3. KAPITEL
Maren verbrachte die nächste Stunde damit, den Almanach zu lesen. Acastus, dieser Mistkerl, hatte ihr das Dokument absichtlich vorenthalten! Doch Jessie und sie hatten andere jahrelang hinters Licht geführt. Es wäre … unaufrichtig gewesen, wenn sie nun schockiert oder verletzt reagierte. Das musste Karma sein. Inklusive Schloss und Ehemann.
Den Thron zu besteigen war ihr anfangs wie ein Scherz vorgekommen. Dieses kleine Land war ziemlich … unbedeutend. Die Königswürde war Maren als bloße Formalität erschienen. Dass daran ein geheimes Ehegesetz geknüpft sein könnte, wäre ihr nie in den Sinn gekommen. Doch das war es. Nach der Lektüre des Almanachs war sie Expertin, was die Geschichte der beiden Familien anging. Vor Jahrhunderten schwor die Familie Diakos der Herrscherfamilie Argos die Treue. Im Gegenzug versprach diese, sie nach Ablauf einer angemessenen Zeit der Knechtschaft durch Heirat in die Familie aufzunehmen.
Aber wieso hatte die Familie Diakos den Argos’ so lange Zeit auf diese Weise gedient? Vor allem, nachdem die Familie Argos ihre Versprechen über Generationen nicht eingehalten hatte. Es gab viele Argos-Töchter, die Söhne der Diakos hätten heiraten können oder umgekehrt. Doch es war nie dazu gekommen. Maren war zwar keine Argos, doch mit dem Palast war auch die Würde der „königlichen Familie des Palastes auf dem Felsen“ auf sie übergegangen. Sie war nun die königliche Familie in einer Person. Warum überließ sie den Titel nicht einfach diesem geheimnisvollen Acastus Diakos?
Grübelnd betrat Maren ihr Ankleidezimmer – und wurde jäh aus ihren Gedanken gerissen. Was für ein Anblick! Überall hingen Kleider wie in einer Boutique. An Schaufensterpuppen, auf beleuchteten Podesten … Auf Regalen standen Taschen und Hüte. Glamour, wohin sie blickte. Ihre Mutter wäre begeistert gewesen! Bei dem Gedanken zog sich ihr Magen zusammen.
Obwohl es kein förmliches Abendessen war, entschied sie sich für ein pinkfarbenes, fluffiges Abendkleid aus feinem Netzgewebe. Es war herrlich übertrieben und feminin, und solche Dinge verliehen ihr immer eine gewisse Macht. Wenn sie und Jessie Poker spielten, setzten sie immer auf ein hyperfeminines Äußeres, damit die Männer sie unterschätzten …
Gewissenhaft legte sie Make-up auf. Als Maren nach unten ging, bemühte sie sich, zu lächeln und gelassen auszusehen. Sie würde diesem Mann nicht gestatten, zu glauben, dass er sie erschüttert hatte. Auch wenn sie zutiefst erschüttert war. Doch sie hatte schon Schlimmeres erlebt. Unzählige Male hatte sie geflirtet und gelächelt und so diversen Männern Informationen entlockt. Mit einem Lockenkopf und einem kurzen Kleid sah sie süß und verletzlich aus. Dabei war sie sich zugleich immer jedes Objekts in ihrer Nähe bewusst, das sie, falls nötig, als Waffe benutzen konnte.
Ihr Vater war ein narzisstischer Soziopath gewesen. Sie hatte gelernt, sich zu schützen. Sie ging nicht ängstlich durchs Leben, weil sie stets vorbereitet war. Sie achtete auf Details. Sie war immer wachsam. Sie sah nur sanft aus. Ihre Mutter war sanft gewesen und so verliebt in ihren Vater. Dass er sie betrog, war so unerträglich gewesen, dass sie gehen musste. Maren verstand, warum eine Frau nicht bei einem narzisstischen Soziopathen bleiben konnte. Sie war aber nicht so naiv wie ihre Mutter. Und sie würde auch jetzt nicht naiv sein.
Als sie eintrat, saß Acastus bereits lässig zurückgelehnt, an der Stirnseite des Tisches. Tat der Mann nichts anderes, als lässig zu sein? „Ich habe eine Frage“, sagte sie.
