1. KAPITEL
Im Norden ballten sich Wolken zusammen, und der Himmel verdunkelte sich. Bret musste sich beeilen. Mit einer letzten Umdrehung zog er den Stacheldraht stramm, richtete sich auf und betrachtete das Stück der Umzäumung, das er erst kürzlich repariert hatte.
Sicherlich war ein Hirsch darüber gesprungen und hatte dabei den obersten Draht gelockert, so dass der ganze Abschnitt zusammengesackt war. Seit einigen Tagen überprüfte Bret die Zäune auf seiner Ranch. Manche Bereiche des Geländes waren jedoch unwegsam, so dass er sie nicht mit dem Pick-up, sondern nur mit dem Pferd erreichen konnte. Seit zwei Tagen war er deshalb auf Hercules unterwegs.
Wenn er über die Ranch ritt, musste er besonders oft an Patti denken. Sie war selbst eine leidenschaftliche Reiterin gewesen und hatte Bret, wann immer sie konnte, mit ihrem Pferd begleitet.
Zweifellos war der Ausritt auf Hercules am gestrigen Tag auch der Grund für die Träume gewesen, die er nachts gehabt hatte.
In seinem Traum war Patti noch am Leben. Sie lag neben ihm, hielt ihn in den Armen, und er erzählte ihr, dass er glaubte, sie würde sterben. Sie lachten über diese absurde Idee. Patti schmiegte sich an ihn und versicherte ihm, dass sie ihn nie verlassen würde.
Als er am Morgen aufgewacht war, hatte er im ersten Moment geglaubt, der Traum wäre Wirklichkeit. Überglücklich hatte er den Arm ausgestreckt, um sie zu berühren. Aber der Platz neben ihm war leer.
Schließlich hatte er die Augen geöffnet und sich in der traurigen Wirklichkeit wiedergefunden.
Patti war gestorben. Seit mehr als drei Jahren lebte er nun schon ohne sie.
Sicher hatte der Traum bewirkt, dass der Verlust ihn heute besonders schmerzte. Den ganzen Tag über hatte er sich wie in jenen düsteren Monaten nach ihrem Tod gefühlt, als er geglaubt hatte, ohne sie nicht weiterleben zu können.
Ein leises Winseln und der vertraute Druck an seinem Knie brachten Bret in die Gegenwart zurück. Er bückte sich und strich seinem Schäferhund Rex über den Kopf. Obwohl der Hund nicht mehr der Jüngste war, begleitete er seinen Herrn immer noch bei der Arbeit auf der Ranch und saß neben ihm im Lastwagen, vor allem wenn es kalt war oder regnete.
„Ja, ich weiß, alter Junge“, sagte Bret. „Es kommt Sturm auf. Wir haben noch einen weiten Weg bis nach Hause. Und heute wärmt uns nicht die Heizung im Lastwagen.“
Er blickte über die Wiesen und Wege. Überall wirbelte der Wind kleine Staubwolken auf. Bret zog seinen Hut tiefer ins Gesicht und ging zu seinem Pferd hinüber.
Der Ledersattel knarrte vertraut, als er aufstieg. Bret nahm die Zügel in die Hand, blickte prüfend nach Norden und stellte fest, dass die Wolken in beängstigender Geschwindigkeit näher kamen.
Es waren bedrohliche Wolken, die Kälte und Eisregen mit sich brachten. Er musste es schaffen, noch vor dem Regen zu Hause zu sein, doch der Weg, der sich zwischen den Felsen und Kakteen hindurchschlängelte, war schon bei guten Wetterbedingungen gefährlich. Wenigstens bis zur Straße sollten sie gekommen sein, bevor das Unwetter losbrach.
Bret begann den Abstieg durch das dichte Gestrüpp des felsigen Hügels. Rex folgte dicht hinter ihm.
Auch wenn er noch ein Stück Weg vor sich hatte, so war er in Gedanken bereits bei seiner Familie. Grimmig starrte er vor sich hin.
Chris hatte ihn beim Frühstück daran erinnert, dass sie noch einen Baum brauchten, bevor die alljährliche Tannenlieferung ausverkauft sein würde. Er war derjenige, der am nachdrücklichsten darauf bestand, dass die Traditionen erhalten blieben, die Patti eingeführt hatte. Selbstverständlich musste auch jedes Jahr die alte Dekoration wieder hervorgekramt werden.
Bret fiel ein, dass er Patti einmal vorgeschlagen hatte, den alten, zerkratzten Weihnachtsengel, der noch von ihrem ersten gemeinsamen Weihnachten stammte, durch einen neuen zu ersetzen.
