Ein Mord kommt selten allein - drei Romane von Christiane Heggan

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IN TÖDLICHER GEFAHR

Der Mord an dem Kriminellen Ian McGregor gibt Detective John Ryan Rätsel auf. Muss er den Täter im Milieu suchen, oder steckt etwas anderes dahinter? Er verhört viele Verdächtige - eine davon ist Ians Halbschwester: Abbie DiAngelo, Besitzerin eines Top-Restaurants in Princeton. Die Faszination, die Abbie auf ihn ausübt, scheint gegenseitig zu sein, und so kommen sie sich während der Ermittlungen immer näher. Noch ahnt John nicht, dass ausgerechnet Abbie weiß, wer Ians Mörder ist und durch ihr Schweigen sich selbst und ihren Sohn Ben in tödliche Gefahr bringt ...

DER DUFT DES MÖRDERS

Die Fotografin Jenna Meyerson lebt erfolgreich und glücklich in New York. Bis ihr Ex-Mann Adam, Anwalt eines Computerunternehmens, sie um einen gefährlichen Gefallen bittet: Mit ihrer Hilfe will er anhand eines Fotos die dunklen Machenschaften eines Konkurrenzunternehmens aufdecken. Am nächsten Tag ist Adam tot. Jenna meint zu wissen, wer der Mörder ist - ein Mann mit markantem, undefinierbarem Geruch hatte sie am Abend zuvor angesprochen. Zusammen mit Frank, einem Studienfreund und Privatdetektiv, folgt sie der Spur des Mörders und gerät in höchste Gefahr.

BLACK JACK: BEI ANRUF MORD!

Unerschrocken taucht die attraktive Journalistin Kelly Robolo bei ihrer Suche nach einem verschwundenen Mann in einen Sumpf von Gewalt, Skrupellosigkeit und Mord ein. Der erfahrene Polizist Nick McBride scheint das gleiche Ziel wie sie zu verfolgen. Kelly vertraut dem attraktiven Mann. Und wird durch einen vermeintlichen Anruf von ihm in eine tödliche Falle gelockt.


  • Erscheinungstag 17.12.2015
  • ISBN / Artikelnummer 9783955765309
  • Seitenanzahl 576
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Christiane Heggan

Ein Mord kommt selten allein - drei Romane von Christiane Heggan

Christiane Heggan

In tödlicher Gefahr

Roman

Aus dem Amerikanischen von
Margret Krätzig

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MIRA® TASCHENBUCH



MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Cora Verlag GmbH & Co. KG,

Axel-Springer-Platz 1, 20350 Hamburg

Deutsche Erstveröffentlichung

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

Deadly Intent

Copyright © 2002 by Christiane Heggan

erschienen bei: Mira Books, Toronto

Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II B.V., Amsterdam

Konzeption/Reihengestaltung: fredeboldpartner.network, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Titelabbildung: by GettyImages, München; Strandperle, Hamburg

Autorenfoto: © by Harlequin Enterprise S.A., Schweiz

Satz: Berger Grafikpartner, Köln

ISBN: 978-3-95576-192-9

www.mira-taschenbuch.de

eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

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Prolog

18. Mai

Allen Correctional Center,

Lima, Ohio

An seinem dreiundvierzigsten Geburtstag, um den sich kein Mensch kümmerte, entschied Ian McGregor, dass er genug hatte vom Gefängnisleben. Zu dieser Erkenntnis gelangte er auf dem Weg mit neun weiteren Insassen vom Zellenblock 11 zum Aufenthaltsraum. Sie schlurften dahin und schubsten sich gegenseitig, nur um die Wachen zu ärgern.

Ian hatte sein halbes Erwachsenendasein immer mal wieder im Gefängnis gesessen. Die meisten Vergehen waren geringfügig gewesen – Trunkenheit und Randaliererei, versuchter Einbruch und Scheckbetrug –, doch die letzte Verurteilung, sechzehn Monate für Einbruchdiebstahl, hatte ihm den Rest gegeben. Gott sei Dank war er in zehn Tagen wieder frei, und diesmal würde er frei bleiben. Keine stinkenden Zellen, keine perversen Mithäftlinge und keine Gefängnisaufstände mehr. Beim letzten hatte er sich vier hässliche Stichwunden eingehandelt, als irgendein Auftragsschläger ihn mit einer Gabel traktiert hatte.

Freiheit war leider auch das Einzige, worauf er sich freuen konnte. Er hatte weder Geld noch Arbeit oder ein Zuhause, es sei denn, seine langjährige Freundin Rose Panini, mit der er immer mal wieder zusammen war, nähme ihn bei sich auf.

Sollte sie sich weigern, konnte er es ihr nicht mal verübeln. Bei seinem Vorstrafenregister der letzten zwanzig Jahre war er alles andere als ein guter Fang. Einfach ausgedrückt: Rose hatte die Nase voll von ihm. Das hatte sie ihm am Morgen seiner letzten Verurteilung deutlich gesagt und geschworen, ihn nie wieder sehen zu wollen. Bisher hatte sie sich daran gehalten. Seine Bitte, ihn zu besuchen, hatte sie ignoriert, und seine Briefe hatte sie ebenfalls nicht beantwortet. Aber Ian war optimistisch. Sobald sie ihn auf ihrer Türschwelle stehen sähe, reumütig und triefend vor Charme, würde sie ihm vergeben. Rose war kein Lottogewinn, aber sie hatte ein großes Herz, ganz zu schweigen von einem festen Job.

Sein zweites Problem war ernsthafterer Natur und hatte einen Namen: Arturo Garcia, einer der gemeinsten Hurensöhne, denen er je das Pech hatte zu begegnen. Vor zehn Jahren hatte er für Garcia gearbeitet und als sein Kurier alle Nachtclubs in der Gegend von Toledo mit Methadon und Kokain beliefert. Der Job war ziemlich einfach gewesen und die Bezahlung gut. Bis die Bullen, die ihn beobachtet hatten, ihn bei einer Lieferung schnappten und ins Gefängnis warfen.

Als er schon glaubte, das nächste Jahrzehnt hinter Gittern verbringen zu müssen, bot ihm der Staatsanwalt einen Deal an, der fast zu gut war, um wahr sein zu können. Seine Freiheit für eine umfangreiche Aussage gegen seinen Boss. Er hatte nicht lange überlegt. Das hätte er aber tun sollen, denn außer dass er über Arturo ausgepackt hatte, war er auch noch mit dreißigtausend Dollar aus dessen Besitz abgehauen, und das machte den Drogenboss erst richtig wütend.

Nachdem Arturo verurteilt worden war – dummerweise hatte Ian an dem Prozess teilgenommen –, wurde er tobend aus dem Saal gezerrt, während er einen Schwall von Obszönitäten und Drohungen gegen seinen Verräter ausstieß.

„Wir sind noch nicht fertig, du klauender Penner!“ schrie Garcia damals. „Ich finde dich, sobald ich draußen bin, und schlitze dich auf wie einen Fisch!“

Als Arturo entlassen wurde, war er selbst jedoch gerade wegen Einbruchdiebstahl in den Bau gewandert. Eine glückliche Fügung, die ihn vorläufig vor einem sicheren und schmerzhaften Tod bewahrt hatte. Angeblich war Arturo in seine Heimatstadt El Paso zurückgekehrt, wo er mit seinem jüngeren Bruder Tony ihrer verwitweten Mutter im familieneigenen Lebensmittelgeschäft half. Aber wer konnte wissen, ob das stimmte? Genauso gut konnte Arturo sich gerade jetzt vor den Gefängnistoren die Beine in den Bauch stehen und auf seine Chance warten, ihn umzubringen.

Ian wurde in seinen Überlegungen durch einen heftigen Schlag in die Kniekehlen gestört. „Beweg dich, McGregor! Was glaubst du, was das hier ist? Eine Beerdigungsprozession?“

Ian war versucht, dem Wachmann den Knüppel zu entreißen und in den Hintern zu schieben. Doch er ließ es bleiben, so befriedigend der Gedanke auch sein mochte. Gegenwehr würde ihm nur eine Woche Einzelhaft und den Entzug seiner Fernsehprivilegien einbringen. Die Einzelzelle machte ihm nichts, aber er wollte nicht auf seine abendliche Fernsehstunde verzichten, besonders jetzt, da Baywatch in den Privaten gezeigt wurde und täglich lief. Es ging doch nichts über einen Haufen gut gebauter Bräute in engen Badeanzügen, um das Blut eines Mannes in Wallung zu bringen.

Wie immer war die Truppe, die sich hier zur Entspannungsstunde einfand, in zwei Lager gespalten. Die hartgesottenen Pokerspieler, die nicht von den Karten lassen konnten, auch wenn sie nur Spielgeld setzten – und eine Hand voll Fernsehsüchtiger. Heute gab es für Ian und seine fernsehbegeisterten Freunde etwas Besonderes. Statt einer ganzen Stunde ihres Lieblingsprogramms hatten sie sich für eine halbe Stunde eines örtlichen Schönheitswettbewerbs und die letzten dreißig Minuten von Baywatch entschieden.

Ian nahm einen Platz in der ersten Reihe ein, die Augen starr auf den Bildschirm gerichtet, wo sechs wohlgeformte Mädchen, Finalistinnen des Miss Columbus Schönheitswettbewerbs, in knappen Bikinis beschwingt über den Laufsteg staksten, so dass die wippenden Brüste aus den Bikinitops zu fallen drohten. Ian und seine Kumpels klatschten und johlten, sobald eine Bewerberin nah an der Kamera war und ihnen einen appetitanregenden Blick auf ihren festen Hintern bot. Sogar die Wachen stimmten ein, pfiffen und stierten die Mädchen an, als hätten sie noch nie nackte Haut gesehen.

„He“, sagte Larry Warmath, der Häftling neben Ian, als der Wettbewerb zu Ende war, „hat das einer aufgenommen?“ Blöd grinsend rutschte er wie ein Idiot auf seinem Stuhl herum. „Das möchte ich mir bei meinem nächsten Privatvergnügen noch mal ansehen.“

Alle lachten, doch Ian achtete nicht mehr auf die anderen. Die Fernbedienung in der Hand, schaltete er auf der Suche nach Baywatch die Kanäle durch, bis zwei Frauen auf dem Bildschirm – eine dünne Blondine mit zu viel Make-up und eine Brünette mit weißer Schürze – seine Aufmerksamkeit erregten. Die schlanke, zarte Brünette war nicht gerade sein Typ, aber er musste zugeben, dass sie ein Blickfang war. Sie schien Mitte dreißig zu sein, wirkte jedoch viel jünger, wenn sie lächelte. Das dunkelbraune Haar war zurückgenommen und im Nacken mit einem weißen Band zusammengebunden. Ihre schönen, großen grauen Augen blickten offen, doch vor allem ihr Mund fiel ihm auf. Volle Lippen, an den Mundwinkeln leicht nach oben gezogen, weckten alle möglichen Fantasien.

Die beiden Frauen schienen in einem Restaurant zu stehen, das im Moment anscheinend noch nicht geöffnet hatte. Den Blick auf die Brünette gerichtet, hörte Ian zu.

„Heute“, begann die Blondine, „reden wir mit Abbie DiAngelo. Miss DiAngelo ist Besitzerin und Chefköchin des französischen Landrestaurants Campagne hier bei uns in Princeton.“

Ian richtete sich auf. Abbie DiAngelo? Er hatte mal eine Abbie DiAngelo gekannt. Seine Stiefschwester. Als er sie das letzte Mal gesehen hatte, war sie etwa acht gewesen. Deshalb war er nicht sicher, ob sie es war. Aber wie viele Abbie DiAngelos konnte es wohl geben?

„Her mit dem Ding!“ Warmath versuchte, Ian die Fernbedienung abzunehmen, doch der hielt sie außerhalb seiner Reichweite. „Wir interessieren uns nicht für Nachrichten, Mann. Wir wollen Baywatch.“

„Das sind nicht die Nachrichten, also beruhige dich, Larry, okay?“

„Was für ‘n Scheiß is’ denn das?“

„Zwei gut aussehende Tussis. Das bringt dich doch nicht in Schwierigkeiten, Casanova, oder?“ Er zwinkerte den anderen zu, die bereits kicherten.

„Teufel, nein.“ Warmath, der nicht allzu helle war, leckte sich die Lippen und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Ihm blieb ohnehin keine Wahl. Ian hatte die Fernbedienung und würde sie nicht hergeben. Und die übrigen drei Männer schienen nichts dagegen zu haben, sich die Frauen anzusehen.

„Miss DiAngelo“, fuhr die Reporterin fort, „ist eine Absolventin des ‚New York Culinary Institute‘ und den Bürgern aus der Gegend von Princeton wohlbekannt. Ehe sie ihr Restaurant eröffnete, führte sie den populären Partyservice DiAngelo Catering.“ Sie wandte sich der jungen Frau zu. „Und nun sind Sie soeben aus Lyon in Frankreich zurückgekehrt, wo man Sie mit einer der höchsten kulinarischen Auszeichnungen geehrt hat, dem Bocuse d’Or. Das ist eine unglaubliche Ehre für eine amerikanische Köchin, nicht wahr? Bisher hat niemand aus unserem Land eine solche Auszeichnung erhalten.“

Abbie DiAngelo lehnte an einem Tisch und konzentrierte sich auf die Reporterin, ohne auf die Kamera zu achten. „Ja, das stimmt. Offen gesagt habe ich nicht erwartet, als Gewinnerin heimzukehren. Ich wäre schon glücklich gewesen, unter die ersten zehn zu kommen. Schließlich habe ich zum ersten Mal an einem Wettbewerb teilgenommen.“

„Wie haben die Franzosen auf Ihren Sieg reagiert?“

Abbie DiAngelo lachte, und Ian glaubte, ein Grübchen in der linken Wange zu erkennen. „So wie sie auf Lance Armstrong reagiert haben, als er die erste Tour de France gewann.“ Mit gespieltem Entsetzen legte sie beide Hände an die Wangen. „‚Une Arméricaine? Mon Dieu. C’est pas possible.‘“

Die Reporterin lachte, doch Abbie wurde gleich wieder ernst. „Tatsächlich hätten sie vor, während und nach dem Wettkampf kaum netter sein können. Ein Lokalreporter nannte mich La Petite Américaine – die kleine Amerikanerin. Der Name blieb an mir haften, und als der Wettkampf vorüber war, freuten sich alle Mitbewerber mit mir.“

„Was bedeutet Ihnen dieser Preis, Abbie?“

Ihre Augen begannen zu strahlen. „Nun, zum einen tut er meinem Stolz sehr gut.“

„Wie man mir sagte, haben Sie keinen.“

Sie lachte wieder. „Da seien Sie mal nicht so sicher. Ein Küchenchef ohne Stolz ist wie ein Soufflee ohne Luft. Er wird den Anforderungen nicht gerecht. Nein, ernsthaft“, fuhr sie fort, „die wahre Belohnung war für mich, eine Woche lang Mitglied einer so elitären Gruppe zu sein und mit weltbekannten Küchenchefs zu arbeiten, Tipps mit ihnen auszutauschen und Techniken zu vergleichen. Unter so starkem Druck drei Tage lang zu kochen hat mich überzeugt, jeder Herausforderung gewachsen zu sein. Ich bin bereit.“

„Das Menü, das Sie für die Richter gekocht haben, war beeindruckend. Werden Sie einige dieser Gerichte Ihrer gegenwärtigen Speisekarte hinzufügen?“

„Das habe ich bereits. Und alle waren ein großer Erfolg.“

Die Reporterin beugte sich zu Abbie vor und blinzelte dabei in die Kamera. „Bekommt man deshalb so schwer eine Tischreservierung bei Ihnen?“

„Ich weiß nicht, mag sein“, erwiderte Abbie lächelnd. „Vielleicht versuchen Sie es mal über Ihre Beziehungen.“

Warmath stieß Ian in die Rippen. „He, was ist das mit dir und dieser Tusse, Mann?“ Er wand sich wieder und fragte im Singsang: „Biste verliebt, McGregor?“

Ian starrte weiter auf den Bildschirm. „Nein, aber ich glaube, ich kenne die.“

„Ach was.“ Der Mitgefangene lachte schallend. „Also, warum stellst du sie uns nicht vor? Wir möchten sie auch kennen lernen.“ Und an die anderen gewandt: „Stimmt’s nich’, Kumpels?“

„Halt die Klappe, ja?“ Ian blendete, konzentriert auf das Interview, die Stimmen der anderen aus. Er war sich fast sicher, dass die Frau auf dem Bildschirm seine Stiefschwester war.

„Wollten Sie immer schon Chefköchin werden?“ fragte die Reporterin.

Hinter ihr ging ein Kellner in schwarzer Hose mit weißem kurzärmeligem Hemd von Tisch zu Tisch und legte Silberbesteck neben die Teller. „Eigentlich wollte ich Ballerina werden.“

Sie ist es, dachte Ian und erinnerte sich an die Ballettposter in Abbies Zimmer, an die Tanzstunden, die sie zweimal wöchentlich bekam, und an die Aufführungen, zu der er mit seiner Schwester Liz hatte gehen müssen. Sie ist es wirklich. Heiliger Strohsack!

Die Blondine blickte dem Kellner einen Moment nach, ehe sie sich wieder Abbie zuwandte. „Wann kam der Sinneswandel?“

„Das weiß ich nicht genau. Meine Mutter war und ist immer noch eine wunderbare Köchin. Das hat wohl für mich letztlich den Ausschlag gegeben, in die Gastronomie zu gehen.“

Irene lebte also noch. Das war nicht überraschend. Sie war erst Mitte dreißig gewesen, als sie seinen Vater geheiratet hatte.

„Ich danke Ihnen, Abbie, dass Sie sich bei Ihrem hektischen Terminplan die Zeit genommen haben, mit uns zu reden. Und noch einmal Glückwunsch zu Ihrem Preis.“ Die Reporterin wandte sich der Kamera zu und zeigte ihre strahlend weißen Zähne. „Wir sprachen mit Abbie DiAngelo, der Gewinnerin des prestigeträchtigen Bocuse d’Or. Loraine Grant für CBS.“

Warmath stieß Ian wieder an. „Vielleicht sollten wir die Braut hierher einladen, damit sie für uns kocht. Der Gefängnisfraß, den wir kriegen, frisst mir ‘n Loch in den Magen so groß wie der Grand Canyon.“

Doch Ian hörte nicht zu, sondern dachte nach. Obwohl er nicht gerade religiös war, konnte er es nicht für einen Zufall halten, dass er Abbie nach achtundzwanzig Jahren wieder gefunden hatte. Es war ein Zeichen von oben, das er nicht ignorieren durfte. Eben noch hatte er sich gefragt, woher sein nächstes Geld kommen sollte, und plötzlich war alles klar. Jawoll, endlich lächelten die Götter auf Ian McGregor herab. Und all das verdankte er einer Laune des Schicksals – oder in diesem Fall einem Druck auf die Fernbedienung.

Wer behauptete, dass Wunder nur für die Gläubigen bestimmt waren?

28. Mai,

Stateville Gefängnis,

Akron, Ohio

Ians erster Besuch, nachdem er zehn Tage später das Allen Correctional Center verlassen hatte, galt nicht Rose, sondern einem alten Kumpel, der seit sechs Jahren in Stateville in der Todeszelle saß.

Ian hatte Earl Kramer vor über zehn Jahren in San Francisco kennen gelernt. Sie waren Partner beim Einschleusen illegaler Einwanderer aus China gewesen – Männer und Frauen, die so verzweifelt ein besseres Leben suchten, dass sie pro Person zehntausend Dollar für eine sichere Passage in die Vereinigten Staaten zahlten. Ehe Ian und Earl aber auch nur einen Penny daran verdienten, war der Dritte im Bunde mit der Kasse getürmt.

Pleite und verbittert hatten Ian und Earl sich getrennt, jeder auf der Suche nach dem nächsten Coup für den schnellen Dollar. Ein paar Jahre später hörte Ian, dass Earl wieder im Gefängnis saß, diesmal wegen Polizistenmordes. Dafür wurde er zum Tode verurteilt.

Ian hätte keinen weiteren Gedanken an Earl verschwendet, doch seinen cleveren kleinen Plan, Abbie auszunehmen, konnte er ohne seinen alten Kumpel nicht umsetzen. Eine Besuchserlaubnis zu bekommen war jedoch kein leichtes Unterfangen gewesen. Obwohl Stateville kein Hochsicherheitsgefängnis war, galt das Besuchsrecht bei Todeskandidaten nur für engste Familienangehörige. Erst als Earls Frau Anna bei den Gefängnisoffiziellen intervenierte, Ian sei ein alter Freund und gehöre praktisch zur Familie, hatte man ihm den Besuch gestattet.

Nachdem er gründlich durchsucht worden war, wurde er mehrere schmale Korridore entlanggeleitet und in einen Raum mit zwei Kabinen geführt, die durch eine dicke Glasscheibe getrennt waren.

Ian wählte die hintere Kabine, setzte sich und blickte sich nervös um. Die Atmosphäre in diesem Flügel war anders, ruhiger und bedrückender. Man konnte förmlich eine Uhr ticken hören, obwohl er nirgends eine sah. Vielleicht rührte das unheimliche Gefühl von dem Wissen, dass sich irgendwo an diesem Flur die Hinrichtungskammer befand und auf den nächsten Insassen wartete. Ian fröstelte.

Als er das sich nähernde Rasseln von Ketten hörte, begann er heftig zu schwitzen. Einen Augenblick später kam Earl herein, begleitet von zwei Wachen. Trotz der sechs langen Jahre im Todestrakt hatte er sich erstaunlich gut gehalten. Sein Haar war jetzt von einem schmutzigen Grau und stand ihm in stacheligen Büscheln vom Kopf ab. Außerdem war er schwerer, als Ian ihn in Erinnerung hatte, und wirkte massiger unter dem verblichenen blauen Gefängnisanzug.

An Händen und Füßen gefesselt, schlurfte er zur Kabine und setzte sich. Da bemerkte Ian das kleine schwarze Buch, das Earl mitgebracht hatte und auf den Tisch legte. Er hatte gehört, dass einige Insassen im Todestrakt zu Gott fanden, wenn nichts anderes mehr half, aber er hätte sich nie träumen lassen, dass der bösartige, Zoten reißende Earl gläubig wurde. Besorgt, seine Hoffnung auf rasches Geld begraben zu müssen, blickte er seinem Gegenüber eine Weile forschend ins Gesicht und hoffte, das erlösende Wort „angeschmiert“ aus seinem Mund zu hören. Falls Kramer die Besorgnis seines alten Partners spürte, so zeigte er es jedoch nicht.

Ian wartete, bis Earl mit beiden Händen den Hörer genommen hatte, ehe er in seinen sprach. „Wie geht’s dir, Kumpel?“

Earl sah ihn finster an. „Ich bin hier im gottverdammten Todestrakt. Was glaubst du wohl, wie’s mir geht?“

Ian entspannte sich. Das war genau der Earl, den er kannte. „War wohl ’ne dumme Frage.“

Die halbherzige Entschuldigung schien seinen früheren Partner nicht zu interessieren. „Was zum Geier suchst du hier? Ich dachte, nach Garcias Drohungen wärst du längst über alle Berge.“

„Bin ich auch bald.“ Ian warf den beiden Wachen an der Tür einen flüchtigen Blick zu. Sie beobachteten ihn, wirkten jedoch eher gelangweilt als argwöhnisch. Er senkte die Stimme. „Ich habe einen Vorschlag für dich.“

„Du willst mich rausholen?“

Ian lachte. „Ich dachte, ein Mann mit deinen Verbindungen hätte inzwischen einen Weg gefunden, hier rauszukommen.“

„Verbindungen sind nicht billig.“

Ian grinste. „Wenn das so ist, wird dir mein Vorschlag sicher gefallen.“

Während sie vorgaben, eine normale Unterhaltung zu führen, senkte Ian die Stimme noch ein wenig und erläuterte Earl seinen Plan.

1. KAPITEL

3. Juni

Princeton, New Jersey

„Ja, Ben, fabelhaft!“

Abbie DiAngelo sprang heftig klatschend auf, als der Ball, den ihr neunjähriger Sohn geschlagen hatte, über das Innen- und Außenfeld flog und kurz vor dem Homerun aufschlug.

„Lauf, lauf, lauf!“ Die Menge jubelte und johlte, als zwei Läufer ins Ziel kamen und Ben mit einem spektakulären Rutscher das dritte Mal erreichte.

Der Schiedsrichter zeigte mit ausgestrecktem Arm an, dass Ben in Sicherheit war. Grinsend stand der Junge auf und nahm die Gratulation seines Trainers entgegen, der ihm einen Klaps mit der Hand versetzte, und blickte zu den Tribünen hinüber. Abbie machte das Siegeszeichen mit dem Daumen nach oben. Als Dank zog er an seinem Helm. Sie wusste, dass er trotz seiner lässigen Haltung vor allem erleichtert war. Seine Schläge waren nicht berühmt gewesen. Dank des Trainings mit Brady Hill, ihrem jungen Souschef im Campagne, der einmal davon geträumt hatte, für die Yankees zu spielen, hatte sich Bens Technik in den letzten beiden Wochen gewaltig verbessert und damit die Zahl seiner gelungenen Schläge.

Fünfzehn Minuten später begaben sich die ungeschlagenen Princeton Falcons auf die Ränge zu ihren stolzen Eltern. Als Ben stehen blieb und einige Worte mit einem seiner Mannschaftskameraden wechselte, beobachtete Abbie ihn mit der vertrauten Wehmut im Herzen. Sie war stolz auf ihn. Er hatte sich zu einem warmherzigen, offenen und guten Jungen entwickelt. Eine Zeit lang hatte es sie so geängstigt, ihn allein zu erziehen, dass sie sogar die notwendige Scheidung von Jack infrage gestellt hatte. Doch wie ihre Mutter Irene stets betont hatte, war eine Trennung der Eltern oft weniger schädlich für ein Kind, als in einer schlechten Ehe aufzuwachsen. Und wenn irgendjemand wusste, wie zerstörerisch eine schlechte Ehe sein konnte, dann Irene.

Eigenartig, wie ihr Leben in mancher Hinsicht dem ihrer Mutter glich. Sie hatten beide mit ihren Partnern die falsche Wahl getroffen und es überstanden, indem sie sich auf ihr Kind konzentrierten. Letztlich waren sie gestärkt aus ihren Fehlern hervorgegangen.

Den Beutel mit dem Schläger über eine Schulter geschlungen, kam Ben auf sie zugelaufen. Abgesehen von dem sonnigen Gemüt, das er von ihr geerbt hatte, war der Neunjährige das genaue Ebenbild seines Vaters. Er hatte Jacks flammend rote Haare, die großen blauen Augen und genau wie er Sommersprossen auf der Nase.

