugierige Nachbarn machen musste. Das Gebäude gegenüber war zwar hell erleuchtet, aber um diese Tageszeit arbeitete niemand mehr in den Büros.

Bevor sie einen Schluck Wasser trinken konnte, klingelte ihr Telefon.

“Zoe, ich bin‘s, E.J. Die Frau, die du beschrieben hast, ist keine unserer Angestellten. Maureen hatte die beiden neuen Schreibkräfte zur Feier eingeladen, aber beide hatten wegen anderer Verabredungen abgesagt.”

Zoe freute sich für E.J. Er hatte hart dafür gearbeitet, den Herald zu einer erfolgreichen Zeitung zu machen, und trotz der Millionen, die er aus seinem Privatvermögen immer wieder eingebracht hatte, war er zweimal nur knapp dem Konkurs entkommen. Es war nur zu verständlich, dass er sich jetzt, wo der Herald langsam richtiges Geld einbrachte, Sorgen über mögliche Negativschlagzeilen machte.

“Das sind doch fabelhafte Neuigkeiten, E.J.”

“Wir sprechen dann am Montag, Kleines. Schlaf dich erst einmal aus.”

Nachdem sie aufgelegt hatte, wanderten Zoes Gedanken zurück zu den Ereignissen der letzten Stunden. Sie stimmte den beiden Beamten nur ungern zu, aber es konnte tatsächlich sein, dass die Frau einfach eine Weihnachtsfeier besucht hatte, so wie Zoe. Und es konnte ebenso sein, dass sie zu viel getrunken hatte, wie so viele. Doch damit endeten ihre Zugeständnisse an die Geschichte. So sehr sie sich anstrengte, sie konnte sich nicht vorstellen, dass diese Frau sich entschlossen hatte, in einer dreckigen Seitenstraße ihren Rausch auszuschlafen. Sie hatte ganz und gar nicht ausgesehen wie jemand, der so etwas tat. Irgendwer hatte ihr in der Gasse aufgelauert und sie getötet. Oder sie war aus einem Fenster gestoßen worden. Aber aus welchem? Die ersten zehn Stockwerke gehörten dem Herald, die anderen sechs waren an drei andere Firmen vermietet, die aber wie immer pünktlich um fünf Uhr Feierabend gemacht hatten.

Vollkommen konzentriert schürzte sie die Lippen, stand auf und ging hinüber zu ihrem Zeichenbrett. Der letzte Fall von Kitty Floyd war gerade fertig, und Zoe arbeitete bereits an der nächsten Serie, die den Fans am Montag vorgestellt werden würde. Außer ein paar letzten Korrekturen hier und da waren die vier ersten Bilder fertig, um zur Zeitung geschickt zu werden.

Vor etwas mehr als einem Jahr hatte Zoe Kitty Floyd erfunden und gehofft, dass der Comic einen festen Platz in einer Zeitung erhalten würde, damit sie ihren schlecht bezahlten Job als Kinderbuchillustratorin aufgeben konnte. Unglücklicherweise waren die Zeitungen nicht gerade versessen darauf gewesen, einer unbekannten Cartoonistin einen festen Vertrag zu geben, egal, wie talentiert sie auch sein mochte. Nur ein Herausgeber, E.J. Greenfield vom New York Herald, war von Kitty Floyd so begeistert gewesen, dass er es mit Zoe hatte versuchen wollen.

Zwölf Monate später hatte sich die unerschrockene Privatdetektivin, die in New York lebte und arbeitete, zum Liebling aller fünf Stadtbezirke gemausert. Und auch wenn die anderen Verlage noch nicht vor Zoes Tür Schlange standen, war sie glücklich darüber, endlich das tun zu können, was ihr am meisten Spaß machte – Kitty Floyd in brenzlige Situationen zu bringen.

Zoe nahm sich nicht die Zeit, sich erst hinzusetzen, sondern griff direkt zu ihrem Stift. Sie nahm den Rapidograph – ihren feinen Tuschefüller, den sie einem Pinsel jederzeit vorzog – in die Hand und begann sofort, das Gesicht der toten Frau zu zeichnen. Sie benötigte einige Minuten und drei Versuche, um es richtig hinzubekommen, aber als die Zeichnung schließlich fertig war, wies sie eine erstaunliche Ähnlichkeit mit der Frau in der Seitenstraße auf. Unter die Zeichnung schrieb sie: “Der New York Herald benötigt Ihre Hilfe, um diese Frau zu finden. Wenn Sie Informationen über sie haben, rufen Sie uns bitte unter folgender Nummer an: 555-71 00.”

Zufrieden nahm sie das Telefon und wählte E.J.s Handynummer. Im Hintergrund hörte sie jemanden eine Wegbeschreibung murmeln und vermutete, dass der Verleger gerade in seiner Limousine unterwegs war, um einige der Gäste nach Hause zu bringen.

“Ich habe eine Zeichnung der mysteriösen Frau gemacht”, sagte sie aufgeregt. “Wenn du einverstanden bist, würde ich sie gerne in die morgige Ausgabe bringen. Wir haben noch ausreichend Zeit, sie an Sal in der Setzerei zu schicken, ich brauche nur noch deine Zustimmung.”

