Bianca Exklusiv Band 189

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EIN HEISSER KUSS - UND SCHLUSS? von BROOKS, HELEN
Für Sephy ist es die Chance ihres Lebens: Sie kann dem Multimillionär Conrad Quentin assistieren! Dass es dabei um mehr geht, wird Sephy schnell klar. Denn Quentin beginnt nach allen Regeln der Kunst, um sie zu werben - sogar mit Diamanten. Aber Sephy ist nicht käuflich!

BITTERSÜSSE STUNDEN DER LIEBE von MALLERY, SUSAN
Am Hof des Königs von Bahania trifft Cleo den unwiderstehlichen Prinzen Sadik. Er ist viel zu aufregend, um ihm eine Liebesnacht auszuschlagen. Doch dass Cleo gleich schwanger wird, ist eine Katastrophe! Sie ist so gar nicht standesgemäß und er so kühl und distanziert …

HEIMKEHR NACH HIGHFIELD MANOR von FRASER, ALISON
So schwer es Esme fällt: Sie muss das Familienanwesen Highfield Manor verkaufen. Und ausgerechnet Jack Doyle will es haben! Bevor er vor Jahren nach Amerika ging und Millionen machte, verbrachte Esme eine Nacht mit ihm. Doch von deren süßen Folgen hat er nie erfahren …


  • Erscheinungstag 04.08.2009
  • Bandnummer 189
  • ISBN / Artikelnummer 9783862955978
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

ALISON FRASER

Heimkehr nach Higfield Manor

Das Anwesen Highfield Manor ist genau das, was der Millionär Jack Doyle gesucht hat. Seine Jugendfreundin Esme muss es verkaufen, da sie allein für sich und ihren süßen Sohn aufkommen muss. Jack findet Esme noch genauso anziehend wie damals, als sie eine zauberhafte Liebesnacht miteinander verbrachten. Etwa ein dreiviertel Jahr, bevor das Kind geboren wurde …

SUSAN MALLERY

Bittersüsse Stunden der Liebe

Cleo möchte einen Mann, der sie so liebt wie sie ihn. Nicht einen, der sie nur heiratet, weil sie ein Kind von ihm erwartet – selbst wenn er der unfassbar reiche und so gut aussehende Prinz Sadik von Bahania ist. Viel zu sehr hängt Sadik noch an seiner verstorbenen Verlobten. Also holt Cleo die Erlaubnis des Königs ein, gehen zu dürfen. Schweren Herzens …

HELEN BROOKS

Ein heisser Kuss – und Schluss?

Sephy erhält die Chance ihres Lebens: Sie kann direkt für den Unternehmer und Multimillionär Conrad Quentin arbeiten! Sie ist begeistert. Und ihr neuer Boss ist es auch: allerdings nicht nur von ihrer Arbeit. Doch Sephy bleibt hart. Sie trennt Beruf von Privat. Zumindest, bis sie hohes Fieber zu einem längeren Aufenthalt in seiner italienischen Villa zwingt …

1. KAPITEL

Es sollte für Esme einer dieser Momente werden, die das Leben veränderten. Sie öffnete die Tür, und da stand er. Er sah nicht viel anders aus als früher. Älter, natürlich, und besser angezogen: in dunklem Anzug, mit Seidenkrawatte.

„Midge?“ Er lächelte unsicher.

Sie blieb ernst, konnte es einfach nicht fassen.

„Jack Doyle“, stellte er sich vor.

Ziemlich überflüssig. Glaubte er etwa, sie hätte vergessen, wie er aussah? Groß, dunkelhaarig, graue Augen, dieses markante Gesicht, das schalkhafte Lächeln. „Ich …“, begann sie und verstummte. Sie fühlte sich wieder wie der unbeholfene Teenager mit Babyspeck und dem furchtbaren Spitznamen „Midge“.

Schweigend musterte er sie. Mit halb geschlossenen Augen ließ er den Blick von ihrem welligen blonden Haar und dem fein geschnittenen Gesicht zu ihrem schlanken Körper hinuntergleiten. „Wer hätte das gedacht? Die kleine Midge ist erwachsen geworden!“

„Kein Mensch nennt mich mehr so!“ Endlich hatte sie die Sprache wieder gefunden. Dann fuhr sie in betont herablassendem Tonfall fort: „Was kann ich für dich tun?“

„Ängstlich?“, fragte er.

„Wie bitte?“

Amüsiert lächelnd schüttelte er den Kopf.

Das kannte sie noch von früher. Jack Doyle hatte alle Mitglieder ihrer Familie immer so angesehen, als gehörten sie einem Kabinett menschlicher Kuriositäten an. Aus Respekt hatte er das aber nie gesagt.

