Bei Dir fühle ich mich geborgen

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Gestrandet in Michigan! Roz Auto gibt endgültig seinen Geist auf. Zum Glück ist ihr Retter nicht fern: Mason Striker bietet ihr noch für denselben Abend einen Job in seinem Restaurant und eine Unterkunft an. Roz ist fasziniert von dem attraktiven Mann, der rührend um sie bemüht ist und versucht, ihr alle Wünsche von den Augen abzulesen. Als sie spät am Abend in der Bar zu romantischer Musik tanzen, hat Roz plötzlich das beglückende Gefühl, in diesen starken Armen endlich am Ziel ihrer langen Reise angekommen zu sein…


  • Erscheinungstag 11.10.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733753627
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Old Bess starb mit einem letzten pfeifenden Keuchen. So ungünstig der Zeitpunkt auch war, ihr Ableben kam für ihre Reisegefährtin nicht überraschend. Die Alte hatte die Blüte ihrer Jahre lange hinter sich, war in schlechtem Zustand und hatte schon zwölf Meilen lang schwarze Auspuffgase ausgestoßen. Roz Bennett manövrierte das verrostete viertürige Auto vorsichtig auf die Standspur des Highways und belegte es mit Flüchen.

Als sie ausstieg und sich umblickte, fluchte sie erneut. Hohe Tannen und andere immergrüne Bäume standen dicht nebeneinander auf beiden Seiten der Fernstraße. Roz sah keine Häuser, keine Geschäfte, nicht einmal ein Verkehrsschild. Sie war auf offener Strecke, auf einem Highway, den niemand zu befahren schien, und sie besaß keinen Cent.

Ein scharfer Wind schlug ihr ins Gesicht, und sie schob die vor Kälte tauben Hände in die Taschen ihrer dünnen Jeansjacke.

Ich habe aber auch immer Pech, dachte Roz.

Die Sonne verschwand am Horizont, und die Temperatur sank noch tiefer unter den Gefrierpunkt. Roz blickte auf ihr Handgelenk, bevor ihr einfiel, dass sie ihre Armbanduhr und ihre einzigen Ohrringe bereits in der vorletzten Stadt, durch die sie gekommen war, versetzt hatte, um Geld für Benzin zu haben. Mindestens der Wert eines halben Ohrrings war noch im Tank, was ihr jetzt nichts mehr nützen würde.

Sie nahm ihren Matchbeutel vom Rücksitz und wog die Alternativen ab. Vor einer Weile war sie an einer Raststätte vorbeigekommen. Wenn sie dort einen Billardtisch hatten, könnte sie sich schnell eine Mahlzeit erspielen und vielleicht genug Geld für ein billiges Motelzimmer verdienen. Aber vorwärts war die einzige Richtung, von der Roz beim Reisen etwas hielt, also marschierte sie los.

Nach einer Meile überlegte Roz, wie lange es eigentlich dauerte, zu erfrieren. Kurz darauf hörte sie den Jeep. Es könnte allerdings auch das Wummern der Bässe gewesen sein, das sie noch vor dem Motorengeräusch des glänzenden roten Geländewagens wahrgenommen hatte. Sie streckte den Daumen heraus, hätte sich die Mühe jedoch sparen können. Der Fahrer wurde schon langsamer und lenkte den Jeep hinter ihr auf die Standspur.

Eine Frau wäre ihr lieber gewesen. Roz tat so, als würde es sie nicht beunruhigen, in der Abenddämmerung allein einen verlassenen Highway entlangzulaufen.

Der Mann öffnete das Fenster und schaltete die Musik aus. „Hallo.“

„Hallo.“ Jetzt, da Roz ihn gut sehen konnte, schätzte sie ihn auf Mitte dreißig. Er hatte glattes dunkelbraunes Haar, das kurz geschnitten und gepflegt war. Sie hatte das Gefühl, dass seinem durchdringenden Blick nicht viel entging. Aber die Fältchen, die sich zu den Schläfen hin ausbreiteten, waren wohl durch Lachen und viel Zeit im Freien entstanden und nicht, weil er die Angewohnheit hatte, die dunklen Augen aus Feindseligkeit und Brutalität zusammenzukneifen. Alles in allem machte der Fremde einen anständigen Eindruck. Roz entspannte sich ein bisschen.