Keine Antwort. Wenn sie nicht das Geplapper im Hintergrund gehört hätte, wäre Zoe sicher gewesen, dass die Leitung unterbrochen worden war.

“E.J., hast du mich gehört?”

“Ja. Tut mir leid, Zoe, ich war kurz abgelenkt.”

“Soll ich es noch einmal wiederholen …”

“Nein, nein, ich habe dich verstanden.”

“Und, was denkst du? Habe ich dein Okay?”

“Ja, natürlich. Das ist eine hervorragende Idee. Ich rufe Sal an und sage ihm, dass deine Zeichnung kommt.”

Als der Samstagmorgen anbrach, hatte der Schnee sich in grauen Matsch verwandelt, der Himmel über Manhattan war wolkenlos blau, und die Sonne schien durch jedes Fenster in Zoes Loft hinein. Wenn das Thermometer nicht Temperaturen unter dem Gefrierpunkt angezeigt hätte, hätte Zoe denken können, dass der Frühling vor der Tür stand.

In ihrem blau gestreiften Nachthemd tapste sie barfuß zur Tür, um ihre Ausgabe des Herald zu holen. Sie musste nicht weit blättern, um ihre Zeichnung zu finden. Sal, der Produktionschef, hatte sie gleich auf die erste Seite gesetzt – sehr wahrscheinlich hatte E.J. ihn darum gebeten. Mit ein bisschen Glück würde jemand die Frau erkennen, bevor der Tag zu Ende ging.

Kurz nach zwölf Uhr mittags rief Lisa, die Wochenendtelefonistin beim Herald, an, um Zoe mitzuteilen, dass sie bisher sieben Anrufe bezüglich der Zeichnung erhalten habe. Leider kamen sie ausschließlich von Spinnern, die sich einen Spaß aus der Sache machen wollten.

Zoe hatte schon beinahe die Hoffnung aufgegeben, als Lisa um kurz nach vier erneut anrief: Ein Mann namens Buddy Barbarino habe sich gemeldet, um zu sagen, dass er der Agent dieser Frau sei.

Zoe nahm sich Stift und Zettel von ihrem Schreibtisch. “Gib mir mal seine Nummer, Lisa.”

Sie schrieb sie auf, bedankte sich und wählte kurz darauf Barbarinos Nummer. “Mr. Barbarino?”, fragte sie, als sich die Stimme am anderen Ende mit einem faulen “Buddy hier!” meldete. “Ich bin Zoe Foster. Ich habe gehört, dass Sie mit der Frau bekannt sind, deren Zeichnung heute im Herald erschienen ist?”

“Ja. Sie heißt Lola Malone. Ich bin ihr Agent.”

Lola Malone. Wieso kam ihr der Name so bekannt vor? “Ist sie eine Schauspielerin?”

“Nachtclubsängerin.”

“Ich verstehe.” Zoe versuchte immer noch, den Namen mit einem Gesicht in Verbindung zu bringen.

“Was soll die ganze Aufregung überhaupt?”, fragte Buddy Barbarino. “Wieso ist Lolas Bild auf der Titelseite des New York Herald?”

Plötzlich erinnerte Zoe sich! Ungefähr vor einer Woche hatte Sylvia, die von Montag bis Freitag in der Telefonzentrale arbeitete, ihr einen Stapel mit Anrufnotizen übergeben. Eine Notiz war von Lola Malone. Weil die Frau jedoch keinen Grund für ihren Anruf hinterlassen hatte, hatte Zoe sie nicht zurückgerufen, auch nicht die anderen beiden Male, die noch folgten.

“Ich würde gerne mit Ihnen sprechen, Mr. Barbarino”, sagte sie, ohne auf seine Frage einzugehen. “Wo können wir uns treffen?”

“Lassen Sie mich kurz überlegen … Ich komme gerade von einer Verhandlung in der Seventh Avenue und habe den ganzen Tag noch nichts gegessen. Ich wollte auf einen Bissen in das Carnegie Deli gehen. Können Sie da hinkommen? Ich habe ein grünes Jackett an.”

“Ich bin schon unterwegs.”

4. KAPITEL

Das Carnegie Deli an der Ecke Fifth Street und Seventh Avenue war der Inbegriff einer koscheren Delikatessenhandlung. In dem angeschlossenen Bistro wurden riesige Portionen klassischer Köstlichkeiten serviert, die aufgrund ihrer exotischen Namen wohl noch mehr Appetit machen sollten.

Zoe hatte keine großen Schwierigkeiten, Buddy zu finden. Er saß alleine in einer hinteren Ecke, ein schmalbrüstiger Mann mit beginnender Glatze, weichen wachsartigen Zügen und – zumindest seinem schreiend grünen Jackett nach zu urteilen – einem fürchterlichen Geschmack.

Er arbeitete sich bereits durch ein gigantisches Sandwich, als Zoe zu seinem Tisch trat. “Mr. Barbarino?”