„Hast du den ‚Triple‘ gesehen, Mom?“ Die Augen strahlten vor kindlicher Begeisterung. „Und den ‚Double‘ davor?“

Ihr erster Impuls war, ihn heftig zu umarmen. Doch gerade rechtzeitig erinnerte sie sich, dass er mit seinen neun Jahren Umarmungen und Küsse in der Öffentlichkeit peinlich fand. Also begnügte sie sich damit, ihm das Haar zu zerzausen. „Aber sicher habe ich das gesehen. Ich bin stolz auf dich, Sportsfreund.“

„Jimmy sagte, meine drei ‚RBIs‘ haben das Spiel entschieden.“

Sie wollte seine Begeisterung nicht dämpfen, deshalb wählte sie ihre Worte mit Bedacht. „Du warst beeindruckend auf dem Spielfeld. Aber weißt du noch, worüber wir neulich gesprochen haben? Baseball ist ein Mannschaftsspiel. Alle Spieler haben zu dem Sieg heute Abend beigetragen.“

Ben nickte zögerlich. „Das hat der Trainer auch gesagt.“

Lächelnd genoss Abbie diesen Moment mit ihrem Sohn. Obwohl die Dinnerzeit im Campagne auf vollen Touren lief und sie zurückkehren müsste, drängte sie Ben nicht zur Eile. Brady würde für sie einspringen. „Ich denke, dieser ‚Triple‘ verdient eine Belohnung. Was hältst du davon, wenn ich bei Flo für eine Eistüte anhalte, ehe ich dich zu Hause absetze?“

„Vor dem Dinner?“

„Was wäre das Leben ohne Risiko?“

Ben belohnte sie mit einem glücklichen Lächeln. „Cool.“

Abbie vergaß die Regel, ihn nicht vor seinen Freunden zu berühren, schlang einen Arm um die schmalen Schultern, und sie gingen gemeinsam auf ihren roten Acura Geländewagen zu. Ein plötzliches Unbehagen, wie sie es seit der Drohung ihres Exmannes, ihr Ben wegzunehmen, nicht mehr erlebt hatte, erfasste sie. Alarmiert schaute sie sich um. Einige Schritte entfernt lehnte ein Mann mit der Schulter an dem Zaun, der das Spielfeld teilweise eingrenzte. Obwohl in Jeans, Polohemd und Turnschuhen – die Standardbekleidung für die Väter der Kinderliga –, passte er irgendwie nicht hierher. Vielleicht, weil er allein war. Oder weil er sie beunruhigend musterte. Der Verstand sagte ihr, dass er vollkommen harmlos sein konnte, ein Fan von KinderBaseball. Aber heutzutage, da so viele menschliche Raubtiere durch die Straßen schlichen, konnte man nicht vorsichtig genug sein. Falls sie ihn beim nächsten Spiel wieder sähe, würde sie Bens Trainer auf ihn aufmerksam machen.

Abbie versuchte, ihre Verunsicherung abzuschütteln, hielt Ben umso fester und ließ ihn erst am Geländewagen los.

Ian sah zu, wie Abbie in ihr Auto stieg, einen knallroten Geländewagen, und bemerkte erfreut, dass er sie nervös gemacht hatte. Menschen zu verunsichern bereitete ihm Vergnügen und wertete die kleine Überraschung, die er für sie in petto hatte, noch mehr auf.

Er war seiner Stiefschwester vom Restaurant zum Spielfeld gefolgt und erfuhr auf diese Weise, dass sie einen Sohn hatte, der bei den Falcons spielte, dem gegenwärtigen Spitzenreiter der Liga. Den Jungen unter den anderen herauszufinden war jedoch nicht einfach gewesen, da kein Spieler den Namen DiAngelo auf dem Hemd trug. Erst durch Abbies Jubelrufe hatte er mitbekommen, dass der sommersprossige, rothaarige Junge mit dem breiten, strahlenden Lächeln ihr Sohn war und Ben hieß. Auf seinem Hemd stand in großen schwarzen Buchstaben der Name Wharton.

Dass Abbie einen Sohn hatte, war eine Überraschung gewesen. Sie hatte ihn in dem Interview nicht erwähnt, und auf der Webseite des Restaurants, die er vor der Abreise aus Ohio gelesen hatte, war auch keine Rede von einem Ehemann gewesen. Ein Mann komplizierte die Sache möglicherweise. Da er jedoch keinen Ehering an ihrer Hand entdeckt hatte, könnte sie möglicherweise geschieden sein. Oder verwitwet. Vielleicht gehörte sie auch zu diesen glühenden Feministinnen, die sich künstlich befruchten ließen, um zu zeigen, dass sie keinen Mann brauchten, um ein Kind aufzuziehen.

Wie auch immer, er beklagte sich nicht. Bis jetzt war alles ziemlich nach Plan gelaufen. Sogar Rose, die gute verlässliche Rose, hatte ihn wieder aufgenommen, wenn auch nicht gerade mit offenen Armen. Er hatte sich schon sehr abmühen müssen, damit sie ihm nicht die Tür vor der Nase zuknallte, aber schließlich hatte sie ihn hereingelassen.

„Ich verändere mein Leben radikal“, hatte er ihr mit aller gebotenen Eindringlichkeit versprochen. „Ich verlasse diese miese Stadt und fange neu an.“ Dann hatte er sie lange ernsthaft angesehen. „Und ich möchte, dass du mit mir kommst, Rose.“

Anschließend erklärte er ihr, dass er seine Stiefschwester aufgetrieben habe und hoffe, ein Darlehen von ihr zu erhalten, um eine kleine Wohnung zu mieten und sich neu einzukleiden, damit er sich nach einem anständigen Job umsehen könne. Mehr hatte er ihr nicht erzählt. Rose war ein wenig eigen und sehr geradlinig. Je weniger sie von seinem Plan wusste, desto besser.

Die geplante Jobsuche hatte Rose mit Skepsis quittiert, und das aus gutem Grund. Früher war seine Unfähigkeit, einen Job zu finden – oder, wie sie es ausdrückte, seine Arbeitsscheu –, der Anlass zu endlosen Streitereien gewesen.

Obwohl er seinen Auftritt so überzeugend fand, dass er geradezu einen Oscar dafür verdient hätte, dauerte es eine Weile, bis Rose sich für die Idee erwärmte, ihre Heimatstadt Toledo zu verlassen. Noch schwerer war es gewesen, sie dazu zu bringen, die gemeinsame Reise nach Princeton, New Jersey, zu finanzieren.

„Betrachte es als Investition“, hatte er gesagt und dabei langsam und aufreizend ihr Bein gestreichelt, so wie sie es mochte. „Eine Investition in uns.“

Das wirkte Wunder. Rose hatte sich in seine Arme geschmiegt und zwei Tage später bei ihrem Vermieter und ihrem Boss im Schönheitssalon, wo sie als Maniküre arbeitete, gekündigt.

Leider hatte Rose nicht so viel auf der hohen Kante gehabt wie gehofft. Und da er nicht einschätzen konnte, wie lange es dauern würde, bis Abbie mit Geld herüberkam, mussten sie ihre Pennys zusammenhalten. Sogar das bescheidene Motel an der Route 27 riss ein Loch in ihren Geldbeutel.

Gleich nach dem Einzug vor wenigen Stunden hatte er sich Rose’ Oldsmobile geborgt und war zum Palmer Square gefahren, um sich Abbies Restaurant anzusehen. Er war beeindruckt gewesen. Das Viertel war eines dieser Schickimicki-Einkaufszentren, das um einen kleinen Park herum errichtet worden war, den die Einheimischen ‚Das Grün‘ nannten. Ringsum lagen schicke Boutiquen und teure Feinschmeckerlokale.

Vom Restaurant war er zur Steuerbehörde gefahren, um die Adressen seiner Stiefschwester und ihrer Mutter Irene zu erfahren. Sobald der Angestellte merkte, dass er es mit einem Auswärtigen zu tun hatte, holte er hilfreich eine Karte heraus und zeigte ihm die Lage beider Straßen.

Falls Erfolg an der Größe eines Hauses festgemacht werden konnte, hatte Abbie es wahrhaftig geschafft. Ihr Haus war doppelt so groß wie das der McGregors in Palo Alto seinerzeit und umgeben von etlichen Acres meist bewaldeten Landes. Irene hingegen lebte in einem gut erhaltenen zweistöckigen Gebäude in einem Arbeiterviertel.

Ian zog sich endlich vom Zaun am Spielfeldrand zurück und ging zu seinem Oldsmobile. Er hatte genug aus Abbies Unterhaltung mit ihrem Sohn erfahren. Sie würden jetzt ein Eis essen, und dann wollte sie Ben heimfahren. Was sie danach tun würde, hatte sie zwar nicht erwähnt, doch er war sicher, dass sie die Dinnerzeit im Restaurant verbringen würde.

Da er nichts weiter vorhatte, fuhr er zurück zum Palmer Square, fand hinter dem Restaurant einen kleinen Parkplatz und wartete. Wie erhofft, tauchte nach einer halben Stunde der rote Geländewagen auf.

Das Gesicht hinter einer Straßenkarte verborgen, beobachtete er, wie seine Stiefschwester ins Restaurant eilte. Die Wartezeit würde lang werden, bis sie ihr Lokal schloss, aber das machte nichts. Er konnte durchaus geduldig sein – vorausgesetzt, der Einsatz lohnte sich.

2. KAPITEL

3. Juni,

El Paso, Texas

„Nein, Arturo.“ Tony Garcia stellte sich zwischen seinen älteren Bruder und die Reisetasche auf dem Bett. „Du wirst diesen McGregor nicht jagen.“

Arturo, einen Kopf größer als sein Bruder und hundert Pfund schwerer, schob ihn beiseite. „Und wer will mich aufhalten?“

„Ich.“

„Bleib mir vom Leib, Tony, okay?“ Arturo warf ein paar Kleidungsstücke in die Tasche. „Ich habe drei lange Jahre gewartet, um diesem Hurensohn die Quittung dafür zu präsentieren, dass er mich verpfiffen hat. Jetzt wird er zahlen.“

„Er ist es nicht wert, dass du wieder ins Gefängnis gehst!“

„Ich gehe nicht ins Gefängnis.“

„Und ob, wenn du ihn umbringst.“

Arturo baute sich vor Tony auf. Er war ein bulliger Mann mit der Kraft eines Stieres und einem entsprechenden Temperament. Mit dem kahl rasierten Schädel und dem Ziegenbart, den er sich hatte wachsen lassen, sah er noch bedrohlicher aus. „Was ich mit McGregor mache, ist meine Sache.“

Leider nicht, dachte Tony seufzend. Es machte ihm zwar keinen Spaß, der Aufpasser seines Bruders zu sein, doch ihm blieb keine Wahl. Vor sechs Monaten hatte er seinem Vater, der auf dem Sterbebett lag, versprochen, dafür zu sorgen, dass Arturo nicht wieder in Schwierigkeiten geriet, und er hielt sein Versprechen.

„Arturo, sei vernünftig!“ bat er, obwohl sein Bruder noch nie über Vernunft verfügt hatte. „Die Sache ist zehn Jahre her. Zeit zu vergeben und zu vergessen.“

Wütend sah Arturo ihn an. „Wenn ich das täte, würde das ganze barrio über mich lachen. Ich würde meinen Ruf verlieren.“

„Es geht also nur darum, dein Gesicht zu wahren?“

„Es geht darum, mein Geld zu kriegen!“ Arturo trat noch näher zu Tony. „Dreißigtausend hat mir dieser Arsch geklaut, die will ich zurück, Mann!“

„Willst du mir etwa weismachen, dass du nur deine dreißigtausend haben willst?“

Arturo warf ein Paar abgetragene Stiefel in die Tasche. „Für den Anfang.“

„Dann gib mir dein Wort, dass du ihn nicht umbringst.“

„Das hängt von McGregor ab. Wenn er keinen Mist baut, lasse ich ihn vielleicht leben. Wenn doch …“ Er zuckte die Achseln.

„Was dann? Dann wirst du geschnappt und gehst wieder in den Kahn. Was wird aus Ma, wenn du wieder im Knast bist? Das letzte Mal hat sie schon fast umgebracht.“

„Sie kommt schon klar. Sie hat ja dich.“

„Nein, hat sie nicht.“

Arturo, der gerade ein T-Shirt in die Tasche werfen wollte, hielt inne. „Was zum Henker soll das heißen?“

„Das heißt, dass ich nicht hier sein werde. Wenn du darauf bestehst, McGregor zu jagen, komme ich mit.“

„Verflucht, ich brauche keinen Babysitter!“ brüllte Arturo.

„Gewöhn dich dran. Ich werde immer da sein.“ Er stieß ein paar Mal mit dem Zeigefinger in die Luft und berührte fast die Nase seines Bruders. „Direkt vor dir werde ich stehen und dafür sorgen, dass du auf dem rechten Pfad bleibst. Hast du das kapiert?“

Ehe Arturo den Mund schließen konnte, stürmte Tony hinaus und wünschte sich, davonlaufen und den Bruder seinem Schicksal überlassen zu können. Doch Tony liebte den großen Halunken und schuldete ihm Dank, weil der ihn als Kind immer beschützt hatte.

Im barrio aufgewachsen, waren beide frühzeitig einer Straßengang beigetreten. Tony war vierzehn gewesen und Arturo neunzehn. Angewidert von der Gewalt hatte Tony vier Jahre später die Blades verlassen und im Lebensmittelgeschäft der Eltern angefangen. Er hatte sogar ein paar Kurse am örtlichen College belegt. Arturo hingegen spekulierte bereits darauf, der nächste Anführer der Bande zu werden. Kurz nach seiner Einsetzung als neuer jefe der Blades war Arturo von einem Mann angesprochen worden, der sich als mächtiger Drogenboss zu erkennen gab und jemanden mit Mut suchte, der sein Verteilungszentrum in Toledo, Ohio, führte.

Tony war besorgt gewesen, sein Bruder könnte eine kriminelle Laufbahn einschlagen, und hatte ihn zu überreden versucht, das Angebot abzulehnen. Arturo hatte ihn nur ausgelacht.

„Bist du verrückt, Tone? Sieh mich doch an.“ Auffordernd hatte er die Arme ausgebreitet, um sein Argument zu untermauern. „Ich bin nur ein lumpiger Bandenführer, ein hässlicher, gemeiner Mexikaner ohne Geld und Zukunft. Dass ich hässlich bin, kann ich nicht ändern, aber arm muss ich bestimmt nicht bleiben.“

In puncto Geld behielt er Recht. Innerhalb eines Monats verdiente Arturo tausend Dollar die Woche, steuerfrei, und lebte auf großem Fuß. Das Geschäft lief so gut in Toledo, dass er einen Partner hereinnahm, Ian McGregor.

Zwei Jahre später ging McGregor der Polizei ins Netz und wurde freigelassen, nachdem er dem Staatsanwalt Arturo auf einem Silbertablett geliefert hatte.

Obwohl Arturo geschworen hatte, sich an seinem früheren Partner zu rächen, hatte Tony immer gehofft, er würde den Verrat irgendwann vergessen und einfach sein Leben weiterführen. Pech gehabt. Nachdem Arturo durch die Buschtrommeln im Gefängnis gehört hatte, dass McGregor draußen war, begann er zu packen.

Leise fluchend ging Tony in sein Zimmer, holte seine Reisetasche aus dem Schrank und warf sie aufs Bett. Arturo davon abzuhalten, McGregor umzubringen, war keine Aufgabe, die ihn freute, doch wer sollte es sonst tun?

Abbie nannte die Küche des Campagne das Nervenzentrum, und jeder, der einmal dort gewesen war, würde ihr zustimmen. Es war ein emsiger, lauter, hektischer Ort, und die meisten Besucher dankten ihrem Schöpfer, dass sie hier nicht arbeiten mussten.

Abbie empfand es genau umgekehrt. Gleichgültig, wie viele Stunden sie in der Küche verbrachte und wie erledigt sie am Ende eines Tages war, die Hektik und die zu bewältigenden Herausforderungen wurden ihr nie zu viel.

Froh, dass die Küche mit der Effizienz und Präzision einer gut geölten Maschine lief, nahm Abbie ihre Schürze vom Haken und lächelte Brady an, der auf sie zukam.

„Wie ist es gelaufen?“ fragte er eifrig.

Ihr Souschef war ein ansehnlicher junger Mann mit dem Aussehen eines Filmstars: kurze, stachelige blonde Haare à la Brad Pitt und ein einnehmendes Lächeln. Ein gebrochener Ellbogen hatte seine viel versprechende Baseballkarriere beendet und ihn gezwungen, sich nach neuen Möglichkeiten für seinen Lebensunterhalt umzuschauen. Auf Anraten seiner Freunde, die seine Kochkünste liebten, hatte er sich in einer örtlichen Kochschule eingeschrieben und nach der Ausbildung einen Job als zweiter Assistent des Küchenchefs in einem Restaurant in Philadelphia bekommen. Als Abbie vor drei Jahren das Campagne eröffnete und einen Souschef suchte, hatte sie seine Bewerbung gelesen und sofort ein Vorstellungsgespräch vereinbart. Nach zehn Minuten war ihr klar gewesen, dass sie den Richtigen hatte. Sie verstanden sich so ausgezeichnet, dass sie dem Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Verhältnis rasch entwuchsen und Freunde wurden.

Da Brady Ben stundenlang beigebracht hatte, seine Schlagtechnik zu verbessern, gab Abbie ihm einen ausführlichen Spielbericht, weil er das erwartete. Als sie von Bens spektakulärem ‚Triple‘ im letzten Inning erzählte und den drei ‚RBIs‘, strahlte Brady.

„Er ist ein Anwärter für das Allstar Team“, urteilte er mit überzeugtem Kopfnicken.

Abbie band sich die Schürze um die Taille. „Sag ihm das nicht, okay? Ich möchte ihm eine Enttäuschung ersparen, falls er nicht ausgewählt wird.“

„Falls er nicht ausgewählt wird, nehme ich mir seinen Trainer zur Brust.“

Abbie stöhnte auf. „Oh nein, du redest schon wie einer dieser Väter aus der Kinderliga, die ihren Spross für viel besser halten als alle anderen.“

Brady lachte. „Schon gut, schon gut, ich halte die Klappe.“

Gemeinsam mit Brady ging Abbie durch den großen Raum mit der Edelstahleinrichtung, warf einen Blick auf die Bestellzettel am Drehgestell, hob Deckel, schnupperte, probierte und lugte in den Backofen, wo vier Cassoulets in kleinen Tontöpfen sanft vor sich hin blubberten.

„Hat sich während meiner Abwesenheit irgendwas Ungewöhnliches ereignet?“ Abbie ging zu den schulterhohen Schwingtüren und blickte in den voll besetzten Speisesaal.

„Der Präsident der Universität und seine Gattin sitzen an Tisch drei. Sie feiern Silberhochzeit.“

Abbie erkannte den grauhaarigen Akademiker. Er und seine Frau gehörten zu den Stammkunden und großzügigen Sponsoren des jährlichen „Food Festivals“, dessen Einnahmen an ein örtliches Frauenhaus gingen. „Schick ihnen eine Flasche Champagner, Brady. Mit besten Empfehlungen des Hauses. Und sag ihnen, ich komme später zum Gratulieren vorbei.“

Brady gab Abbies Auftrag sofort fingerschnippend an eine vorbeieilende Bedienung weiter. „Oh“, fügte er zwinkernd hinzu, „das hätte ich fast vergessen. Dein Verehrer ist wieder da.“

Fragend zog Abbie eine Braue hoch. „Ich habe einen Verehrer?“

„Tu doch nicht so. Du weißt genau, dass ich von Professor Higgins rede. Er hat es zum Lunch nicht geschafft, deshalb ist er heute zum Dinner gekommen. Und natürlich hat er darauf bestanden, an seinem üblichen Tisch zu sitzen. Ich musste ein bisschen umorganisieren, aber ich denke, ein so guter Kunde ist es wert.“

Abbie entdeckte den eleganten pensionierten Professor in seinem kleinen Alkoven sofort. Oliver Gilroy, gebürtiger Engländer, der sein Land vor fünfzehn Jahren verlassen hatte, um in Amerika englische Literatur zu unterrichten, war ein charmanter Mann mit einer Vorliebe für gutes Essen und alles, was das Leben angenehm macht. In einem Raum voller Menschen fiel er nicht unbedingt auf. Er war klein und schlank mit ordentlich frisiertem grauem Haar und der Art Gesicht, die man schnell vergisst. Allerdings war er ein wenig exzentrisch. Er kam jeden Tag genau zur selben Zeit ins Restaurant – zwölf Uhr mittags –, verlangte stets denselben Tisch und bestellte, gleichgültig, was er aß, stets denselben Wein: einen australischen Chardonnay.

Es stimmte, offensichtlich mochte er sie. Doch diese Sympathie schrieb sie weniger einer romantischen Zuneigung als vielmehr ihrer Ähnlichkeit mit seiner Tochter zu, deren Bild sie gesehen hatte. Sowohl seine feinen Manieren als auch sein kultivierter britischer Akzent hatten Brady bewogen, ihn Professor Higgins zu taufen, nach der unvergesslichen Gestalt aus My Fair Lady.

„Ich glaube, er hat Ben wieder ein Geschenk mitgebracht“, flüsterte Brady.

Abbies Blick fiel auf den Miniatureisenbahnwagen aus Holz neben dem Weinglas des Professors. Seit seiner Pensionierung widmete Gilroy seiner alten Leidenschaft – dem Bauen von kleinen Modelleisenbahnen, die er aus vorgefertigten Teilen zusammensetzte – viel Zeit. Als er von Abbies kleinem Sohn erfuhr, brachte er Ben sofort eine soeben fertig gestellte Big Boy Lokomotive mit. Dem ersten Geschenk waren ein Holzwaggon, ein Viehwagen, ein offener Güterwagen und verschiedene Frachtwaggons gefolgt.

Obwohl Abbie versucht hatte, ihn davon abzuhalten, füllte er Bens Sammlung weiter auf. Der Junge sollte einen kompletten Satz der „Southern Pacific“ besitzen, der Lieblingsbahn des Professors.

Sie würde später auf ihrer Runde an seinem Tisch vorbeigehen. Und da sie wusste, dass er eine Vorliebe für Windbeutel hatte, bat sie Brady, ihm eine Schachtel mit seinem Lieblingsgebäck mitzugeben.

Brady kicherte. „Es hat sich noch immer gelohnt, das Kind zu verwöhnen, wenn man was von der Mutter will.“

„Um Himmels willen, Brady, hör bitte auf damit. Der Mann ist alt genug, mein Vater zu sein.“

„Na und? Er ist gebildet, sieht nicht übel aus und ist wohlhabend, soweit ich weiß. Außerdem könntest du etwas Romantik in deinem Leben ganz gut gebrauchen.“

Abbie verzog das Gesicht. „Danke, dass du mich daran erinnerst.“

„Du weißt, wie ich das meine.“

„Ja, du denkst, ich führe ein langweiliges Leben.“ Sie tätschelte ihm spielerisch den Arm. „Lenken wir deine Kreativität doch auf etwas anderes – zum Beispiel auf die gebratene Ente für Tisch eins.“

Gegen elf war der letzte zufriedene Gast endlich gegangen. Ihre Angestellten waren fort, und die Küche war wieder so makellos sauber wie heute Morgen. Abbie stand allein im leeren Speisesaal an der Kasse und zählte die Tageseinnahmen. Vierzehntausend Dollar. Nicht übel für einen Montagabend.

Sie langte unter die Kasse und nahm den Beutel heraus, in dem sie die Einnahmen zur Bank brachte. Während sie das Geld hineinsteckte, glitt ihr Blick über den leeren Saal. Auch nach drei Jahren als Besitzerin des Campagne machte es sie noch stolz, wie viel sie in so kurzer Zeit erreicht hatte, auch wenn eher die Umstände als ihr freier Wille ihren beruflichen Werdegang bestimmt hatten. Als Ehefrau und Mutter eines Babys hatte es ihr genügt, einen Partyservice zu führen, der es ihr erlaubte, ihre Zeit selbst einzuteilen. Nach der Scheidung von Jack war ihr jedoch klar geworden, dass sie ihre Ziele höher stecken musste, wenn sie ernsthaft Geld verdienen wollte. Das bedeutete, ihr eigenes Restaurant zu eröffnen, ein Traum, den sie seit ihrem ersten Tag am kulinarischen Institut gehabt hatte.

Zunächst hatte sie das Risiko gescheut. Doch nach einer Inventur ihrer Fähigkeiten, ihrer Entschlossenheit und der finanziellen Möglichkeiten verwandelten sich ihre Bedenken allmählich in freudige Zuversicht. Sie konnte und würde es schaffen. Einen Teil des Unternehmens finanzierte sie mit dem Geld, das ihr nach der Scheidung zustand, plus ihren Ersparnissen, und sie überredete eine Bank, ihr den Rest als Darlehen zu geben. Das erste Jahr wurde nicht einfach, das zweite auch nicht. Bei so vielen guten, etablierten Restaurants in Princeton und Umgebung war es nicht leicht, Aufmerksamkeit zu erregen. Doch dank einiger guter Kritiken und der Mundpropaganda war das Campagne jetzt einer der begehrtesten Speisetempel im Umkreis von zwanzig Meilen.

Im Gegensatz zu anderen Besitzern französischer Land-Restaurants hatte sie der Versuchung widerstanden, den Speisesaal mit den üblichen Terrakottatöpfen, Lavendelbüscheln und verschiedenen ländlichen Kunstarbeiten zu dekorieren. Stattdessen hatte sie sich aus Frankreich mehrere Ballen souleiado mitgebracht, das provenzalische Tuch in Blau-, Rot-, Grün- und Gelbtönen, und daraus Tischtücher gemacht. Das Geschirr, strahlend ockerfarbene Keramik, stammte ebenso aus Südfrankreich wie die Gläser aus Blasenglas. Mit Ausnahme eines alten Wandteppichs, den sie vor Jahren auf einem Flohmarkt erstanden hatte, blieben die safranfarbenen Wände kahl. Der Effekt war spektakulär.

„Okay, Mädel“, sagte sie sich leise und schob den Geldbeutel in ihre Tasche. „Genug Selbstbeweihräucherung für einen Abend. Zeit, heimzugehen.“

Leise summend ging sie durch den Speisesaal in die Küche, schaltete das letzte Licht aus und verließ ihr Lokal durch die Hintertür.

Sie hatte ihren Geländewagen fast erreicht, als eine Gestalt aus dem Schatten trat.

Abbie unterdrückte einen ängstlichen Aufschrei. Die Tasche an die Brust gepresst, erinnerte sie sich, dass Princeton eine der sichersten Städte in New Jersey war. In den drei Jahren, seit sie das Restaurant führte, hatte sie nie Grund zur Furcht gehabt, nicht einmal zu so später Stunde.

Erst als der Fremde einen Schritt vortrat und direkt unter der Laterne stand, erkannte sie ihn.

Der Mann vom Spielfeldrand.

Entmutigt sah sie sich um. Der Parkplatz war leer, sie war allein. Als echter Gentleman hatte Brady ihr mehrfach angeboten, zu bleiben, bis sie ging, um sie zu ihrem Auto zu begleiten. Sie hatte das stets abgelehnt, was sie nun zutiefst bedauerte.

„Wer sind Sie?“ fragte sie und bemühte sich um eine ruhige Sprechweise. „Was wollen Sie?“

Die offenkundige Antwort war Geld, obwohl sie irgendwie spürte, dass es hier um etwas anderes ging. Falls er nur ihr Geld wollte, was hatte er dann am Baseballfeld verloren? Der Gedanke an Vergewaltigung ließ kurz Panik aufkommen, doch sie fühlte sich nicht wehrlos. Wenn nötig, würde sie ihm einen heftigen Kampf liefern. Dank eines Selbstverteidigungskurses nach der Scheidung wusste sie sich zu wehren.