„Ist das Ihr Auto da hinten?“ Er zeigte mit dem Daumen über die Schulter.

Roz nickte und beschloss, knappe und unverbindliche Antworten zu geben. „Motorschaden.“

„Wohin wollen Sie?“

Nach Westen, hätte sie fast gesagt. Es wäre die Wahrheit gewesen, die meisten Leute erwarteten jedoch eher ein Ziel als eine Richtung. Und sie wollte nicht, dass er misstrauisch wurde. Er war der Einzige, der verhindern konnte, dass sie Erfrierungen erlitt. „Wisconsin“, erwiderte sie deshalb. Es war der nächste Bundesstaat, in den sie auf ihrer Reise nach Westen kommen würde, also war es eigentlich keine Lüge.

„So weit fahre ich leider nicht.“

„Oh.“ Ihre Füße fühlten sich an, als wären sie am Boden festgefroren. „Wohin denn?“

„Nach Chance Harbor. Es liegt nordwestlich von hier, am Ufer des Lake Superior, ungefähr auf halbem Weg zwischen den Porcupine Mountains und Hancock. Ich kann Sie in einem der kleinen Orte absetzen, durch die wir kommen, bevor wir auf die Landstraße fünfundvierzig stoßen. Sie finden dort bestimmt eine Reparaturwerkstatt.“

„Chance Harbor. Ich erinnere mich nicht, es auf der Karte gesehen zu haben.“

Er lachte. „Es ist so klein, dass es nicht auf vielen Karten verzeichnet ist. Aber fragen Sie irgendeinen Fischer, und er wird es kennen. Manche nennen es Last Chance Harbor, weil es einer der wenigen sicheren Orte ist, in denen man einen Sturm überstehen kann, bevor man um die Halbinsel Keweenaw schippert.“

Die letzte Chance: ein sicherer Ort. Gab es so etwas wirklich? Roz hatte in sechsundzwanzig Jahren noch keinen entdeckt. Trotzdem, der Name gefiel ihr. Und weil ihr ganzes bisheriges Leben ein chaotisches Schicksalswerk gewesen war, dem ihre Impulsivität nicht eben gut getan hatte, fasste sie einen Entschluss. „Ich fahre dorthin.“

„Nach Chance Harbor?“ Er zog überrascht die Augenbrauen hoch. „Was ist mit Ihrem Auto?“

„Damit komme ich nirgendwo mehr hin“, sagte Roz ausdruckslos. „Mich wundert, dass es die letzten hundert Meilen geschafft hat.“

„Wenn Sie nach Wisconsin wollen, ist Chance Harbor ziemlich abgelegen.“

„Das ist okay. Ich werde es als landschaftlich schöne Strecke betrachten. Außerdem brauche ich vorübergehend einen Job. Meinen Sie, ich könnte dort Arbeit bekommen? Ich bin ein bisschen knapp mit Geld.“ Ich habe keins, dachte sie grimmig.

„Jetzt ist Nebensaison, aber vielleicht finden Sie etwas. Allerdings nichts, wofür mehr als der Mindestlohn gezahlt wird.“

Roz warf bereits den Matchbeutel auf den Rücksitz. „Das genügt mir.“

Als er losfuhr, drehte er die Musik wieder auf, aber nicht annähernd so laut. Trotzdem hämmerte sie durch den Wagen und schien in Roz’ Magen widerzuhallen. Wann hatte sie eigentlich zuletzt etwas gegessen? Sie hatte an diesem Morgen fünf mit Fusseln überzogene „M&Ms“ in ihrer Jackentasche entdeckt. Konnte man das Frühstück nennen? Sie versuchte, sich auf die Musik zu konzentrieren.