Er musterte sie einmal von oben bis unten, stand aber nicht auf oder bot ihr seine Hand an. “Nennen Sie mich Buddy.” Er kaute weiter. “Sie müssen Zoe sein.” Er bedeutete ihr, sich auf die gegenüberliegende Bank zu setzen. “Möchten Sie auch ein Sandwich? Meines ist mit Zunge, Corned Beef, Schweizer Käse und russischem Dressing.” Große Tropfen genau dieses Dressings liefen seine Finger hinunter, aber anstatt sie an der Serviette abzuputzen, leckte er sie genüsslich ab, einen nach dem anderen.

Als Buddy die Speisekarte in ihre Richtung schob, schüttelte Zoe den Kopf. “Nein danke, ich möchte nichts.”

“Sie wissen nicht, was Sie verpassen.” Er schaute sie an, als er erneut abbiss. “Hat Ihnen schon mal jemand gesagt, dass Ihr Gesicht wie gemacht ist für die Kamera?”

Zoe mochte den Agenten von Minute zu Minute weniger. Er war einer der Typen, die den New Yorkern ihren schlechten Ruf eingebracht hatten. Nicht nur wegen seines grellbunten Jacketts und seiner billigen Erscheinung, sondern vor allem weil er etwas Hinterhältiges an sich hatte, das Zoe sofort in erhöhte Wachsamkeit versetzte. “Nein. Und falls Sie mir jetzt sagen wollen, dass Sie einen Star aus mir machen – vergessen Sie‘s.”

“Schade. Sommersprossen sind gerade sehr gefragt. Genau wie rotes Haar. Wie viel wiegen Sie? Ungefähr zweiundfünfzig Kilo?”

Er musste ihren verärgerten Blick bemerkt haben, denn mit einem Mal sprach er nicht weiter, sondern konzentrierte sich völlig auf sein Sandwich. “Nun erzählen Sie mal, was diese Sache mit Lola soll”, sagte er mit vollem Mund.

Eine Kellnerin kam an ihren Tisch, und Zoe bestellte eine Flasche Mineralwasser. Das Mädchen zog die Augenbrauen hoch. “Das ist alles?”

“Ja, das ist alles”, gab Zoe bestimmt zurück. Um nicht mehr Zeit mit Buddy Barbarino verbringen zu müssen als unbedingt notwendig, begann sie ihm zu erzählen, wie sie seine Klientin am Vorabend gefunden hatte, verschwieg dabei jedoch, dass Lola in der letzten Woche dreimal versucht hatte, sie zu erreichen.

Buddy Barbarino wirkte geschockt. Er hörte sogar auf zu kauen und legte den Rest des Sandwiches auf den Teller. Nach einer langen Pause fand er seine Stimme wieder. “Sie machen sich über mich lustig, oder?”

“Nein, leider nicht.”

“Aber Sie sagten doch, dass die Polizei Ihnen nicht geglaubt hat.”

“Ja, weil sie nur mit Fakten, Beweisen und Augenzeugen arbeitet, und nichts davon konnte ich vorweisen. Aber egal wie, ich weiß, was ich gesehen habe, und ich bleibe bei meiner Version.”

“Lola lebt in Uptown New York. Was hätte sie um die Uhrzeit im East Village zu tun haben sollen?”

“Ich hatte gehofft, dass Sie mir das sagen können.”

Er schüttelte den Kopf. “Ich habe keine Ahnung. Lola und ich wickeln unsere Geschäfte über das Telefon ab, und jetzt, wo sie einen festen Vertrag hat, habe ich lange nichts mehr von ihr gehört.” Er schnaubte verächtlich. “Weiber. Die sind alle gleich. Wenn sie dich brauchen, hängen sie wie Kletten an dir. Aber wenn nicht, bist du in ihren Augen nichts als Dreck.”

“Und mit welcher Bar hat sie ihren festen Vertrag?”

“Mit einem dieser schicken Nachtclubs, die dir ‘nen Arm und ‘n Bein abnehmen, damit du überhaupt reinkommst. Sie haben vielleicht schon mal davon gehört – Blue Moon?”

Zoe drückte ihren Rücken fest an die Lehne der Bank und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Nahezu jeder in New York hatte schon von diesem exklusiven Club gehört – und Zoe mehr als jeder andere. Einige Jahre lang hatte sie jede freie Minute dort verbracht, und das aus gutem Grund.

Der Besitzer des Blue Moon war kein anderer als Rick Vaughn, ihr Exmann.

Es war Ewigkeiten her, mindestens vier Jahre, dass Zoe sich erlaubt hatte, sich dem Blue Moon weniger als hundert Meter zu nähern. Selbst ein kleiner Seitenblick, wenn sie ab und zu einmal daran vorbeikam, reichte schon, um eine Flut an Erinnerungen in ihr auszulösen. Einige waren gut, andere nicht so gut. Und alles waren Erinnerungen, die sie mit Sicherheit vergessen wollte.

Warum zum Teufel fand sie sich also auf einmal wieder die Lexington Avenue entlanggehen, wo der Club lag? Und wieso konnte sie an nichts anderes denken als an Rick? Es wäre eine Lüge gewesen zu behaupten, dass sie in den sechs Jahren seit ihrer Scheidung nicht an ihn gedacht hätte. Man hatte keine heiße Affäre mit einem Mann, flog einen Monat später Hals über Kopf nach Las Vegas, um zu heiraten, und verbrachte dann die zwei verrücktesten, leidenschaftlichsten, frustrierendsten Jahre seines Lebens mit ihm, ohne dass das Spuren hinterließ.