Bei der kleinen Figur war ein Stück vom Flügel abgebrochen, das Kleid hing schlaff herunter, und der Heiligenschein glitzerte schon lange nicht mehr. Patti hatte dennoch entsetzt und zornig das Gesicht verzogen und ihn gefragt, wie er so etwas nur sagen konnte. Der Engel gehörte zum Weihnachtsbrauch der Bishops.
Inzwischen hingen die Kinder ebenso an den Traditionen wie Patti damals. Im Haus der Bishops konnte die Weihnachtszeit daher erst beginnen, wenn der Baum aufgestellt und dekoriert war. Und wenn Bret feierlich den Engel auf die Tannenspitze gesteckt hatte.
Wenn es nach Chris ginge, würde sein Vater noch heute Abend auf der Leiter stehen und die kleine Figur an der Spitze des Baumes befestigen.
Er hatte seinem Sohn zu erklären versucht, dass er keine Zeit hatte, um in die Stadt zu fahren. Es mussten zu viele andere Dinge erledigt werden. Also hatte Chris gefragt, ob er mit Roy den Baum besorgen dürfte.
Bret wusste nicht, was er in den letzten drei Jahren ohne Roy Baker gemacht hätte. Roy hatte schon für seinen Vater als Helfer gearbeitet. Als Patti starb, zog er, ohne viel Aufhebens zu machen, auf die Ranch und erledigte die alltäglichen Aufgaben. Er wusste alles über Ackerbau und Viehzucht, hatte aber nie die Verantwortung für eine eigene Ranch übernehmen wollen.
Roy war genau der Freund, den Bret in der dunklen Zeit nach Pattis Tod gebraucht hatte, als er glaubte, ohne sie nicht mehr leben zu können.
Wo immer es nötig war, sprang er ein, ohne dass man ihn erst darauf hinweisen musste. Er war ein schüchterner Mensch, nur wenig älter als Bret.
Der war ihm sehr dankbar für die Hilfe. Sie hatten nie darüber gesprochen, wie lange Roy auf der Ranch bleiben sollte. Er hatte sich während der letzten drei Jahre in einem kleineren Nebenhaus eingerichtet und gehörte inzwischen zur Familie.
Die ersten Wochen mit dem Säugling, der nun keine Mutter mehr hatte, war für sie alle eine schmerzvolle und belastende Zeit gewesen. Bret mochte gar nicht daran denken, was geschehen wäre, wenn das Schicksal ihnen nicht in Form einer alten Freundin zu Hilfe gekommen wäre.
Freda Wilkenson hatte ihre Jugend damit verbracht, ihre gebrechliche Mutter zu pflegen. Ein eigenes Leben und gesellschaftliche Kontakte hatte sie kaum aufbauen können. Kurz nachdem Bret den kleinen Travis aus dem Krankenhaus geholt hatte, machte Freda, die kaum älter war als er, ihm einen Vorschlag.
Ihre Mutter war vor kurzem verstorben. Freda fühlte sich einsam und hatte nichts, womit sie ihren leeren Alltag füllen konnte. Sie bot Bret an, zu ihm auf die Ranch zu ziehen, ihm den Haushalt zu führen und sich um die Kinder zu kümmern.
Ohne ihre Hilfe hätte Bret wohl den Verstand verloren.
Roy und Freda waren in diesen drei Jahren immer für ihn da. Sie ermutigten ihn, sein Leben fortzusetzen und dafür zu sorgen, dass auch die Kinder ein normales Leben führen konnten. Trotzdem gab es immer wieder Momente, in denen er am liebsten sein Pferd gesattelt hätte und bis ans Ende der Welt geritten wäre.
Nach und nach stellte er dann aber fest, dass jemand, der sich um vier Kinder kümmern musste, für Selbstmitleid keine Zeit hatte.
Patti war für ihn immer noch allgegenwärtig. Er sah sie in Chris’ silbergrauen Augen oder in Brenda und Sally, die zweifellos ihre schelmische Ader geerbt hatten. Travis jedoch erinnerte ihn am meisten an sie. Als hätte sie einen Ersatz für sich schaffen wollen, hatte sie ihrem jüngsten Sohn nicht nur ihre schwarzen Locken und das hübsche Gesicht vererbt, sondern auch noch ihren sanften und liebenswerten Charakter.
Travis sprach nicht viel. Bei drei älteren Geschwistern hatte er das auch nicht nötig. Irgendjemand schien immer zu wissen, was er gerade wollte oder brauchte. Obwohl er viel Aufmerksamkeit bekam, war er nicht verwöhnt. Er war einfach ein glücklicher kleiner Junge, der allen Freude bereitete.