Roz hätte den Mann niemals für einen AC/DC-Fan gehalten. Top Forty, vielleicht. Und Countrymusic, weil sie in der hintersten Provinz waren und er verwaschene Jeans und eine Daunenjacke trug. Für Hard Rock sah er zu normal, zu konventionell aus. Aber er klopfte mit den Daumen im Takt aufs Steuer, und Roz hatte den Eindruck, dass er den Text des sehr passenden „Highway to Hell“ mitgesungen hätte, wenn sie nicht im Wagen gewesen wäre.

Er warf ihr nun einen Blick zu. „Ich bin Mason. Mason Striker.“

„Roz.“

Offensichtlich wartete er auf einen Nachnamen. Als sie ihm den Gefallen nicht tat, drängte er sie zum Glück nicht.

„Freut mich, Sie kennen zu lernen, Roz. Sagen Sie Bescheid, wenn es Ihnen zu warm wird.“

Zu warm? Fast hätte sie gelacht. Sie war so durchgefroren, dass sie kein Gefühl mehr in den Zehen hatte. „Ja, tu’ ich“, erwiderte sie, dann lehnte sie sich zurück und streckte die Beine aus. Ihr Auto hatte schon seit über einer Woche nur noch lauwarme Luft ausgestoßen, deshalb war Hitze ein willkommener Luxus. Schlaf auch. Roz ließ den Kopf gegen die gepolsterte Stütze sinken. Sie wollte sich lediglich entspannen. Erst als jemand sie an der Schulter rüttelte, wurde sich Roz bewusst, dass sie eingeschlafen war.

Die junge Frau wachte schnell auf. Kampf oder Flucht. Mason konnte fast sehen, wie ihr Adrenalinspiegel in die Höhe schnellte und beides möglich machte.

„Was ist?“, fragte sie und ballte die Hände zu Mitleid erregend kleinen Fäusten.

Aber sie würde sie zweifellos benutzen, wenn sie provoziert wurde. Mason beschloss, so zu tun, als hätte er ihre nervöse Reaktion nicht bemerkt. In seinem früheren Beruf hatte er dieses Verhalten oft erlebt. Die Gründe waren niemals schön und oft Gegenstand der Sechsuhrnachrichten. Teilweise war Mason auch deshalb zurück nach Chance Harbor gezogen. Er wollte nicht länger versuchen, die Probleme anderer Leute zu lösen. Was im Moment ziemlich heuchlerisch zu sein schien, da er die junge Frau ja mitgenommen hatte. Andererseits hätte er sie wohl kaum bei Temperaturen unter null am Rand des Highways zurücklassen können. Wir sind da, und jetzt ist Schluss, versicherte er sich, während er den Motor abstellte und ausstieg. Und dann hörte er sich sagen: „Kommen Sie mit rein. Wir sehen mal, ob wir ein Zimmer für Sie finden.“

Roz stieg langsam aus. Sie wollte den warmen Wagen nicht verlassen. Die Sonne war fast untergegangen, und es war schwer, irgendetwas außer dem Gebäude vor ihnen zu erkennen. „Wo sind wir?“

„‚The Lighthouse Tavern‘.“

„Ich kann lesen.“ Sie bemühte sich, nicht defensiv zu klingen, auch wenn es ihr nicht ganz gelungen war, die Buchstaben auf dem Neonschild zu entziffern. „Warum halten wir hier?“

„Ende der Fahrt“, sagte Mason. „Sie können die Sache mit Ihrem Auto regeln und nach einem Motelzimmer herumtelefonieren.“

Roz konnte sich nicht einmal einen Pappkarton leisten, doch Mason gab ihr keine Gelegenheit, ihm das zu erklären. Er ging in das Lokal, und ihr blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen.