„Ja?“
„Zunächst einmal, was machen Sie beruflich?“
Er zog eine Braue hoch, wodurch seine Miene noch arroganter wirkte. „Weißt du nicht, wer ich bin?“
Urplötzlich fielen ihr Bilder ein, die sie gesehen hatte. Sie riss die Augen auf. „Acastus Diakos? Der milliardenschwere Bauunternehmer, der zu den jüngsten Selfmade-Milliardären gehört?“
„Dann kennst du also die Berichte.“
„Ich habe sie wohl irgendwann einmal gesehen. Ich kann nichts vergessen. Es ist so eine Marotte von mir.“
Er runzelte die Stirn. „Eine Marotte?“
„Eher eine Tatsache als eine Marotte. Wenn ich sage, dass ich mich an alles erinnere, heißt das, dass ich den Almanach jetzt auswendig aufsagen könnte.“
„Komplett?“
Sie seufzte. „‚Hier in diesem Buch und in Übereinstimmung mit …‘“
„Das reicht“, sagte er und hob eine Hand.
„Also ja, ich weiß jetzt, wer Sie sind. Obwohl ich nicht weiß, ob Sie sich deshalb geschmeichelt fühlen sollten. Es ist nur ein kleiner Zaubertrick von mir.“
Acastus lachte wieder auf dieselbe düstere Art wie in ihrem Zimmer. Es klang seltsam humorlos und ihr lief es kalt den Rücken hinunter. Sie konnte Gefühle lesen, fühlen, schmecken. Ihre Temperatur messen. Seine steckten voller Kontraste, und sie fand sie merkwürdig. Sein Lachen war wie Eis. Es klang volltönend, doch es war flach und scharf und hatte einen sauren Geschmack.
„Das erscheint mir wie ein Kartenspielertrick“, erwiderte er. „Hast du so das Spiel gewonnen?“
„Ja“, sagte sie, ohne zu zögern. „Es wird nicht gern gesehen, aber ich kann nichts dafür, wie mein Gehirn arbeitet. Es ist kein absichtliches Betrügen, ich habe keine Asse im Ärmel.“
„Aber wenn die Männer, die gegen dich verloren haben, davon wüssten …“
Sie blinzelte. „Wie sollten sie es erfahren? Dann müssten sie zugeben, dass ich klüger bin als sie, und wir wissen beide, dass das nicht passieren wird.“
Er musterte sie. „Du meinst, wenn ich dich unterschätze, bin ich selbst schuld?“
Sie nickte. „Richtig. Aber wenn Sie mich unterschätzen wollen, werde ich Sie nicht daran hindern.“ Sie blickte sich in dem riesigen Raum um. Ihr Esszimmer, wohlgemerkt. Der Mann mochte sich hier eingerichtet haben, aber es gehörte ihm nicht. Sie fixierte Acastus mit starrem Blick. „Warum meinen Sie, dass Sie hiermit Ihre Rechnung mit der Familie Argos begleichen können? Ich bin keine Argos.“
„Stimmt, aber darum geht es nicht. Mir geht es um den Titel, das Vermächtnis. Die Familie Argos ist mir egal. Der alte Stavros war narzisstisch genug zu glauben, dass ich mit seiner ehrlosen Familie verbunden sein wollte. Das wollte er mir verwehren, aber ich lasse mir nichts verwehren.“
„Warum hasst er Sie so?“
„Es ist … kompliziert.“
Sie lachte. „Ach, jetzt kommen Sie. Menschen sind nie kompliziert. Macht, Geld oder Sex?“
„Was?“
„Geht es um Macht, Geld oder Sex? Meistens tut es das.“
„Du irrst dich. Ego.“ Er ging nicht weiter darauf ein.
„Erklären Sie mir das.“
„Dafür gibt es keinen Grund. Tatsache ist, es gibt nur diesen Weg. Mein Vater war unfähig. Er war nicht mutig genug, um seiner Familie ein gutes Leben zu verschaffen. Er gab sich damit zufrieden, abzuwarten. Ich werde das nicht tun.“
„Den Teil mit dem schwierigen Vater kann ich nachvollziehen.“
Acastus sah sie forschend an. „Erzähl mir von deinem Vater“, bat er.