Beim Frühstück hatte er gehört, wie die Mädchen darüber sprachen, wann sie ihre Weihnachtseinkäufe machen würden. Er hatte alle mit der Frage überrascht, ob er auch in diesem Jahr wieder den Weihnachtsmann im Shoppingcenter anschauen dürfte. Niemand wäre auf den Gedanken gekommen, dass Travis sich an den Besuch im letzten Jahr erinnerte. Offensichtlich tat er es aber.
Um keine unnötige Zeit zu verlieren, hatte Bret zugestimmt, dass Chris mit Roy in die Stadt fuhr, um den Tannenbaum zu besorgen. Aber nur, wenn nichts Dringendes zu erledigen wäre.
Bret war ein Feigling, und er wusste es. Natürlich hätte er selbst mit Chris fahren können, aber er brachte es einfach nicht fertig. Weihnachten war für ihn die schlimmste Zeit im Jahr. Am liebsten hätte er sich unsichtbar gemacht, bis das Fest vorüber war.
Zwischen Thanksgiving und Weihnachten fielen ihm selbst die alltäglichen Einkäufe in der Stadt schwer. Glitzernde Lamettaschlangen und riesige rote Kugeln schmückten dann die Hauptstraße des kleinen Rancher-Städtchens. Jedes Geschäft war weihnachtlich dekoriert, und meist wurden auch noch Weihnachtslieder gespielt.
Man konnte der Musik einfach nicht entkommen. Selbst der Radiosender, der Countrymusik spielte, die er im Lastwagen so gern hörte, streute traditionelle Weihnachtslieder zwischen die aktuellen Hits.
Es war ausgeschlossen, der Weihnachtsstimmung zu entkommen, ganz gleich, wie sehr man sich auch bemühte.
Ein heftiger Windstoß brachte ihn in die Gegenwart zurück. Er zog den Hut tiefer in die Stirn.
Als er um sich schaute, bemerkte er, dass sie die staubige Straße, die zu den Ranchgebäuden führte, schon fast erreicht hatten. Bret verlagerte ein wenig sein Gewicht und gab damit seinem Pferd das Zeichen, das Tempo zu erhöhen. Hercules reagierte sofort mit langen Schritten. Rex trabte neben ihnen her.
In letzter Minute erreichten sie die Ranch. Als Bret das Pferd in die Scheune führte, schlugen schon die ersten dicken Hagelkörner auf den Boden. Er schickte ein stilles Dankgebet zum Himmel, bevor er Hercules den Sattel abnahm und ihn in Ruhe abkühlen ließ. Dann rieb er ihn trocken und gab ihm Futter. Er ließ sich viel Zeit. Wenn Freda und die Kinder ihn fragten, warum er so spät käme, konnte er ja sagen, er hätte das erste Unwetter abwarten wollen. Aber er wusste natürlich, dass dies eine Ausrede war.
Tatsächlich wollte er nicht ins Haus gehen, weil er Angst vor dem hatte, was ihn vielleicht erwartete. Denn wenn Roy nicht mit Chris nach der Schule in die Stadt gefahren war, würde er selbst nach dem Essen los müssen.
Hatten sie jedoch schon alles besorgt, würde er nach dem Essen mit den Kindern den Baum schmücken müssen. Im Grunde schob er das Unvermeidbare nur hinaus. Irgendwann musste er hineingehen und sich den Vorbereitungen für das Fest stellen, die seine Familie für den Abend geplant hatte.
Als er von der Scheune zum Haus hinüberlief, löste eisiger Regen den Hagel ab und verwandelte den Boden in eine matschige Rutschbahn.
Er nahm die Treppe zur hinteren Veranda. Unter dem Vordach reinigte er wie immer gründlich seine Stiefel, bevor er Fredas blitzsaubere Küche betrat, wo bestimmt schon ein duftender heißer Kaffee auf ihn wartete. Er zog die Handschuhe aus und öffnete die Tür.
Seltsamerweise brannte kein Licht, obwohl die Küche der Mittelpunkt des Hauses war. Hier war immer jemand anzutreffen.
Heute war der Raum dunkel und leer.
In Gedanken versunken hängte Bret seinen Hut und die Jacke an die Garderobe neben die Anoraks der Kinder. Ihm fiel auf, dass der von Chris fehlte, was bedeuten konnte, dass er noch mit Roy unterwegs war. Aber das erklärte nicht, warum Freda nicht in der Küche war. Um diese Uhrzeit bereitete sie normalerweise das Abendessen vor.
„Hallo“, rief er. „Keiner da?“
Oben klappte eine Tür, dann hörte er Schritte auf der Holztreppe. Zumindest war jemand zu Hause.