Das Innere der Lighthouse Tavern hatte sich kaum verändert, seit Masons Großvater Daniel Striker sie gebaut hatte. Mason hatte immer das Gefühl, nach Hause zu kommen, wenn er hineinging. Er hatte die Kneipe vor einem Jahr von seinem Vater übernommen und ein bisschen modernisiert, genau so, wie sein Vater es vor ihm gemacht hatte. Die Tische und Stühle waren neu, ebenso die Jukebox, das Fernsehgerät mit dem Großbildschirm und der Billardtisch. Aber die Theke, die in einem weiten Bogen an der Rückseite des Raums verlief, war das Original aus Mahagoni, ebenso wie das Fußgeländer aus Messing. Natürlich, er hatte niemals geplant, Gastwirt zu werden. Er hatte etwas viel Aufregenderes gewollt. Und er hatte es bekommen. Im höchsten Grade.

Mason rieb sich die Schulter und spürte den Schmerz der alten Verwundung. Eine Kugel konnte dem Körper großen Schaden zufügen und der Seele noch größeren, hatte ein Psychiater zu ihm gesagt. Das zu kapieren erforderte keine Facharztausbildung. Mason verdrängte die penetrante Erinnerung. Er war zurückgekehrt, um zu vergessen und nicht, um bei all dem zu verharren, was schief gegangen war.

In der Lighthouse Tavern befanden sich nicht viele Gäste, aber es war noch früh. Anders als sein Vater und Großvater machte sich Mason keine großen Gedanken darüber, wie viel er einnahm. Er führte die Kneipe, damit er etwas zu tun hatte. Er hatte so viel Geld auf der Bank, dass er nie wieder würde arbeiten müssen, wenn er sparsam lebte. Unwillkürlich rieb er sich erneut die Schulter. Für sein gut gefülltes Bankkonto hatte er einen hohen Preis gezahlt.

Er beobachtete, wie sich die junge Frau umsah, und war sicher, dass sie schon die Ausgänge ermittelt hatte.

„Coole Kneipe“, sagte sie.

„Mir gefällt sie auch. Setzen Sie sich doch.“

Sie setzte sich auf einen der hohen Barhocker und konnte ihre Überraschung nicht verbergen, als Mason eine Klappe im Mahagoniholz hochschlug und hinter die Theke ging. „Arbeiten Sie hier?“

„So etwas Ähnliches. Mir gehört der Laden.“

„Sie sehen nicht aus wie ein Kneipenwirt.“

„Wie sehen die denn aus?“, fragte er amüsiert.

Roz zuckte die Schultern. „Schlechte Zähne, fettiges Haar, dicker Bauch, Tattoos.“

„Nein zu den ersten drei.“

„Sie haben ein Tattoo?“

Er lächelte nur. „Kann ich Ihnen etwas bringen?“ Er glaubte, ihren Magen knurren zu hören, doch sie schüttelte den Kopf.

„Nein, danke.“

„Wirklich nicht? Es geht auf Kosten des Hauses“, drängte er und hätte schwören können, dass sie fast in sich zusammensackte vor Erleichterung.

„Tja, dann eine Cola.“

Er holte ein sauberes Glas, drehte sich wieder um und ertappte Roz dabei, wie sie sich eine Hand voll Nüsse aus der Schüssel rechts von ihr nahm. Er stellte die Cola vor sie hin, schob die Schüssel näher und gab Roz ein schnurloses Telefon. „Am besten versuchen Sie es bei ‚Casey’s Garage‘.“

Bevor er die Nummer nachschlagen konnte, legte Roz die Hand auf seine. „Kein Mechaniker auf der Welt wird das Auto retten. Und selbst wenn es möglich wäre, ich habe nicht das Geld, um es hierher abschleppen zu lassen. Wissen Sie jemanden, der es einfach verschrotten würde?“

Mason blickte flüchtig auf ihre Hand, die noch immer auf seiner lag. Die zarten Finger ließen seine Haut seltsam prickeln. Er schrieb es einem Jahr Enthaltsamkeit zu. „Sicher.“ Er wandte sich um und entzog ihr seine Hand. „He, Mickey, nehmen sie auf dem Lagerplatz bei Bruce Crossing noch immer Schrott an?“

„Das ist das Letzte, was ich gehört habe.“

„Bist du daran interessiert, das Auto dieser Dame dorthin abzuschleppen?“

„Ja, klar.“

„Ich kann ihn nicht bezahlen“, flüsterte sie.