Also ja, sie hatte in den letzten sechs Jahren ab und zu an ihn gedacht. Öfter vielleicht, als gut war, wenn man bedachte, dass sie sich seitdem nicht mehr gesehen hatten. Er war wie etwas, von dem man abhängig wurde, hatte sie ihrer Freundin Lizzy einmal gestanden. Eine Angewohnheit, die man loswerden wollte, aber nicht konnte.

Sie hatte ihn auf der Geburtstagsfeier einer entfernten Bekannten kennengelernt. Groß und unglaublich gut aussehend wurde er von einem halben Dutzend Frauen belagert, als Roseanne, das Geburtstagskind, Zoe an die Hand genommen und ihm vorgestellt hatte. “Rick, hier ist jemand, den ich dir gerne vorstellen würde.”

Während sechs böse Augenpaare sich ihr zuwandten, lächelte Rick Vaughn sie an und schüttelte ihre Hand. Den Rest des Abends hatten sie zusammen verbracht, über ihre Karrieren gesprochen – ihre als Kinderbuchillustratorin, seine als neuer Besitzer des Nachtclubs, der seinem verstorbenen Bruder gehört hatte.

“Ich bin mir immer noch nicht sicher, warum er ihn mir hinterlassen hat”, hatte er verwirrt zugegeben. “Als Simon starb, war ich bei der Marine und stand am Anfang einer vielversprechenden Karriere. Jetzt leite ich einen Nachtclub und habe sogar Spaß daran. Ist schon komisch, oder?”

Mit der Mischung aus Charme und echtem Interesse an Zoes kreativem Talent hatte er sie schließlich für sich gewonnen. Als er am nächsten Nachmittag anrief, war sie ihm bereits hoffnungslos verfallen. Rastlos war sie den ganzen Tag in ihrer Wohnung auf und ab gelaufen und hatte versucht, das Telefon mit reiner Willenskraft zum Klingeln zu bringen.

Als er schließlich anrief, lud er sie ein, mit ihm zum Reiten nach Connecticut zu fahren, wo er ein Haus am See besaß. In dieser Nacht liebten sie sich. Nicht vor einem knisternden Kaminfeuer mit leiser Musik von Nat King Cole im Hintergrund, wie man vielleicht vermutet hätte, sondern in den Ställen, wo sie von einem plötzlichen Regenguss überrascht worden waren.

Es war diese unkonventionelle, impulsive Seite von Rick, die sie am meisten angezogen hatte. Er war ein Mann, der wusste, wie man einen unvorhergesehenen Augenblick in ein unvergessliches Erlebnis verwandelte. Während eines Spaziergangs durch den Central Park Zoo einen Monat später hatte er ihr einen Antrag gemacht. Unter dem desinteressierten Blick eines Colobusaffen hatte Zoe ihre Antwort hinausgeschrien, bevor er seine Frage hatte ganz zu Ende stellen können.

Sehr zum Missfallen ihrer Mutter hatten Zoe und Rick die Idee einer traditionellen Hochzeit verworfen und waren nach Las Vegas geflogen. Die meisten Menschen um sie herum waren froh, sie beide so glücklich zu sehen, aber es gab auch einige reserviertere Reaktionen. Besonders zurückhaltend begegnete Zoes Mutter der frohen Botschaft. Catherine Foster kannte ihre starrköpfige fünfundzwanzigjährige Tochter zu gut, um glauben zu können, dass dieses Glück lange anhalten würde. Sie gab zu, dass Rick, der sechs Jahre älter war als Zoe, ein guter Mann war, fürsorglich, ehrlich und hart arbeitend. Doch trotz all seiner Talente und Weltgewandtheit glaubte er an einige altmodische Werte, die ihrer Meinung nach früher oder später mit Zoes freigeistiger Einstellung aufeinanderprallen würden.

Es dauerte nicht lange, bis ihre Sorgen bestätigt wurden. Rick verstand nicht, warum Zoe weiterarbeiten wollte, wo er sich nun um sie kümmerte, und schlug vor, dass sie mehr Zeit im Club verbringen sollte, wo sie bereits einige einschneidende Veränderungen vorgenommen hatte. Aber so sehr Zoe das Blue Moon auch liebte – sie fürchtete, dass es ihrer Beziehung schaden würde, wenn sie Tag und Nacht mit ihrem Mann zusammen wäre.

Es hatte weitere Zusammenstöße zwischen ihnen gegeben, in denen Zoe ihrem Mann vorwarf, ihre Ehe so führen zu wollen, wie er den Club leitete. Er widersprach ihr, indem er ihr vorwarf, dickköpfig, kindisch und egoistisch zu sein.

Zwei Jahre nach ihrem Ausflug nach Vegas waren sie sich einig, dass es keinen Zweck mehr hatte.

Zoe hatte ein ganzes Jahr gebraucht, bis sie sich wieder mit anderen Männern verabredet hatte. Und auch wenn sie einige interessante Männer kennengelernt hatte, besaß doch keiner Ricks Qualitäten, sein Charisma, seine Ernsthaftigkeit oder seine Fähigkeit, sie zum Lachen zu bringen, wenn sie es am wenigsten erwartete.