„Nicht jetzt.“ Bei der Vorstellung, an ihren Vater und ihre Kindheit auf seinem Gangsteranwesen denken zu müssen, verspürte Maren heftigen Widerwillen. „Ich möchte mehr hierüber sprechen. Was versprechen Sie sich davon, in diese Ein-Personen-Königsfamilie einzuheiraten? Wie gesagt, ich bin keine Argos. Was hat das mit einem Vermächtnis zu tun?“
„Das ist unwichtig. Wichtig ist, was in den Geschichtsbüchern stehen wird.“
„Na toll. Wird auch etwas über Königreiche geschrieben, in denen niemand lebt?“
„Meine Familie hat über Generationen Opfer erbracht und gelitten. Das darf nicht umsonst geschehen sein.“
„Und dafür lohnt es sich, eine Fremde zu heiraten?“ Maren hatte nie groß über die Ehe nachgedacht. Sie hätte nie gedacht, dass sie heiraten würde – und jetzt war es einfach so geschehen. Jessies Hochzeit hatte ihr aber gefallen. Sie war so schön romantisch gewesen.
„Es wird keine typische Ehe“, erklärte er. „Ich will keine echte Ehefrau im eigentlichen Sinne. Wir werden weder im selben Zimmer schlafen noch morgens bei Orangensaft und Toast miteinander plaudern. Ich will in die königliche Familie einheiraten. Ich will alle Vorteile dieser Ehe. Und wir werden ein Kind haben.“
Maren lief rot an. „Wenn wir ein Baby bekommen sollen, würde das doch eine sehr echte …“ Sie blinzelte. „Oh. Wir könnten eine künstliche Befruchtung machen lassen.“
„Nein.“
„Wieso nicht?“
„Maren“, sagte er nachsichtig.
Sie runzelte die Stirn. „Reden Sie nicht mit mir, als wäre ich ein Kind. Ich bin kein Kind. Ich bin nur nicht mit diesem Maß an Eigentümlichkeit vertraut, mit dem ich gerade konfrontiert bin.“
„Du weißt aber sicher, dass nichts umsonst ist?“
„Ja.“
„Aber du dachtest, dass du ein ganzes Schloss umsonst bekämst?“
„Es war nicht umsonst. Ich habe es gewonnen. Offen und ehrlich.“ Das war etwas übertrieben. Sie hatte es gewonnen, weil sie Karten zählen und die Gesichter ihrer Mitspieler lesen konnte. Aber es war nicht ihre Schuld, dass sie das von Natur aus gut beherrschte. Es war ja nicht so, als hätte sie Karten im Ärmel versteckt. Das wäre Schummeln gewesen. Jessie und sie hatten auf gewisse Weise schon geschummelt. Nur eben mit natürlichen Mitteln.
„Offen und ehrlich“, sagte er. „Dann ist es ja gut. Glaubst du, etwas so Großes bekommt man einfach so? Dass dir ein so altes Gebäude einfach geschenkt wird, ohne dass dich die Schatten seiner Vergangenheit treffen? Das ist dumm.“
„Es war dumm, nicht zu ahnen, dass in meinem Schlafzimmer ein Ehemann auf mich warten würde. Doch was spricht gegen künstliche Befruchtung?“
„Du scheinst nicht abgeneigt zu sein, ein Baby zu bekommen.“
„Das bin ich nicht“, antwortete sie. Objektiv betrachtet, war der Mann vor ihr der Inbegriff von Maskulinität. Er war deutlich über eins achtzig, breitschultrig, mit eindrucksvoller Statur und wohl der schönste Mann, denn sie je gesehen hatte. Als Genspender für ein Kind könnte sie eine schlechtere Wahl treffen. Seine Persönlichkeit stand auf einem anderen Blatt. Er wollte keine echte Ehe. In Ordnung, sie wollte auch keinen Orangensaft und Toast mit ihm. Und es gab keinen Grund, warum sie nicht …
„Im Ehevertrag ist ausdrücklich festgelegt, dass das Kind natürlich gezeugt werden muss, um erbberechtigt zu sein.“
„Was?“
„Natürlich.“
Maren verschluckte sich fast. „Wie bitte?“