„Was auch immer das Auto bringt, kannst du einstecken, wenn es nicht mehr als hundert Dollar sind“, sagte Mason.

Mickey zuckte die Schultern. „Okay, wo ist es?“

„Ungefähr fünf Meilen östlich der Landstraße fünfundvierzig, auf der Standspur des Highways achtundzwanzig.“

Mickey nickte und rieb sich das Kinn. „Wahrscheinlich ist es das einzige Auto, das da steht, aber nur für alle Fälle, welche Farbe hat es?“

„Rostbraun“, erwiderte Mason trocken.

Roz lachte zögernd, dann lauter.

Er hätte seine Kneipe darauf gewettet, dass sie zum ersten Mal seit sehr langer Zeit befreit lachte. Wieder fragte er sich, was sie so vorsichtig und nervös machte. Und wieder versicherte er sich, dass er nichts mit ihren Problemen zu tun haben wollte.

Draußen war es völlig dunkel. Roz wusste, dass sie gehen sollte, aber sie konnte nirgendwohin, und sie fror endlich nicht mehr. Mason war hinter der Pendeltür verschwunden, die vermutlich in die Küche führte, doch es störte sie nicht, allein zu sitzen, während immer mehr Gäste kamen. Zwei Männer spielten Poolbillard, und sie dachte daran, mitzumachen. Die beiden waren gut, dennoch glaubte sie, besser zu sein. Von ihrer Geschicklichkeit hatte schon oft eine Mahlzeit abgehangen.

Roz hatte genug Nüsse gegessen, um den schlimmsten Hunger zu stillen, trotzdem hätte sie nichts gegen etwas Nahrhafteres. Sie wollte gerade hinübergehen und sich vorstellen, als Mason zurückkehrte.

„Sie brauchen einen Job, richtig?“

„Ja.“

„Haben Sie schon mal gekellnert?“

„Ein- oder zweimal.“

„Eine meiner Kellnerinnen hat gerade gekündigt, die andere hat Grippe, und die Tagschicht macht gleich Feierabend. Wenn Sie interessiert sind, müssen Sie sofort anfangen. Die Arbeit ist nicht übel, und die Trinkgelder sind ganz ordentlich.“

Roz bemühte sich, nicht breit zu lächeln. „Tja, ich denke, ich kann Ihnen helfen.“

Eine Stunde später zapfte sie mit einer Hand ein Bier und tat mit der anderen eine Zitronenscheibe in ein Glas Wodka.

„Sie haben nicht gelogen, als Sie gesagt haben, Sie hätten den Job schon gemacht.“

Mason stand plötzlich hinter ihr – nah, aber nicht unangenehm nah, obwohl es eng war hinter der Theke. Trotzdem war Roz sicher, dass er sie unter irgendeinem Vorwand berühren würde. Aber er stellte nur ein Tablett mit zwei Hamburgern auf die Theke und ging ein Stück weiter weg.

„Ich habe auch schon als Kassiererin gearbeitet, ich habe Viehfutter verkauft, bin Köchin in einem Imbiss gewesen, Pförtnerin und, bis vor kurzem, Black-Jack-Geberin im Spielkasino von St. Ignace.“

„Haben Sie noch andere Talente?“

Masons Frage hatte nichts Zweideutiges an sich, und er blickte sie nicht etwa lüstern, sondern einfach nur offen und interessiert an.

„Ich bin eine Quelle von ungenutztem Potenzial.“ Roz wurde ernst. Das hatte ihre Sozialarbeiterin von ihr behauptet, nachdem sie ein weiteres Mal zu neuen Pflegeeltern geschafft worden war.