„Was ist los? Sie wirken nervös.“ Während er sprach, griff der Fremde in seine Hemdtasche und holte Zigaretten und ein Feuerzeug heraus. Ohne sie aus den Augen zu lassen, stieß er die Zigarette leicht auf die Flachseite des Feuerzeugs. Die Geste war ihr vage vertraut, doch sie erinnerte sich nicht, woher. Sie konnte auch den Mann nicht einordnen. „Du hast doch keine Angst vor mir, Abbie, oder?“

Er kannte ihren Namen. War dies ein gutes oder ein schlechtes Zeichen?

Sie gab sich mutiger, als sie war, unterzog ihn einer genaueren Betrachtung und versuchte sich zu erinnern, wo und wann sie ihm schon einmal über den Weg gelaufen war. Im Restaurant vielleicht? Oder damals, als sie noch den Partyservice gehabt hatte? Aus der Nähe erkannte sie, dass seine Augen entweder dunkelbraun oder schwarz waren. Die Haare hatten dieselbe Farbe, waren für ihren Geschmack allerdings ein wenig zu lang. Er hatte sie zurückgekämmt, was das kantige Gesicht und die niedrige Stirn betonte. Sie schätzte ihn auf etwa vierzig.

Abbie war sicher, ihm nie begegnet zu sein, doch er schien sie zu kennen. Vielleicht hatte er das Interview vor einigen Wochen in CBS gesehen. Daher kannte er sie wahrscheinlich. Wildfremde Menschen gratulierten ihr seither auf der Straße oder beim Einkauf im Bauernmarkt zu ihrem Preis.

Neugierig und bemüht, einen potenziellen, wenn auch eigenartigen Gast nicht zu verprellen, erwiderte sie: „Ich glaube, Sie sind da etwas im Vorteil, Mr….?“

Amüsiert steckte der Mann die Zigarette in den Mund. „Schönes Lokal hast du da.“ Er deutete mit dem Kopf auf ihr Restaurant. „Was nimmst du so pro Abend ein?“ fragte er mit der Zigarette zwischen den Zähnen. „Fünf Riesen? Zehn?“ Das Feuerzeug flammte auf, und während er die orangerote Flamme an die Zigarettenspitze hielt, sah sie seinen Blick zu ihrer Tasche wandern. Er kicherte wieder, als wüsste er genau, was darin war und woran sie dachte.

Der Instinkt sagte ihr, dass er kein gewöhnlicher Räuber war. Er war zu gesprächig und zu sehr darauf aus, sie mit seinen Bemerkungen nervös zu machen. Sie fasste wieder Mut. „Wie viel ich einnehme, geht Sie nichts an.“ Während sie sprach, nahm sie ihr Handy aus der Tasche. „Tun Sie sich selbst einen Gefallen, und gehen Sie mir aus dem Weg. Oder ist es Ihnen lieber, ich hole die Polizei?“

Ungerührt machte der Mann einen tiefen Zug an seiner Zigarette und blies ihr den Rauch entgegen. An den Geländewagen gelehnt, erwiderte er: „Aber nicht doch, Abbie, ist das eine Art, seinen großen Bruder zu begrüßen?“

3. KAPITEL

Abbies erster Impuls war, die 911 zu wählen. Den Finger bereits über der Tastatur, hielt sie jedoch inne. Etwas an diesem Mann, vielleicht seine unbekümmerte Art, machte sie stutzig. Sollte er die Wahrheit sagen?

Sie verwarf diesen Gedanken sofort wieder, doch Zweifel waren gesät und ließen sie nicht mehr los. Als sie Ian McGregor das letzte Mal gesehen hatte, war er fünfzehn gewesen. Demnach wäre er heute dreiundvierzig. Er hatte dunkles, welliges Haar gehabt und dunkle Augen, die boshaft funkelten – so wie die des Mannes jetzt –, wenn er jemandem einen Streich spielte.

„Es stimmt.“ Er machte wieder einen Zug an seiner Zigarette. „Ich bin es. Ian McGregor. Wie er leibt und lebt. Ich wette, du hast nicht geglaubt, mich jemals wiederzusehen?“

Was sollte sie darauf erwidern? Als sie nach dem verheerenden Feuer im Haus der McGregors mit ihrer Mutter Kalifornien verlassen hatte, waren Ian und seine Schwester Liz bei ihrer Tante Lucinda in Palo Alto geblieben. Damals war sie selbst acht gewesen und hatte die beiden Teenager schnell aus der Erinnerung verdrängt, zumal sie zwei Jahre unter den Nörgeleien ihres Stiefbruders und der hochmütigen Gleichgültigkeit seiner Schwester Liz gelitten hatte.

„Was ist los, Prinzessin?“ fragte er und benutzte den alten Spitznamen, den er ihr damals gegeben hatte. „Hat die Katze dir die Zunge stibitzt? Oder bist du vor Wiedersehensfreude sprachlos?“

„Woher soll ich wissen, dass Sie der sind, für den Sie sich ausgeben?“

Schweigend zog er eine Brieftasche heraus, öffnete sie und hielt sie ihr schräg zum Licht hin, damit sie lesen konnte. Der abgelaufene Führerschein, ausgestellt auf Ian McGregor, verwies auf eine Adresse in Toledo, Ohio. Das Foto ähnelte ihm genug, um letzte Zweifel auszuräumen. Jetzt wusste sie auch, warum ihr seine Geste vorhin so vertraut gewesen war. Sein Vater hatte die Zigarette immer auf fast dieselbe Weise gegen das Feuerzeug geklopft. Schwungvoll klappte er die Brieftasche wieder zu. „Ich hätte dich früher besucht, aber deine Mutter hat keine Nachsendeadresse hinterlassen.“

„Du hast genau gewusst, wo du sie erreichen kannst, wenn du es wirklich gewollt hättest!“ meinte sie bissig. „Sie hat sehr wohl eine Adresse hinterlassen, bei eurer Tante Lucinda.“

Ian schob die Brieftasche wieder in seine Jeans. „Und wie geht es meiner lieben Stiefmommy?“

„Wie hast du mich gefunden?“

„Ich habe dein Interview gesehen. Meine Mithäftlinge und ich schalteten durch die Kanäle …“

„Mithäftlinge?“ wiederholte sie, als ihr die Bedeutung seiner Worte bewusst wurde. „Du warst im Gefängnis?“

„Tu nicht so erstaunt. Ist das nicht genau der Werdegang, den Irene mir prophezeit hat?“ Er wackelte spöttisch mit dem Zeigefinger hin und her und imitierte die Strafpredigt seiner Stiefmutter. „‚Ich schwöre dir, Ian McGregor, wenn du dich nicht bald änderst, landest du im Jugendgefängnis.‘ Was soll ich sagen, sie hatte Recht. Irgendwie geriet ich in schlechte Gesellschaft, und ehe ich wusste, wie mir geschah, war ich im Knast. Aber ich sollte mich nicht beklagen, oder?“ Ein Lächeln breitete sich langsam auf seinem Gesicht aus. „Schließlich hat sich was Gutes aus meinem letzten Knastaufenthalt ergeben. Ich habe dich gefunden.“

„Und warum wolltest du mich finden?“

„Warum nicht? Schließlich sind wir eine Familie.“

„Seit wann? Wenn ich mich recht entsinne, hast du mich immer wie einen Eindringling behandelt.“

Er grinste. „Ich merke immer noch, wann du richtig sauer wirst. Dann verengen sich deine Augen wie damals als Kind. Allerdings hätte ich dich ohne den Namen DiAngelo nicht wieder erkannt. Du hast dich verändert, kleine Schwester.“ Er ließ den Blick an ihr hinabgleiten. „Zum Vorteil, muss ich gestehen.“

„Was willst du, Ian?“ Ihre Stimme klang ungeduldig, doch es war ihr egal, denn sie war müde und wollte nach Hause.

Er schien sie nicht gehört zu haben. „Dann bist du also eine berühmte Köchin geworden. Das wundert mich nicht. Du und Irene, ihr wart immer in der Küche und habt diese tollen Sachen gebrutzelt. Das war das genaue Gegenteil von der Pampe, die wir von meiner Mutter kriegten, als sie noch lebte.“

„Warum hast du Irene dann nicht ein bisschen Dankbarkeit zeigen können, anstatt nur grob und kritisch zu sein.“

„Um Himmels willen, Abbie, mach mal halblang, ja? Ich war dreizehn, als ihr zwei eingezogen seid. Plötzlich war mein Leben auf den Kopf gestellt. Ich musste mich nicht nur auf eine Stiefmutter einstellen, sondern auch noch auf eine Göre von Stiefschwester. Das war verdammt hart.“

„Und plötzlich möchtest du aus heiterem Himmel die Familienbande erneuern?“

Er zog wieder an der Zigarette, und diesmal besaß er die Höflichkeit, den Rauch zum Nachthimmel zu blasen. „Man sagt, Menschen werden im Alter sentimental. Vielleicht passiert mir das gerade. Ich werde sentimental.“

Abbie hatte genug. Was für ein Spiel er auch treiben mochte, sie spielte nicht mit. „Gute Nacht.“ Sie wollte an ihm vorbei zu ihrem Geländewagen gehen, doch Ian verstellte ihr den Weg.

„Nicht so schnell, Prinzessin. Du und ich, wir haben noch etwas miteinander zu regeln.“

Auch wenn sie gern gegangen wäre, blieb ihr keine Wahl, als abzuwarten, was er zu sagen hatte.

„Du erinnerst dich an das Feuer, Abbie?“

Seine unerwartete Frage ließ augenblicklich bildhaft eine bestimmte Erinnerung entstehen: das Haus in Flammen, und ihre Mutter, die sie und Ian aus dem Inferno rettete. Entsetzt hatte sie damals zugeschaut, wie ihre Mutter wieder in die Flammen laufen wollte, um ihren Mann und Liz zu holen. Zum Glück waren die Feuerwehrleute rechtzeitig eingetroffen und hatten sie daran gehindert. Liz hatte überlebt, doch für Patrick McGregor war es zu spät gewesen.

Und ob sie sich an diese Nacht erinnerte. Neben dem Tod ihres Vaters, als sie fünf gewesen war, war das Feuer eines der schlimmsten Erlebnisse ihrer Kindheit gewesen.

„Ich erinnere mich“, bestätigte sie ruhig.

„Weißt du noch, wie es passiert ist?“

„Warum fragst du das?“

„Tu mir den Gefallen, Abbie. Erinnerst du dich, wie das Feuer entstanden ist?“

„Ich erinnere mich an die Einschätzung des Leiters der Feuerwehr. Dein Vater lag rauchend im Bett und hatte wie gewöhnlich getrunken. Er ist mit der Zigarette in der Hand eingeschlafen.“ Es war ihr gleich, ob sie ihn durch die vorwurfsvolle Bemerkung beleidigte. Er hatte schließlich damit angefangen.

Aber Ian wirkte nicht beleidigt, eher herablassend. „Es lag in Irenes Interesse, dass der Einsatzleiter das glaubte. Sie wollte, dass alle es glaubten. Aber so war es nicht.“

Abbie fühlte sich plötzlich elend. Zu gern hätte sie das Unbehagen ihrer Übermüdung zugeschrieben, doch der Grund für das flaue Gefühl im Magen war eindeutig Ian. Das Wiedersehen nach all den Jahren ließ eine merkwürdige Vorahnung in ihr aufsteigen. Ohne es genau erklären zu können, wusste sie, dass diese unwillkommene Wiedervereinigung ihr Leben verändern würde. Am liebsten hätte sie sich an ihm vorbeigedrängt, um in ihr Auto zu steigen und so zu tun, als wäre nichts gewesen. Doch eine unbekannte Kraft, ein Zwang, weiter zu hören, was er wollte, ließ sie verharren.

„Wovon sprichst du?“ Ihre Stimme war kaum lauter als ein Flüstern.

„Das Feuer war kein Unfall“, sagte Ian. „Es war das Werk eines Brandstifters.“ Er machte eine Pause, um Wirkung zu erzielen. „Eines Brandstifters, der von deiner Mutter bezahlt worden war.“

4. KAPITEL

Abbie spürte, wie ihr Mund trocken wurde. Sekundenlang konnte sie nicht begreifen, was sie gehört hatte. Als ihr seine Anschuldigung schließlich bewusst wurde, schlug sie ihm mit beiden Händen gegen die Brust. „Du bist krank, Ian. Ich hatte gehofft, die letzten achtundzwanzig Jahre hätten dich verändert. Wie ich sehe, war das ein Irrtum. Du bist noch genauso verdreht wie früher. Und wenn du dir einbildest, dass ich mir deine Lügen weiter anhöre, bist du verrückter, als ich dachte.“

Mit ungeahnter Kraft schob sie ihn aus dem Weg und öffnete die Tür ihres Geländewagens.

„Und wenn ich dir nun sage, ich kann beweisen, dass deine Mutter jemanden für die Brandstiftung bezahlt hat, glaubst du mir dann?“

Sie zitterte so sehr, dass es sie wunderte, wie ruhig sie sprechen konnte. „Wenn du diese Beweise hättest, wärst du schon vor langer Zeit zur Polizei gegangen.“

„Ich habe es erst kurz vor meiner Abreise aus Ohio erfahren. Offenbar war ich nicht der einzige Häftling, der dich an jenem Abend im Fernsehen über deinen Preis, dein erfolgreiches Restaurant und dein Glück hat prahlen hören. Mein Freund erinnerte sich an Irene McGregors früheren Namen – DiAngelo – und zählte zwei und zwei zusammen.“

„Ein Mithäftling?“ Abbie lachte gereizt auf. „Den willst du als Beweis anführen?“

„Häftlinge sind auch Menschen.“

„Es sind Kriminelle, die so selbstverständlich lügen, wie sie atmen.“

„Einige vielleicht, aber Earl Kramer erzählt die Wahrheit über Irene.“

„Woher willst du das wissen?“

Ian verzog die Lippen zu einem schmalen Lächeln. „Ich war mit genügend Lügnern zusammen, um zu erkennen, wann ich hereingelegt werde. Und wenn Earl sagt, Irene hat ihn angeheuert, meinen Vater zu töten, glaube ich ihm.“

„Wie lange kennst du den Mann?“

„Zwölf, dreizehn Jahre.“

„Und er hat die ganze Zeit gewartet, dir zu erzählen, dass er das Haus deines Vaters niedergebrannt hat?“ Sie lachte, obwohl sie das Ganze überhaupt nicht amüsant fand. „Komm schon, Ian, sogar du müsstest die Lücken in deiner Geschichte erkennen.“

Ihr spöttischer Ton schien ihn nicht zu kümmern. „Er wäre ein Idiot gewesen, eine Straftat zu gestehen, solange er noch ein freier Mann war. Aber jetzt, da er im Todestrakt sitzt und alle Berufungsmöglichkeiten ausgeschöpft sind, hat er nichts mehr zu verlieren, wenn er die Wahrheit sagt.“

„Und er hat eine Menge zu gewinnen, wenn er eine Geschichte erfindet.“

„Was sollte er dabei gewinnen?“

„Geld, Ian.“ Sie hielt die Tür des Geländewagens auf und wandte sich erneut zu ihm, damit er sie hörte; vor allem wollte sie ihm auch zeigen, dass sie keine Angst hatte. „Häftlinge brauchen Geld, nicht wahr? Um ihre Familien zu unterstützen und die Wärter zu bestechen, die ihnen das Leben dadurch vielleicht ein bisschen angenehmer machen. Wie viel hat es dich gekostet, diesen Earl Kramer zu einer Lüge zu überreden?“

Ian gab sich überzeugend schockiert. „Du verstehst das völlig falsch, Schwesterchen. Earl hat nach mir geschickt. Er wusste, dass ich rauskomme, deshalb hielt er die Zeit für reif, reinen Tisch mit mir zu machen.“

„Woher dieser plötzliche Drang zur Wahrheit?“

„Earl ist religiös geworden. Er hat wieder zum christlichen Glauben zurückgefunden.“ Ian zuckte die Achseln. „Das nützt ihm jetzt zwar nichts mehr, aber es ist ihm egal. Er will mit reiner Seele vor seinen Schöpfer treten.“

„Und er hat dich ausgewählt, ihm dabei zu helfen?“

„Ja, richtig.“

Langsam schüttelte sie den Kopf. „Hast du eine Ahnung, wie falsch das alles klingt?“

„Glaubst du mir nicht?“

„Du bist, wie du selbst zugibst, ein Gauner, Ian. Dein ganzes Leben ist ein einziger Betrug. Nein, ich glaube dir nicht.“

„Ich bin kein Gauner mehr. Ich will mein Leben ändern, vielleicht ein Geschäft aufmachen.“

„Um was zu tun? Kleinen alten Ladys ihre Pensionspennys abzuknöpfen?“

Er ging nicht auf die sarkastische Bemerkung ein, zog an seiner Zigarette, behielt den Rauch einen Moment in den Lungen und stieß ihn langsam aus. „Vielleicht solltest du mit Earl reden, Abbie. Du solltest dir anhören, wie Irene über Chiffre-Anzeigen Kontakt mit ihm aufgenommen hat, wo sie sich getroffen haben und wie sie ihm erklärt hat, der Tod meines Vaters solle wie ein Unfall aussehen.“

„Dann muss er ja einverstanden gewesen sein, den Job gratis zu machen, denn wie wir beide wissen, hatte meine Mutter kein eigenes Geld.“

„Wieder falsch, Schwesterherz. Sie hatte noch Geld aus der Versicherungspolice deines Vaters. Damit hat sie Earl bezahlt. Zweitausendfünfhundert Dollar Vorauszahlung und zweitausendfünfhundert, nachdem der Job erledigt war.“

„Du erwartest also, dass ich dir abkaufe, meine Mutter wüsste, wie sie Kontakt zu einem Auftragskiller aufnehmen kann?“

Er zuckte die Achseln. „Das wusste sie bestimmt nicht. Deshalb hat sie die Anzeige in der Zeitung aufgegeben. Das wird ständig so gemacht. Sieh dir die kleinen Rubriken mal an, wenn du Zeit hast.“

„Ich weiß nicht, wer hier lügt, du oder dein Knastfreund. Aber einer von euch beiden lügt.“

„Weißt du, zuerst habe ich ihm auch nicht geglaubt, aber dann wurde mir klar, dass Earl die Wahrheit sagt. Der Bastard war tatsächlich für den Tod meines Vaters verantwortlich. Am liebsten hätte ich den Hurensohn umgebracht“, fügte er mit dünner, zorniger Stimme hinzu. Seine Wut war Abbies Ansicht nach jedoch gespielt. „Ich wollte sein elendes Leben gleich beenden. Er sollte für den Tod meines Vaters bezahlen und für all das Leid, das über mich und Liz hereingebrochen ist, nachdem Irene uns im Stich gelassen hatte.“ Er senkte die Stimme ein wenig. „Leider wurde er von dickem Sicherheitsglas und zwei Bewaffneten geschützt. Aber auch wenn es möglich gewesen wäre, ich hätte mich nicht an ihm vergriffen. Ich wollte nicht wegen so einem wieder ins Gefängnis kommen.“

Abbie musste zugeben, dass er ausgezeichnet spielte, aber nicht gut genug. „Tut mir Leid, Ian“, sagte sie mit einem herablassenden Lächeln. „Als Kind habe ich dir fast alles geglaubt. Aber ich bin erwachsen geworden und kaufe dir deine pathetische Geschichte nicht ab. Wenn du so klug wärst, wie du glaubst, hättest du das geahnt, ehe du herkommst und dich zum Narren machst.“

Diesmal schien sie ihn getroffen zu haben. Er presste die Lippen zusammen, und der Blick wurde starr.

„Ich bin immerhin klug genug zu wissen, dass mir die Polizei von Palo Alto zuhören wird, wenn ich mit der Geschichte zu ihr gehe, so pathetisch sie auch klingen mag“, entgegnete er schroff. „Und was glaubst du wohl, was die dann machen?“ Er wartete nicht auf eine Antwort. „Als Erstes würden sie Earl befragen und dann Irene. Und egal, wie entschieden sie Kramers Anschuldigungen bestreitet, so würde die Polizei sicher ihre Beziehung zu meinem Vater durchleuchten. Das wäre wohl nicht allzu günstig, stimmt’s?“ Selbstgefällig sah er sie an. „Soweit ich mich erinnere, hatten die beiden doch ständig Streit – laute, hässliche Auseinandersetzungen, die man in der ganzen Nachbarschaft hören konnte. Irene hat sogar mal gedroht, meinen Vater zu verlassen. Danach ist er ausgerastet. Du erinnerst dich an die Nacht, nicht wahr, Schwesterherz? Klar erinnerst du dich. Du bist in Tränen aufgelöst in dein Zimmer gerannt. Oh ja, den Bullen wird es gefallen, den ganzen Schmutz zu hören. Und da es bei Mord keine Verjährung gibt, vermute ich mal, dass die liebe Mommy ganz schön in der Scheiße stecken wird.“

Abbie kämpfte das Gefühl der Panik nieder. Ob Ian nun log oder nicht, in einem Punkt hatte er Recht. Falls Earl auch nur halbwegs glaubhaft klang, blieb der Polizei keine Wahl, als der Sache nachzugehen. Damit würde aus dem ruhigen Leben ihrer Mutter die reinste Hölle werden.

„Wie ich das sehe“, fuhr Ian fort, „habe ich Anspruch auf Entschädigung für den Verlust meines Vaters, dafür, dass Irene mich bei meiner Tante gelassen hat, die nur auf unser Erbe scharf war, und dafür, dass mein Leben den Bach runtergegangen ist, während deines sich prächtig entwickelt hat. Ich hätte mich wegen des Geldes gleich an Irene gewandt, aber so wie ihr Haus aussieht, hat sie wohl nicht viel. Du hingegen scheinst eine Menge zu haben, wahrscheinlich mehr, als du brauchst.“

Dass er am Haus ihrer Mutter gewesen war, machte sie wütend. „Du hältst dich von meiner Mutter fern, Ian!“ schrie sie. „Hast du das kapiert?“

„Die ganze Welt kann dich hören, Schwesterchen.“

„Und nenn mich gefälligst nicht Schwesterchen!“ Sie sah sich um, verärgert, dass sie sich durch ihn hatte provozieren lassen, und atmete tief durch. „Lass die Tür los!“ presste sie hervor, „oder ich werde …“

„Hunderttausend Dollar, Abbie.“ Jetzt war er todernst. „Das verlange ich für mein Schweigen. Ich lasse dir Zeit, darüber nachzudenken. Inzwischen könntest du dir das hier mal ansehen.“ Er zog ein Blatt Papier aus der Tasche und gab es ihr. „Es ist nur eine Kopie. Also glaub nicht, dass es dir was nützt, sie zu zerreißen.“

Es war ein Brief ihrer Mutter an ihren Großvater, etwa eine Woche vor dem Brand in Palo Alto geschrieben. Irene erzählte ihrem Vater, wie schlecht Patrick sie behandelte. „Ich hasse ihn so sehr, Daddy“, hatte sie am Ende geschrieben. „Manchmal sehe ich ihn an, wenn er schläft, und möchte ihn einfach nur umbringen.“

„Woher hast du das?“ fragte Abbie mit brüchiger Stimme.

Erneut sah Ian sie selbstgefällig an. „Vom Küchentisch. Irene hatte ihn eine Minute liegen lassen, ohne zu bemerken, dass ich dort war. Sie hatte gedroht, meinem Vater von dem Hasch zu erzählen, das sie in meinem Zimmer gefunden hatte. Also habe ich den Brief geklaut und einen Deal mit ihr ausgehandelt. Ich würde Dad den Brief nicht zeigen, wenn sie nichts wegen des Haschs sagt.“

„Und sie war einverstanden?“

Er lachte. „Natürlich war sie das. Sie wusste verdammt gut, was mein Dad mit ihr machen würde, wenn er den Brief gelesen hätte.“

„Wie konnte so ein Blatt Papier das Feuer überstehen, obwohl das ganze Haus bis auf die Grundmauern abgebrannt ist?“

„Ich hatte ihn zusammen mit einigen anderen Sachen von mir im Garten vergraben. Nach dem Feuer habe ich alles ausgebuddelt. Ich weiß nicht, warum ich den Brief all die Jahre aufbewahrt habe. Mit Dads Tod war er eigentlich wertlos, aber aus irgendeinem Grund habe ich ihn behalten. Dann ruft vor ein paar Wochen unverhofft mein alter Kumpel Earl Kramer an, und da wusste ich, dass der Brief mir gerade recht kam.“

Abbie wurde skeptisch. „Du hattest ihn die ganze Zeit im Gefängnis bei dir?“

„Nein. Er war in dem Koffer, den ich bei einer Freundin gelassen hatte. Sobald ich draußen war, ging ich hin und holte meine Sachen. Der Brief war noch da, wo ich ihn hinterlassen hatte, in einem Buch.“

„Das beweist gar nichts“, erwiderte Abbie, schwenkte den Brief hin und her und hoffte, überzeugter zu klingen, als sie tatsächlich war. „Drohungen werden ständig ausgesprochen.“

„Ja, aber wie viele führen ihre Drohungen aus?“

„Ich habe dir schon gesagt, meine Mutter hat nichts Strafbares getan! Sie hat ihr Leben riskiert, um dich …“

„Erzähl das den Geschworenen.“

Er ließ die Tür los, und Abbie schlug sie zu. Noch ein Wort von ihm, und sie würde ihm garantiert etwas antun. Sie wollte den Schlüssel ins Zündschloss stecken, doch ihre Hand zitterte so sehr, dass es erst beim dritten Versuch klappte. Dann sprang der kraftvolle Motor an, und sie fuhr vom Parkplatz.

5. KAPITEL

Abbie umklammerte das Lenkrad so fest, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten. Sie fuhr die vertraute Strecke nach Hause, als würde sie von einem Autopiloten gelenkt, und musste immer wieder an Ians lächerliche Forderungen denken. Hunderttausend Dollar. Hatte er den Verstand verloren? Sie hatte nicht so viel Geld! Außer dreißigtausend Dollar in Zero Bonds für die Ausbildung ihres Sohnes und dem Preisgeld für den Bocuse, das sie in Bankanleihen investiert hatte, besaß sie nichts. Nicht mal eine Lebensversicherung.

Angst krampfte ihr den Magen zusammen. Ob Ians Anschuldigungen nun stimmten oder nicht – und sie war sicher, sie stimmten nicht –, so hatte er doch die Oberhand und wusste es. Ihr war klar, dass er keine Gewissensbisse haben würde, seine Drohung wahr zu machen. Der Mann hatte kein Gewissen. Würde die Polizei jedoch Earl Kramer, einem Todeskandidaten, glauben? Vielleicht ja, falls man die ehemaligen Nachbarn der McGregors befragte, die zweifellos von Irenes unglücklicher Ehe und den zahllosen Streitereien während der zwei Jahre erzählen würden.