Und nun stand sie hier, auf der Straße vor dem Blue Moon, und starrte auf die Milchglastür des Clubs. Ihr Herz klopfte viel zu schnell, ihre Kehle war trocken, die Handflächen nass. Sie versuchte sich zu beruhigen, indem sie sich daran erinnerte, dass sie nur wegen Lola Malone hier war und nicht aus der plötzlichen Sehnsucht heraus, ihren Exmann wiederzusehen.

Nachdem sie ihr Äußeres noch einmal in der Fensterscheibe des Ladens hinter sich kontrolliert hatte, straffte sie die Schultern und ging mit festem Schritt auf die Tür zu, die ihr so vertraut war.

5. KAPITEL

Der Club war noch genau so, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Klein und auf zurückhaltende Weise elegant. Mit der indirekten Beleuchtung, den Mahagonitischen und der Parketttanzfläche erinnerte er an die Clubs zu Zeiten der Prohibition, als Männer wie Bugsy Siegel und Al Capone die Nachtclubszene dominierten. Skeptiker hatten vorausgesagt, dass der Club ohne Simon Vaughn an der Spitze wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen würde, doch Rick hatte sie eines Besseren belehrt.

Es war kurz nach sechs und noch zu früh für die abendlichen Besucher, aber Lenny, ein ehemaliger Marine, der seit Jahren als Barkeeper im Blue Moon arbeitete, stand schon hinter der Bar und polierte Gläser. Er war ein enger Freund von Rick. In den letzten sechs Jahren hatte er ein paar Pfund zugenommen, und auch die Haare waren von ersten grauen Strähnen durchzogen, doch sein Gesicht hatte sich nicht verändert – noch immer bemerkte man als Erstes die schief zusammengewachsene Nase, die er sich bei einem Boxkampf in der Marine gebrochen hatte.

“Da ist noch ein Fleck”, sagte Zoe, als sie auf die glänzende Bar zuging.

Lenny drehte sich um, und ein breites Lächeln erstrahlte auf seinem Gesicht, als er sie erkannte. “Zoe, altes Haus!” Er warf sich das Handtuch über die Schulter und kam um den Tresen herum. Eh sie sich‘s versah, schlang er seine kräftigen Arme um sie und erdrückte sie fast mit einer seiner berühmten ungestümen Umarmungen. “Du bist es wirklich!”

“In Fleisch und Blut.” Sie stieß einen erstickten Laut aus. “Oder das, was davon jetzt noch übrig ist.”

Lachend ließ er sie los. “In deiner Gegenwart konnte ich meine Begeisterung noch nie im Zaum halten.” Nach einem langen bewundernden Blick fügte er hinzu: “Wie geht es dir, mein Mädchen?”

“Keine Beschwerden. Du siehst gut aus, Lenny. Stattlich wie immer.”

“Aber du willst mich trotzdem nicht heiraten.”

Nun musste sie lachen. Diese liebevollen Neckereien hatte sie damals geliebt. Interessiert schaute sie sich um. “Der Club sieht großartig aus.”

“Trotzdem ist es nicht das Gleiche ohne dich.”

Statt einer Antwort warf sie einen Blick in Richtung des Flurs im hinteren Bereich, an dessen Ende sich Ricks Büro befand. “Ist der Boss da?”

“Er ist gerade reingekommen.”

Sie tätschelte seine Hand. “Du brauchst mich nicht anzukündigen, ich will ihn überraschen.”

“Kann ich dir mit einem Sloppy Joe’s immer noch eine Freude bereiten?”, fragte er, als sie sich zum Gehen wandte.

Zoe erinnerte sich an den Cocktail aus drei verschiedenen Rumsorten und Fruchtsaft und lachte leise. “Aber nur, wenn er in einem richtigen Glas serviert wird.”

“Ich bringe dir einen.”

Vor der Tür mit dem Schild R. Vaughn atmete Zoe tief durch und klopfte schließlich an. Rick schien mit Lenny zu rechnen, denn er fragte: “Seit wann klopfst du an?”

Zoe öffnete die Tür und blieb erst einmal stehen. Rick hatte sich mit dem Rücken zur Tür über den Tisch gebeugt, und der Anblick seiner breiten Schultern löste in ihr eine sehnsuchtsvolle Flut an Erinnerungen aus. Sein Haar war noch immer hellbraun, im Nacken ein bisschen zu lang, sodass die Enden kleine Locken bildeten, die an den Kragen des Hemdes stießen – sie hatte oft gedacht, wie gut diese verwegene Frisur seinen Charakter unterstrich. Sie ließ ihren Blick über den Rest seines Körpers schweifen und konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Niemand trug einen Smoking so wie Rick Vaughn.

“Hallo, Rick.”

Er drehte sich um, und obwohl er es einigermaßen schaffte, das, was immer er dachte, vor ihr zu verbergen, sah sie doch einen Hauch von Überraschung in seinen haselnussbraunen Augen aufblitzen. Auch sie bemühte sich darum, sich nichts anmerken zu lassen, während sie seine markanten Wangenknochen, den ruhigen Blick und den energischen Mund betrachtete.