„Du hast dich nicht verändert!“, warf sie ihm vor. „Du dich schon“, erwiderte er. „Du hast die Manieren einer Gutsherrin angenommen.“ Esme machte ein finsteres Gesicht. „Besser, als keine zu haben!“ Zurecht wirkte er überrascht. Jack Doyle, der Sohn der damaligen Köchin, hatte zwar nur die lokale Bezirksschule besucht, aber stets gute Manieren gezeigt. Er kniff die Augen leicht zusammen und entgegnete: „Nun, du wirst bald wissen, wie es ist, nicht die Gutsherrin zu sein.“

Er hat gehört, dass der Landsitz verkauft werden soll! „Soll das jetzt ein Scherz sein?“

„Nein.“

„Ist deine Mutter da? Oder muss ich gnädige Frau sagen?“

„Nein, das musst du nicht. Mutter hat nämlich wieder geheiratet.“

„Ach ja, und damit hat sie natürlich ihren Titel verloren. Arme, alte Rosie. Das muss ja ein traumatisches Erlebnis für sie gewesen sein.“

Das war es tatsächlich gewesen. Rosalind, Esmes Mutter, die niemals jemand Rosie nennen durfte, hatte sich wirklich schwer getan, ein zweites Mal zu heiraten.

„Ist sie da?“, fragte er wieder.

„Nein.“

„Und Arabella?“, fragte er eher beiläufig.

Doch Esme ließ sich nicht täuschen. Jack war nie gleichmütig gewesen, wenn es um Arabella gegangen war. „Nein, sie ist in New York“,erklärte sie und fügte nach kurzem Zögern noch hinzu: „Mit ihrem Mann.“

Jack schien unberührt, aber er hatte seine Gefühle ja schon immer gut verbergen können. Nein, nicht immer, fast immer.

„Lebt sie dort?“

„Momentan, ja.“ Das stimmte. Arabella würde noch eine Weile in New York bleiben. Auch ihr Mann war dort. Esme musste Jack ja nicht erzählen, dass die beiden sich gerade scheiden ließen. „Ich würde mich ja gerne noch ein bisschen mit dir unterhalten, Jack, aber ich erwarte jemanden.“

„Ich weiß.“ Wieder schien ihn etwas zu amüsieren.

„Bist du etwa der Mann von der Firma Jadenet?“

„Ja, der bin ich.“ Er beobachtete, wie sich allmählich ihr Gesichtsausdruck veränderte. Anfangs hatte er sich gefreut, als sie ihm die Tür geöffnet hatte. Er hatte Esme schon immer gemocht. Sie war in seinen Augen die Beste von den Scott-Hamiltons. Und jetzt war sie noch hübscher geworden, vielleicht sogar schön. „Ruf den Makler an“, schlug er vor. „Erkundige dich nach meinen Referenzen, wenn du willst.“ Er hielt ihr sein Handy hin.

Sie nahm es nicht an. Sie glaubte ihm ja, obwohl sein Verhalten sie irgendwie ärgerte. „Du hast keine Vorstellung, nicht wahr?“

Verständnislos runzelte er die Stirn. „Offensichtlich nicht.“

„Weißt du eigentlich, seit wie vielen Jahren den Scott-Hamiltons dieser Landsitz schon gehört?“, fragte sie mit für sie ungewöhnlicher Arroganz.

„Warte, sag es mir nicht“, erwiderte er, nun ebenfalls überheblich. „Seit der Magna Charta,seit es die feudalen Vorrechte des Adels gegenüber dem König gibt?“

Esme war nie eine große Leuchte in Geschichte gewesen, wusste es also nicht. Aber das war wohl auch unwichtig, denn jetzt machte Jack sich ganz klar über sie lustig. Das hatte er früher schon immer gern getan. Nur damals hatte er sie auch liebevoll behandelt. „Was soll’s? Du würdest es sowieso nicht verstehen.“

„Weil ich von einfacher, bäuerlicher Herkunft bin, meinst du?“, fragte er leicht spöttisch.

Sie fühlte sich unwohl, weil sie sich wie ein Snob benahm, obwohl sie eigentlich nicht eingebildet war. Jack Doyle hatte sie einfach aus der Fassung gebracht. „Das habe ich nicht gesagt.“

„Musstest du auch nicht. Ich weiß, wie deine Familie über mich denkt. Das habe ich aus berufenem Munde gehört, weißt du noch?“

Sie errötete. Natürlich wusste sie das noch, sehr genau sogar. „Ich dachte immer, du wärst anders, Midge.“ Er musterte sie wieder mit seinen dunkelgrauen Augen.