Die elfjährige Brenda erschien zuerst in der Tür. Ihre honigbraunen Augen verrieten ihm auch ohne Worte, dass etwas nicht stimmte.
„Dad! Gott sei Dank, dass du da bist! Du glaubst ja nicht, was heute Nachmittag hier los war!“
Bret wusste, dass seine Tochter dazu neigte, maßlos zu übertreiben, wenn sie aufgeregt war. Also versuchte er, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen, ehe er nichts Näheres wusste. Irgendetwas Ungewöhnliches musste jedoch passiert sein.
Nun tauchte die achtjährige Sally hinter ihrer Schwester auf. Auch sie sah verängstigt aus. Aber wirklich beunruhigt war Bret erst, als der dreijährige Travis hereinkam. Er hatte die Finger um den Hals seiner Stoffgiraffe geschlungen und drückte sie an die Brust. Seine Augen waren rot vom Weinen, sein Gesicht blass. Bret kniete sich hin. Travis lief zu ihm und vergrub das Gesicht an seiner Schulter.
Panik stieg in Bret auf. Den drei Jüngsten war offensichtlich nichts geschehen. Also musste es etwas mit …
„Was ist passiert? Wo ist Chris?“
„Er und Roy mussten Freda ins Krankenhaus bringen“, berichtete Brenda stockend. „Sie ist hingefallen. Dad, es war so furchtbar! Roy meinte, sie hätte sich vielleicht das Bein gebrochen. Er und Chris haben den Baum ins Haus gebracht, und Roy glaubt, dass sie wahrscheinlich auf den Nadeln ausgerutscht ist. Er hat gleich den Arzt gerufen. Und der hat gesagt, sie müsse ins Krankenhaus.“ Brenda machte eine Pause, um Luft zu holen.
Bret stand auf und nahm Travis auf den Arm. „Wie lange ist das her?“ erkundigte er sich und versuchte, seine Stimme gefasst klingen zu lassen, da er die Kinder nicht noch mehr beunruhigen wollte.
„Zwei Stunden“, warf Sally ein. „Wir haben Freda versprochen, dass wir mit Travis spielen, bis du nach Hause kommst. Das haben wir auch getan. Aber jetzt sagt er, er hat Hunger, und wir wussten nicht genau, was wir machen sollten.“
„Natürlich wussten wir das, Dad“, widersprach Brenda empört. „Ich hätte was zu essen machen können. Aber du hast uns verboten, mit Feuer zu hantieren, wenn kein Erwachsener dabei ist. Deshalb wollte ich lieber warten, bis du kommst.“
Sanft strich Bret ihr über den Kopf. „Prima, Darling. Du hast alles richtig gemacht.“
„Wir hätten ja auch Sandwichs zubereiten können“, meinte Sally rechthaberisch, während sie ihre Schwester ansah.
„Das ist eine gute Idee“, erwiderte Bret. „Bereitet schon mal alles vor. Ich rufe inzwischen im Krankenhaus an und versuche, etwas über Freda in Erfahrung zu bringen.“ Er gab Travis einen Kuss auf die Stirn, bevor er ihn in seinen Hochstuhl setzte. Mit langen Schritten durchquerte er den Flur zu seinem Büro, wo er ungestört telefonieren konnte.
Das nächstgelegene Hospital in dem dünn besiedelten Hügelland war fast fünfzig Meilen entfernt. Ein kleines Ärzteteam dort wurde von Kollegen aus den großen Städten Austin und San Antonio unterstützt, wenn besondere Maßnahmen notwendig waren. Wegen der medizinischen Versorgung brauchte Bret sich also keine Sorgen um Freda zu machen. Dennoch wollte er so schnell wie möglich herausfinden, wie ernst ihre Verletzungen waren.
Er rief im Krankenhaus an und ließ Roy ausrufen. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis er ihn endlich am Apparat hatte.