Aber was sagen ein paar Streitigkeiten schon aus? überlegte sie, als sie in die Elm Road einbog. Alle Ehepaare stritten. Sie und Jack hatten während ihrer stürmischen fünfjährigen Ehe zweifellos ihr Maß an Streitereien voll gemacht, und trotzdem hatte sie Jack nicht umgebracht. Genauso wenig wie Irene Patrick getötet hatte. Ihre Mutter war die sanfteste Seele, die man sich vorstellen konnte, freundlich, umsichtig und fürsorglich. Und sie hatte ihre Tochter von Herzen geliebt, das hatte Abbie immer gespürt. Warum sollte sie also das Leben ihres Kindes durch ein Feuer gefährden, nur um ihren Ehemann loszuwerden? Das ergab einfach keinen Sinn.

Doch es gab diesen Brief. Für sich genommen würde er nicht ausreichen, Irene etwas anzuhängen, aber zusammen mit einer möglichen Aussage von Nachbarn und Earl Kramers so genanntem Geständnis bedeutete er Unheil.

Schließlich kam ihr zweigeschossiges Farmhaus mit seiner Steinfront und dem tief herabgezogenen Dach in Sicht. Im Erdgeschoss brannte Licht, ein Zeichen der Ermutigung und Sicherheit. Tiffany, ihre Babysitterin, würde unten leise Fernsehen schauen, während Ben oben fest schlief, seine geliebten Schläger und Handschuhe am Fußende des Bettes.

Abbie drückte auf die Fernbedienung, die an der Sonnenblende angebracht war, und wartete, bis sich die zwei Türen der Doppelgarage öffneten. Sobald sie hineingefahren war, steckte sie den Brief in ihre Tasche und nahm sich ein paar Sekunden, um sich zu sammeln, ehe sie ins Haus ging.

Tiffany, ein erklärter Fan der Filme aus den 40er Jahren, sah sich im Wohnraum einen Schwarz-Weiß-Film aus Abbies umfangreicher Sammlung an. Stets aufmerksam, wandte sie jedoch sofort den Kopf, als sie Abbies Schritte hörte, und stand auf. Sie war eine hübsche neunzehnjährige College-Studentin mit langen blonden Haaren und Mittelscheitel, ausdrucksvollen braunen Augen und einem rasch aufflammenden Lächeln. Als ältere Schwester dreier übermütiger Brüder wusste sie genau, wie sie Ben nehmen musste, ohne dass er auch nur argwöhnte, überlistet zu werden.

„Hallo, Miss DiAngelo.“

„Hallo, Tiffany. Tut mir Leid, dass ich so spät komme.“ Sie ließ ihre Tasche auf einen Sessel fallen. „Alles in Ordnung?“ Diese Frage stellte sie selten, aber heute Abend fühlte sie sich verunsichert und brauchte Bestätigung.

„Alles bestens.“ Tiffany lachte und nahm ihre Lehrbücher vom Couchtisch. „Ben war so aufgekratzt nach dem Spiel, dass er nicht mal über die grünen Bohnen auf seinem Teller gemäkelt hat.“

Abbie lächelte. Bens Aversion gegen grünes Gemüse war legendär. Ihre beste Freundin Claudia hatte ihm einmal gesagt: „Ich traue nichts Grünem, und essen würde ich es schon gar nicht.“ Seither glaubte er, ihr nacheifern zu dürfen.

Nachdem Tiffany gegangen war, löschte Abbie das Licht, ging hinauf und warf einen letzten Blick auf Ben. Seine Nachttischlampe brannte und verbreitete einen sanft goldenen Schein in dem Raum, den sie letztes Jahr nach Baseballthemen neu dekoriert hatten. An den Wänden hingen Poster von Bens Lieblingsspielern der Liga – Mark McGuire, Sammy Sosa, Barry Bonds und natürlich Scott Rolen, dem dritten Baseman und Star der Philadelphia Phillies.

Der Junge hatte sich auf der Seite zusammengerollt, die Hände unter der Wange, das rote Haar zerzaust. Erneut fühlte sie sich beklommen. Falls Ian seine Drohung wahr machte, würde auch das Leben ihres Sohnes beeinträchtigt werden. Sie lebten in einer kleinen Stadt, und dank ihrer Bekanntheit durch den Preis – über den sie sich nicht mehr so recht freuen konnte – würde ein Skandal sich schnell herumsprechen. Es war fraglich, ob sie Ben vor der hässlichen Publicity schützen könnte, die zweifellos mit einer Untersuchung einhergehen würde.

Er hatte bereits eine Menge mitgemacht – die ständigen Spannungen in der Ehe seiner Eltern, schließlich die Scheidung und ein bitterer Sorgerechtsstreit. Sie wollte nicht zusehen, wie er Schaden nahm und sein glückliches, geordnetes Leben in die Brüche ging.

Zum ersten Mal seit der Scheidung von Jack wünschte sie, sich mit einem Ehemann besprechen zu können. Jemand, der stark und klug war und sie nicht nur tröstete, sondern ihr auch riet, wie sie den Feind angehen musste.

Ein bitteres Lachen blieb ihr in der Kehle stecken. Diese Beschreibung schloss Jack schon mal aus. Er war nie der Ritter in schillernder Rüstung gewesen. Zudem machte er sich nicht einmal besonders viel aus Ben. Nur aus Rache hatte er ihr den Jungen wegnehmen wollen, weil sie ihn verlassen hatte. Seit er seine Anwaltskanzlei nach Edison im Norden New Jerseys verlegt und eine neue Freundin hatte, besuchte er Ben allerdings kaum noch. Er zog es vor, mit ihm zu telefonieren oder ihm teure Geschenke zu schicken.

Sie konnte mit Claudia reden, der wunderbaren, verlässlichen Freundin, die ihr durch schwere Zeiten geholfen hatte. Und da war auch noch Brady, ihr beständiger Problemlöser. Die Versuchung, sich sofort an die beiden zu wenden, war groß, doch sie widerstand ihr. In ihr Problem konnte sie vorerst niemanden einweihen, nicht einmal ihre beiden liebsten Freunde.

Komm schon, DiAngelo, rief sie sich innerlich zur Ordnung. Du hast schon Schlimmeres überstanden als das hier.

Hatte sie das wirklich, oder machte sie sich nur etwas vor?

Abbie zog die Bettdecke über den schlafenden Jungen, beugte sich hinunter, küsste ihn auf die Stirn und schlich auf Zehenspitzen hinaus.

Auch in ihrem eigenen Schlafzimmer, in dem sie sich immer geborgen gefühlt hatte, schwand die Angst nicht, die sie seit Ians Auftauchen empfand. Als hätte das schlechte Karma ihres Stiefbruders sie verfolgt und ihre Umgebung vergiftet.

Sie nahm den Brief ihrer Mutter aus der Tasche und las ihn erneut. Irene musste an jenem Tag völlig am Ende gewesen sein, denn die Zeilen waren ein einziges Dokument der Verzweiflung. „Ich fühle mich gefangen“, hatte sie geschrieben. „Falls ich Patrick verlasse, bleibt mir kein Penny mehr. Doch wenn ich bleibe, verliere ich vielleicht den Verstand.“ Und dann die letzte Zeile: „Manchmal sehe ich ihn an, wenn er schläft, und möchte ihn einfach nur umbringen.“

Langsam faltete Abbie den Brief zusammen und schob ihn ganz hinten in ihre Nachttischschublade unter einen Stapel alte Bilder.

Als müsste sie sich versichern, dass sie ihre Lieben beschützen konnte, ging sie zu ihrem französischen „Armoire“ an der Wand und öffnete ihn. Rechts hing an einer Stange die Winterkleidung, links waren sechs Regale und oben vier Schubladen. Nur die oberste war verschlossen. Der Schlüssel lag hinter einem Stapel Handtücher verborgen. Abbie holte ihn aus dem Versteck, öffnete die Lade und fand die Waffe.

Obwohl sie nicht geladen war und die Munition unter der Matratze steckte, fühlte sich das kalte Metall beruhigend an – aber auch ein wenig abschreckend. Eigentlich verabscheute sie Waffen. Erst nach Jacks Drohung, ihr Ben wegzunehmen, hatte sie sich eine besorgt.

„Kein verdammter Richter wird mich daran hindern, mit meinem Sohn zusammen zu sein“, hatte Jack ihr am Morgen nach der Sorgerechtsentscheidung vor dem Gerichtsgebäude gedroht. „Hast du mich verstanden?“

Sie hatte ihn nicht nur verstanden, sondern auch sehr ernst genommen. Vom Gericht war sie schnurstracks zur Polizei gegangen und hatte einen Waffenschein beantragt. Zwei Wochen später war sie mit dem Schein in der Hand in ein Waffengeschäft gegangen und hatte sich die umfangreichen Auslagen angesehen. Da der Ladenbesitzer ihre Unsicherheit spürte, empfahl er ihr eine 9mm Walther PPK. Die deutsche Waffe war leicht, solide und lag perfekt in der Hand.

Der Verkäufer zeigte ihr, wie man das Magazin entfernte und die Waffe lud. Dann demonstrierte er, wie man sie entsicherte, damit sie schussbereit war. Er hatte hinzugefügt, sie müsse nur den Abzug betätigen.

Danach war sie auf einen Schießstand gegangen, um das verdammte Ding benutzen zu lernen. Zuerst waren ihre Ergebnisse entsetzlich gewesen, und sie hatte Angst beim Schießen gehabt. Der Not gehorchend, hatte sie täglich geübt, bis sie das Ziel sicher treffen konnte. Ein- oder zweimal hatte sie sogar mitten ins Schwarze getroffen.

Sie wog die PPK einen Moment in der Hand, spürte das Gewicht und hatte zum Glück nicht mehr das Gefühl, dieses Ding würde sie gleich beißen. Nachdem sie sich etwas beruhigt hatte, legte sie die Waffe zurück, verschloss die Lade, versteckte den Schlüssel und schloss den Schrank.

Falls jemand sie oder Ben bedrohen sollte, war sie bereit.

6. KAPITEL

„Sieh an, sieh an. Wer hat denn da endlich beschlossen, seinen elenden Hintern nach Hause zu schieben?“

Rose stand mit zorniger Miene im Motelzimmer, die Fäuste auf die Hüften gestemmt. Trotz der späten Stunde war sie noch völlig bekleidet – limonengrüne Hose und ein überweites weißes T-Shirt mit dem Aufdruck Elvis lebt. Auf dem Tisch neben ihr lagen ein Dutzend Tarotkarten und sagten unausweichliches Verhängnis oder großes Glück voraus, je nach Rose’ momentaner Stimmung und Interpretation. In letzter Zeit überwog das Verhängnis.

Sie war mal eine Augenweide gewesen, aber harte Zeiten und eine Vorliebe für Schokoladenröllchen hatten ihren Tribut gefordert. Mit zweiundvierzig war sie zwanzig Pfund schwerer als damals bei ihrer ersten Begegnung mit Ian. Die Tränensäcke unter den Augen ließen sie eher nach fünfzig als nach vierzig aussehen. Ihre Haarfarbe hatte sich in den letzten zwanzig Jahren von Schwarz zu Braun, dann Blond und jetzt Rot verändert. Kein gedämpftes, sondern ein leuchtendes Karottenrot, das man aus einer Meile Entfernung sah.

Außerdem war sie härter geworden. Ihre Gefügigkeit, die Ian früher so geschätzt hatte, war zu seiner Überraschung einer Haltung gewichen, die besagte: „Was du denkst, interessiert mich einen Dreck!“ Diese Veränderung stieß ihn nicht unbedingt ab. Er mochte Frauen mit Rückgrat. Aber manchmal, so wie in diesem Augenblick, wünschte er, sie würde einfach ihre große Klappe halten.

„Nicht jetzt, Rose, okay?“ Er ging zum Styroporkühler, den er mit Bier bestückt hatte, hob den Deckel und nahm sich ein Coors.

„Doch, jetzt!“ widersprach sie und baute sich vor ihm auf, während er aus der Flasche trank. „Seit acht Stunden bin ich in diesem Zimmer eingesperrt, und mir langt’s. Ganz zu schweigen davon, dass ich am Verhungern bin.“

„Du hättest zum Essen gehen können. Du wusstest doch, dass es eine Weile dauern würde.“

„Du hattest mein Auto, Einstein. Wie hätte ich denn hier wegkommen sollen?“

Er deutete mit dem Finger zum Fenster. „Da ist ein Burger King weiter unten an der Straße. Warum bist du das Stück nicht gegangen?“ Er wollte schon hinzufügen, dass ihr ein bisschen Bewegung gut tun würde, besann sich aber, weil dies Ärger bedeutet hätte.

„Ich will keinen Burger King, verdammt!“ Sie versetzte dem Kühler einen heftigen Tritt. „Schließlich finanziere ich diesen Ausflug und erwarte etwas mehr als einen fettigen Burger und eine Schale Fritten. Seit der Abreise aus Toledo haben wir nichts anderes mehr gegessen.“

„Und ich habe dir erklärt, dass wir sparsam sein müssen, bis meine Schwester mit dem Darlehen rüberkommt. Wenn wir anfangen, das restliche Geld für teures Essen rauszuwerfen, sind wir Ende der Woche blank.“

„Geld sollte unsere geringste Sorge sein.“ Sie warf einen bedeutungsvollen Blick auf die Tarotkarten. „Du hast ernstere Probleme.“

Ian verdrehte die Augen. „Nicht das schon wieder, Rose! Bitte.“

„Sieh dir die Karten an, nur eine Minute.“ Sie deutete mit dem Finger darauf. „Diese hier heißt: die Liebenden. Das sind wir. Die Wiederbelebung einer alten Beziehung.“

Ian hob die Flasche an den Mund. „Was ist so schlimm daran?“

„Wir sind umgeben von negativen Kräften: Trennungen, das Ende einer Affäre, eine unmögliche Wahl. Sogar eine falsche Wahl. Und diese hier …“, sie nahm eine Karte auf und wedelte ihm damit vor dem Gesicht herum, „aus den Stabkarten bedeutet Katastrophen, Verlust, Trennung.“ Sie machte eine Pause und sah ihn dramatisch an. „Und Tod.“

„Hör auf damit, ja? Du weißt, ich glaube nicht an diesen Mist.“ Tatsächlich machte ihm dieses esoterische Zeug eine Heidenangst, aber das würde er niemals zugeben.

„Die Karten lügen nicht“, fuhr Rose fort. „Ich hatte ein schlechtes Gefühl bei dieser Reise, noch ehe ich die Karten in der Hand hatte, und ich habe es immer noch.“

Ian setzte sich in den Sessel beim Fenster. „Du hast nur Angst wegen Arturo Garcia. Ich hätte dir nichts von ihm erzählen sollen.“

„Das brauchtest du auch nicht.“ Sie nahm eine weitere Karte auf. „Die vier Schwerter. Sie bedeuten Gewalt und Kampf, Menschen finden ein schlimmes Ende.“

„Vielleicht solltest du dir ein paar neue Karten zulegen, Süße. Arturo ist nirgends in Sicht. Alles läuft wunderbar nach Plan.“

Das schien sie zu beschwichtigen. „Du hast deine Schwester getroffen?“

„Richtig.“

„Sie war einverstanden, dir das Geld zu geben?“

„Sie war einverstanden, mir ein Darlehen zu geben.“

Argwöhnisch sah Rose ihn an. „Diese Frau hat dich achtundzwanzig Jahre nicht gesehen. Bis heute Abend wusste sie nicht einmal, ob du noch lebst. Und dann gibt sie dir einfach so ein Darlehen?“

„So ist meine Schwester eben, großzügig wie sonst was.“

„Ich kann es kaum glauben. Es sei denn, du verschweigst mir etwas.“

Rose war bedeutend klüger, als sie aussah. Deshalb musste er vorsichtig sein und durfte nicht zu viel verraten. „Ich verheimliche dir nichts, Rose. Nicht mehr.“ Er trank einen großen Schluck Bier. „Zugegeben, Abbie war erst ein bisschen zögerlich. Aber als ich ihr versprochen habe, mein Leben zu ändern und ihr jeden Penny zurückzuzahlen, hat sie zugesagt, mir zu helfen.“

„Die Frau muss eine Heilige sein. Ich an ihrer Stelle hätte dich mit einem Tritt in den Hintern aufgefordert, dich zu trollen.“

„Wirklich, Rose?“ Er riss sie auf seinen Schoß und schob die Hand unter ihr T-Shirt. „Genauso, wie du mich letzte Woche weggeschickt hast, als ich auf deiner Türschwelle stand?“

Offenbar war sie nicht in der Stimmung für Neckereien, denn sie schlug ihm auf die Hand. „Wann genau kriegst du dieses Darlehen?“

„In ein paar Tagen.“

„Und was sollen wir inzwischen machen? Oder hast du vergessen, dass ich meine Kreditkarte ausgeschöpft habe?“

„Wie könnte ich das vergessen, wo du mich jede Minute daran erinnerst?“

Rose war wie ein mechanisches Spielzeug, das sich, einmal aufgezogen, nicht mehr stoppen ließ. „Vielleicht sollten wir uns nach Jobs umsehen.“ Sie sprang auf und holte die Zeitung, die sie auf der Seite mit den Chiffre-Anzeigen aufgeschlagen hatte. Sie drehte die Zeitung, damit er lesen konnte, was sie mit schwarzer Tinte eingekreist hatte. „Ich habe schon ein paar Sachen ausgesucht. Zum Glück gibt es keinen Mangel an Arbeit in dieser Stadt.“

Der bloße Gedanke an Arbeit ließ Ian schon frösteln. „Ich kann mich jetzt nicht um einen Job bemühen. Ich habe nichts anzuziehen.“

„Die Strickland Obstgärten an der Cold Soil Road suchen Hilfskräfte. Denen ist es egal, wie du angezogen bist. Sie brauchen jemanden, der Zäune repariert und Erdbeeren wiegt und abpackt. Die zahlen sechs Dollar die Stunde.“

„Gütiger Himmel, Rose, das ist kaum der Mindestlohn.“

„Damit können wir das Zimmer und ein paar anständige Mahlzeiten bezahlen. Ganz zu schweigen davon, dass es unser Selbstwertgefühl hebt.“

Ian legte die Füße auf den anderen Sessel und nahm die Fernbedienung. „Also, Rose, wenn es dein Selbstwertgefühl hebt, Erdbeeren für einen Hungerlohn zu pflücken, mach nur. Ich halte dich nicht auf.“ Er schaltete den Fernseher ein und fragte sich, ob sie in diesem Kaff Baywatch empfangen konnten. „Ich habe für den Rest meines Lebens genug harte Arbeit geleistet.“

Über Nacht war aus dem Delaware Tal eine Sturmfront herangezogen, so dass die Straße nass und die Luft feucht vom Morgentau war. Gleich nach der Abfahrt von Bens Schulbus hatte Abbie das Haus verlassen und befand sich jetzt auf der Route 27 Richtung Norden, auf dem Weg zu ihrer Mutter im benachbarten Kingston. Da Brady täglich für sie auf den Markt ging, hatte sie eine Stunde frei, um ihre Mutter zu besuchen, ohne ein schlechtes Gewissen haben zu müssen, sie vernachlässige ihr Restaurant.

Diese innigen Momente mit ihrer Mutter waren wertvoller denn je. Im letzten Jahr hatte man bei Irene DiAngelo Alzheimer festgestellt. Obwohl die Symptome noch nicht besonders ausgeprägt waren, stellte Abbie inzwischen längere Perioden von Vergesslichkeit und Verwirrtheit und stärkere Stimmungsschwankungen fest. Dasselbe hatte Marion bemerkt, die ergebene Haushaltshilfe, die sich um Irene kümmerte.

Abbie war gewarnt, dass die Krankheit, wenn auch langsam, so doch unausweichlich fortschreiten würde. Vorläufig war sie allerdings froh über jede sorgenfreie Stunde, die sie mit ihrer Mutter verbringen konnte. Sie bedauerte nur, dass Irene ihre Eigenständigkeit noch so heftig verteidigte und nicht zu ihr und Ben ziehen wollte.

„Ich bin vielleicht ein wenig vergesslich“, hatte sie Abbie in einem Ton gesagt, der keinen Widerspruch duldete, „aber ich kann immer noch für mich selbst sorgen. Und unter gar keinen Umständen werde ich meiner Tochter zur Last fallen.“

In einigen Jahren, wenn sich ihr Zustand verschlechtern würde, sähe sie die Lage vielleicht anders. Bis dahin blieb Irene in dem bescheidenen, zweistöckigen Haus am Shaw Drive, das sie seit siebenundzwanzig Jahren bewohnte. Sie war jedoch einverstanden gewesen, dass Abbie eine Art Gesellschafterin für sie einstellte, die auf sie Acht gab, Besorgungen machte und leichte Hausarbeit übernahm. Bisher hatten weder Abbie noch Irene das Arrangement bedauert. Marion, eine Witwe mit zwei erwachsenen Kindern, war in jeder Beziehung ein Juwel.

„Mom!“ rief Abbie und betrat das Haus. „Marion! Jemand zu Hause?“

„In der Küche!“ antwortete ihre Mutter.

Als Abbie eintrat, wischte Irene gerade die Arbeitsplatte mit einem Küchentuch ab, während der halb abgedeckten Eisenpfanne auf dem Herd ein köstlicher Duft entströmte. Klein und zart, wirkte Irene eher wie eine zerbrechliche Südstaatenschönheit und nicht wie eine Frau italienischer Herkunft. Ihre Augen hatten eine erstaunliche Farbe, eine Mischung aus Grau und Grün. Heute trug sie das hübsche blaue Kleid, das Abbie ihr letzte Woche zu ihrem vierundsechzigsten Geburtstag geschenkt hatte, und sah zauberhaft aus.

Da Abbie wusste, wie sehr ihre Mutter Komplimente über ihre Kochkünste schätzte, schnupperte sie übertrieben. „Lammfleischbällchen?“

„Polpette d’agnello“, korrigierte ihre Mutter. „Hast du dein Italienisch vergessen?“

„Unter der Gefahr, mir deinen Zorn zuzuziehen? Niemals.“ Abbie küsste ihre Mutter auf die Wange. „Das riecht köstlich, Mom. Kann ich einen Bissen probieren?“

Strahlend reichte Irene ihr einen Holzlöffel. Abbie tauchte ihn in die dicke braune Sauce, nahm ein wenig auf die Löffelspitze und führte sie zum Mund. „Mm.“ Verzückt schloss sie die Augen. „Unglaublich. Bist du sicher, dass du nicht im Campagne arbeiten möchtest? Ich wäre bereit, dir einen Spitzenlohn zu zahlen.“

Irene lachte erfreut. „Nein danke, du bist mir zu herrschsüchtig.“

Abbie streckte tadelnd den Zeigefinger in die Luft. „Du hast mit Brady gesprochen, gib’s zu!“ Sie legte den Löffel ins Spülbecken und sah sich um. „Wo ist Marion?“

„Sie ist Milch einkaufen gegangen.“

Abbie nickte. Ihrer Mutter ging es erfreulicherweise immer noch so gut, dass man sie für kurze Zeit allein lassen konnte, besonders an beschwerdefreien Tagen, und heute schien einer zu sein. Wie lange dieses Stadium andauern würde, wussten nicht einmal die Ärzte. Der Verlauf der Krankheit war bei jedem Patienten unterschiedlich.

Abbie wartete, bis ihre Mutter den Herd heruntergeschaltet hatte, dann nahm sie sie bei der Hand. „Komm, setz dich, Mom. Ich muss etwas mit dir besprechen.“

Sie führte Irene in den Wohnraum mit der beigefarbenen Sitzgarnitur in Tweed und dem braunen Teppichboden. Durch das große Panoramafenster zum Shaw Drive sah Abbie den alten Mr. Winters. Er beugte sich gerade herab, was ihm bei seiner Arthritis sichtlich schwer fiel, und hob den Unrat auf, den der Sturm letzte Nacht herangeweht hatte.

Abbie erinnerte sich noch genau an den Tag, als sie mit ihrer Mutter dieses Haus bezogen hatte. Aufgeregt war sie von Zimmer zu Zimmer gerannt und hatte zu entscheiden versucht, welches das ihre werden sollte, während ihre Mutter entzückt über die gut ausgestattete Küche gewesen war. Um sich und ihre Tochter durchzubringen, hatte Irene zwei Jobs übernommen: tagsüber als Schwesternhelferin im Krankenhaus und abends als Putzhilfe in Bürogebäuden. Währenddessen hatte eine Freundin Abbie beaufsichtigt. Obwohl Irene eine attraktive Frau war, wollte sie nie wieder heiraten.

„Von jetzt an gibt es nur noch uns zwei, Kleines“, hatte sie ihrer Tochter an ihrem ersten Abend in dem neuen Haus erklärt. „Und so soll es auch bleiben.“

Abbie dachte oft an diese Zeit und an die Opfer, die ihre Mutter für sie gebracht hatte. Und an die Nächte, wenn sie völlig erschöpft, aber lächelnd heimgekehrt war, nie zu müde, ihr noch die Lieblings-Gutenachtgeschichte vorzulesen. Oh ja, sie hatte glückliche Stunden hier verlebt, und deshalb sah sie es als ihre Pflicht an, dafür zu sorgen, dass ihre Mutter ebenfalls so lange wie möglich glücklich in ihrem Haus leben konnte.

„Über was möchtest du mit mir reden, Liebes?“ Irene schüttelte ein Zierkissen auf, ehe sie sich Abbie gegenüber in einen Sessel setzte. „Du wirkst plötzlich so ernst. Ist im Restaurant etwas passiert?“

„Nein. Gott sei Dank läuft im Campagne alles glatt.“ Abbie faltete die Hände und beugte sich vor. „Ich hatte gestern Abend einen unerwarteten Besucher.“

„Ach! Wen denn?“

„Ian McGregor.“

Irene war sichtlich schockiert. „Ian? Was macht der denn hier?“

„Er sagte, er sei auf der Durchreise.“

„Das verstehe ich nicht. Woher kannte er deine Adresse?“

„Durch das Fernsehinterview. Er hat es gesehen, hörte, dass ich in Princeton lebe, und beschloss, mich zu besuchen. Dank Internet war es nicht schwierig, mich zu finden.“ Sie machte eine Pause, da sie wusste, wie leicht sich ihre Mutter in letzter Zeit aufregte. Allerdings sah sie keine andere Möglichkeit, die Wahrheit zu erfahren, als offen zu reden. „Er wollte wissen, ob ich mich an das Feuer erinnere.“

Irene setzte sich kerzengerade hin. „Warum hat er dich gefragt? Wenn er etwas wissen will, soll er zu mir kommen.“

„Ich wollte nicht, dass er dich aufregt.“

„Und ich möchte nicht, dass er dich aufregt!“

„Das hat er nicht, Mom“, log sie. „Er war ein bisschen nervig, aber wenn ich mich recht entsinne, war er das immer, nicht wahr?“ Erleichtert stellte Abbie fest, dass die Mitteilung keine dramatische Veränderung im Verhalten ihrer Mutter bewirkte, und fuhr deshalb fort: „Was genau ist in jener Nacht passiert, Mom?“

„Du weißt, was passiert ist. Patrick ist mit einer brennenden Zigarette in der Hand eingeschlafen. Das war eine üble Angewohnheit von ihm, die mich damals in Angst und Schrecken versetzte. Deshalb hatte ich angefangen, im Nebenzimmer zu schlafen.“

Ein weiteres Detail, das die Behörden interessant finden würden. „Ian behauptet, er habe einen der Feuerwehrleute von Brandstiftung reden hören“, fügte Abbie vorsichtig hinzu.