Mason schien ihren plötzlichen Stimmungsumschwung nicht zu bemerken.

„Gut zu wissen.“ Er zwinkerte ihr zu, dann wurde er wieder völlig geschäftsmäßig. „Sehen Sie den Mann am Ende der Theke?“

„Ja.“

„Das ist Big Bob Bailey. Er ist schon in die Lighthouse Tavern gekommen, als sie noch meinem Grandpa gehört hat. Bringen Sie ihm einen Whiskey pur, sobald Sie Zeit haben.“ Mason ging davon.

Es wurde ruhiger in der Kneipe. Nur wenige Männer saßen noch über ihre Drinks gebeugt an der Theke. Mason stellte Stühle auf die Tische und kehrte Popcorn und Nüsse weg. In der Küche bereitete der Koch die Suppe für den nächsten Tag vor. Der ältere Mann hieß Bergen. Roz wusste nicht, ob es sich dabei um seinen Vor- oder Nachnamen handelte. Aber sie wusste, dass es seine Küche war. Das hatte er zumindest zu ihr gesagt, als sie einmal hineingegangen war und versucht hatte, ein paar Pommes zu stibitzen.

Roz war hundemüde und so hungrig, dass die Nüsse jetzt wieder wie feinste Kochkunst wirkten, obwohl sie vor einigen Stunden schwer wie Hochrippe runtergegangen waren. Sie hatte jedoch zweiunddreißig Dollar Trinkgeld in der Tasche und, noch besser, sie hatte das Problem gelöst, wo sie in dieser Nacht schlafen würde. Während sie den letzten Glaskrug spülte, kam Mason herüber.

„Ich habe hier Formulare, die Sie ausfüllen müssen.“

„Sicher.“ Roz ging um die Theke und setzte sich auf denselben Hocker, auf dem sie zu Beginn gesessen hatte. Jetzt, da die Beleuchtung eingeschaltet war, sah das Lokal anders aus. Neben einem breiten Regal voller Schnapsflaschen hingen gerahmte Fotos an der Wand. Anscheinend waren es Familienfotos. In Schwarz-Weiß oder Farbe zeigten sie Männer und Frauen verschiedenen Alters, die Händchen hielten, sich umarmten und lachten. Kinder, die lächelnd in die Kamera blickten. Die Aufnahmen ließen die Kneipe fast gemütlich wirken. Der Neid kam schnell, und er überrumpelte Roz noch immer. Wie viele Jahre träumte sie schon davon, eine eigene Familie zu haben?

„Hier ist ein Anmeldeformular mit Lohnsteuerkarte, damit sich Uncle Sam seinen Anteil nehmen kann.“ Mason gab ihr einen Kugelschreiber. „Möchten Sie ein Bier?“

„Ja, danke.“ Es war ein Standardformular und leicht zu lesen, wofür Roz dankbar war, da sie die High School nicht abgeschlossen hatte. Lesen war ihr immer schwer gefallen. Ohne die Förderungspolitik des Schulbezirks wäre sie wahrscheinlich irgendwann die älteste Grundschülerin in Detroit gewesen. So, wie die Dinge lagen, war sie mit achtzehn zwei Klassen zurück gewesen. Sobald der Staat nicht länger als ihr Vormund aufgetreten war, hatte es ihr freigestanden, die Schule abzubrechen. Funktionell analphabetisch, war sie von ihrem Beratungslehrer genannt worden. Roz wusste, dass manche Leute meinten, sie sei einfach dumm.

Mason brachte die letzten Gäste zur Tür und schloss ab, nachdem er sich vergewissert hatte, dass der Nüchterne die anderen beiden nach Hause fahren würde. Als er sich umdrehte, fiel sein Blick auf die Frau, die er an diesem Abend so spontan eingestellt hatte. Mason war sich seiner Beweggründe noch immer nicht sicher. Hatte er nicht der Angewohnheit abgeschworen, jungen Frauen in Not und allerlei anderen vom richtigen Weg Abgekommenen zu helfen?