Am liebsten hätte sie gesagt: Ich war anders. Ich bin anders. Doch es erschien ihr klüger, die Barriere zwischen ihnen aufrechtzuerhalten. „Nenn mich nicht Midge“, sagte sie dann leise. „Ich bin keine zehn Jahre alt.“

„Nein.“ Er blickte die neue Esme wieder prüfend an. Sie war schlank, hatte lange Beine und Rundungen genau an den richtigen Stellen, an Brüsten und Hüften. „Das sehe ich.“

Es war die Ironie des Lebens. Vor zehn Jahren hatte Esme sich nach einem solchen Blick gesehnt, jetzt war er ihr unangenehm. „Papiere?“, fragte sie laut. „Du hast doch irgendetwas dabei?“

„Was für Papiere?“

„Na, als Nachweis, dass es dein Besichtigungstermin ist.“

Jack verzog den Mund, während er überlegte, was Miss Hochwohlgeboren Scott-Hamilton sich einbildete, wen sie hier vor sich hatte. Er griff in die Brusttasche seines Jacketts, zog die Brieftasche hervor, öffnete sie und nahm eine Visitenkarte heraus.

Esme nahm die Karte und las:

Jack Doyle

Managing Director

J. D. Net

Er war der Geschäftsführer! Sie musste ihre Mutter falsch verstanden haben. Esme hatte Jadenet verstanden, anstatt J. D. Net. Wie in Jack Doyle Net?

Was hatte ihre Mutter noch über den Interessenten gesagt? Irgendein amerikanisches Internetunternehmen, Millionen Dollar schwer. War Mutter ahnungslos oder nur zu stolz gewesen, die Wahrheit zuzugeben?

„Weiß Mutter, dass du dahinter steckst?“, fragte sie direkt.

Er zuckte die Schultern. „Möglicherweise nicht. Ich habe den Termin nicht persönlich vereinbart.“

Nein, dafür hatte er natürlich seine Lakaien. „Kaufen Sie das Haus, in dem ich aufgewachsen bin“, hatte er wahrscheinlich gesagt. Rein technisch gesehen war das aber nicht möglich. Das Cottage im Park, das Häuschen, in dem er gewohnt hatte, sollte nicht mitverkauft werden.

„Komm doch herein“, forderte sie ihn schließlich auf. Er folgte ihr durch die öde und leer wirkende Eingangshalle. Esmes Mutter hatte die meisten Möbel versteigern lassen. Das Gutshaus hatte ebenfalls versteigert werden sollen, doch niemand hatte den Mindestpreis geboten. Deshalb versuchten sie nun, so einen Käufer zu finden.

Der Marmorfußboden hatte ein Schachbrettmuster und wirkte leicht abgenutzt, aber immer noch prachtvoll. Jack Doyle blickte einen Moment lang zur breiten Treppe hinüber und dann zur Galerie empor.

Esme beobachtete, wie er alles genauestens ansah, vielleicht schon in Gedanken einrichtete.

Schließlich durchquerte er die Halle und ging zum Salon hinüber. Er schob die Doppeltür auf und blickte kurz hinein. Nach und nach machte er das anschließend ebenso mit den anderen Räumen, bis er dann schließlich zum ehemaligen Speisezimmer kam, wo er länger stehen blieb.

Das Zimmer war leer. Ob Jack wohl an den bewussten Abend dachte? An den Abend, an dem er den Raum betreten und Arabella gesucht hatte? Arabella war damals nicht da gewesen, hatte Rosalind als Vermittlerin benutzt. Und die hatte diese Rolle anscheinend sehr genossen. Esme hatte großes Mitleid mit Jack gehabt!

„Ich würde mich gern noch einmal oben umsehen“, bat Jack mit ausdrucksloser Miene.

Sie wusste, sie sollte sich bemühen, das Haus zu verkaufen, aber doch bitte nicht an ihn!