„Wie geht es ihr?“
Als Roy lachte, fiel die Anspannung langsam von Bret ab. „Diese Frau ist wirklich ein Dickkopf, Boss. Sie will unbedingt noch heute Abend nach Hause. Meint, sie hätte zu viel zu tun und könnte die Kleinen nicht allein lassen. Du kennst sie ja.“
„Was ist denn eigentlich passiert? Die Kinder waren ein bisschen aufgeregt, und ich bin nicht sicher, ob ich sie richtig verstanden habe.“
„Freda ist auf irgendwas ausgerutscht. Ich habe doch mit Chris den Baum ins Haus gebracht. Dabei sind natürlich Nadeln abgefallen. Vielleicht ist auch Harz auf den Boden getropft. Auf jeden Fall ist Freda ausgerutscht und ziemlich unglücklich gestürzt. Sie hatte solche Schmerzen, dass ich mir gleich dachte, sie hat sich bestimmt das Bein gebrochen.“
„Und, was sagt der Arzt?“
„Ihr Bein ist tatsächlich gebrochen. Sie soll jetzt noch auf andere Verletzungen untersucht werden. Ich habe ihre Schwester in Austin benachrichtigt. Sie kommt her und kümmert sich um Freda.“
„Hat der Arzt schon gesagt, wie lange sie im Krankenhaus bleiben muss?“
„Er will sie einige Tage hier behalten. Davon wollte Freda natürlich nichts hören.“
„Sag ihr, sie soll aufhören, sich um mich und die Kinder zu sorgen. Es geht uns gut. Ich möchte, dass sie sich ausruht und wieder gesund wird. Sag ihr, sie soll sich zurücklehnen und sich zur Abwechslung einmal selbst bedienen lassen … einfach so tun, als wäre sie im Urlaub.“
„Wundervoller Urlaub“, murmelte Roy.
„Nun ja. Ist Chris bei dir?“
„Ja. Ich weiß nicht, was ich heute Nachmittag ohne den Jungen gemacht hätte. Er hat mir mit Freda geholfen wie ein erwachsener Mann, der genau weiß, was zu tun ist. Ich war tief beeindruckt von seiner ruhigen und besonnenen Art. Dein Sohn wird erwachsen.“
„Ja, ich weiß.“
„Mir war das vorher noch nie aufgefallen, aber er ist ja schon fast so groß wie ich“, meinte Roy verwundert. „Wann hat er nur diesen Schub gekriegt?“
„Ich habe es auch erst vor ein paar Tagen bemerkt, Roy. Ich glaube, das passiert, wenn man sie anständig ernährt.“ Bret sah auf die Uhr. „Wie lange bleibst du noch im Hospital?“
„Ich warte auf die Ergebnisse der letzten Röntgenaufnahmen. Und dann kaufe ich dem Jungen erst mal was zu essen, bevor wir uns auf den Weg machen.“
Bret rieb sich die Stirn, hinter der sich ein pochender Schmerz ausbreitete. „Klingt vernünftig.“
„Wenigstens haben wir den Baum schon aufgestellt. Du kannst ihn heute Abend mit den Mädchen schmücken. Das wird sie ablenken. Sie waren vorhin ziemlich durcheinander.“
„Das habe ich bemerkt. Aber sie haben sich gut verhalten. Brenda macht gerade Sandwichs.“ Er seufzte, da er beschlossen hatte, sich in das Unvermeidliche zu fügen. „Du hast Recht. Ich denke, ich werde nachher auf den Dachboden gehen und die Dekoration suchen.“
„Schön. Dann bis später.“
„Grüß Freda von mir. Sag ihr, dass ich sie morgen früh besuche, wenn die Kinder in der Schule sind.“
Bret legte den Hörer auf. Ein gebrochenes Bein, womöglich sogar noch schlimmere Verletzungen. Warum musste das passieren? Es war doch vollkommen sinnlos. Freda lag im Krankenhaus, und er saß da und überlegte, wie es weitergehen sollte.
Gut, die drei Älteren waren tagsüber in der Schule, zumindest bis zu den Weihnachtsferien. Travis konnte er vielleicht mitnehmen oder seine Arbeit auf der Ranch verschieben, bis er jemanden gefunden hatte, der auf den Jungen aufpasste.
Aber wie sollte er eine Hilfe finden, zumal in der Vorweihnachtszeit, da alle mit ihrer eigenen Familie beschäftigt waren?
Er setzte sich an den Schreibtisch, stützte die Ellbogen auf und legte die Hände vor das Gesicht. Aber zum Ausruhen hatte er keine Zeit. Er musste noch die verdammte Dekoration vom Dachboden holen. Dann musste er den Kindern helfen, den Baum zu schmücken und danach Travis baden und dafür sorgen, dass die Mädchen nicht zu spät ins Bett kamen.
„Oh, Patti“, flüsterte er. „Ich brauche dich so sehr.“
Als hätte Rex seine Gefühle gespürt, trottete er ins Büro und legte den Kopf auf sein Knie.
Bret richtete sich auf und schaute den Hund an. „Willst du mich trösten?“
Rex wedelte mit dem Schwanz.
„Die Einzige, die getröstet werden muss, ist Freda. Uns anderen geht es doch gut.“
Aber davon war er selbst nicht recht überzeugt. Wie sollte er nur ohne Haushälterin zurechtkommen? Andererseits, was nützte es, sich über die Zukunft den Kopf zu zerbrechen? Er musste die Dinge so nehmen, wie sie kamen.