“Zoe …” Er räusperte sich, setzte an, etwas zu sagen, um dann mit einer wegwerfenden Handbewegung zu ihr zu kommen und sie in den Arm zu nehmen. “Was für eine angenehme Überraschung.”

Er trat einen Schritt zurück, ließ sie aber nicht ganz los, sondern hielt sie vielmehr auf Armeslänge von sich. “Der Erfolg bekommt dir, Red”, sagte er und benutzte den Spitznamen, den er ihr vor langer Zeit gegeben hatte. “Du siehst wundervoll aus.”

“Danke schön.”

“Wie lange ist es her?”

Als ob er das nicht wüsste. “Fünf Jahre?” Das sagte sie nur, um ihn zu testen.

“Du warst schon immer schlecht in Mathe. Es sind bereits sechs.” Er drückte ihren Arm noch einmal und ließ sie dann los. “Ich habe dich vermisst.”

“Du hast es überlebt.”

“Und du bist inzwischen in der ganzen Stadt bekannt.”

“Na ja, nicht ganz, aber nett, dass du das sagst. Schaust du dir den Comic an?”

“Sieben Tage die Woche. Ich bin ein großer Fan von Kitty Floyd. Vielleicht, weil sie mich an dich erinnert.”

Er war nun schon der Zweite, der ihr das in den letzten vierundzwanzig Stunden erzählt hatte. “Tatsächlich? Wieso?”

“Hm, lass mich nachdenken.” Seine Augen funkelten. “Sie ist klug, mutig, bildschön und frech.”

Zoe lachte. “Immer noch der alte Charmeur.”

“Du machst es einem ja auch leicht.” Er blickte ihr über die Schulter. “Du trägst jetzt einen Zopf?” Er war wirklich gut darin, Dinge zu bemerken, die andere Männer nie zu sehen schienen.

Sie fuhr mit ihren Fingern über die fest geflochtenen Haare. “Ich wollte mal etwas Neues ausprobieren.”

Er sagte nichts weiter dazu, sagte nicht, ob es ihm gefiel oder nicht. Er legte ihr einfach einen Arm um die Taille und führte sie zu einer gemütlichen Sitzgruppe am Fenster, von der aus man das Treiben auf der East Seventy-Second Street beobachten konnte. “Kann ich dir etwas bringen lassen?”

“Lenny macht mir einen Sloppy Joe’s.”

“Sehr schön.”

“Du wunderst dich bestimmt, warum ich hier bin.”

Er ließ sich ihr gegenüber in den Sessel fallen. “Du hast endlich bemerkt, dass du ohne mich nicht leben kannst?”

Sie lachte auf. “Oh, Rick.”

“Entschuldige, ich konnte nicht anders. Aber ja”, fügte er ernsthafter hinzu, “ich frage mich tatsächlich, was dich zu mir führt.”

Die Tür wurde geöffnet und Lenny trat ein, in der einen Hand ein Glas mit einem roten Cocktail und in der anderen einen Martini mit drei Oliven. Sie wusste, dass er warten würde, bis sie ihren Drink probiert hatte, also nahm Zoe gleich einen Schluck und nickte zustimmend. “Niemand macht ihn besser als du, Lenny. Vielen Dank.”

Als sie wieder allein waren, kam Zoe gleich zum Grund ihres Besuchs. “Ich habe gehört, dass eine Frau namens Lola Malone für dich arbeitet.”

Rick hob die Augenbrauen. “Du kennst Lola?”

“Nein, aber unsere Wege haben sich gekreuzt, wenn ich es mal so ausdrücken darf. Und? Arbeitet sie für dich?”

“Nicht mehr. Sie hat vor ungefähr einer Woche aufgehört.”

“Wieso?”

Er ließ sich mit seiner Antwort ein paar Sekunden Zeit. “Lass mich dir eine Frage stellen: Wie genau kam es dazu, dass sich eure Wege gekreuzt haben, wie du es nennst?”

Sie erzählte es ihm, und dieses Mal ließ sie nichts aus wie bei Buddy Barbarino. Ricks erste Reaktion war Schock, dann bemerkte sie, wie sich, während ihre Geschichte immer bizarrer wurde, Skepsis in seinem Blick widerspiegelte.

“Lass mich mal deine Zeichnung sehen”, bat er, als sie geendet hatte.

Zoe nahm das Blatt aus ihrer Tasche und gab es ihm.

Rick schaute es sich einige Minuten lang an. “Es könnte Lola sein. Aber ich würde es nicht beschwören.”

“Buddy Barbarino sagt, dass es Lola ist.”

“Buddy Barbarino kann seinen Hintern nicht von seinem Ellenbogen unterscheiden.”

“Du magst ihn wohl nicht?”

“Er ist Abschaum.”

“Warum hat Lola ihn dann als Agenten behalten?”

“Buddy hat ihr am Anfang ihrer Karriere geholfen, und Lola ist ihm gegenüber loyal geblieben – um nicht zu sagen großzügig.”

“Hat sie ihm Geld gegeben?”

“Ab und zu. Auch wenn er behauptet, einer der besten Agenten der Stadt zu sein, ist Buddy nicht sonderlich erfolgreich. Wenn du ihn getroffen hast, weißt du ja, warum.”