Irenes Blick schien sich einen Augenblick zu verfinstern. „Hat er das gesagt?“

„Stimmt es? Haben die Behörden ursprünglich Brandstiftung angenommen?“

„Vielleicht.“

„Kannst du dich nicht erinnern?“

„Nein, Abbie“, entgegnete Irene aufgebracht. „Ich erinnere mich nicht. Wer weiß schon noch all das, was vor so langer Zeit passiert ist?“

„Reg dich nicht auf …“

„Ich rege mich nicht auf. Ich bin wütend. In all den Jahren haben wir von dem Jungen und seiner Schwester nicht ein Wort gehört. Und jetzt erzählst du mir, dass er hier ist und Ärger machen will.“

„Nein, das will er nicht. Mom, bitte …“

„Sag ihm, er soll uns in Ruhe lassen, Abbie!“ Sie sprang auf, das Gesicht blass, die Augen feucht. „Sag ihm, dass er fortgehen soll!“

Ehe sie antworten konnte, hörte Abbie eilige Schritte im Flur. Einen Moment später kam Marion herein, eine Einkaufstüte auf den Armen. Sie war eine kleine, rundliche Frau mit grauem, dauergewelltem Haar, runden Wangen und einem stechenden Blick aus braunen Augen.

Besorgt blickte sie von Abbie zu Irene. „Was ist los? Man hört Sie beide schon auf der Straße.“

„Alles okay, Marion.“ Abbie stand auf, ging zu Irene und hätte sich ohrfeigen mögen, dass sie ihre Mutter aufgeregt hatte. „Mom war ein bisschen ungehalten mit mir, aber es ist schon wieder gut.“ Sie legte ihrer Mutter einen Arm um die Schultern. „Nicht wahr, Mom?“

Irene nickte. Sie wirkte ruhiger, doch ihr unsteter Blick besagte etwas anderes. Warum hatte sie sich bei der Erwähnung des Feuers so aufgeregt? Waren die Erinnerungen an jene Nacht so lebendig und schmerzhaft, dass sie nicht darüber reden konnte? Lag es vielleicht nur an der Alzheimerkrankheit, oder steckte mehr dahinter?

Abbie verbrachte die nächste halbe Stunde mit dem Versuch, Irene wieder in einen Zustand von Gelassenheit zu versetzen. Auch wenn sie zu gern mehr über das Feuer erfahren hätte, so mussten weitere Befragungen warten. Nicht einmal Ians Drohungen waren es wert, ihre Mutter in solche Aufregung zu versetzen.

Während Irene eine großzügige Portion Polpette in einen Plastikbehälter abfüllte, plauderte Abbie über die neuen Gerichte, die sie ihrer Sommerspeisekarte hinzufügen wollte, und über Bens inzwischen berühmten Triple. Außerdem erwähnte sie den neuen Film mit Al Pacino, der am nächsten Freitag herauskommen sollte. Ihre Mutter war verrückt nach Al Pacino.

Langsam entspannte sich Irene wieder, und auch Abbie wurde ruhiger. Vielleicht hatte sie das Verhalten ihrer Mutter überbewertet. Warum sollte sie sich nicht bei der Erwähnung des Feuers aufregen? Denn schließlich war ihr Mann in den Flammen umgekommen. In ihrem Zustand waren emotionale Ausbrüche üblich und sicher kein Grund, voreilige Schlüsse zu ziehen.

Kurz nach zehn machte Abbie sich bereit zum Aufbruch. „Ich fahre besser, ehe Brady einen Suchtrupp losschickt.“

Irene gab ihr den Plastikbehälter. „Umarme Ben von mir und sag ihm, er soll mich besuchen kommen. Ich habe den Jungen Ewigkeiten nicht gesehen.“

Abbie versetzte es einen Stich. Denn erst vor zwei Tagen hatten sie gemeinsam mit Ben zu Abend gegessen.

7. KAPITEL

Als Abbie ins Campagne zurückkehrte, wartete Brady bereits auf sie. „Da ist jemand, der dich sprechen möchte“, sagte er mit leiser Stimme. „Ein Mann. Er behauptet, er ist dein Bruder.“

Abbie straffte sich. War das Ians Vorstellung von ‚etwas Zeit lassen‘, wie er gesagt hatte? Weniger als zwölf Stunden? „Wo ist er?“

„Ich habe ihn in dein Büro geführt. Eigentlich wollte er lieber im Speisesaal sitzen und einen Lunch serviert bekommen. Seine genaue Wortwahl war: ‚Bring mir was Teures, und zwar gratis.‘“ Dass Brady Ian nicht sonderlich mochte, war offenkundig. „Du hast mir nie etwas von einem Bruder gesagt.“

„Er ist eigentlich mein Stiefbruder. Ich erzähle dir später von ihm.“ Sie ging auf ihr Büro zu. „Ich höre lieber mal, was er will.“

Abbie fand ihn an ihrem Schreibtisch stehend, ein gerahmtes Foto von Ben in der Hand. „Stell das hin!“ fuhr sie ihn an.

Beim Klang ihrer Stimme drehte Ian sich um. „Gut aussehender Junge. Sieht dir allerdings nicht ähnlich. Kommt wohl nach seinem Vater.“

Sie durchquerte den Raum, entriss ihm das Foto und stellte es wieder auf den Schreibtisch. „Ich möchte nicht, dass du herkommst, Ian.“

„Wäre es dir lieber, ich käme zu dir nach Hause?“

„Es wäre mir lieber, du würdest verschwinden!“

Erhobenen Hauptes spazierte Ian durch den Raum und blieb immer wieder stehen, um die Fotos zu begutachten, die überall standen. Dass er auf diese Weise Einblick in ihr Privatleben erhielt, war Abbie äußerst unangenehm. Sie hätte es lieber gesehen, wenn Brady ihn im Speisesaal bedient hätte, denn sie wollte nicht, dass er auch nur andeutungsweise an ihrem Leben teilhatte.

„Kann ich nicht machen, Schwesterchen“, sagte er und drehte sich um. „Wie ich gestern Abend bereits sagte, haben wir noch etwas zu erledigen.“ Er lachte gut gelaunt, als sei dieser Besuch eine harmlose Familienzusammenführung. „Ich sehe keine Bilder von deinem Ehemann. Du hast doch einen, oder?“

„Ich habe dir schon gesagt, mein Privatleben geht dich nichts an.“

Ergeben hob er die Hände. „Okay, okay, keine Aufregung, ich war nur neugierig.“ Er wartete einen Herzschlag lang, ehe er hinzufügte: „Hast du dir unser kleines … Arrangement überlegt?“

„Du erpresst mich, Ian. Das würde ich nicht als Arrangement bezeichnen.“

„Und ich würde es eher eine Rückzahlung nennen – für all das Elend, das ich deiner Mutter verdanke.“

„Sie hat dir nichts getan. Wie sich dein Leben entwickelt hat, ist allein deine Schuld.“

Er wischte die Bemerkung mit einer Handbewegung beiseite. „Das ist mir gleichgültig. Ich will nur wissen, ob du sie wegen des Feuers gefragt hast.“

„Nein.“ Abbie hoffte, dass er ihr die Lüge nicht anmerkte. „Ich habe keinen Anlass gesehen, sie aufzuregen, indem ich schmerzliche Erinnerungen wachrufe.“

„Du hast ihr nicht mal gesagt, dass ich hier bin?“

„Nein, Ian, habe ich nicht, aus genau demselben Grund.“

Er sah sie lange forschend an, als müsste er entscheiden, ob sie die Wahrheit sagte oder nicht. Da sie sich unter diesem Blick unbehaglich fühlte, sprach sie mit gespielter Selbstsicherheit weiter. „Offen gesagt, ich weiß gar nicht, warum ich noch hier stehe und mir deinen Blödsinn anhöre, da ich so viel zu tun habe.“

„Weil du verdammt gut weißt, dass du in dieser Sache keine Wahl hast.“ Sein Blick war hart geworden, und in der Stimme klang keine aufgesetzte Fröhlichkeit mehr mit. „Ich habe den Trumpf in der Hand, Abbie. Entweder du rückst das Geld raus, oder ich rufe den Staatsanwalt in Palo Alto an und erzähle ihm, dass deine Mutter eine kaltblütige Killerin ist.“

Nur Mut, Abbie, bluffe ihn, bleib hart. Wem wird die Polizei wohl eher glauben, zwei Knackis oder einer gesetzestreuen Bürgerin?

Einen Moment glaubte sie, es tun zu können. Wenn sie ihm zeigte, dass sie sich nicht einschüchtern ließ, würde er nachgeben. Doch obwohl ihr die Worte schon auf der Zunge lagen, blieb sie stumm. Abschätzend sahen sie einander an und warteten, wer als Erster zurückstecken würde.

„Weißt du was?“ Ian holte sein Handy aus der Hemdtasche. „Da du immer noch Zweifel hast, stelle ich dir den Kontakt zu Earl her. Er wird dich überzeugen.“

Sie wollte etwas einwenden, doch er wählte bereits. Während er wartete, zwinkerte er ihr zu und wirkte sehr zuversichtlich. „Anna“, sagte er, als jemand den Anruf entgegennahm. „Hier ist Ian McGregor. Bitte sag Earl, dass er die Telefonnummer anrufen soll, die ich dir gleich gebe. Er soll nach Abbie DiAngelo fragen. Hast du etwas zu schreiben?“ Er wartete noch einige Sekunden, dann gab er die Nummer des Restaurants durch, die er auswendig kannte. „Kannst du ihn heute noch erreichen? Es ist dringend.“ Er lächelte. „Super, Anna. Danke.“

Er klappte das Telefon zu und steckte es wieder ein. „Das war Earls Frau. Sie sagte, er würde sich noch heute melden, falls er seine drei Anrufe pro Woche noch nicht ausgenutzt hat.“

„Woher soll ich wissen, dass der Anruf aus dem Gefängnis kommt?“

„Er muss ein R-Gespräch anmelden. Die Vermittlung wird dir sagen, dass der Anruf aus Stateville kommt.“

Ian hatte an alles gedacht, war auf jede Frage vorbereitet. War das alles nur ein ausgetüftelter Bluff, oder sagte er tatsächlich die Wahrheit?

Er legte ihr einen Zettel auf den Schreibtisch. „Ich habe dir meine Handynummer aufgeschrieben. Ruf mich an, sobald er sich gemeldet hat.“

„Ich springe nicht, wenn du pfeifst, Ian. Schließlich habe ich ein Geschäft zu führen.“

Ehe er antworten konnte, klopfte es. Ohne eine Aufforderung abzuwarten, öffnete Brady die Tür und steckte den Kopf ins Zimmer. Ein Blick genügte ihm, um die Spannung zwischen den beiden zu spüren. „Abbie, wir haben in der Küche eine Krise. Könntest du sofort kommen?“

Es hatte noch nie eine Krise gegeben, mit der er nicht selbst fertig wurde, und sie bezweifelte, dass es jetzt eine gab. Allerdings war sie dankbar für die Unterbrechung. „Ich komme sofort.“

Sie sah Ian an, der sich leicht verneigte. „Ich gehe dann.“ Er beugte sich vor, so dass sein Mund fast ihr Ohr berührte, und flüsterte: „Aber ich komme zurück.“ Als er an Brady vorbeiging, der ihm die Tür aufhielt, fügte er hinzu: „Das würde ich mir abschminken, Junge. Klugscheißer mag keiner.“

„Sie müssen’s ja wissen“, konterte der und folgte ihm mit Abbie in den leeren Speisesaal. Sobald Ian fort war, wandte Abbie sich an ihren jungen Souschef. „Sag mir, dass es keine Krise gibt. Im Moment wäre ich kaum etwas Ernsterem als verbranntem Toast gewachsen.“

Er schüttelte den Kopf. „Die war nur ein Vorwand, um zu sehen, ob bei dir alles okay ist.“

„Woher wusstest du, dass ich Hilfe brauchte?“

„Ich kenne solche Typen. Wie konntest du zu so einem Exemplar von Stiefbruder kommen?“

Brady verdiente es, so viel wie möglich zu erfahren. „Nach dem Tod meines leiblichen Vaters heiratete meine Mutter Patrick McGregor, einen Witwer mit zwei Kindern. Zwei Jahre später starb Patrick, und ich zog mit meiner Mutter nach Kansas zu meinem kranken Großvater. Ian und seine Schwester blieben in Kalifornien bei ihrer Tante. In den letzten achtundzwanzig Jahren habe ich keinen von beiden wieder gesehen.“

„Was will Ian von dir?“

Sie ging auf die Küche zu. „Ein Darlehen.“

„Hoffentlich hast du ihm gesagt, dass du nicht die Bank of America bist.“

„Nicht mit diesen Worten, aber so in etwa, denke ich.“

„Falls er es nicht kapiert, gib mir Bescheid. Ich würde ihm gern diese Selbstzufriedenheit vom Gesicht …“

Brady wurde von lauten Stimmen aus der Küche unterbrochen. Die eine gehörte Sean, einem von zwei Küchenhelfern.

„Ich habe dir gesagt, Abbie ist beschäftigt!“ sagte der. „Du musst ein andermal wiederkommen.“

„He, du Penner!“ schimpfte der andere, „ich war schon in diesem Geschäft, als du noch in die Windeln gemacht hast. Also sag mir nicht, was ich tun soll!“

„Das ist Ken!“ Abbie eilte, mit Brady auf den Fersen, zur Küche und stieß die Schwingtüren auf.

Ken Walker stand mit hochrotem Gesicht in der Küche, die Fäuste geballt, als wolle er jeden Moment zuschlagen. Ken, Mitte dreißig und mit der stämmigen Statur eines Ringers, hatte ein aufbrausendes Temperament. Nachdem er ein Jahr bei Abbie gearbeitet hatte, war er von Brady vor sechs Wochen dabei erwischt worden, wie er Geld aus der Kasse nahm. Abbie hatte ihn sofort entlassen und später erfahren, dass er ein Spielproblem hatte, von dem sie nichts wusste.

„Was ist hier los?“ fragte sie, froh, dass das Restaurant noch nicht geöffnet hatte. „Ken, was tun Sie in meiner Küche?“

„Hallo, Miss DiAngelo.“ Er nahm seine Baseballkappe ab und hielt sie vor sich. „Ich wollte Sie fragen, ob ich meinen alten Job zurückhaben könnte?“

Brady wollte etwas erwidern, doch Abbie kam ihm zuvor. „Ich mache das schon.“ Sie winkte Ken in den Wirtschaftsraum und sagte: „Sie wissen, dass es nicht geht. Zum einen hat sich meine Einstellung nicht geändert. Sie haben mich bestohlen, und das kann ich nicht dulden. Zum anderen haben wir Sie bereits durch Sean ersetzt. Ich könnte Ihnen Ihren alten Job gar nicht zurückgeben, auch wenn ich es wollte.“

„Ich spiele nicht mehr“, erklärte Ken, als hätte er nicht gehört, was sie gesagt hatte. „Und ich gehe dreimal die Woche zu den anonymen Spielern. Es funktioniert, denn ich war seit über einem Monat nicht mehr in Atlantic City.“

„Das freut mich zu hören, Ken, aber ich kann Ihnen trotzdem keinen Job geben.“

„Bestimmt nicht? Ich habe das Restaurant beobachtet. Seit Sie den Preis bekommen haben, ist hier unheimlich was los. Ein bisschen zusätzliche Hilfe in der Küche könnten Sie wahrscheinlich gebrauchen. Ich wäre auch mit einer geringeren Position zufrieden, bis ich meine alte zurückbekommen kann.“

Seine Hartnäckigkeit war einer der Gründe, warum sie von Anfang an Probleme mit ihm gehabt hatten. Auf die Gefahr hin, sich zu wiederholen wie eine gesprungene Schallplatte, sagte sie: „Es geht nicht, Ken. Tut mir Leid.“

Sein Ton wurde wieder kampflustig. „Es macht Ihnen Spaß, jemanden zu treten, der am Boden liegt, was, Miss DiAngelo? Das gehört zu Ihrem Egotrip, stimmt’s?“

Abbie straffte sich. „Sie vergessen sich, Ken.“

„Wohl eher Sie. Ich kam in gutem Glauben her und habe zugegeben, dass ich ein Problem hatte. Ich habe Ihnen sogar gesagt, wie ich damit fertig werde, aber das ist Ihnen gleichgültig.“

In diesem Augenblick kam Brady herein und packte Ken am Arm. „Das reicht, Freundchen. Raus mit Ihnen.“

„Ich bin noch nicht fertig!“ schrie Ken.

„Oh doch, das sind Sie.“ Brady schob ihn zur Hintertür hinaus. „Miss DiAngelo hat Sie nicht angezeigt, weil sie Mitleid mit Ihnen hatte. Aber sollten Sie noch einmal im Restaurant auftauchen, hole ich die Polizei!“ Er machte die Tür zu, schloss ab und beendete so die Schimpfkanonade des Mannes.

„Mir gefällt nicht, wie der sich aufführt“, meinte Brady zu Abbie. „Wir sollten es der Polizei melden und sie bitten, ihn im Auge zu behalten.“

Abbie schüttelte den Kopf. „Ich möchte nicht, dass er Schwierigkeiten bekommt oder sich seine Chancen auf einen neuen Job verbaut. Warten wir ab, was passiert.“

Sie sah zum Fenster hinaus. Ken war zwar fort, doch das beruhigte sie kaum. Was mochte dieser Tag noch für sie bereithalten?

8. KAPITEL

Ian saß kaum dreißig Meter von dem kleinen blauen Haus entfernt in Rose’ Wagen und fragte sich, ob er hingehen und an Irenes Tür läuten sollte.

Abbies Reaktion auf die Frage, ob sie mit ihrer Mutter über das Feuer gesprochen habe, hatte ihn stutzig gemacht. Seine Stiefschwester war nie eine gute Lügnerin gewesen. Ihr leichtes Zögern und das Abwenden des Blickes hatten ihm verraten, dass sie etwas verbarg. Aber was?

Er überlegte noch, wie er sich Irene nähern sollte, als die Haustür geöffnet wurde. Eine Frau trat heraus und sah sich zögernd, fast ängstlich um.

Obwohl seit ihrer letzten Begegnung fast dreißig Jahre vergangen waren, erkannte er sie sofort. Irene DiAngelo. Ihre dunklen Haare waren jetzt fast grau, doch ansonsten hatte sie sich kaum verändert. Sie war immer noch die zarte, attraktive Lady von damals. Dennoch war sie anders. Sie benahm sich merkwürdig, als wüsste sie nicht genau, wo sie war, was keinen Sinn ergab, da sie soeben aus der eigenen Haustür getreten war.

Er beobachtete sie weiter durch das geöffnete Fenster und wartete ab, was sie tun würde. Doch sie stand nur da und sah unsicher aus. Ehe er sich wegducken konnte, blickte sie in seine Richtung, starr und reglos. Ian fluchte leise. Es fehlte ihm gerade noch, dass sie die Polizei rief und ihn als Spanner anzeigte.

Rasch nahm er die Straßenkarte von Mercer County vom Beifahrersitz, entfaltete sie und hielt sie sich vor das Gesicht, während er Irene weiter aus dem Augenwinkel beobachtete. Der Trick schien zu wirken, denn sie sah ihn nicht mehr an, sondern ging zu einem Rosenbeet vor dem Haus.

Währenddessen kam ein blauer Van um die Ecke des Shaw Drive und hielt in der Einfahrt. Ein Junge, etwa siebzehn oder achtzehn, sprang heraus und winkte Irene zu.

„Hallo, Miss DiAngelo!“

Sie sah den jungen Mann an, als hätte sie ihn noch nie gesehen. Eigenartig, dachte Ian, wirklich eigenartig.

„Ich bin gekommen, um den Rasen zu schneiden“, erklärte der Junge. Ihr sonderbares Benehmen schien ihn überhaupt nicht zu beunruhigen.

Während der Junge über das Wetter plauderte, zog er einen Rasenmäher aus seinem Van und schob ihn in den Vorgarten. Irenes Mimik verriet reine Panik. Sie fuhr herum, als sei ihr der Leibhaftige erschienen, und lief ins Haus.

Ian saß einen Moment verblüfft da. Was, zum Teufel, war das denn? Was war los mit Irene?

Nun ja, es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden. Er öffnete die Wagentür, stieg aus und eilte wie jemand, der dringend etwas zu erledigen hat, auf das Haus zu. Der Junge war soeben zu seinem Wagen zurückgekehrt, um die Unkrauthacke zu holen, und beobachtete ihn.

„Hallo“, grüßte Ian freundlich, hielt die Karte hoch und deutete auf das Haus. „Vielleicht können Sie mir helfen. Ich bin Immobiliengutachter. Ich wurde von meiner Gesellschaft hergeschickt, mir die Häuser dieses Blocks anzusehen. Als ich bei Miss DiAngelo geklingelt habe, benahm sie sich seltsam und ließ mich nicht ein. Hat sie ein Problem?“

Der Junge zuckte die Achseln. „Miss Di ist ganz okay. Ihr Erinnerungsvermögen setzt nur manchmal aus. Vielleicht versuchen Sie’s in einer Stunde noch mal. Dann ist sie vielleicht wieder klar.“

„Was meinen Sie damit? Was ist denn los mit ihr?“

Der Junge öffnete den Schraubverschluss eines Kanisters und füllte Benzin in den Mäher. „Sie hat eine Krankheit, die das Gedächtnis beeinträchtigt. Ich habe vergessen, wie sie heißt.“

„Alzheimer?“

„Ja, richtig. Alzheimer. Die meiste Zeit ist sie okay und richtig nett. Aber manchmal, so wie jetzt, kann sie sich nicht erinnern, wer man ist.“

Ian konnte seine Begeisterung kaum bezähmen. Irene hatte Alzheimer. Deshalb hatte Abbie sich so komisch benommen und ihre Mutter nicht mit den Vorwürfen zu dem Feuer konfrontiert. Wenn Irene sich also nicht an jene Nacht erinnern konnte, war sie auch nicht in der Lage, die Vorwürfe zu entkräften.

Wenn das nicht ein absoluter Glücksfall war. Und er hatte sich schon Sorgen gemacht, Abbie durchschaue seinen Bluff. Doch ihr Widerstand war nichts weiter als Angst gewesen, und jetzt kannte er den Grund.

Die Lunchzeit im Campagne war fast vorüber, und in der Küche ging es wieder ein wenig geruhsamer zu, als der Anruf kam. Abbie stand nur wenige Schritte vom Wandtelefon entfernt, als es klingelte. Nachdem sie sich überzeugt hatte, dass die Belegschaft zum Lauschen zu beschäftigt war, nahm sie den Hörer ab.

„Sie haben ein R-Gespräch von einem Earl Kramer aus dem Stateville Gefängnis“, sagte eine nasale weibliche Stimme. „Übernehmen Sie die Kosten?“

Abbie drehte sich zum Fenster und merkte, wie ihre Kehle trocken wurde. „Ja.“ Sie schluckte. „Ja, ich übernehme sie.“

„Abbie DiAngelo?“ Die Stimme am anderen Ende klang grob und ungebildet. „Sind Sie das?“

„Ja.“ Sie räusperte sich. „Aber ich muss den Anruf in mein Büro legen. Es dauert nur eine Sekunde.“

Der Mann lachte. „Ich geh’ nich’ weg.“

Als Brady vorüberging, reichte sie ihm den Hörer. „Würdest du den bitte auflegen, wenn ich es dir sage?“

Sich seiner Neugier bewusst, eilte sie in ihr Büro und nahm dort den Hörer auf. Ihr Herz schlug schneller, aber nicht von dem kurzen Sprint. „Ich bin dran, Brady. Danke.“

„Kein Problem.“

„Mr. Kramer?“

„Ja.“

Abbie hielt den Hörer ans Ohr, ging um den Schreibtisch herum und setzte sich. „Wissen Sie, warum Ian Sie bat, mich anzurufen?“

„Klar. Sie wollen wissen, ob das stimmt, was ich ihm über Ihre Mutter verklickert habe.“ Er machte eine kurze Pause. „Es stimmt.“

Sie schloss die Augen und zwang sich, bis fünf zu zählen. „Sie wissen, dass es nicht wahr ist. Warum tun Sie das? Hat Ian Ihnen Geld geboten?“ Dumme Frage. Bildete sie sich ein, er würde es zugeben, wenn es so wäre?

„Wo ich bin, nützt einem Geld rein gar nix, Missie. Außerdem ist Earl Kramer nich’ käuflich.“

Das bezweifelte sie stark. „Warum kommen Sie jetzt damit heraus? Weshalb haben Sie Ian die Geschichte nicht gleich nach Ihrer Verurteilung erzählt?“

„Weil ich immer noch ‘ne Chance gesehen hab’, durch Berufung um die Todesstrafe rumzukommen. Nach zwei Versuchen haben die mir jetzt aber gesagt, das war’s. Ich bin erledigt, da kann ich auch gleich alle Sünden beichten, nich’ nur die, wegen der ich die Todesstrafe gekriegt hab’.“

„Warum?“

„Weil mir Gottes Gnade zuteil wurde, Miss DiAngelo“, sagte er mit aufgesetzter Ehrfurcht, die so falsch klang wie alles andere. „Dadurch, dass ich meine Verfehlungen gestehe, vergelte ich ihm seine Freundlichkeit.“

Abbie ließ sich gegen die Lehne sinken. Mit wem redete sie da eigentlich? War er ein Mensch, der zum Glauben zurückgefunden hatte, oder ein gerissener Halunke? „Ian sagte, Sie könnten mich überzeugen. Tun Sie es.“

„Wie soll ich das machen?“

„Wie sah meine Mutter vor achtundzwanzig Jahren aus?“

„Sie war eine Augenweide. Toller Hintern.“

„Beschränken Sie sich auf das Gesicht, bitte.“

„Also gut, überlegen wir mal.“ Er schwieg einen Moment. „Sie hatte dunkles, welliges schulterlanges Haar. Und helle Augen, grau oder grün.“ Wieder eine Pause. „Und ‘nen Schönheitsfleck über der Oberlippe.“

Stimmte alles, doch Abbie war noch nicht überzeugt. Ian hätte ihm eine Beschreibung von Irene geben können. „Was war mit dem Haus?“

„Lag an der El Camino Lane – eine halbe Meile oder so vom Stadtkern entfernt. Ein großes Haus mit ‘nem Unterund Dachgeschoss.“

Auch das konnte er von Ian wissen. Sie musste etwas Spezielles fragen, das nicht jeder wusste. Aber was? Sie war nicht gerade eine Expertin im Befragen hartgesottener Krimineller. „Wie sind Sie ins Haus gelangt?“

„Ihre Mutter hat die Hintertür offen gelassen. Sie hatte mir gesagt, in welchem Raum McGregor schlief. Also bin ich raufgegangen und hab’ geguckt, ob der wirklich fest pennt. Auf dem Nachttisch stand ‘ne leere Flasche Bourbon, und das Zimmer stank nach Fusel. Ich wusste also, dass er bestimmt nich’ wach wird.“

„Hat es Ihnen nichts ausgemacht, dass auch drei Kinder im Haus schliefen?“

„Ihre Mutter war wach. Sie hätte nicht zugelassen, dass den Kiddies was passiert.“

Trotzdem hatte das Obergeschoss bereits in Flammen gestanden, als Irene in ihr Zimmer gekommen war. Wenn sie wirklich wach geblieben war, warum hatte sie dann so lange gewartet, um ihr Kind zu retten? „Wie konnten Sie da sicher sein? Sind Sie in der Nähe geblieben und haben zugeschaut?“

Er lachte wieder – ein zynisches, herablassendes Lachen, damit sie sich dumm vorkam. „Was? Und mich einkassieren lassen? Sie machen wohl Witze.“

„Ian sagte, meine Mutter habe durch eine Chiffre-Anzeige Kontakt mit Ihnen aufgenommen.“

„Klar. Machen viele Leute so, auch jetzt noch. Für den Normalo ohne Verbindungen zum Milieu ist eine Chiffre-Anzeige mit dem richtigen Text fast die einzige Möglichkeit, zu finden, was man sucht. Sie brauchen nichts weiter zu schreiben als …“ Er machte wieder eine kurze Pause. „‚Suche jemand für Spezialarbeiten.‘ Oder: ‚Handlanger für Abbrucharbeiten gesucht.‘ Da kriegt man zwar ‘ne Menge Anrufe, aber mit etwas Geduld über kurz oder lang auch den richtigen.“

„Was stand in der Anzeige meiner Mutter?“ Vielleicht konnte sie in den Zeitungsarchiven nachsehen? Heutzutage hatten die meisten Zeitungen Kopien auf Mikrofiche.