„Los gehts, alter Freund“, sagte er, während er aufstand und Rex streichelte. „Wir haben heute Abend noch ein volles Programm.“
Bret ging ins Bad, um sich zu erfrischen, bevor er nachschaute, was Brenda zubereitet hatte.
Nach dem Essen räumten alle zusammen die Küche auf. Brenda bot an, Travis zu baden, damit Bret unterdessen den Weihnachtsschmuck holen konnte. Etwas ist mit meinen beiden Ältesten geschehen, überlegte er, während er die Leiter zum Dachboden hinaufstieg. Fredas Unfall führte dazu, dass er Brenda und Chris in einem neuem Licht sah. Beide hatten sofort ihre Hilfe angeboten. Chris hatte Roy unterstützt, während Brenda auf ihre jüngeren Geschwister aufgepasst hatte. Sie versuchte, die alltägliche Routine aufrechtzuerhalten, um Sally und Travis nicht noch zusätzlich zu beunruhigen. Die Älteren hatten eine Reife gezeigt, die ihn zutiefst rührte.
Und genau das nahm Bret sich auch vor. Eigentlich war er sogar ganz froh, dass sie den Baum schmücken konnten. Das würde die Kinder bis zum Schlafengehen beschäftigen.
Während er sich auf dem Dachboden umschaute, dankte er Freda im Stillen für ihre Ordnung. Die Kartons mit dem Weihnachtsschmuck standen sauber beschriftet in einer Ecke, so dass er wenig später alles gefunden hatte und den ganzen Stapel nach unten bringen konnte.
Als die Kinder frisch gebadet und im Schlafanzug herunterkamen, testete er gerade die Lichterkette.
„Es gibt immer Schokolade, wenn wir den Baum schmücken“, bemerkte Sally mit Nachdruck. „Dürfen wir heiße Schokolade trinken?“
„Nun … ich weiß nicht, ob wir so viel Zeit …“
„Keine Sorge, Dad“, erwiderte Brenda. „Ich habe die Schokolade schon fertig.“ Sie lächelte ihn überlegen an. „Muss nur noch heiß gemacht werden. Pass du solange auf die Kleinen auf.“
Er öffnete die Kartons und verteilte sie um den Baum herum.
„Sieh nur, Daddy!“ hörte er Sally hinter sich sagen. „Unser Engel! Ist der nicht hübsch?“
Bret blickte auf den zerbeulten Karton, in dem der Christbaumengel aufbewahrt wurde. Das Kleid war nicht mehr so steif und glänzend, und das wellige Haar musste dringend gebürstet werden. Nur die tiefblauen Augen waren eindringlich wie immer. Keine andere Figur hatte ein so ausdrucksvolles Gesicht. Der kleine Engel war und blieb für Bret das Symbol einer anderen Zeit … als er jung war … als er an das lebenslange Glück geglaubt hatte.
Er war froh, dass Patti darauf bestanden hatte, den Engel zu behalten. Diese kleine Figur rührte bittersüße Erinnerungen auf, und genau diese Erinnerungen machten einen großen Teil seiner Persönlichkeit aus.
Bret beobachtete Sally, wie sie den kleinen Engel ehrfürchtig aus dem Karton nahm und das zerdrückte Kleid glättete. Sie blickte zu ihrem Vater hoch und strahlte. Wieder einmal erkannte er Pattis Lächeln im Gesicht seiner Tochter.
„Hier, Daddy.“
Er nahm ihr die Figur ab. „Noch nicht, mein Schatz. Du weißt doch, der Engel kommt immer zum Schluss an die Reihe, wenn alles andere aufgehängt ist. Und danach machen wir die Lichter an.“
Bret schaute auf den Engel in seiner Hand. Wie gebannt blieb sein Blick an der Figur haften, während die Kinder schnell ihre Schätze aus den vergangenen Jahren an den Baum hängten. Er schob eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht und drückte zart die weiche Lockenpracht in der Hand zusammen, um sie ein wenig zu bändigen.
Dieser Engel schien ihn so wissend anzuschauen, dass er sich fast einbilden konnte, sie würde ihn und seinen Kummer verstehen. Natürlich war das Unsinn. Wie konnte er beim Anblick der Figur nur so sentimental werden. Auch wenn sie ein Engel war!
Er legte ihn auf den Kaminsims und hob Travis hoch, damit er auch die höheren Zweige schmücken konnte.