„Das ist eine alte Vorkehrung, damit kein Kind eingebracht werden konnte, das nicht blutsverwandt war.“
„Das ist hochgradig beleidigend.“
Er zog eine dunkle Braue hoch. „Es mag dich schockieren, aber damals haben die Leute keine Rücksicht auf moderne Befindlichkeiten genommen.“
„Es ist extrem beleidigend für adoptierte …“
Er hielt die Hand hoch. „Das interessiert niemanden. So sind die Vorschriften. Jede unnatürliche Art der Empfängnis würde demnach nicht unter diese Vorgaben fallen.“
„Das erscheint mir sehr mittelalterlich.“
Acastus winkte ab. „Es ist ein Schloss. Natürlich ist es mittelalterlich.“
Allmählich hatte Maren genug. Er war so herablassend. Und was er vorschlug … „Ich kenne Sie nicht einmal.“
„Was hat das damit zu tun?“
Sie sah ihn lange an. Dabei stiegen zwei Gefühle in ihr auf, ein vertrautes und ein verstörend unbekanntes. Acastus war schön. Seine Wirkung war immens, und dieser Schönheit war es auch geschuldet, dass sie sich trotz der ungewöhnlichen Umstände nicht von der Stelle rührte. Das andere Gefühl war von erschreckender Vertrautheit. Es war der Eindruck, einen Mann anzusehen, dessen Empfindungen so tief vergraben lagen, dass sie sie nicht lesen konnte. Ihr Vater war so gewesen. Ein Mann von undurchschaubarer Brutalität, der Entscheidungen ohne jedes Zögern zu treffen schien. Er tat einfach, was ihm recht und billig erschien, ohne eine emotionale Richtschnur zugrunde zu legen.
Genau dieses Gefühl vermittelte Acastus. Unnahbar und weit entfernt. Diese Mischung, zusammen mit seinem hellen Leuchten ängstigte sie. Das und die Tatsache, dass er ihr ungerührt vorschlug, ein Baby zu zeugen. Dabei war Maren noch nicht einmal geküsst worden!
Sie versuchte sich vorzustellen, wie dieses wilde, unlesbare Wesen auf sie zukam, seinen Kopf senkte und ihren Mund eroberte. Sie mochte romantische Geschichten. Sie mochte Romantik. Theoretisch. Lange hatte sie geglaubt, ihre eigenen romantischen Sehnsüchte stillen zu können, indem sie Medien konsumierte, in denen Liebe und Sex dargestellt wurden. Sie hatte eine sehr lebhafte Fantasie. Viele Nächte hatte sie wachgelegen und sich vorgestellt, wie ein Mann mit seinen Händen über ihren Körper strich. Sie küsste. Sie in Besitz nahm. Und, noch wichtiger, sie in den Armen hielt. Sie behandelte, als wäre sie etwas Besonderes. Etwas Wertvolles.
Acastus würde sie nicht auf diese Weise halten. Doch er würde sie berühren. Seine Hände … Sie fragte sich, ob sie erfahren waren. Umwerfend, wie er aussah, waren sie das vermutlich. Er könnte ihr einiges über ihren Körper beibringen, über Lust. Doch wollte sie das? Das Problem mit ihrem Gedächtnis war, dass Bilder und Gefühle nicht verblassten. Alles war stets beunruhigend gegenwärtig. Jene wunderschönen Momente mit ihrer Mutter waren Fluch und Segen zugleich. Deshalb hatte Maren eine strenge Regel festgelegt, nachdem sie und Jessie weggelaufen waren. Vor allem wegen Jessie war sie besorgt gewesen, die eine Wildheit und Schärfe besaß, die Maren nicht in sich hatte. Maren war immer sanft gewesen, zerbrechlicher als ihre Schwester. Es würde sie zerstören, jemanden zu lieben, der ihre Liebe nicht erwiderte. Sie würde stets mehr wollen. Sie würde sich sorgen, dass es nicht genug war. Dass sie nie genug sein konnte.