„Großer Gott, wie soll ich denn das noch wissen?“

„Wie wäre es dann mit dem Namen der Zeitung? Und dem Erscheinungsdatum der Anzeige? Sicher können Sie sich daran erinnern.“

„Tut mir Leid. Damals habe ich etwa ein Dutzend Zeitungen aus dem ganzen Land gelesen. Ich weiß nich’ mehr, in welcher Irenes Anzeige stand oder wann sie Kontakt zu mir aufgenommen hat.“

„Wie bequem.“

Diesmal bemerkte er den sarkastischen Unterton, denn er reagierte. „He, es is’ nich’ meine Schuld, wenn es nich’ das is’, was Sie hören wollen. Aber das ändert nix an dem, was ich weiß.“

„Sie wollen sagen, was Sie erfinden, Mr. Kramer, nicht wahr?“

„Das sollen die Bullen entscheiden, Missie.“ Er ließ eine Sekunde verstreichen. „War’s das? Meine fünfzehn Minuten sind fast um. Sie wollen doch nich’, dass ich Schwierigkeiten kriege, oder?“

Abbie fühlte sich ausgelaugt. Sie war nicht sicher, was sie von dieser Unterhaltung erwartet hatte oder ob sie überhaupt etwas erwartet hatte. „Ja“, erwiderte sie, „wir sind fertig.“

„Werden Sie mit mir beten, Miss DiAngelo?“

Verblüfft wollte sie etwas erwidern, doch er sprach bereits weiter. „Herr Jesus Christus, du hast dein Leben für mich gegeben, und nun möchte ich meines für dich geben. Ich biete dir meinen Tod an, Herr, so wie ich dir meinen Körper und meine Seele …“

Abbie warf den Hörer auf die Gabel. Was war das für ein krankes Monster? Glaubte er wirklich, sie kaufte ihm diese Vorstellung ab? Und was für eine Sorte Mensch erfand solche Lügen ohne Gewissensbisse und betete im selben Atemzug für seine Seele?

Sie bedeckte das Gesicht mit den Händen und verharrte in dieser Haltung, bis Brady sich über die Sprechanlage meldete, um ihr zu sagen, dass er gehen würde.

Vielleicht ist noch nicht alles verloren, dachte sie und erhob sich hinter ihrem Schreibtisch. Möglicherweise gab es einen Ausweg aus diesem Albtraum – einen legalen. Sie wusste nicht, wie der aussehen konnte, doch Claudias Bruder war Anwalt. Obwohl er in Philadelphia lebte, traf er sich häufig mit seiner Schwester. Und wenn er in der Stadt war, sorgte Abbie immer dafür, dass sie Dinner oder Lunch im Campagne aßen. Doch was noch wichtiger war, sie wusste, dass sie ihm trauen konnte.

Mit dem Gedanken nahm sie ihre Handtasche und ging ebenfalls.

9. KAPITEL

Abbie hatte die fünfunddreißigjährige Claudia Marjolis vor sieben Jahren kennen gelernt, als sie bei der großen Eröffnung ihrer ersten Ein-Frau-Show den Partyservice gemacht hatte. Als jüngster Spross einer alten Geldadelsfamilie aus Philadelphia und erklärter Rebell hatte Claudia ihre Familie damit geschockt, dass sie ihr Medizinstudium hinwarf und Bildhauerin wurde.

Obwohl ihre Eltern sich schließlich von dem Schreck erholten und ihre Tochter dann von Herzen unterstützten, wussten sie immer noch nicht recht, was sie mit diesem Freigeist anfangen sollten. Ein Geist, der sich nicht nur in ihrer Arbeit widerspiegelte – die von manchen Kritikern als revolutionär bezeichnet wurde –, sondern im Lebensstil, in der Art der Kleidung und sogar in der Wahl des Essens.

Ihre Wohnung, zugleich Atelier, befand sich im Loft eines zweistöckigen Gebäudes – einer ehemaligen Bonbonfabrik. Eine Fensterfront bot einen ungehinderten Blick auf den Holder Tower der Princeton University, eines der bekanntesten Wahrzeichen der Stadt. Die Hälfte des Loftraumes wurde von ihren Arbeiten eingenommen, einem ausgewählten Sortiment an Ton- und Bronzeskulpturen verschiedener Formen und Größen. Der übrige Raum, teils Wohnraum, teils Küche, war in verschiedenen Rot- und Schwarzschattierungen gehalten. Das Schlafzimmer verbarg sich hinter einer von Claudias interessanteren Kreationen, einem Glasturm aus leeren Krügen. Abends, wenn das goldene Licht im richtigen Winkel hereinfiel, erstrahlte das Kunstwerk, als stünde es in Flammen. Ben kam für sein Leben gern her. Zum einen, weil Claudia ihn fürchterlich verwöhnte, und zum anderen, weil sie ihn oft mit auf den Schrottplatz nahm, wo sie Metallabfälle für ihre Arbeiten kaufte.

Als Abbie eintrat, versuchte Claudia soeben laut stöhnend, eine sechs Fuß lange, liegende Frauengestalt über den Schieferboden zu zerren. Klein und kaum hundert Pfund schwer, wirkte die Freundin, als könnte sie nicht mal eine Feder bewegen. Zwei Jahre als Kellnerin einer stets vollen Cafeteria in SoHo während des Studiums am Lower Manhattan Art Center hatten ihr jedoch eine Kraft im Oberkörper verliehen, über die nur wenige Frauen ihrer Größe verfügten.

Mit ihrem Wust an roten, derzeit mit Gips gesprenkelten Locken, den großen runden blauen Augen und der Großmutterbrille sah sie aus wie eine hübschere Version von Raggedy Ann. Klug und erfolgreich, hatte sie auf die Ehe verzichtet, obwohl sie dreimal kurz vor einer Heirat gestanden hatte. Alle drei hoffnungsvollen Bräutigame hatte sie am Altar stehen lassen – Opfer ihrer berüchtigten Bindungsphobie. Abbie hatte oft gespottet, dass der Film, „Die Braut, die sich nicht traut“ auf Claudias Lebensgeschichte basiere.

Als die Tür knarrend ins Schloss fiel, drehte Claudia sich um, eine Hand in Taillenhöhe in den Rücken gepresst. „Du kommst genau richtig. Das Ding wiegt eine Tonne.“

„Sieht so aus.“

Abbie betrachtet die Skulptur genauer, eine Frau mit konischen Brüsten, gewaltigen Schenkeln und kleinen Füßen. Sie hatte den Entstehungsprozess des neuen Werkes zwar während der letzten sechs Monate verfolgt, aber erst vor vier Wochen war ihr aufgegangen, dass der Gipsblock eine Frau werden würde.

„Nun, was hältst du davon?“ fragte Claudia wie eine stolze Mama.

Abbie umrundete mit geschürzten Lippen langsam die Statue und begutachtete jedes Detail. Die zwei schwarzen Knopfaugen im Gesicht schienen ihre Bewegungen zu verfolgen. „Hm, ich weiß nicht recht. Wann hast du dich zu den spitzen Brüsten entschlossen?“

„Ich wusste, dass du das fragen würdest.“ Claudia nahm einen Staubwedel aus Federn vom Boden auf und wischte damit leicht über den weiblichen Torso. „Die Idee kam mir letzte Woche, nachdem ich ein Bild von Josephine Baker gesehen habe. Ihre Brüste waren damals in Paris der Clou. Sie haben mich angeregt.“

Abbie warf ihrer Freundin einen amüsierten Blick zu. „So, so, meine Liebe, hast du etwa ein Geheimnis, von dem ich wissen sollte?“

„Klugscheißerin. Ich meinte natürlich künstlerische Anregung. Und nun hilf mir, ja?“ Sie legte den Staubwedel beiseite und streckte die Finger. „Und pass auf, dass der Läufer drunter bleibt. Ich will den Boden nicht verkratzen.“

Abbie warf ihre Tasche auf einen Stuhl. „Wo soll sie hin?“

Claudia deutete auf einen Platz vor dem Fenster. „Da drüben. Damit jeder sie von der Nassau Street sehen kann.“

Der Anweisung folgend, nahm Abbie ihre Position ein und legte die Hände auf den breiten Rücken der Statue. Dann begann sie langsam, aber stetig zu drücken, bis die Figur an ihrem Platz stand. Die Bewegung musste Aufmerksamkeit erregt haben, denn ein paar Passanten blieben stehen und blickten mit offenen Mündern hinauf, was exakt der von Claudia gewünschten Reaktion entsprach. Der Platz war wie geschaffen für die Figur.

Sie trat zurück, um den Effekt zu prüfen, und nickte zufrieden. „Ideal.“

„Hast du ihr schon einen Namen gegeben?“ fragte Abbie, wohl wissend, wie ungern Claudia ihre Arbeiten betitelte. Ihre meisten Stücke hießen „ohne Titel“.

„Nein, aber mein Händler drängt mich, mir was einfallen zu lassen. Irgendwelche Vorschläge?“

„Bedaure, meine Kreativität beginnt und endet in der Küche.“

„In dem Fall ist vielleicht eine Tasse Kaffee genau das Richtige, um deine kreativen Säfte in Wallung zu bringen. Und ich habe ein paar Muffins, die du versuchen solltest. Ein neues Rezept.“

„Was ist drin?“ fragte Abbie argwöhnisch.

„Flachssamen, Mais und ein Hauch Jalapeño. Zieh kein Gesicht, es wird dir schmecken.“ Sie ging auf die Küche zu. „Und dann kannst du mir erzählen, was los ist.“ Sie nahm die Glaskanne von der schwarzen Kaffeemaschine und schenkte zwei Becher voll. „Und erzähl mir nicht, es sei nichts los“, fuhr sie fort, den forschenden Blick auf Abbie gerichtet. „Denn die Besorgnis in deinem Blick, liebste Freundin, die du so heftig zu verbergen versuchst, verrät dich.“

Zunächst hatte sie nicht vorgehabt, Claudia ins Vertrauen zu ziehen. Nicht nur, weil die Sache sehr persönlich war, sondern auch, weil sie ihre beste Freundin nicht in eine kompromittierende Lage bringen wollte. Doch als sie sich entschlossen hatte, Dennis Marjolis um Hilfe zu bitten, war klar gewesen, dass sie auch Claudia einweihen musste.

„Es ist kompliziert“, begann sie, nicht sicher, wo sie anfangen sollte.

Claudia stellte einen Teller mit duftenden Muffins auf den Tresen und kletterte auf einen rot lackierten Hocker. „Du redest mit der Person, für die das Wort kompliziert erfunden wurde. Also komm schon, sprich dich aus.“

Abbie berichtete alles, von dem Moment an, als sie Ian am Spielfeldrand entdeckt hatte, bis zum Telefonat mit Earl Kramer vor zehn Minuten.

„Um Gottes willen!“ rief Claudia aus. „Ich habe noch nie einen solchen Blödsinn gehört! Diese beiden Clowns sind doch nichts als Betrüger, die eine Geschichte erfunden haben, um den schnellen Dollar zu machen. Und dieser Brief wurde in einem Augenblick der Verzweiflung geschrieben. Der bedeutet gar nichts!“

„Das habe ich auch gedacht.“ Abbie brach sich ein Stück Muffin ab und kaute bedächtig. Es schmeckte überraschend gut.

„Warum hast du Ian dann nicht gesagt, er soll sich eine andere Dumme suchen?“

„Das hätte ich getan, wenn meine Mutter sich nicht so verdächtig verhalten hätte.“

„Schätzchen, deine Mutter hatte einfach einen schlechten Tag. Vielleicht waren die Erinnerungen an jene Nacht zu schmerzlich für sie. Oder sie haben etwas in ihrem Kopf ausgelöst, und sie war nur verwirrt. Hat dir Dr. Frantz nicht erklärt, dass sie solche Tage haben würde?“

„Ja, aber …“

„Aber was?“ drängte Claudia.

„Was, wenn es mehr war als das? Vielleicht hat sie unbewusst die Vorgänge jener Nacht verdrängt. Oder deren Folgen.“

Die Freundin schüttelte den Kopf. „Du lässt dich von deinem durchtriebenen Stiefbruder reinlegen. Willst du meinen Rat? Hier ist er: Informiere die Polizei. Was Ian versucht, ist Erpressung, und das ist strafbar. Lass nicht zu, dass er dich auch nur einen Tag länger quält als nötig.“

Die Reaktion der Freundin erstaunte Abbie nicht. Trotz ihrer unkonventionellen Art glaubte Claudia fest an die Regeln des Rechts. „Ich kann nicht zur Polizei gehen, ehe ich nicht fundierten juristischen Rat eingeholt habe. Darum bin ich hier. Ich muss mit Dennis reden.“

„Warum hast du das nicht gleich gesagt?“ Claudia nahm ein schnurloses Telefon vom Küchentresen. Abbie beobachtete sie, während sie der Sekretärin ihres Bruders ihren Namen nannte und ihn zu sprechen wünschte. Bei Claudias enttäuschtem Gesichtsausdruck und nach ihren nächsten Worten ließ Abbie die Schultern sinken. Dennis war auf Geschäftsreise.

Doch die Miene der Freundin hellte sich sofort wieder auf. „Er kommt heute Abend zurück? Fantastisch! Bitte sagen Sie ihm, er soll mich sofort anrufen, gleichgültig, wie spät es ist. Danke, Sylvia.“

Claudia legte den Hörer auf. „Bist du einverstanden, dass ich Dennis schon mal die Situation erkläre, wenn er anruft, oder möchtest du das selbst machen?“

„Nein, mach nur, ich fülle dann die Lücken aus.“

Der tiefe Schlag der Standuhr im Foyer ertönte ein Mal. Ein Uhr nachts, und Dennis Marjolis hatte nicht angerufen. Vielleicht hat seine Maschine Verspätung, dachte Abbie, oder er hat Skrupel, mir bei einer so komplizierten und vielleicht hoffnungslosen Sache einen Rat zu geben? Abbie rechnete schon nicht mehr mit seinem Anruf, zumindest für heute Nacht, als das Telefon schellte.

Sie hechtete zum Küchentresen und antwortete nach dem ersten Klingeln. „Hallo?“

„Abbie?“

Erleichtert atmete sie auf. „Dennis.“ Zu besorgt, um Zeit für Geplauder zu vergeuden, kam sie gleich auf den Punkt. „Hast du so halbwegs verstanden, was Claudia dir erzählt hat?“

„Ziemlich genau sogar.“ Er machte eine Pause, und sie hörte Papier rascheln. „Fangen wir von vorne an, und unterbrich mich, falls ich dich verwirre. Das tue ich manchmal.“

Es stimmte zwar nicht, aber es war lieb von ihm, das zu sagen, damit sie sich nicht dumm vorkam. Sofort hatte sie das Gefühl, bei ihm gut aufgehoben zu sein. „Mach’ ich.“

„Befassen wir uns zunächst mit Kramers Aussage. Todeskandidaten gestehen routinemäßig erfundene Straftaten, in der Hoffnung, genügend Interesse zu wecken, um einen Aufschub der Exekution zu erreichen. Die Polizei kennt diese Taktiken und braucht schon etwas Gehaltvolleres als sein Wort, um die Aussage ernst zu nehmen.“

„Wäre der Brief meiner Mutter überzeugend genug?“

Sie hörte Dennis seufzen und ahnte, was nun kam. „Dieser Brief ist ein belastendes Beweisstück, Abbie. Selbst wenn deine Mutter leugnet, jemals vorgehabt zu haben, ihren Mann zu töten, wird die Anklage ihn als Beweis gelten lassen, dass deine Mutter nicht nur den Gedanken hatte, deinen Stiefvater umzubringen, sondern auch verzweifelt genug war, die Tat begehen zu können.“

„Soll das heißen, es könnte tatsächlich zum Prozess kommen?“

„Ich fürchte, ja. Der Brief, zusammen mit Kramers detaillierten, belastenden Aussagen gegen Irene, wird einem Anklagevertreter ausreichen, eine Anklage vor dem Geschworenengericht zu erreichen.“

„Und was ist mit Earls ach so praktischen Gedächtnislücken? Er scheint sich an alles zu erinnern, außer an den Namen der Zeitung, in der meine Mutter angeblich inserierte, und an das Datum oder den Wortlaut der Anzeige. Beweist das nicht, dass er lügt?“

„Nicht unbedingt. Das sind kleine Details, und achtundzwanzig Jahre sind eine lange Zeit.“

Dies war nicht die erhoffte Antwort, doch es gab einen weiteren Aspekt, über den sie noch nicht gesprochen hatten. „Also gut, nehmen wir den schlimmsten Fall an. Meine Mutter wird angeklagt. Was ist mit ihrer Erkrankung? Würde die Alzheimerkrankheit einen Strafprozess ausschließen?“

„Ob deine Mutter in der geistigen Verfassung ist, dem Prozess zu folgen, wird nach einer Kompetenzanhörung vom Gericht festgestellt. Irene wird sich einer mentalen Prüfung unterziehen müssen, die von staatlichen Ärzten durchgeführt wird. Sie werden feststellen, ob sie in der Lage ist, die gegen sie vorgebrachte Anklage zu verstehen. Beim rechtlichen Standard für die mentale Kompetenz zur Prozessfähigkeit geht es nicht darum, ob Alzheimer dein Gedächtnis beeinträchtigt hat, sondern ob du in der Lage bist, die Schwere der gegen dich vorgebrachten Anschuldigungen zu verstehen. Wenn ich mich recht entsinne, hatte deine Mutter bei unserem letzten Gespräch Alzheimer im Frühstadium.“

„Das ist immer noch so“, bestätigte sie und ahnte, auf was er hinauswollte.

„Also ist sie aufnahmefähig und die meiste Zeit geistesgegenwärtig?“

Sie spürte ihre Hoffnung schwinden. „Ja.“

„Du erkennst das Problem, nicht wahr?“

Abbie lehnte sich gegen den Tresen, während vor ihrem inneren Auge Bilder vorbeizogen, wie Irene von der Polizei verhört und dann wegen Mordes angeklagt wurde. Das wunderbar friedliche Leben ihrer Mutter wäre für immer zerstört. Ihre Tage würden nur noch aus Anschuldigungen, reißerischen Schlagzeilen, Demütigungen und Angst bestehen. Wenn all das sie nicht umbrächte, dann mit Sicherheit eine Gefängnisstrafe.

„Abbie?“ fragte Dennis besorgt.

„Ja, ich habe dich gehört. Ich versuche …“ Sie spürte, wie ihre Stimme brach und verstummte.

„Tut mir Leid. Ich wünschte, ich hätte Ermutigenderes für dich.“

„Ich auch.“

„Hast du noch Fragen? Muss noch etwas geklärt werden?“

„Nein. Du hast dich schmerzhaft deutlich ausgedrückt.“

„Tut mir Leid“, wiederholte er, und sie wusste, dass er es aufrichtig meinte. „Bitte ruf mich an, wenn du weitere Hilfe brauchst, ja?“ fügte er hinzu. „Die Vertraulichkeit zwischen Anwalt und Klient ist dir garantiert.“

„Mach’ ich.“

10. KAPITEL

Abbie saß allein am Küchentisch, und ihre morgendliche Tasse Kaffee war inzwischen kalt geworden. Obwohl ein frischer Wind die Wolken vertrieben hatte und der Himmel über Princeton strahlte, hob sich ihre Stimmung nicht. Sie hatte eine unruhige Nacht verbracht. Das Telefonat mit Claudias Bruder hatte sie depressiver gemacht, als sie es vorher gewesen war. Außer zur Polizei zu gehen, wie Claudia vorgeschlagen hatte, und darauf zu hoffen, dass die Wahrheit siegte, sah sie keinen Ausweg aus dieser Misere.

Was war überhaupt die Wahrheit? Alles, was sie sicher wusste, war, dass Irene während ihrer zweijährigen Ehe mit Patrick McGregor eine sehr unglückliche Frau gewesen war. Selbst heute noch konnte sie sich genau an die heftigen Streitereien der beiden erinnern. Unter der Bettdecke verborgen, hatte sie gebetet, das Schreien möge aufhören und ihr Stiefvater solle so werden, wie ihr leiblicher Vater gewesen war: freundlich, fürsorglich und immer zu einem Spaß aufgelegt. Abbie hatte ihren Dad geliebt und sein Aussehen, seinen Geruch und sein Lachen gemocht. Wenn sie die Augen schloss, erinnerte sie sich, wie er sie vom Boden aufgehoben und auf seine Schultern gesetzt hatte, damit sie die Erntedankparade sehen konnte. Sie dachte an den Spaß an ihrem fünften Geburtstag, als sie Dreirad fahren gelernt hatte. Dad war neben ihr hergerannt und hatte sie angefeuert.

Dann war ein schrecklicher Unfall auf der Baustelle passiert, der Joe DiAngelo und drei Arbeiter das Leben kostete. Danach war alles anders geworden.

Abbie warf ihrer Mutter nicht vor, dass sie wieder geheiratet hatte. Sie war erst sechsunddreißig gewesen, ohne Arbeitserfahrung und nicht in der Lage, ihre Tochter allein durchzubringen. Als ein Freund ihr Patrick McGregor, einen Witwer und erfolgreichen Geschäftsmann, vorstellte, hatte Irene keine Chance gehabt. Bei der ersten Verabredung hatte Patrick ihr von seinem großen Haus an der El Camino Lane erzählt und von seinen zwei fabelhaften Kindern, die tapfer versuchten, mit dem Tod der Mutter fertig zu werden.

Es hatte nicht lange gedauert, und Irene war dem Charme des Iren und seinem guten Aussehen erlegen. Ein paar Wochen später hatten sie geheiratet, und Abbie bekam zwei neue Geschwister. Allerdings waren Ian und Liz eher Teufelsbraten und nicht die fabelhaften Kids, die Patrick beschrieben hatte.

Die Wahrheit über Patricks Trunksucht kam erst weitere Wochen später heraus. Zunächst war es harmlos erschienen. Andere Männer entspannten sich nach der Tagesarbeit, indem sie den Sportteil der Zeitung lasen, die Nachrichten hörten oder mit ihren Kindern spielten. Patrick trank.

Bald entwickelte sich die abendliche Angewohnheit jedoch zu einem Problem, das Irene nicht eindämmen konnte. Es kam immer häufiger zu Streitereien, die so heftig wurden, dass Irene daran dachte, ihren Mann zu verlassen. Eines Abends hatte Abbie ihre Mutter mit dem Großvater in Kansas telefonieren und über die Trinkerei ihres Mannes reden hören. Unglücklicherweise hatte auch Patrick mitgehört und wurde so wütend, dass ein Nachbar klingelte und sie aufforderte, leiser zu sein, da er ansonsten die Polizei holen würde.

Ian hatte Recht. Falls die Behörden ihre ehemaligen Nachbarn befragten, fänden sie reichlich Verdachtsmomente für ein Verbrechen.

Was konnte sie also tun? Abbie unterdrückte einen Seufzer der Hoffnungslosigkeit. Sie besaß keine hunderttausend Dollar, die sie Ian geben konnte. Und selbst wenn, wäre es klug, einer Erpressung nachzugeben? Vielleicht genügte ihm das Geld nicht. Was, wenn Ian in einem Jahr wiederkäme und mehr wollte?

Bei dem bloßen Gedanken wurde ihr flau im Magen. Bisher war ihr Leben sehr geradlinig verlaufen. Die Werte, nach denen sie lebte, versuchte sie auch an ihren Sohn weiterzugeben – Integrität, Respekt, Rücksichtnahme, Ehrlichkeit und Selbstachtung.

Wenn Irene im Vollbesitz ihrer Kräfte wäre, wüsste Abbie genau, was sie sagen würde: „Wir kämpfen, Liebes. Wahrheit gegen Lüge, Gut gegen Böse. Wir werden siegen, du wirst sehen.“

Aber ihre Mutter war nicht mehr auf der Höhe, und die Intrige, die sie in besseren Zeiten bekämpft hätte, könnte sie jetzt ruinieren.

Es sei denn, sie, Abbie, verhinderte es.

Nachdem sie lange in ihren Becher gestarrt hatte, als läge die Antwort darin verborgen, stand sie auf und trug den kalten Kaffee zum Spülbecken. Trotz des inneren Aufruhrs waren ihre Hände bemerkenswert ruhig. Das war gut, denn bis dieser Albtraum vorüber wäre, brauchte sie Nerven aus Stahl.

„Ich lasse nicht zu, dass dir etwas geschieht, Mom“, raunte sie und goss den Kaffee in den Ausguss. „Ich verspreche es.“

Mit langen, energischen Schritten marschierte Abbie auf die Princeton National Bank an der Nordseite des Palmer Square zu. Die Entscheidung, sich hunderttausend Dollar zu leihen, war ihr nicht leicht gefallen. Obwohl das Restaurant inzwischen Gewinn abwarf, bedeutete ein zusätzliches Darlehen zu diesem Zeitpunkt, dass sie ihre Einnahmen erhöhen musste. Das schaffte sie nur, indem sie das Campagne auch sonntags öffnete, wenigstens zur Dinnerzeit.

Das Darlehen zu bekommen sollte kein Problem sein. Den zuständigen Abteilungsleiter, Ron Meltzer, betrachtete sie als Freund. Er hatte sich dafür eingesetzt, dass ihr die vorherigen zwei Darlehen bewilligt wurden, und sie vertraute darauf, dass er ihr auch diesmal half. Warum sollte er nicht? Sie war stets pünktlich mit ihren Zahlungen, hatte alle Konten bei seiner Bank, und angesichts der wachsenden Popularität des Campagne konnte man sie nur als ausgezeichnete Investition bezeichnen. Der wunde Punkt war, dass sie Ron wegen des Darlehensgrundes belügen musste.

Nach kurzem Zögern drückte sie die Glastüren auf und entdeckte Ron an seinem Schreibtisch im hinteren Teil des Raumes.