Natürlich, er brauchte wirklich eine weitere Kellnerin, und es war ja nicht so, dass er aus einem ganzen Stapel Bewerbungen wählen konnte. Das ist das einzige Motiv, warum ich diese reizbare, anscheinend verzweifelte Frau genommen habe, versicherte er sich.

Er betrachtete ihr Profil, während sie das Formular ausfüllte. Sie hatte etwas an sich, das ihn anzog, aber er wollte es sich nicht eingestehen. Er fand sie hübsch, trotz ihrer herben Gesichtszüge. Ihr Haar war dunkelblond und jungenhaft kurz. Es sah aus, als hätte sie es selbst geschnitten. Sie hatte rauchblaue Augen und einen sinnlichen Mund, der bei weitem ihr weiblichstes Merkmal war. Ihr Gesicht war völlig ungeschminkt. Sie war groß, nur einen halben Kopf kleiner als er, und so dünn wie jemand, der übernervös war und nicht genug zu essen bekam. Nach einem Monat mit anständigen Mahlzeiten würde sie eine erstklassige Figur haben. Allein schon die langen Beine konnten einen Mann verrückt machen. Mason bremste seine Gedanken und ging zur Theke.

„Fast fertig“, sagte Roz.

„Lassen Sie sich Zeit.“ Er sah neugierig über ihre Schulter auf das Formular, doch es war halb leer, der Rest war in der sorgfältigen Blockschrift ausgefüllt, die ein Kind vielleicht verwenden würde. Sie hatte keine Anschrift und Telefonnummer eingetragen, keine nächsten Angehörigen und kein Geburtsdatum, aber ihr vollständiger Name erregte seine Aufmerksamkeit: Rosalind Bennett. Der Name kam ihm zu sanft vor für die abgehärtete Frau, die Schwielen an den Fingern hatte und deren Nägel abgekaut waren. Und dennoch passte Roz auch nicht richtig.

Sie war fertig mit Schreiben und gab ihm das Anmeldeformular. Ihr Blick war trotzig, fast als wollte sie ihn herausfordern, sich zu beschweren.

„Die nicht ausgefüllten Stellen stören mich nicht, aber ich muss ein Geburtsdatum haben.“

„Der erste Februar. Ich bin sechsundzwanzig.“

„Das ist heute … war gestern.“ Mason sah auf die Uhr. „Herzlichen Glückwunsch.“

Roz zeigte keine Reaktion, nicht einmal die Andeutung eines Lächelns. „Wann brauchen Sie mich wieder hier?“ Sie stand auf und ging zum Ende der Theke, wo sie den Matchbeutel und ihre Jeansjacke hingelegt hatte.

„Um sechs. Ein bisschen früher, wenn Sie vor Ihrer Schicht zu Abend essen wollen. Eine Gratismahlzeit steht Ihnen zu. Gegen neun haben Sie eine halbstündige Pause, aber die meisten Leute essen nicht gern so spät.“

Roz zog die Jacke an und schwang sich den Matchbeutel über die Schulter. „Bis dann.“

Sie war schon fast an der Tür, als sich Mason an seine Manieren erinnerte. „He, warten Sie. Das habe ich völlig vergessen. Sie haben noch kein Zimmer.“

„Keine Sorge, ich habe eins.“

„Oh.“ Er runzelte die Stirn. „Dann fahre ich Sie hin.“

„Nicht nötig.“

Autor

Jackie Braun
Nach ihrem Studium an der Central Michigan Universität arbeitete Jackie Braun knapp 17 Jahre lang als Journalistin. Regelmäßig wurden dabei ihre Artikel mit Preisen ausgezeichnet. 1999 verkaufte sie schließlich ihr erstes Buch ‚Lügen haben hübsche Beine‘ an den amerikanischen Verlag Silhouette, der es im darauf folgenden Jahr veröffentlichte. Der Roman...
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