„Dad?“ Brenda kam mit einem Tablett herein, das sie auf dem Kaffeetisch abstellte. „Wie geht es denn nun Freda, und wann kommt Chris nach Hause?“
„Er kommt erst spät, weil er so lange mit Roy im Hospital bleibt, bis der Arzt mit allen Untersuchungen fertig ist.“
„Hat sie sich das Bein gebrochen?“
„Ich fürchte ja, Liebling.“
„Wer kümmert sich dann um uns?“ fragte Sally. „Was sollen wir denn ohne Freda machen?“
Bret rückte Travis auf seiner Hüfte zurecht, gab ihm ein kleines Pferd und wartete, bis der Junge für die Figur den seiner Ansicht nach richtigen Platz gefunden hatte. „Wieso?“ meinte er schließlich. „Letzten Sommer, als Freda für ein paar Tage ihre Schwester besucht hat, sind wir doch auch zurechtgekommen. Keiner von uns ist verhungert.“
Brenda kicherte. „Das stimmt, Dad. Aber du hast ziemlich komisch ausgesehen mit Fredas Schürze, als du die Pfannkuchen gebacken hast.“
Sally stimmte ein. „Und du bist ganz schön böse geworden, als dir die Brötchen verbrannt sind, die es zum Abendessen geben sollte.“
Bret zwang sich zu einem Lächeln. „Okay. Ich brauche vielleicht etwas mehr Übung. Aber diesmal klappt es bestimmt schon besser. Laut Wetterbericht kann ich in den nächsten Tagen ohnehin nicht draußen arbeiten.“ Er sah seinen Sohn an. „Travis und ich werden uns schon irgendwie beschäftigen. Stimmts, Partner?“
„Ist Freda Weihnachten wieder hier?“ wollte der Kleine wissen.
Da Travis sonst wenig sprach, schauten ihn alle erstaunt an.
Bret drückte ihn an seine Brust. „Das hoffe ich, mein Sohn. Aber genau kann man das jetzt noch nicht sagen.“
„Nächsten Freitag fangen die Ferien an, Dad.“
„Ich weiß, Brenda.“
„Dann sind wir zwei Wochen lang den ganzen Tag zu Hause“, warf Sally triumphierend ein.
„Schön“, entgegnete Bret und machte sich mit den Kindern daran, den Baum fertig zu schmücken.
„Vielleicht können wir Freda besuchen“, schlug Brenda nach einer Weile vor, „und ihr sagen, wie sehr sie uns fehlt und wie Leid es uns tut, dass sie sich verletzt hat.“
„Das können wir bestimmt bald machen“, erwiderte Bret. „Ich spreche morgen mit dem Arzt und erkundige mich, wann sie Besuch haben darf.“ Er schaute auf die Uhr. „Für euch ist es höchste Zeit. Die Ferien fangen erst Freitag an.“
„Aber Dad …“
„Wir müssen doch noch …“
Brenda und Sally redeten durcheinander, aber Travis übertönte sie noch. „Du hast den Engel vergessen“, rief er entrüstet.
Bret trat vom Baum zurück und betrachtete ihn. Alles hing an seinem Platz, nur der Engel fehlte.
„Sorry, Leute“, murmelte er, während er Travis auf den Boden stellte. Dann nahm er den Engel, zupfte noch einmal Kleid und Haare sorgfältig zurecht und stieg auf einen Stuhl.
So wie er es seit Jahren gemacht hatte, steckte er den Engel mit dem Gesicht zum Zimmer auf die Tannenspitze. Er stieg vom Stuhl herunter, ging zum Lichtschalter und knipste das Deckenlicht aus. Dann ging er zurück, um die Lichterkette einzuschalten.
Der Baum erstrahlte von unzähligen kleinen Lichtern, die zwischen den Zweigen flackerten.
„Oh“, seufzte Travis leise. Die Mädchen nahmen ihn an die Hand und blickten ehrfürchtig auf die Tanne.
„Schade, dass Chris nicht hier ist“, sagte Brenda. „Es ist das erste Mal, dass wir den Baum ohne ihn geschmückt haben.“
„Ja, Liebling“, erwiderte Bret. „Er fehlt mir auch, aber Roy sagte, er wäre ihm heute eine große Hilfe gewesen. Und immerhin hat Chris den Baum mit ausgesucht.“ Er schwieg eine Weile, um den magischen Anblick auf sich einwirken zu lassen. Der Engel thronte wie ein wohlwollender Monarch auf der Spitze.
Dieser Engel gehörte zur Familie, seit es sie gab. Irgendwie tröstete es Bret, dass er wieder bei ihnen war. In seiner Gegenwart schienen die Probleme plötzlich gar nicht mehr so groß.
Schließlich wandte sich Brenda ab, ließ aber die Hand ihres kleinen Bruders nicht los. „Soll ich Travis ins Bett bringen, Dad?“
„Danke, aber ich glaube, wir Männer schaffen das schon“, erwiderte er, während er seinen Sohn anlächelte und die Hand ausstreckte. Travis ergriff sie und nickte heftig.