„Abbie!“ Ron Meltzer, ein großer, fast knochiger Mann mit randloser Brille, kam freundlich lächelnd hinter seinem Schreibtisch hervor und ging ihr mit ausgestreckten Händen den halben Weg entgegen. „Was für eine schöne Überraschung.“ Er gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Sonst bekomme ich Sie immer nur zu Gesicht, wenn Lori und ich zum Dinner ins Campagne gehen.“ Er wartete, bis sie vor seinem Schreibtisch Platz genommen hatte, ehe er zu seinem Sessel zurückkehrte. „Und das ist nicht so oft, wie ich es gerne hätte.“

„Danke, Ron, nett, dass Sie das sagen.“

„Also?“ Er verschränkte die Arme und setzte seine ernsthafte Bankiersmiene auf. „Wie kann ich Ihnen heute helfen, Abbie?“

Sie räusperte sich leicht nervös. „Ich brauche ein Darlehen, Ron. Ein ziemlich großes.“

Er lehnte sich im Sessel zurück. „Wie groß?“

„Einhunderttausend Dollar.“

Ron hob eine Braue. „Haben Sie sich entschlossen, das Restaurant zu vergrößern? Sie erwähnten so etwas, als ich das letzte Mal mit Lori bei Ihnen war.“

„Nein.“ Abbie rutschte auf dem Stuhl hin und her. „Eigentlich brauche ich das Geld, um das Haus meiner Mutter umzubauen.“

Diesmal zog er beide Brauen hoch. „Das Haus in Kingston?“

Abbie nickte.

„Welche Umbauten schweben Ihnen denn da vor?“

„Nun ja …“ Sie befeuchtete sich die Lippen. „Wie Sie wissen, hat meine Mutter Alzheimer. Außerdem leidet sie unter Arthritis. Ich dachte, wenn wir unten ein Schlafzimmer und ein Bad einbauen, erleichtert es ihr das Leben.“ Verzeih mir, Mom, dass ich dich so benutze!

„Haben Sie das Haus schätzen lassen?“ fragte Ron.

Abbie begann sich unbehaglich zu fühlen. Das Gespräch lief nicht wie erwartet. „Nicht in letzter Zeit.“

„Nun, zufälligerweise sind mir die Häuser am Shaw Drive und ihr etwaiger Wert vertraut.“ Er schüttelte langsam den Kopf. „Die Verbesserungen, die Ihnen da vorschweben, machen das Haus Ihrer Mutter zum mit Abstand teuersten in der ganzen Gegend. Und wie Sie wissen, verschlechtert das die Chancen, es später zu verkaufen, ganz erheblich.“

„Meine Mutter hat nicht vor auszuziehen.“

„Vielleicht jetzt noch nicht, aber irgendwann wird sie es müssen, richtig?“

„Vermutlich.“

„Lassen wir den Wiederverkaufswert einen Moment außer Acht, und befassen wir uns mit einem anderen Problem – Ihrer Kreditwürdigkeit für ein weiteres Darlehen.“ Während er sprach, legte Ron die Finger bereits auf die Computertastatur. Sobald Abbies Konto erschien, drehte er den Monitor herum, damit sie lesen konnte, was dort stand.

„Wie Sie sehen, haben Sie bereits zwei große Darlehen laufen, eines für das Restaurant, das andere für das Haus. Und Sie erinnern sich bestimmt, dass ich bereits beim zweiten Darlehen einiges an Überredungskunst habe aufwenden müssen, um das Direktorium von der Notwendigkeit zu überzeugen.“

„Und ich habe Sie nicht im Stich gelassen“, sah Abbie sich genötigt zu betonen. „Ich habe jeden Monat pünktlich gezahlt.“

„Das haben Sie, in der Tat. Aber das zusätzliche Darlehen wäre eine große Belastung Ihres Budgets.“ Er schien aufrichtig zu bedauern. „Ich wünschte, ich könnte Ihnen helfen, Abbie. Sie arbeiten hart, und Sie sind ein bedeutendes Mitglied unserer Gemeinde, aber momentan einem so großen Darlehen zuzustimmen, wäre unklug. Ich rate Ihnen, lassen Sie das Haus Ihrer Mutter, wie es ist. Und wenn sie die Treppe nicht mehr schafft, was hoffentlich noch lange nicht der Fall sein wird, sollten Sie sie ermutigen, zu Ihnen zu ziehen oder in ein Heim zu gehen.“

Abbie schwieg. Was sollte sie auch sagen? Er hatte Recht. Sie hatte dieses Darlehen so dringend haben wollen, dass sie blind gewesen war gegenüber den möglichen Einwänden. Kaum zu einem höflichen Lächeln fähig, erhob sie sich, dankte Ron und eilte hinaus.

Ohne auf die drängelnden Menschen ringsum zu achten, ging Abbie langsam zu ihrem Restaurant zurück. Und nun? Ron hatte abgelehnt, und es anderswo zu versuchen war zwecklos. Man würde ihr überall dasselbe erzählen. Sie hatte ihren Kreditrahmen ausgeschöpft.

Sofern sie nicht eine Bank ausraubte, würde sie auf die Schnelle keine hunderttausend Dollar bekommen.

Sie konnte sich weigern, auf Ians Forderung einzugehen, und ihm erklären, dass man ihr kein Darlehen geben würde und sie deshalb auch kein Geld für ihn habe. Nicht einen Penny. Wenn er seine Drohung wahr machen wolle, müsse er das eben tun.

Aber konnte sie dieses Risiko eingehen?

Die Antwort lag auf der Hand. Sie war eben keine Spielerin. Nein, das stimmte nicht ganz, schließlich war sie mit dem eigenen Restaurant ein großes Risiko eingegangen. Aber das war ihr Fachgebiet, da kannte sie sich aus. Krisen ängstigten sie nicht. Und weder schwierige Gäste noch launische Angestellte. Mit den Hochs und Tiefs ihrer Branche konnte sie umgehen. Aber wie bluffte man erfolgreich einen Erpresser?

Doch sie weigerte sich, so schnell aufzugeben, und dachte weiter nach, bis sich in ihrer Verzweiflung eine Art Lösung abzeichnete. Sie konnte sich ihre Zero Bonds und die Bankanleihen auszahlen lassen. Das gäbe zwar einen Zinsabzug, doch insgesamt müsste sie auf knapp fünfzigtausend Dollar kommen. Dies war nur die Hälfte dessen, was Ian verlangte, doch wenn er so gierig war, wie sie vermutete, würde er vielleicht das Geld nehmen und abhauen.

Da sie wusste, wie ungeduldig ihr Stiefbruder war, hatte sie fast erwartet, ihn bei ihrer Rückkehr vor dem Restaurant anzutreffen. Doch er war nicht da. Stattdessen tauchte er während der Lunchzeit auf. Diesmal machte er seinen großen Auftritt durch die Hintertür und überraschte die Belegschaft, einschließlich Brady, der aussah, als würde er ihn am liebsten erwürgen.

Wortlos führte Abbie Ian in ihr Büro, schloss die Tür und lehnte sich dagegen. „Soll das eine Art Psychoterror werden, Ian? Jederzeit hier aufzutauchen und meine Arbeit und meine Belegschaft zu stören?“

„Ich nenne das eher meine Geldanlage beschützen.“ Er setzte sich hinter ihren Schreibtisch und lehnte sich im Sessel zurück. „Du hast also von Earl gehört?“

„Spar dir dein zufriedenes Grinsen. Der Kerl klingt total verlogen.“

„Aber er kann der lieben Mom eine Menge Ärger machen.“

Das stimmte allerdings. „Egal“, erwiderte sie ruhig. „Ich habe keine hunderttausend.“

Ian legte die Arme auf den Schreibtisch. „Was ist das für ein Mist? Du bist doch satt bis über beide Ohren.“

„Ich weiß nicht, wieso du das glaubst. Aber das Restaurant wirft erst seit ein paar Monaten Gewinn ab.“

„Das ist nicht mein Problem.“

„Lass mich ausreden!“ Sie fixierte ihn mit einem harten Blick, und zu ihrer Überraschung klappte Ian den Mund zu. „Ich habe dreißigtausend Dollar plus Zinsen für die Zero Bonds und eine Bankanleihe für dreizehntausend Dollar, die erst in drei Jahren fällig wäre.“ Ian sagte kein Wort. „Ich könnte mir alles auszahlen lassen“, fuhr sie in gebieterischem Ton fort. „Ich habe das überschlagen; es ergibt etwa achtundvierzigtausend Dollar.“

Sie sah, dass Ian zusammenzuckte.

„Nimm es, oder lass es.“ Sie entschuldigte sich nicht und bat auch nicht um Nachsicht. Beides wäre ohnehin zwecklos.

„Wie ist es mit einem Bankdarlehen?“ fragte er schließlich. „Du bist doch jemand in dieser Stadt. Du hast Ansehen und etwas in der Hinterhand.“

„Ich war heute Morgen auf der Bank. Sie haben das Darlehen abgelehnt. Mit dem Geschäftsdarlehen und der Hypothek auf dem Haus habe ich den Kreditrahmen ausgeschöpft.“

Abbie verschränkte die Arme, beobachtete ihren Stiefbruder und hatte ein perverses Vergnügen an seiner ungläubigen, enttäuschten Miene. Es tat gut, mal am längeren Hebel zu sitzen. Wie lange ihr Glück allerdings anhielt, blieb abzuwarten.

Als Ian wieder sprach, war sein Tonfall erstaunlich gedämpft. „Wie schnell kann ich das Geld bekommen?“

Fast hätte sie erleichtert geseufzt. Auf keinen Fall sollte er merken, wie viel Angst sie ausgestanden hatte, denn sonst lehnte er ihr Angebot vielleicht ab. „Das muss ich mit der Bank klären, aber vermutlich spätestens Freitagnachmittag.“

„Ich bin am Donnerstag um vier Uhr da.“

„Nein!“ Ihr scharfer Ton ließ ihn stutzen. „Du hast mir schon genügend Probleme bereitet, weil du hierher gekommen bist. Sag mir, wo du wohnst, und ich bringe dir das Geld.“

Er zögerte, als vermute er einen Trick dahinter.

„Keine Angst“, fügte sie hinzu, „im Gegensatz zu dir halte ich mein Wort. Wenn ich sage, ich bin mit dem Geld da, bin ich da. Aber halte den Brief meiner Mutter bereit, den echten.“

Er brauchte zwei, drei Sekunden für seine Antwort. „Ich wohne im Clearwater Motel, an der Route 27.“

Sie nickte. „Ich bin um halb vier dort. Wenn sich was ändert, rufe ich an.“

„Was soll sich ändern?“

„Ich weiß nicht“, erwiderte sie ungeduldig. „Meine Tagesplanung dreht sich nun mal nicht um dich, Ian. Probleme können immer auftauchen.“

Er stand auf und kam um den Schreibtisch herum. „Sieh zu, dass es klappt.“

11. KAPITEL

Ian glitt hinter das Steuer von Rose’ Oldsmobile und sah auf die Uhr im Armaturenbrett. Verdammt, wieder zu spät. Wie angekündigt, hatte Rose damit begonnen, auf der Suche nach einem Job die Runde durch die örtlichen Schönheitssalons zu machen. Sie hatte ihn gebeten, den Wagen gegen eins zurückzubringen. Nun ja, sollte sie schmoren. Ihm war das völlig egal. Sein Superdeal war nur noch die Hälfte wert, und er hatte keine Ahnung, wie er das ändern konnte.

Noch weniger als die Hälfte des Erwarteten zu bekommen war eine Riesenenttäuschung. Zuerst hatte er Abbie nicht geglaubt. Achtundvierzig Riesen, das konnte nur Beschiss sein. Aber je mehr er darüber nachdachte, desto glaubwürdiger wurde Abbies Geschichte. Dank Restaurant und Haus war sie knapp bei Kasse.

Achtundvierzigtausend Dollar waren allerdings immer noch eine Menge Geld. Mehr als er je im Leben besessen hatte. Und da er nicht vorhatte, es mit Earl zu teilen, gehörte alles ihm. Aber sein Pech hörte damit nicht auf. Vorhin hatte er von Marie, Rose’ Cousine in Toledo, erfahren, dass Arturo Garcia bei ihr aufgetaucht war, ihr ein Messer an die Kehle gehalten hatte und wissen wollte, wo er, Ian, steckte. Die ängstliche Marie hatte behauptet, keine andere Wahl gehabt zu haben, als es ihm zu sagen.

Ian hatte sich vor Angst fast in die Hosen gemacht. Da Arturo nun wusste, dass er in Princeton war, würde er jedes verdammte Hotel abklappern, bis er ihn gefunden hatte.

Die Vernunft riet ihm, sich schleunigst aus dem Staub zu machen. Bis Freitag zu bleiben war ungesund. Andererseits, wie weit kam man mit neunundfünfzig Dollar? Er zog das Geld aus der Hosentasche und zählte es erneut. Es hatte sich über Nacht nicht vermehrt. Sooft er auch zählte, es blieben stinkige neunundfünfzig Mäuse. Selbst wenn Rose heute eine Stelle fand, bekam sie erst nächste Woche einen Lohnscheck.

Wie immer, wenn er pleite war und schnell Geld brauchte, dachte er an seine Schwester Liz. Genau wie Rose hatte sie ihm schon früher aus der Patsche geholfen. Aber Liz war unberechenbar und verdammt kritisch. Dieser eiskalte Blick, mit dem sie ihn jedes Mal ansah, wenn er um Geld bat, gab ihm das Gefühl, ein Bettler zu sein. Leider war sie im Augenblick seine einzige Rettung. Vielleicht sollte er seinen Stolz schlucken, eine Rückfahrkarte nach New York kaufen und sie besuchen.

Entweder das oder bis Freitag hungern.

Da sie sich beim Fahren abgewechselt und nur angehalten hatten, um etwas zu essen und zu duschen, hatten Arturo und Tony die tausendachthundert Meilen von El Paso nach Toledo in neununddreißig Stunden zurückgelegt. In Toledo hatte Arturo rasch Rose Paninis Cousine ausfindig gemacht und herausgefunden, dass Ian und seine Freundin am zweiten Juni nach Princeton, New Jersey, gefahren waren. Obwohl Marie Panini panische Angst gehabt hatte, konnte sie Arturo nicht mehr sagen. Rose hatte keine Nachsendeadresse hinterlassen, und Marie hatte nichts von ihr gehört. Arturo war jedoch guten Mutes. Er brauchte nur den Namen der Stadt. Der Rest war einfach.

So weit von zu Hause entfernt einen Platz zum Übernachten zu finden, wäre für die meisten Menschen ein Problem gewesen; nicht so für Arturo, der in der Hälfte der Staaten seine Verbindungen hatte. Nach ein paar Anrufen stellte ein Freund den Kontakt zu Enrique Soledad her. Enrique besaß an der Südseite von Trenton eine Autowerkstatt und vermietete gelegentlich das kleine Apartment darüber. Wie Tony aus dem Telefonat zwischen Arturo und dem Mechaniker schloss, war Enrique nicht gerade wild darauf, zwei Fremde aufzunehmen. Doch nach ein bisschen Überredung ließ er sie gratis einziehen, vorausgesetzt, sie verschwänden, ehe in zwei Wochen der nächste Mieter einzog.

Als sie die Grenze zwischen Pennsylvania und New Jersey überfuhren, unternahm Tony einen letzten Versuch, Arturo zur Umkehr zu bewegen.

„Er kann dir sowieso nichts zurückzahlen“, stellte Tony fest. „Du hast Rose’ Cousine gehört. Der Mann ist pleite.“

„Ich kenne einen Kredithai in der Bronx.“ Arturo schenkte Tony ein böses Lächeln. „Den werde ich McGregor mit Freuden empfehlen.“

„Und wie soll er den Kredithai bezahlen?“

„Das ist nicht mein Problem, kleiner Bruder.“

Tony wusste nur zu gut, was mit Leuten geschah, die Kredithaien Geld schuldig blieben. Aber vielleicht hatte Arturo Recht. Das war nicht ihr Problem. Falls McGregor dumm genug war, sich darauf einzulassen, musste er auch die Konsequenzen tragen.

Um fünf am Mittwochnachmittag erreichten sie Trenton und fanden mühelos die Werkstatt. Wie Tony erwartet hatte, fiel Enriques Begrüßung nur ein Grad wärmer als frostig aus. Als Arturo ihm jedoch eine Flasche Johnny Walker Black – Enriques Lieblingsmarke – überreichte, war er sogleich milder gestimmt. Eine halbe Stunde später, die Mägen brennend vom Whiskey, stiegen die drei zum Apartment über der Garage hinauf. Es war klein, aber sauber und hatte sogar einen funktionierenden Fernseher, was Arturo beglückte.

„Ruft an, wenn ihr was braucht“, sagte Enrique, ehe er ging. „Nach Dienstschluss werden alle Anrufe in die Werkstatt automatisch in mein Haus umgeleitet. Falls ich nicht da bin, wird mein Großvater die Nachricht annehmen.“

Sobald Enrique gegangen war, verschwendete Arturo keine Minute mehr. Er holte das Telefonbuch von Mercer County aus dem Regal, setzte sich und begann mit Tonys Handy die Motels der Region anzurufen.

12. KAPITEL

Kurz nach fünf stieg Ian an der New York Port Authority aus dem Bus. Die Straßen des Big Apple waren voller eiliger Pendler, die sich auf dem Heimweg befanden. Eine tolle Stadt, um sich zu verlaufen, dachte er, als er sich der Menge der Fußgänger anschloss. In diesem Gewühl würde Arturo ihn niemals finden. Da der riesige Kerl eine wirkliche Bedrohung darstellte, überlegte er, ob er nicht hierher umziehen sollte. Liz ließ ihn vielleicht sogar in ihrem Apartment pennen, bis er was Eigenes gefunden hatte. Er brauchte nicht viel, eine Couch, eine Dusche und ein Sechserpack.

Die Manhattan Towers waren ein zweiundsiebzigstöckiges Hotel, in dem – nach der überfüllten Lounge am Ende der Lobby zu urteilen – hauptsächlich Geschäftsmänner und -frauen abstiegen. Dass es mitten in der Woche war, schien die New Yorker nicht von ihrem liebsten Zeitvertreib abzuhalten – Geschäfte über eisgekühlten Martinis abzuschließen.

Nach ein paar Minuten Wartezeit fand Ian einen Tisch, bestellte ein Bier und beobachtete seine Schwester. Sie servierte die Drinks an der Bar mit einem Lächeln, das die Antarktis zum Schmelzen gebracht hätte.

Er musste zugeben, dass sie wesentlich besser aussah als bei ihrer letzten Begegnung. Sie hatte endlich die lästigen fünfzehn Pfund verloren, und obwohl sie nicht mehr die Kleidergröße trug wie in ihrer Jugend, wirkte sie schlank und fit. In der engen schwarzen Hose und dem knappen weißen Hemd sah sie sogar sexy aus. Das blonde Haar trug sie glatt und gerade geschnitten, so dass die hässliche Narbe auf der rechten Wange verdeckt wurde. Warum sie das verdammte Ding nicht hatte wegmachen lassen, obwohl ihr reicher Ehemann, ein Ex-Rockstar, sich die Operation hätte leisten können, verstand er allerdings nicht.

Sie war kaum geschminkt, nur ein wenig Rouge und ein Hauch Lippenstift. Das machte sie jünger als fünfundvierzig. Make-up hatte sie ohnehin nie nötig gehabt. Sie gehörte zu den wenigen glücklichen Frauen, die beim Aufwachen schon toll aussahen und im Verlauf des Tages immer hübscher wurden. Deshalb war sie in der Schule auch von allen Jungs umschwärmt worden.

Er beobachtete sie weiter, schlürfte den Trail Mix, den ihm die Kellnerin gebracht hatte, und fragte sich, wie Liz reagieren würde, weil er wieder Geld brauchte. Wie er sie kannte, würde sie ihm wahrscheinlich ins Gesicht lachen und ihn an die vielen Male erinnern, da sie ihm etwas geborgt und es nie zurückbekommen hatte.

Aber vielleicht überraschte sie ihn auch. Liz war ein komischer Vogel, eine Einzelgängerin, die wenig redete und sich nie beklagte. Nicht mal, als ihr Vater Irene DiAngelo geheiratet hatte. Er hatte daran einiges auszusetzen gehabt, doch Liz, auch nicht gerade erfreut, hatte die Dinge genommen, wie sie kamen. Sie war einfach nicht der Typ, sich über so etwas aufzuregen.

An ihrem achtzehnten Geburtstag hatte sie ihren Anteil am Rest vom väterlichen Erbe eingesackt und war nach New York City abgehauen. Dort hatte sie Jude Tilly kennen gelernt und geheiratet. Er war der Leadsänger einer Band, die damals so populär war, dass alle fünf Mitglieder in kürzester Zeit Millionäre wurden. Liz und Jude hatten eine Weile das typische Jetsetleben geführt, flogen um die Welt, gaben Feste in ihrem Penthouse in Manhattan und warfen das Geld zum Fenster hinaus.

Dann brach die Band eines Tages auseinander, und Judes Traum, als Solist an der Spitze der Hitlisten zu bleiben, zerplatzte. Dies traf ihn so schwer, dass er zu trinken begann und Drogen nahm. Nach ein paar Jahren war er pleite. Liz, die verzweifelt versuchte, ihren Mann wieder auf den rechten Weg zu führen, entschied, dass ein Baby genau das Richtige für ihn wäre. Dann folgte eine weitere Hiobsbotschaft. Sie konnte keine Kinder bekommen.

Anstatt seine Frau zu trösten, fand Jude es jedoch an der Zeit, die Scheidung einzureichen. Nach zehn gemeinsamen Jahren und mehr Kränkungen, als sie verdiente, war ein Sommerhaus im Hinterland des Staates New York das Einzige, was Liz von ihrem berühmten Ehemann blieb. Oder lag es in den Berkshires? Ian war nicht sicher. Man hatte ihn nie dorthin eingeladen.

Da Liz nicht mehr auf Jude aufpasste, geriet sein Leben völlig außer Kontrolle. Drei Monate nach der Scheidung starb er an einer Überdosis.

Eine Weile war sie untröstlich gewesen, doch schließlich gewann der Überlebenswille die Oberhand, und sie nahm ihr Leben wieder auf.

Als er ihr jetzt zuschaute, wie sie mixte, schüttelte und einschenkte, hätte er geschworen, dass sie ihr Leben lang nichts anderes gemacht hatte. Aber warum überraschte ihn das? Liz war der Typ von Frau, der alles konnte, wenn er es nur wollte.

Und da sie so gut war, schwamm sie wahrscheinlich geradezu in Trinkgeldern.

Er nahm noch einen Schluck Bier, holte einen Zettel aus der Tasche, schrieb eine kurze Notiz und winkte der Kellnerin.

„Noch ein Bier, Sir?“ fragte sie.

„Noch nicht.“ Er gab ihr den Zettel und lächelte charmant. „Tun Sie mir einen Gefallen, Süße? Geben Sie den Zettel der Bardame.“ Als sie zögerte, reichte er ihr fünf Dollar. Das war ein bisschen zu großzügig, aber wie hieß es so schön? Um Geld zu verdienen, muss man Geld ausgeben.

Er sah zu, wie die Kellnerin Liz den Zettel gab und in seine Richtung deutete. Seine Schwester zeigte keine Reaktion, als sie ihn entdeckte. Kein Zeichen des Erkennens oder der Verärgerung. Stattdessen steckte sie den Zettel in die Hemdtasche und nahm die nächste Bestellung entgegen.

Er musste eine Stunde warten, bis sie von einem Barmann abgelöst wurde und mit einer Flasche Mineralwasser und einem Glas an seinen Tisch kam.

„Was machst du hier?“ fragte sie und setzte sich ihm gegenüber hin.

„Hallo, Ian“, erwiderte er, „schön, dich zu sehen. Du siehst gut aus.“

Sie ignorierte seinen Sarkasmus, schenkte die halbe Flasche Wasser in ihr Glas und trank durstig. „Wann bist du aus dem Gefängnis gekommen?“

„Vor ein paar Wochen.“ Er sah sich um. „Netter Schuppen. Nicht wie diese Gruft, in der du vor ein paar Jahren gearbeitet hast.“

„Freut mich, dass es dir gefällt.“

„He, ich freue mich nur, dass es dir so gut geht.“

„Worauf ich wette.“ Sie trank noch einen Schluck. „Wie viel willst du diesmal?“

„Warum denkst du immer, ich will etwas von dir? Weshalb kann ich nicht einfach hergekommen sein, um meine Schwester zu besuchen? Du weißt, wie lange es her ist, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben?“

„Drei Jahre. Ich glaube, du kamst in mein Apartment, um dir zweitausend Dollar zu borgen – zu borgen“, betonte sie. „Oder war das damals, als du dir dreitausend geborgt hast mit dem Versprechen, das Geld innerhalb von Wochen zu verdoppeln?“

„He, der Deal ist schief gegangen, auch für mich. Ich habe dabei wesentlich mehr verloren als du.“

Sie nippte weiter desinteressiert an ihrem Wasser.

„Aber ich brauche wirklich Geld, Schwesterherz. Nicht viel, nur genug, um mich über die nächsten Tage zu bringen.“

„Hast du schon mal versucht, Geld mit Arbeit zu verdienen, wie der Rest von uns?“

Er spürte eine Strafpredigt nahen und wappnete sich. Alles hatte seinen Preis. „Seit ich in New Jersey bin, suche ich dauernd nach Arbeit“, log er. „Das Problem ist, niemand will einem Exknacki einen Job geben.“

„Oder du versuchst es nicht ernsthaft genug.“

„Hör mal“, schnauzte er zurück, ein wenig angesäuert durch ihre hochnäsige Art. „Du hast nie in meinen Schuhen gesteckt, okay? Und deshalb hast du keine Ahnung, wie es ist, ein Ausgestoßener zu sein.“

Sie blickte in ihr Glas. Ein schwaches Lächeln umspielte ihren Mund, als amüsiere sie sich insgeheim über einen guten Witz. Dann verstand er. Sie musste sich ständig wie eine Ausgestoßene gefühlt haben mit dieser Narbe auf der Wange. Aber verdammt, das Ding zu behalten war doch ihre eigene Entscheidung gewesen.