“Du hast mir nicht erzählt, warum Lola ihren Job im Blue Moon aufgegeben hat.”

“Die Routine und die nächtlichen Arbeitszeiten haben sie ermüdet. Sie wollte für eine Weile fortgehen, vielleicht eine kleine Reise auf eine exotische Insel im Südpazifik machen. Sie hat mal ein paar Kataloge mitgebracht – Sydney, Neukaledonien, Tahiti.”

“Wollte sie demnächst abreisen?”

“Den Eindruck hatte ich, ja.”

“Kommt das nicht ein bisschen plötzlich? Ich meine, in der einen Minute hat sie noch eine erfolgreiche Karriere als Sängerin und in der nächsten plant sie, ans andere Ende der Welt zu fliegen?”

“Sie hatte schon sehr lange von dieser Reise gesprochen. Ich denke, dass der Tag gekommen war.”

“Und nun ist sie tot.”

“Das weißt du doch gar nicht. Bei manchen Leuten kann man den Puls kaum fühlen. Wenn man kein Arzt ist oder sonst wie dafür ausgebildet …”

“Ich brauche kein Medizinstudium, um zu wissen, dass die Frau, die ich gesehen und berührt habe, tot war. Das einzige Zugeständnis, das ich zu dem Zeitpunkt gemacht hätte, wäre zu überlegen, dass sie unter Umständen eines natürlichen Todes gestorben ist. Aber die Tatsache, dass ihre Leiche verschwunden ist, hat das geändert. Sie wurde ermordet, Rick. Und wer immer das getan hat, hat sie weggeschafft, während ich Hilfe geholt habe.”

Er betrachtete sie einen Augenblick lang. “Was genau willst du jetzt von mir?”

“Erzähl mir alles, was du von Lola Malone weißt. Wo sie wohnte, die Namen und Adressen ihrer Freunde und Verwandten. War sie verheiratet? Hatte sie einen Freund?”

Rick schüttelte bereits den Kopf. “Das kann ich wirklich nicht machen.”

“Warum nicht?”

“Weil das Privatleben meiner Angestellten genau das ist – privat.”

“Willst du denn nicht herausfinden, was mit ihr passiert ist?”

“Nicht, bis ich nicht überzeugt davon bin, dass überhaupt etwas passiert ist.”

Er war noch genauso schwierig, wie sie ihn in Erinnerung hatte. “Kann ich dann wenigstens mit deinen anderen Angestellten sprechen?”

“Nein.”

Sie fühlte, wie ihre Wangen sich röteten. “Was ist falsch daran, mit Lolas Kollegen zu reden?”

“Ich möchte nicht, dass meine Mitarbeiter verunsichert werden und der Ablauf im Club gestört wird. Und ganz sicher will ich nicht das Gerücht umgehen hören, dass meine Sängerin ermordet wurde. Solche Nachrichten können einen Laden in null Komma nichts ruinieren.”

Das war das zweite Mal innerhalb von zwei Tagen, dass sie diesen Kommentar hörte. “Deshalb willst du mir nicht helfen? Weil dein Geschäft darunter leiden könnte?”

“Das habe ich so nicht gesagt …”

“Es ist immer nur der Club, nicht wahr, Rick? Das Blue Moon steht an erster Stelle, egal was passiert.”

“Ich merke schon, du bist noch genauso dickköpfig wie früher. Du weigerst dich nach wie vor, den Standpunkt anderer Leute zu akzeptieren. Dein Weg ist der einzig richtige Weg.”

Sie sprang aus ihrem Sessel auf und schüttete dabei aus Versehen etwas von dem Drink auf ihre Tweedhose. “Das ist nicht wahr!”

Rick zog ein weißes Taschentuch aus seiner Hosentasche und reichte es ihr.

Sie riss es ihm aus der Hand und tupfte ungeduldig die Flecken auf ihrer Hose trocken.

“Sieh doch mal”, sagte er sanft. “Warum wartest du nicht noch ein paar Tage? So wie ich Lola kenne, wird sie, wenn sie auf ihre Reise gegangen ist, in ein paar Tagen anfangen, Postkarten zu verschicken, und zwar nicht zu knapp. Und wenn sie wirklich vermisst wird, wird jemand in der Zwischenzeit bestimmt die Polizei informieren.”

“Aber was geschieht, wenn nicht? Was ist, wenn es niemanden kümmert?”

“Es kümmert mich. Ich werde noch ein paar Tage warten und dann mit ihrem Concierge sprechen, er kennt mich.”

“In ein paar Tagen wird die Spur, die ihr Mörder eventuell hinterlassen hat, kalt sein.”

Er lächelte. “Das klingt wie etwas, das Kitty Floyd sagen würde.”

Er nahm sie genauso wenig ernst wie Officer Curtis und sein Kollege Barnes. Aufgebracht warf sie das Taschentuch auf den Tisch. “Ich sehe schon, dass ich hier nur meine Zeit verschwende.” Als er um den Tisch herumkommen wollte, hob sie abwehrend eine Hand. “Bemüh dich nicht, mich hinauszubegleiten. Ich kenne den Weg.”