Aber falls sie mit einem Mann schlief und er ihr größte Lust verschaffte, würde die Erinnerung daran nie verschwinden …
„Wie kann ich sicher sein, dass ich mich nicht in Sie verliebe?“, fragte sie. Er starrte sie an. Vermutlich sollte ihr die Frage peinlich sein, aber das war sie nicht. „Das ist ein ernsthaftes Problem“, erklärte sie. „Wie ich gehört habe, verwechseln vor allem sexuell unerfahrene Menschen oft Sex mit Liebe.“
„Du bist noch Jungfrau?“
„Ja“, erwiderte sie. „Ich hatte ein ungewöhnliches Leben. Ich habe ein sehr ungewöhnliches Gehirn. Ich muss mir Gedanken um Dinge machen, die für andere unproblematisch sind. Eindrücke, die ich einmal gesammelt habe, verschwinden nie wieder aus meinem Gedächtnis. Sie sind immer da, so lebhaft wie im ersten Moment. Warum sollte ich mir einen endlosen Strom sexueller Bilder aufbürden, denen ich nicht entrinnen kann? Manche fänden das vielleicht gut, ich nicht. Ich war immer sehr vorsichtig. Und plötzlich steht ein äußerst gut aussehender Mann vor mir, der glaubt, er könnte einfach auftauchen und Zugang zu meinem Körper verlangen.“
„Verzeih mir. Ich dachte nicht, dass du noch nie …“
„Sie sind von falschen Annahmen ausgegangen.“
„Du hast den Almanach nicht gelesen“, gab er zurück.
Heißer Zorn kochte in Maren hoch. Sie stützte die Hände auf den Tisch und stand abrupt auf. „Ich habe ihn nie bekommen!“, brüllte sie. „Und dass Sie so tun, als wäre ich verantwortungslos, ist unfassbar. Ich habe diese Situation nicht herbeigeführt. Sie wollen den Titel um jeden Preis. Fein, Sie haben ihn. Warum brauchen Sie jetzt überhaupt noch ein Baby?“ Es ärgerte sie, dass sie so wütend geworden war. Es erinnerte sie an schlimme Zeiten im Haus ihres Vaters, an die Streitereien zwischen ihren Eltern, die letztendlich dazu geführt hatten, dass ihre Mutter weggegangen war.
„Es geht um Tradition und Erbfolge. Ich will, dass die Zukunft meiner Familie besser ist als ihre Vergangenheit.“
„Eine philosophische Frage für Sie, eine persönliche für mich. Ich hätte nämlich gern ein Baby. Nur deshalb habe ich Ihnen noch keinen silbernen Kerzenleuchter über den Kopf gezogen!“
„Kerzenleuchter?“
„Haben Sie nicht zugehört? Ich hatte ein sehr ungewöhnliches Leben. Meine Schwester und ich …“ Jetzt musste sie wohl doch von ihrem Vater erzählen. „Mein Vater ist ein Wahnsinniger. Oder war es. Er ist tot. Aber die Erinnerungen sind noch da. Ich sehe alles vor mir, was er je getan hat. Er war eine Art krimineller Warlord. Als meine Schwester und ich wegliefen, weil wir nicht länger seine Werkzeuge sein wollten, mussten wir in ständiger Angst leben. Wir haben versucht, uns um jeden Preis zu schützen. Also ja, wenn ich Sie niederschlagen müsste, täte ich es. Ich höre mir das Ganze hier nur an, weil ich es satthabe, allein zu sein.“
Die Enthüllungen über ihren Vater schienen ihn nicht zu schockieren oder zu verunsichern. Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte.
„Du täuschst dich in mir“, sagte er. „Mich interessiert nur, ob wir uns in einer Sackgasse befinden oder nicht. Falls du nicht zustimmst, fechte ich deinen Anspruch auf das Schloss an. Es liegt also ganz bei dir. Was ist dir wichtiger, deine Jungfräulichkeit oder eine Prinzessin zu sein?“
„Eine Prinzessin zu sein, natürlich. Ich wollte nicht für immer Jungfrau bleiben. Ich war nur vorsichtig.“ Die Antwort ging ihr erstaunlich leicht über die Lippen, doch sie ließ ihr Herz schneller schlagen. Genau in diesem Augenblick trat ein Kellner mit der Vorspeise herein, stellte das Essen ab, und verließ das Zimmer wieder.
Acastus sah sie überrascht an. „Pizza?!“
„Ja“, erwiderte sie. „Das wollte ich gern als Vorspeise haben. Ich bin die Prinzessin, ich kann essen, was ich will.“
Als er sich ein Stück vom Teller nahm, wirkte sogar diese Bewegung raubtierhaft. Sie hatte gehofft, dass es ihn irgendwie nahbarer erscheinen lassen würde, wenn er sich auf ein Stück Pizza stürzte. Beinahe menschlich. Leider war das nicht der Fall.