Bret beschäftigte sich gern mit dem Jungen und nutzte jede Gelegenheit dazu. Es machte ihm Freude, durch ihn die Welt mit den Augen eines Dreijährigen zu sehen. Außerdem wollte er vermeiden, dass sich die Mädchen von der Verantwortung für ihren kleinen Bruder erdrückt fühlten, auch wenn sie sehr geduldig mit ihm waren. Deshalb brachte Bret den Jungen jeden Abend ins Bett.
Sein Jüngster konnte gar nicht schnell genug die Treppe hinauflaufen, zweifellos um eine Geschichte auszusuchen, die sein Vater ihm vorlesen sollte. Die Mädchen redeten über die Schule, als sie nach oben gingen. Bret beschloss, die Lichterkette für Chris brennen zu lassen. Er würde ohnehin erst schlafen gehen, wenn sein Ältester zu Hause war.
Als Bret einige Zeit später Chris die Treppe heraufkommen hörte, war Travis gerade eingeschlafen, die geliebte Giraffe fest im Arm.
Er ging über den Flur und wartete vor seinem Zimmer auf Chris. Roy hatte Recht. Der Junge wuchs schnell. Er war nicht nur groß geworden, sondern hatte auch die jungenhafte Statur verloren. Sein Gesicht hatte sich ebenfalls verändert und schärfere, ausgeprägte Züge bekommen.
„Wie gehts, Dad?“ fragte Chris, der seinem Vater in dessen Zimmer folgte und sich dort aufs Bett fallen ließ.
Bret knöpfte sich das Hemd auf. „Gut. Und was macht Freda?“
„Sie hat geschlafen, als wir gingen. Der Arzt hat ihr etwas gegen die Schmerzen gegeben. Das linke Bein ist gebrochen, außerdem hat sie sich rechts den Knöchel verstaucht. Wahrscheinlich als sie den Sturz abfangen wollte. Ich kann dir sagen, sie hatte große Schmerzen, als wir sie ins Krankenhaus fuhren. Aber sie hat die Zähne zusammengebissen.“
„Weiß man schon, wie lange sie im Krankenhaus bleiben muss?“
„Der Arzt sagt, mindestens eine Woche. Vielleicht bekommt sie einen Streckverband …“ Er hielt inne, als Travis ins Zimmer kam.
„Ich dachte, du schläfst längst“, sagte Bret kopfschüttelnd.
Travis kümmerte sich nicht um ihn, sondern krabbelte zu seinem Bruder aufs Bett. „Der Engel ist da“, berichtete er aufgeregt.
Chris sah seinen Vater fragend an.
„Wir haben vorhin den Baum geschmückt“, erklärte Bret.
Das also hatte der Kleine gemeint. „Aha, der Engel ist also da“, sagte Chris zu Travis. „Freust du dich darüber?“
Der Junge nickte heftig. „Er redet immer mit mir.“
Wieder sah Chris seinen Vater kurz an, bevor er etwas erwiderte. „Ich weiß, Travis“, sagte er lächelnd. „Mit mir hat er früher auch geredet.“
Der Kleine runzelte die Stirn. „Tut er das jetzt nicht mehr?“
Chris überlegte einen Moment. „Gute Frage. Vielleicht höre ich heute einfach nicht mehr so genau hin“, räumte er ein.
„Jetzt aber ab ins Bett, mein Sohn. Du solltest längst schlafen.“ Bret hob Travis hoch, brachte ihn wieder ins Bett, gab ihm einen Kuss und schloss leise die Tür.
Chris wartete im Flur auf ihn. „Was machen wir denn jetzt, Dad?“
„Irgendwie schaffen wir das schon. Travis bleibt bei mir. Du und die Mädchen, ihr seid alt genug, um selbst auf euch aufzupassen.“
„Ich hatte heute richtig Angst. Wir haben Freda schreien hören, als hätte sie sich erschrocken. Dann gab es einen dumpfen Aufprall, und danach polterten die Töpfe auf den Boden.“ Er schüttelte den Kopf. „Nur gut, dass Roy hier war.“
„Ja. Und ich bin auch froh, dass ihr den Baum geholt habt. So hatten die Kleinen heute Abend wenigstens etwas zu tun.“
„Bist du mit den Zäunen fertig?“
„Das Gröbste ist geschafft. Und der Rest muss warten.“ Er klopfte seinem Sohn auf die Schulter. „Es wird schon werden.“ Bret sah auf die Uhr. „Geh jetzt schlafen. Es ist ohnehin schon sehr spät für dich.“