“Komm, Zoe, ich will nicht, dass du böse auf mich bist, wenn du gehst.”

“Wäre ja nicht das erste Mal.”

Sie war bereits an der Tür und hatte eine Hand auf die Klinke gelegt, als er sie rief. “Hey, Red.”

Sie hätte einfach weitergehen sollen, aber eine unerklärliche, nicht zu kontrollierende Macht ließ sie sich noch einmal herumdrehen.

“Ich mag es lieber, wenn du dein Haar offen trägst.”

6. KAPITEL

Sie hat sich kein bisschen verändert, oder?” Lenny beobachtete Zoes Abgang aus dem Club. “In ihr brennt noch immer das gleiche Feuer, schärfer als Jalapeños.”

Rick blickte ihr wortlos hinterher. Sie war eine der wenigen Frauen, die er kannte, die beim Verlassen eines Raumes genauso gut aussahen wie beim Betreten.

Lenny hatte recht. Sie hatte sich nicht verändert. Sie hatte noch das gleiche aufbrausende Temperament und den gleichen Sturkopf. Wenn sie einmal eine Idee verfolgte, egal ob gut oder schlecht, gab sie nicht eher Ruhe, bis jedes Detail analysiert war. Und was ihr Aussehen betraf – sie war immer noch umwerfend, sogar mit dem strengen Zopf, der ihr über den Rücken hing. Zum Glück hatte sie ihre Haarfarbe nicht geändert. Er hatte gehört, dass einige Frauen das nach einer Scheidung taten. Entweder schnitten sie ihre Haare radikal ab oder probierten vollkommen verrückte Farben aus. Zoe hatte beides nicht getan, und darüber war er froh. Er liebte ihre Haare, das tiefe natürliche Rotbraun, das so einen herrlichen Kontrast zu ihrer hellen sommersprossigen Haut bildete. Wie oft hatte er seine Hände in der vollen lockigen Mähne vergraben? Oder ihre Sommersprossen geküsst, eine nach der anderen? Oder ihrer rauchigen verführerischen Stimme gelauscht, die “Nicht aufhören!” flüsterte?

“Es muss dich ja fast aus den Socken gehauen haben, als sie plötzlich vor dir stand.”

Rick hatte beinahe vergessen, dass Lenny neben ihm hinter dem Tresen stand. “Was mich daran erinnert, dass du mich ruhig hättest vorwarnen können.”

“Ach komm, Boss. Wo wäre denn da der Spaß geblieben?”

“Und ich bin ganz sicher, dass du jede Minute genossen hast.”

“Ich gebe zu, dass es irgendwie nett war, sie mal wieder hier zu haben, so wie in alten Zeiten, als wenn sie niemals weg gewesen wäre. Komisch, oder? Wie einige Leute bestimmten Plätzen ihren Stempel aufdrücken können. Die Kleine kommt hier nach sechs Jahren wieder rein und …”

Das war mehr, als Rick ertragen konnte. “Lass gut sein, Lenny, okay?”

Lenny grinste. “Entschuldige. Wollte keine alten Wunden aufreißen.”

“Das hast du auch nicht.”

“Wenn du das sagst …” Lenny öffnete die Kasse, entnahm eine Rolle Münzen und schlug sie gegen die Kante der Schublade. “Was wollte sie denn überhaupt?”

“Sie hat eine Leiche gefunden.”

“Jemanden, den wir kennen?”

Rick legte Zoes Zeichnung auf die Bar.

Lenny öffnete erstaunt den Mund. “Lola?”

“Du findest, dass es ihr ähnlich sieht?”

“Ja, und wie. Lola ist tot?” Er klang, als würde er gegen seine Tränen ankämpfen – genauso hatte Rick sich vor ein paar Minuten auch noch gefühlt.

“Zoe glaubt es, aber du weißt ja, was für eine ausgeprägte Fantasie sie hat.” Er wiederholte, was sie ihm erzählt hatte, nahm die Zeichnung wieder an sich und steckte sie in die Innentasche seines Smokings. “Es handelt sich sicher nur um ein Missverständnis. Oder um eine Verwechslung. Habe ich nicht irgendwo mal gelesen, dass wir alle jemanden haben, der so aussieht wie wir?”

“Wie solltest du ihr helfen?”

“Sie mit den Angestellten reden und in Lolas Leben herumwühlen lassen.”

“Und der Art nach zu urteilen, wie sie hinausgestürmt ist, hast du Nein gesagt.”

“Was hast du denn von mir erwartet? Dass ich ihr den Club überlasse? Dass sie bei meinen Mitarbeitern Miss Marple spielen kann?”

Lenny schloss die Kasse, stützte die Arme auf den Tresen und blickte seinem alten Freund direkt in die Augen. “So gut ich dich auch kenne … manchmal verstehe ich dich einfach nicht.”

Autor

Christiane Heggan
Christiane Heggan wurde in Nizza geboren, an der traumhaften französischen Riviera! Als Teenagerin träumte sie aber davon, wehzuziehen – nach Rom, Paris oder London. Erst als Christiane ihren ersten Freund hatte, ließ das Fernweh nach – doch nur vorübergehend. Denn als Christiane tatsächlich den Mann ihres Lebens traf, der beim...
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