„Du willst lieber ein Kind mit mir, als Jungfrau zu bleiben?“
Sie bemühte sich, nicht daran zu denken. Zwar wusste sie alles über Sex in der Theorie, aber da sie noch nie welchen hatte, waren die Bilder zum Glück nicht so klar wie echte Erlebnisse. „Ja, aber wir müssen ein paar sehr strikte Regeln festlegen.“
„Welche genau?“
Sie biss von ihrer Pizza ab und kaute genüsslich. Der missfällige Ausdruck auf seinem Gesicht amüsierte sie. „Sex nur für Empfängniszwecke.“
„Was heißt das?“
„Wir warten, bis ich am fruchtbarsten bin, und dann können Sie … Ihr Bestes geben.“
Er zog eine Braue hoch. „Mein Bestes.“
„Ja.“ Sie kaute nachdenklich auf ihrer Pizza. „Ich will Sie nicht unter Leistungsdruck setzen. Männer sollen in dieser Hinsicht sehr empfindlich sein.“
Seine Miene wurde ausdruckslos. „Ich werde mein Bestes tun.“
„Mehr kann ich nicht von Ihnen verlangen.“
Wortlos sah er sie an, und sie fragte sich, ob sie tatsächlich kurz davor war, zuzustimmen. Vermutlich hatte sie das bereits. Aber sie hatte sich ein neues Leben gewünscht, und was er ihr anbot, stand dem nicht entgegen. Außerdem bekam sie das, was sie sich verzweifelt wünschte: ein Kind.
„Welche Bedingungen stellst du?“
„Abgesehen von der Empfängnissache? Sie sagten, Sie wollten nicht viel mit dem Kind zu tun haben.“
„Das Kind soll aber wissen, dass es einen Vater hat. Einen Vater, der für es sorgt. Ich bin Milliardär. Wie du sagtest, ist kein besonders großes Vermögen mit dem Palast verknüpft. Doch über mich kannst du auf ein beträchtliches Vermögen zugreifen.“
„Oh“, ihr wurde ganz schwindlig. „Ich kann Ihr Vermögen nutzen?“
„Ja“, erwiderte er. „Du bist meine Frau, und ich sorge für dich.“
„Was noch?“
„Meine Mutter wird gelegentlich hier residieren. Davon hat sie immer geträumt. Dann werde ich auch hier sein. Und sie wird als Teil der königlichen Familie angesehen.“
„In Ordnung.“ Sie hatte nichts dagegen, dass Titel reihum verteilt wurden. Jeder sollte sich daran erfreuen können.
„Doch was das tägliche Beisammensein angeht, daran habe ich kein Interesse.“
Maren nickte. „Wie gesagt, ich will mich nicht in Sie verlieben. Sie wirken nämlich nicht wie ein Mann, der lieben könnte.“ Sie hatte keine Lust auf das Drama, das ein mögliches Zusammenleben mit sich bringen könnte. Allein bei dem Gedanken machte sich Anspannung in ihr breit. Es erinnerte sie zu sehr an ihre Eltern.
Sein Blick wurde hart. „Wie kommst du darauf?“
„Sie sind kalt. Ich kann es spüren. Das ist sehr widersprüchlich, denn in Ihnen gibt es etwas, das einen Funken hat. Es fühlt sich warm an, aber gleichzeitig … Nein. Sie sind nicht die Sorte Mann, an die ich irgendwelche Träume knüpfen möchte.“
„Kluge Entscheidung“, sagte er kühl. „Das solltest du nicht. Ich werde hauptsächlich in Griechenland leben, wo sich meine Firmenzentralen befinden. Ich reise viel. Natürlich werde ich Affären haben. In sexuellen Dingen bin ich recht unersättlich. Und wenn du diesen Hunger nicht stillen möchtest, musst du akzeptieren, dass ich dir zwar mein Geld, meinen Schutz und meine Unterstützung biete, aber nicht meine Treue. Umgekehrt erwarte ich auch keine von dir.“
Das könnte sehr schmerzhaft werden. Maren überlegte. In den nächsten Wochen würde sie ihn in ihr Bett lassen, um ein Baby zu zeugen. Dann wäre er fort. Doch es käme nicht unerwartet. Wenn sie wollte, konnte sie sich Liebhaber nehmen. Sie hatte den Palast und Geld. Sie wäre nicht in einer verzweifelten Lage. Sie wollte weder Verzweiflung noch ein gebrochenes Herz. Aber sie war nicht mehr verzweifelt, und sie liebte diesen Mann nicht. Vielleicht war das hier also der Schritt hin zu dem Leben, das sie wirklich wollte.