Nach einer kleinen Ewigkeit blickte sie auf. „Warum New Jersey?“

„Weil es hier eine Chance gibt, die ich nicht ungenutzt lassen kann.“

„Woher hast du das Geld für die Reise?“

„Rose Panini.“

Liz lachte. „Die Ärmste ist immer noch in dich vernarrt? Nach allem, was du ihr angetan hast?“ Sie schüttelte den Kopf. „Die muss verrückt sein.“

„Sie liebt mich. Ist das so schwer zu begreifen?“

„Ja. Aber das ist nur meine Meinung.“

Er ließ ihr die Bemerkung durchgehen. Liz gegen sich aufzubringen würde ihm nicht weiterhelfen. „Ich weiß, dass ich einige Dummheiten im Leben gemacht habe, aber die sechzehn Monate in Allen haben mich verändert. Mein Gott, Liz, du kannst dir nicht vorstellen, wie schrecklich das war.“ Seiner Meinung nach konnte ein bisschen Übertreibung nicht schaden. „Du hörst davon, du liest darüber, doch wenn du wirklich in dieser Hölle steckst, ist es schlimmer, als du dir vorgestellt hast. Eine Weile war ich sogar in Therapie. Das hast du sicher nicht gewusst.“

Sie hob das Glas an ihre Lippen. „Nein, du wirkst so bodenständig.“

„Spotte ruhig. Das macht mir nichts. Ich werde nicht mehr wütend.“

„Als Nächstes erzählst du mir, du bist ein veränderter Mensch.“

„Bin ich. Frag Rose.“ Er sah sich wieder um und senkte die Stimme. „Ich ziehe neue Seiten auf.“

„Beweise es.“

Mein Gott, er hatte vergessen, was für ein überhebliches Luder sie sein konnte. „Ich will mein eigenes Geschäft eröffnen.“

„Was für eins?“

„Das weiß ich noch nicht.“

Liz stellte ihr Glas ab. „Wenn du dir einbildest, ich finanziere ein neues Unternehmen, vergiss es. Die Bank ist geschlossen, Freundchen. Auf Dauer.“

Er schüttelte den Kopf. „Nein, das Geschäft ist finanziert. Was ich von dir brauche, sind vier- oder fünfhundert Eier, bis der Deal durch ist.“

„Ach ja, wieder einer deiner Deals.“

„Guck nicht so skeptisch. Ich werde echtes Geld machen. Willst du nicht wissen, wie?“

„Also gut, ich gebe zu, ich bin neugierig. Was ist es diesmal? Verkaufst du Tickets für eine Reise zum Mond? Oder hast du irgendwo eine Goldmine entdeckt und suchst Investoren? Also los, Ian, sag’s mir, wer ist das nächste Opfer?“

Er lehnte sich zurück und freute sich auf den Ausdruck in ihrem Gesicht. „Abbie DiAngelo.“

Ihr herablassendes Lächeln schwand. „Irenes Tochter?“

„Kennst du eine andere Abbie DiAngelo?“

„Wo steckt sie?“

„Princeton, New Jersey. Sie besitzt dort ein schickes Restaurant, und es geht ihr ziemlich gut.“ Er schnaubte verächtlich. „Wenn man sie allerdings reden hört, schafft sie es kaum, sich nach der Decke zu strecken.“

„Und die gibt dir Geld, damit du dein eigenes Geschäft aufmachen kannst?“ Liz lachte. „Nun mach mal halblang.“

„Sie wird mir das Geld geben“, sagte Ian mit leiser Stimme, „weil ihr keine andere Wahl bleibt. Ich weiß etwas über Irene, das sie ruinieren kann.“

„Was brabbelst du da?“

Endlich hatte er ihre Aufmerksamkeit. Gut. Jetzt musste er nur noch so überzeugend sein, wie er es bei Abbie gewesen war. „Irene hat unseren Vater umgebracht“, erklärte er ruhig.

Liz’ Miene versteinerte sich. „Wie bitte?“

Er wiederholte fast wortwörtlich, was er auch Abbie erzählt hatte. Und es sei pures Glück gewesen, dass sein alter Freund Earl Kramer Abbies Fernsehinterview gesehen habe.

Liz lauschte mit angespannter Miene und befeuchtete sich gelegentlich mit der Zungenspitze die Lippen. Er sah, dass seine Eröffnung sie hart getroffen hatte. Als er fertig war, senkte sie den Blick ins Glas, das sie mit beiden Händen hielt.

„Warum hast du mir nie was von dem Brief erzählt?“ fragte sie schließlich.

„Ich hatte ihn ganz vergessen“, erwiderte er wahrheitsgemäß. „Als Earl dann anrief, wurde mir klar, dass der Brief den Fall untermauert.“

Doch Liz schüttelte den Kopf. „Tut er nicht. Jeder weiß, dass Dad mit seiner ekelhaften Angewohnheit, im Bett zu rauchen, seinen Tod selbst verschuldet hat. Es ist ein Wunder, dass er das Haus nicht schon früher abgefackelt hat.“

„So ist es nicht gewesen.“

„Woher willst du wissen, dass dein Freund die Geschichte nicht erfunden hat?“

„Weil ich Earl kenne.“

„Und er ist bereit, die Tat zu gestehen?“

„Wenn es so weit kommt, ja. Aber das wird es nicht.“

Mit leerem Ausdruck starrte Liz in die Ferne. „Irene“, sagte sie ruhig, als ob sie mit sich selbst sprechen würde. „Die liebe Irene. Wer hätte das gedacht?“

„Ich. Unter all ihrer Freundlichkeit war diese Frau ein Luder. Das habe ich immer gewusst. Du doch auch, oder?“

Liz drehte spielerisch ihr Glas auf dem Tisch. Er sah, dass sie immer noch skeptisch war. „Du und dein Freund, ihr seid Kriminelle“, sagte sie wie als Antwort auf seine Gedanken. „Irene DiAngelo ist eine ehrbare Frau. Was glaubst du wohl, wem die Bullen glauben, wenn sie die Anschuldigungen bestreitet? Zwei Knackis oder der heiligen Irene?“

„Das ist ja das Schöne, Liz, Irene kann die Anschuldigungen nicht bestreiten. Sie ist loco.“

„Was?“

„Die alte Dame fällt langsam auseinander.“ Er machte eine Pause, ehe er die Bombe platzen ließ. „Sie hat Alzheimer.“

Liz goss sich den Rest Mineralwasser ein. „Wie ich sehe, hast du dich nicht verändert. Du hast immer noch die Moral eines Straßenkaters.“

„Und du bist ein wahres Tugendschaf, was?“

„Nein, aber ich würde nie die Krankheit eines Menschen ausnutzen.“

„Nun ja, dann sind wir in dieser Hinsicht wohl verschieden.“

„Du wirst wieder im Gefängnis landen, Ian.“

„Wie kommst du darauf?“

„Und wenn Abbie dich nun anzeigt?“

„Wird sie nicht. Der Brief hat sie richtig erschüttert. Sie wird ihrer Mutter den Albtraum einer Anklage nicht antun wollen. Und ihrem Sohn auch nicht.“

Liz zog die schmalen blonden Brauen hoch. „Sie hat einen Sohn?“

„Er heißt Ben und ist neun. Verstehst du? Für sie steht zu viel auf dem Spiel. Deshalb gibt sie mir das Geld.“

Wieder verfiel Liz in Schweigen. Ian war nicht sicher, was sie dachte. Sie war so verdammt schwer zu durchschauen. „Warum tust du das?“ fragte sie plötzlich.

„Was?“

„Abbie erpressen?“

Er verdrehte die Augen. „Stellst du dich jetzt etwa auch gegen mich? Irene hat unseren Vater umgebracht. Verdammt, Liz, macht dich das nicht wütend, wie sie unser Leben ruiniert hat?“

„Falls du nur auf Rache aus bist, ruf die Polizei und zeig Irene an.“

„Rache reicht mir nicht. Ich will Entschädigung.“

„Also erpresst du Abbie.“

„He, ich bin nicht verrückt. Ich hätte gern Geld von Irene kassiert, aber die hat nichts.“ Er rückte auf den Stuhlrand vor. „Also hilfst du mir nun aus? Mit dem Geld, meine ich. Mein letzter Cent ist für die Buskarte nach hier draufgegangen. Rose bringt mich um.“

Seufzend blickte Liz auf ihre Uhr. „Ich habe um sieben Schluss. Bleib hier, und wir gehen zusammen zum Bankautomaten. Jetzt muss ich an die Arbeit zurück.“

Ian grinste und dachte bereits daran, wie er heute Abend mit Rose feiern würde. Ein schönes, saftiges Steak, eine Flasche Wein – die Sorte mit echtem Korken – und dann zusammen ab in die Koje.

Viel besser konnte das Leben nicht mehr werden.

13. KAPITEL

Ian war in Hochstimmung. Dank der Großzügigkeit seiner Schwester war er um fünfhundert Dollar reicher aus New York zurückgekehrt und würde in einer Stunde weitere achtundvierzigtausend einkassieren. Die Zeit der Knauserei war vorüber.

Leise summend stand er im Motelzimmer vor dem Spiegel und zog sich eine dichte graue Perücke zurecht, damit kein eigenes Haar darunter hervorsah. Die Verwandlung war unheimlich. Sogar seine eigene Mutter, Friede ihrer Seele, hätte ihn nicht erkannt. Auch Arturo Garcia würde ihn nicht erkennen, falls der Scheißkerl ihn fand. Ohnehin hatte sich die Wahrscheinlichkeit, entdeckt zu werden, in den letzten vierundzwanzig Stunden dank einer weiteren brillanten Idee beträchtlich vermindert. Er hatte den Motelportier bestochen. Zwinkernd und eine Fünfzigdollarnote zwischen zwei Fingern wedelnd, hatte er angedeutet, dass ein eifersüchtiger Ehemann hinter ihnen her sei. Der Mann hatte das Zwinkern erwidert, um sein Einverständnis zu zeigen, und das Geld eingesteckt.

Diese Verkleidung war nur eine zusätzliche Versicherung, falls Arturo auf der Suche nach ihm die Straßen von Princeton durchstreifen sollte.

Ian kicherte, freudig erregt wie seit Wochen nicht mehr. Sogar der kleine Rückschlag, dass er sich mit weniger Geld begnügen musste, schien ihm nicht mehr wichtig. Entscheidend war, hier wegzukommen und so viel Abstand wie möglich zwischen sich und Arturo zu bringen. New York City klang immer noch gut oder vielleicht L.A., möglicherweise auch Chicago. Sobald er sein Ziel erreicht hatte, würde er Rose ein wenig Geld schicken. Sie brauchte es eigentlich nicht, da sie schon einen Job gefunden hatte, doch er würde es aus Anstand tun. Eines Tages wäre sie ihm vielleicht wieder nützlich, obwohl er bezweifelte, dass sie ihm vergeben würde, wenn er sie diesmal sitzen ließ.

Leicht nervös sah er auf die Uhr. Abbie würde erst in gut einer Stunde kommen, und das Warten brachte ihn fast um. Hoffentlich ging von ihrer Seite aus nichts schief. Aber warum sollte es? Sie hatte ebenso viel zu verlieren wie er. Sie würde ihn nicht hereinlegen. Vielleicht sollte er anfangen zu packen. Beschäftigung beruhigte die Nerven.

Leise „Happy Days are here again“ pfeifend, ging er zum Schrank und machte eine rasche Inventur. Er besaß nicht viel, nur die paar Sachen, die Rose ihm vor der Abreise aus Toledo gekauft hatte, aber das würde sich bald ändern.

Er überlegte noch, ob er jetzt oder später packen sollte, als sich plötzlich ein kräftiger Arm um seinen Hals legte und ihm die Luft abschnitt.

„Willst du verreisen, amigo?“

Arturo! Ian fürchtete, dass sich seine Gedärme im nächsten Augenblick entleeren würden. Verzweifelt krallte er die Hand um den Arm des Mannes und versuchte, den stählernen Griff zu lockern. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch heraus kam nur ein ersticktes „arrg“.

Der Arm gab eine Spur nach. Das genügte Ian, um nach Luft zu schnappen.

„Was hast du gesagt, McGregor?“

„Bi… Bitte“, keuchte er. „Du … bringst mich um.“

„Und das soll mir das Herz brechen?“

Ian versuchte, sich aus dem Klammergriff zu lösen, wurde jedoch nur umso fester gehalten.

„Hör auf, dich zu winden, oder ich tue dir wirklich weh.“ Um seiner Drohung Nachdruck zu verleihen, stieß Arturo ihm das Knie in den Rücken, so dass Ian aufstöhnte. „Hältst du jetzt still?“

Ian nickte, die Augen geschlossen.

„Was ist das überhaupt für eine Aufmachung?“ Mit der Spitze eines hässlich aussehenden Messers angelte Arturo Ian die Perücke vom Kopf und ließ sie vor seinem Gesicht baumeln. „Wolltest du mich damit reinlegen? Oder mit der Hotelregistrierung unter dem Namen deiner Freundin? Verdammt, für was hältst du mich, McGregor? Für einen Idioten?“

Dieser verfluchte, hinterfotzige Portier!

Ian bekam wieder einen harten Stoß, diesmal in die Nieren, so dass er vor Schmerzen aufschrie. „Arturo, bitte!“ flehte er, sobald er wieder reden konnte. „Lass mich erklären.“

Mit einem Schütteln des Handgelenks ließ Arturo die Perücke zu Boden fallen und drückte Ian die Messerklinge an die Kehle. „Okay, erkläre. Du hast eine Minute.“

Ian überlegte fieberhaft, wie er diesen Gorilla dazu bringen konnte, loszulassen, damit er wegrennen konnte. Leider war er momentan nicht in einer besonders kreativen Stimmung.

„Ich … ich weiß, du bist sauer wegen … wegen dem, was in Toledo passiert ist. Aber das ist lange her, Mann.“ Die scharfe Spitze drückte sich tiefer in seine Haut. Etwas Warmes rann den Hals hinab. Großer Gott, er blutete. Der Bastard hatte ihn geschnitten. Ian hielt den Atem an aus Angst, die kleinste Bewegung könnte tödlich sein.

„Nicht lange genug, du elendes Stück Scheiße.“ Arturos Atem strich heiß über Ians Ohr. „Nicht lange genug, denn ich habe weder vergessen, wie du mich vor zehn Jahren verpfiffen hast, noch dass du mir dreißig Riesen geklaut hast.“

Ian leckte sich die Lippen. Vielleicht gab es eine vage Chance, dieser Todesfalle zu entkommen. „Arturo, hör mir zu … wegen dem Geld. Du kannst es zurückhaben, Mann. Jeden Penny.“

„Ja?“ Die Klinge bewegte sich nicht. „Wie?“

„Meine Schwester gibt mir ein Darlehen. Darum bin ich hier.“

„Liz?“

„Nein, nicht Liz. Abbie DiAngelo, meine Stiefschwester. Ihre Mutter war vor vielen Jahren mit meinem Dad verheiratet. Ihr gehört ein Restaurant hier in Princeton.“

„Willst du mich verarschen, McGregor? Ich weiß nichts von einer Stiefschwester.“

„Ich leg’ dich nicht rein, Mann, ich schwöre! Abbie gibt mir ein Darlehen, damit ich wieder auf die Beine komme. Achtundvierzig Riesen, du kannst alles haben.“

„Du schuldest mir hundert.“

„Hundert? Bist du verrückt? Ich hab dir nur dreißig geklaut, das hast du selbst gesagt.“

„Mit Zinsen einhundert. Und da gebe ich dir noch einen Bonus. Du weißt, wie hoch die Zinsen sind.“

„Also gut, okay. Ich beschaffe dir den Rest. Irgendwie.“

Der Griff um Ians Hals lockerte sich ein wenig mehr. „Wann kriegst du das Geld?“

Ian überlegte fieberhaft. Er musste diese Chance, lebend aus der Sache herauszukommen, nutzen. Wenn er es ganz cool anginge, könnte er sogar das Geld kassieren und damit abhauen. Aber hier im Hotel war nicht viel zu machen, da hatte Arturo eindeutig die Oberhand. Er musste ihn ins Freie locken.

„Heute Abend“, beantwortete er die Frage. „Um zehn. Nachdem Abbie das Restaurant geschlossen hat.“

„Kommt sie her?“

„Nein. Wir … treffen uns am Pier“, erwiderte er schnell und erinnerte sich, dass er gestern oder vorgestern am See entlanggegangen war.

„Wo, zum Kuckuck, ist der Pier?“

„Am Carnegie See, ganz in der Nähe. Vielleicht drei Blocks von hier. Ich habe ihn ausgewählt, damit ich zu Fuß hingehen kann. Rose arbeitet als Kellnerin in einer Imbissstube im Ort, und sie braucht ihre Karre.“ Er vermutete, dass seine Geschichte umso glaubwürdiger klingen würde, je mehr Details er erzählte. Wie er Abbie anrufen und ihr mitteilen sollte, dass der Plan geändert war, wusste er allerdings noch nicht. Aber er würde es schaffen. Er musste es einfach schaffen.

Arturo lachte. „Deine Alte arbeitet, und du bist hier und spielst Verkleiden. Wie männlich von dir, McGregor.“ Sein Lächeln schwand so schnell, wie es gekommen war. „Wann kommt Rose zurück?“

„Um Mitternacht.“

Arturo schwieg einen Moment. „Also gut“, sagte er plötzlich. „Wir machen Folgendes. Wir gehen zusammen zum Pier. Sobald deine Stiefschwester auftaucht, kassierst du die Mäuse und gibst sie mir. Kapiert?“

Genau darauf hatte Ian gehofft. Er nickte. „Und wie geht’s dann weiter?“

„Wenn du mir keinen Ärger machst, lasse ich dich leben.“

Na klar, dachte Ian, als ob ich das glauben würde.

Arturo presste Ian wieder den Mund ans Ohr. „Wenn du versuchst, mich reinzulegen, amigo, wirst du es bedauern – dann rechnen wir ab. Comprende?“

„Sí. Ich meine, ja.“

„Gut.“ Arturo ließ ihn los. Ian drehte sich um und sah sich zum ersten Mal seit zehn Jahren dem Mann gegenüber, der fast zweitausend Meilen gefahren war, um ihn zu finden. Großer Gott, der Kerl war noch massiger und hässlicher geworden, als er ihn in Erinnerung hatte. Er hatte sich den Kopf kahl rasiert und offenbarte damit einen unebenen Schädel und hässliche Warzen; und er hatte sich einen Spitzbart stehen lassen. Im linken Ohr steckten immer noch mehrere Ohrringe, einer in der Form gekreuzter Knochen. Er hatte dunkle Knopfaugen, die nicht gerade vor Intelligenz blitzten. Doch ein Mann von der Größe und Gemeinheit eines Arturo Garcia brauchte nicht unbedingt Hirn. Zu ausgefransten Jeans trug er ein schmieriges, an den Schultern abgeschnittenes T-Shirt und abgewetzte Stiefel. Auf seine fleischigen Arme waren nackte Meerjungfrauen und Feuer speiende Drachen tätowiert.

Ian warf einen Blick zur Tür, die er verschlossen hatte. „Wie bist du reingekommen?“ Im selben Moment merkte er, wie dumm die Frage war.

Arturo lachte, so dass die Lücke zwischen seinen Schneidezähnen sichtbar wurde. „Mit meinem verlässlichen Dietrich.“ Er grinste wieder. „Ich verreise nie ohne ihn.“

Er ließ sein Klappmesser zuschnappen. „Ich setze mich jetzt so lange da hin, bis wir zusammen losgehen“, meinte er und deutete mit dem Messer auf den Sessel beim Fenster. „Falls du irgendwas Mieses anstellst, bist du tot.“

„Wir sollen sieben Stunden hier drin bleiben?“

„Hast du ein Problem damit?“

Mit einem Verrückten in einem Motelzimmer eingesperrt zu sein? Ja, damit hatte er allerdings ein Problem, aber das würde er Arturo natürlich nicht gestehen.

Ian schüttelte den Kopf. „Wenn du keines hast, warum sollte ich dann eins haben.“

Arturo setzte sich in den Sessel, streckte die langen Beine aus und schaltete den Fernseher ein. Nachdem er die Kanäle hatte durchlaufen lassen, blieb er bei einem Trickfilm der Power Rangers hängen. Ian legte sich aufs Bett und verdrehte die Augen. Arturos geistiges Niveau verblüffte ihn immer wieder.

Während die Actionhelden ihren Blödsinn trieben, versuchte Ian, gedanklich einen Plan auszuarbeiten. Er musste Kontakt zu Abbie aufnehmen, ehe sie das Restaurant verließ. Falls er jedoch noch lange wartete, erwischte er sie nicht mehr.

Sein Blick wanderte zu Rose’ Handy auf dem Nachttisch. Wenn er es unbemerkt einstecken könnte, hatte er schon halb gewonnen.

Er wartete, bis sein unwillkommener Gast völlig in die Spielchen auf dem Bildschirm vertieft war, streckte langsam den Arm aus, schnappte sich das kleine Telefon und steckte es ein. Der leichte Teil war erledigt, nun kam das Schwierige – der Anruf.

Ian wartete noch eine Minute, schwang die Beine vom Bett und stand auf. „Kann ich pinkeln gehen?“

Arturo sah erst ihn an, dann die angelehnte Badezimmertür. Schließlich stand er auf und ging wortlos ins Bad.

Ian lachte. „Was ist? Hast du Angst, ich entwische durchs Klo?“

„Nein, aber du bist blöd genug, es durchs Fenster zu probieren.“

„Da ist doch gar kein Fenster, Mann.“

Arturo sah sich im Bad um und kicherte, als er Rose’ Unterwäsche und einen rosa Babydoll auf dem Bügel an der Duschstange hängen sah. Offenbar zufrieden, dass es keinen Fluchtweg gab, nickte er. „Mach schnell.“

Ian schloss die Tür, nahm gleichzeitig das Handy aus der Tasche und wählte, die Lippen zusammengepresst. Sein ganzer Körper war angespannt vor Sorge, Abbie könnte schon fort sein.

Komm schon, komm schon.

Ein Küchenangestellter – nicht der Klugscheißer – antwortete, und innerhalb von Sekunden war Abbie an der Strippe. Ian sprach schnell und in eindringlichem Flüstern. „Ich bin’s, Ian. Es gibt eine Änderung im Plan. Komm nicht ins Motel. Wir treffen uns heute Abend um zehn am Pier vom Carnegie See.“

„Warum? Was ist passiert?“

„Ich habe jetzt keine Zeit, das zu erklären. Tu’s einfach.“ Er wiederholte Ort und Zeit und beendete das Gespräch.

Da er geschätzte dreißig Sekunden im Bad gewesen war, betätigte er die Toilettenspülung, wusch sich die Hände und trocknete sie ab. Er sah auf seine Uhr. Das hatte weitere zehn Sekunden gedauert. Den Ablauf musste er sich merken.

Als er herauskam, streifte Arturo ihn lediglich mit einem flüchtigen Blick, ehe er sich wieder dem Fernsehbild zuwandte. Ian setzte sich aufs Bett, den Oberkörper gegen das Kopfteil gelehnt. Während er sich die Hände abgetrocknet hatte, war ihm eine Idee gekommen. Die Ausführung erforderte jedoch einen weiteren Gang ins Bad.

Ian machte ein Nickerchen und erwachte gegen sechs. Er gähnte laut und betrachtete Arturo, der sich jetzt The three Stooges ansah und dabei lachte wie ein Idiot. „He, Arturo“, begann er, „ich krieg’ Hunger. Wie wär’s, wenn wir uns was zu beißen bestellen? Eine Pizza vielleicht. Oder ich könnte losziehen und was Chinesisches holen.“

Arturo warf ihm einen viel sagenden Blick zu. „Na klar.“ Er deutete auf das Moteltelefon auf dem Couchtisch. „Bestell eine Pizza, groß, mit Salami und Peperoni und extraviel Käse.“ Um sicherzugehen, dass Ian keine Dummheit machte, zog er wieder das Messer heraus und ließ es aufklappen. „Worauf, zum Teufel, wartest du?“

Eine halbe Stunde später klopfte es an die Tür. Arturo gab Ian mit dem Messer ein Zeichen, sich zu bewegen, während er selbst aus dem Blickfeld verschwand, blieb jedoch nah genug bei Ian, um ihm notfalls das Messer in den Rücken rammen zu können.

Arturo brauchte nicht mehr als zehn Minuten, um so viel Pizza zu verschlingen, dass jeder Vielfraß geplatzt wäre. Dazu trank er drei von Ians Bieren und rauchte zwei Zigaretten. Er war jetzt wesentlich entspannter, aber nicht weniger wachsam. Falls Ian gehofft hatte, sein Bewacher würde einschlummern, sah er sich getäuscht.

Trotzdem war dies der geeignete Zeitpunkt, Phase zwei seines Planes einzuleiten. Er stand auf und ging auf das Bad zu.

„Wo willst du hin, zum Geier?“ fragte Arturo scharf.

„Zum Pott, Mann.“

„Du warst doch gerade. Was ist los mit dir? Hast du ‘n Problem oder was?“

„Nein, ich habe kein Problem. Ich bin vor fünf Stunden zum Klo gegangen. Musst du nie pinkeln?“

„Okay, okay.“ Arturo wedelte mit dem Messer herum. „Hör auf zu jammern. Geh.“

Wieder im Bad, sah Ian auf die Uhr und riss Rose’ Nachthemd vom Bügel. Wie ein Kumpel es ihm gezeigt hatte, bog er rasch den Drahtbügel auf, bis er ein langes gerades Stück hatte, und formte eine Garotte mit zwei Schlaufen als Griffe an jedem Ende.

Er testete die neue Waffe mehrfach auf Biegsamkeit. Okay, sie würde ihre Aufgabe erfüllen. Zufrieden schob er sie in sein Hosenbein und ging ins Schlafzimmer zurück.

Er war bereit.

14. KAPITEL

Abbie hatte die achtundvierzigtausend Dollar in Hundertund Fünfzigdollarnoten in einen alten Schulranzen gepackt, der auf dem Beifahrersitz des Acura stand. Als sie vorhin auf der Bank gewesen war, hatte das Geld für sie bereitgelegen. Ein Kassierer, den sie kannte, hatte sie in einen Privatraum geführt, wo die Bündel gezählt wurden.

Zum Glück war Ron Meltzer nicht auf seinem üblichen Posten gewesen. Das ersparte ihr, ihm noch eine Lüge auftischen zu müssen, obwohl sie sicher war, dass er von der Abhebung wusste. In dieser Bank geschah kaum etwas, ohne dass er Kenntnis davon hatte. Vielleicht war er absichtlich nicht hinter seinem Schreibtisch gewesen, um ihnen beiden eine Peinlichkeit zu ersparen.

Auf der Heimfahrt im Regen dachte sie an Ians Telefonat. Diese plötzliche Änderung im Plan beunruhigte sie. So wie er geflüstert hatte, war anzunehmen, dass jemand in der Nähe gewesen war. Aber wer? Und was hatte vor allem diese alberne Geheimnistuerei zu bedeuten? War sie irgendwie in Gefahr? Bei Ians Lebenslauf und der Art von Kontakten, die er pflegte, wäre dies nicht verwunderlich.

Ein paar Minuten später fuhr sie in die Garage, stieg aus und ließ den Ranzen auf dem Beifahrersitz, wo er sicher war. Sobald das Garagentor sich schloss, ging sie ins Haus.

Der Anblick von Ben und Tiffany am Küchentisch, der eine mit Schulaufgaben beschäftigt, die andere mit Examensvorbereitungen, vermittelte ihr wieder ein Gefühl von Normalität. „Hallo, Leute.“

Sie gab Ben einen raschen Kuss. Er hatte nichts dagegen, wenn sie ihn vor Tiffany küsste, weil er gesehen hatte, dass die auch ihre Brüder flüchtig küsste. „Wie war dein Tag?“

Autor

Christiane Heggan
Christiane Heggan wurde in Nizza geboren, an der traumhaften französischen Riviera! Als Teenagerin träumte sie aber davon, wehzuziehen – nach Rom, Paris oder London. Erst als Christiane ihren ersten Freund hatte, ließ das Fernweh nach – doch nur vorübergehend. Denn als Christiane tatsächlich den Mann ihres Lebens traf, der beim...
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