Maren wollte ihr Leben selbst in die Hand nehmen. Wenn sie ein Kind hatte, würde sie … Sie würde das Kind nie verlassen. Acastus war ein Fremder. Und sie sah Kälte in ihm. Doch es war nicht wie bei ihrem Vater. Es steckte keine Grausamkeit dahinter. Er war ein anerkannter Geschäftsmann, kein Krimineller. Er war so sicher wie jeder andere.
„Ich möchte eine unterzeichnete Zusicherung, dass ich das Sorgerecht für unser Kind behalte, was auch passiert.“
„Unbedingt“, erwiderte er. „Das können wir machen. Wie gesagt, mir geht es um das Vermächtnis. Anders als mein Vater werde ich weder schwach noch erfolglos sein.“
„Sie mögen Ihren Vater wirklich nicht.“
„Mein Vater ist tot“, sagte Acastus. „Als er starb, beschloss ich, unser Los zu verbessern. Meine Mutter hat während ihrer gesamten Ehe darauf gewartet, dass er seine Versprechen einlöste. Während er darauf wartete, dass ein anderer Mann ihm Geld gab. Ihm königliche Würde gab. Ich will auch, dass das Versprechen erfüllt wird, aber ich habe nicht abgewartet, um meiner Mutter ein besseres Leben zu verschaffen. Und nun bekommt sie auch noch den Titel, der ihr zugesagt wurde. Sie wird keinen Grund mehr haben zu weinen. Mein Vater gab ihr viele Gründe, zu weinen. Von seiner lebenslangen Erniedrigung bis zu seinem frühen Tod, als das versprochene Glück mit ihm starb.“
„Ja, das kann ich verstehen“, sagte sie leise. „Mein Vater hat meiner Mutter auch viele Gründe gegeben, zu weinen. Vielleicht hatte ich deshalb immer Angst vor Männern. Davor, mich zu verlieben, wenigstens. Meine Mutter verliebte sich ja eindeutig in den falschen Mann.“
„Du bist vorgewarnt. Ich biete keine Liebe an, sondern etwas Besseres: Sicherheit. Alles an Geld, was zum Unterhalt des Schlosses nötig ist. Du kannst eine Prinzessin sein. Und du bekommst dein Kind.“
„Dabei scheint es fast keinen Haken zu geben.“
Er zog einen Mundwinkel hoch. „Überhaupt keinen.“
„Na dann …“
„Dann bleibt nur noch eines. Wir sollten unsere Ehe mit einem Kuss besiegeln.“
Bevor Maren protestieren konnte, war er aufgesprungen und stand vor ihr. Er riss sie auf die Füße und presste sie an das harte Inferno seines Körpers.
In diesem Moment wurde Maren klar, dass sie gar nicht protestieren wollte. Ihr Herz schlug wild. Sie hatte schon vieles erlebt, hatte Männer bei Pokerspielen betrogen. So manches Mal war sie dabei in Gefahr geraten. Schon früher hatten Männer versucht, sie zu küssen, und sie hatte sich immer zu wehren gewusst. Doch das war anders gewesen, ihr Körper hatte nicht zustimmend reagiert. Jetzt tat er es. Sie wollte es. Sie wollte, dass Acastus sie küsste.
Ihr war, als stünde sie am Rand eines Abgrunds, unter dem sich schönes, klares Wasser befand. Ja, es war gefährlich. Doch sie musste nur zulassen, dass ihre Münder sich berührten, und sie würde etwas völlig Neues erleben.
Dann, zwischen zwei Herzschlägen, drückte er seinen Mund auf ihren.
Und Maren wurde in eine neue Welt entführt.