Jack begann, die Stufen hinaufzugehen. Sie ging hinter ihm her. Als er auf halber Treppe am Etagenfenster stehen blieb, nahm Esme allen Mut zusammen und fragte: „Hattest du immer den Ehrgeiz, zurückzukommen und das Anwesen zu kaufen?“

„Aha, dein Interesse für bestimmte Bücher ist geblieben.“

„Ich verstehe nicht ganz.“

Jane Eyre?“ Er zog die Augenbrauen hoch. „Oder war das in Sturmhöhe? Der Roman, in dem der ungehobelte Stalljunge als reicher Mann zurückkehrt, um die Familie in ein Chaos zu stürzen?“

„Das kommt in Sturmhöhe vor.“

Er nickte, blickte aus dem Fenster und sah auf die Steinterrassen und die Rasenflächen, die zu den ungenutzten Tennisplätzen führten. Dann betrachtete er den Irrgarten und den kleinen Teich, der dahinter lag. „Nun ja, das hier ist ja auch nicht Heathcliff. Ich glaube auch nicht, dass Cathy, die Heldin des Romans, da draußen nach mir ruft.“

Wieder machte er sich lustig. Doch Esme wusste, wie sie ihm das Lachen austreiben konnte. „Du meinst wohl eher Arabella?“

„Arabella?“ Er verzog den Mund zu einer schmalen Linie. „Die große Liebe meines Lebens, meinst du?“

Esme war überrascht, dass es immer noch wehtat.

„Da muss ich dich leider enttäuschen. Ich habe mich nämlich weiterentwickelt, habe noch zwei, drei andere große Lieben gehabt.“

„Wie wundervoll für dich, und die Frauen, natürlich“, erwiderte Esme betont freundlich. Sie verbarg ihre wahren Gefühle hinter Sarkasmus. Was sonst konnte sie schon tun? Ihm erzählen, welch schwere Zeit sie gehabt hatte, während er es sich hatte gut gehen lassen? Außerdem stimmte das auch nicht ganz. Sie und Harry waren ja eigentlich glücklich.

Einen Moment lang wirkte Jack überrascht. Das war ja eine ganz andere Esme als früher.

Sie ging jetzt vor ihm zur Galerie im ersten Stock hinauf.

„Egal. Es ist übrigens eher Zufall, dass wir den Landsitz kaufen wollen.“

Wir? Meinte er damit die Firma, oder gab es da noch eine andere Person?

„Wir brauchen einen Standort in der Nähe von London. Sussex ist gut gelegen für den Kontinent, und Highfield ist eine von den drei Möglichkeiten, die uns die Agentur angeboten hat“, erklärte er, während Esme ihm den ersten der zwölf Räume im Obergeschoss zeigte. „Unglücklicherweise ist unsere erste Wahl bereits verkauft und die zweite für gewerbliche Nutzung nicht genehmigt. Also bleibt nur noch Highfield übrig.“

Es hörte sich an, als müsste er sich nun wohl oder übel mit dem Landsitz begnügen. Esmes geliebtes Zuhause, der schönste Landsitz der Gegend. „Na, macht nichts“, sagte sie wieder gefasst und durchschritt die Räume wie ein übereifriger Immobilienmakler. „Zumindest hat es einen großen Vorteil.“

„Und der wäre?“ Jack war ihr die ganze Zeit über brav gefolgt. Damit sie endlich einmal stehen blieb, lehnte er sich jetzt gegen einen Türrahmen.

„Nun, du könntest ja behaupten, es wäre der Sitz deiner Familie“, schlug sie ihm vor. „Das würde deine neureichen Freunde mächtig beeindrucken.“ Bevor sie den Satz zu Ende gesprochen hatte, wusste sie, dass sie zu weit gegangen war, aber es war ihr egal. Sie wollte ihn verletzen, wie er sie verletzt hatte. Niemals sollte er erfahren, wie sehr sie seinetwegen gelitten hatte.

Einen Augenblick lang schwieg Jack. Esme hatte sich wirklich sehr verändert. Nun ja, der Landsitz würde ihr nicht mehr lange gehören. Entweder kaufte er ihn oder jemand anders. Das hatte jedenfalls der Makler gesagt. Sicherlich wäre es reizvoll, wenn Rosalind Scott-Hamilton erfahren würde, dass der Sohn der Köchin das stattliche Anwesen gekauft hatte. Sollte es sich aber als ungeeignet erweisen, würde er es nicht erwerben. „Da ist etwas dran“, erwiderte er trocken. „Ein Wappen über der Tür und mein Porträt über dem Kaminsims. Das meinst du doch?“

Esme hatte das Gefühl, er machte sich schon wieder über sie lustig.

„Ich beauftrage dich damit, wenn du willst“, fügte er hinzu.

„Mich?“

„Du bist doch Künstlerin, wenn ich mich recht erinnere?“

„Das gehört der Vergangenheit an.“

„Du wolltest doch die Kunsthochschule besuchen?“

Das hatte Esme beabsichtigt, aber es war nicht dazu gekommen. „Nein, ich habe etwas anderes gemacht“, sagte sie.

Jack wartete auf weitere Erläuterungen, doch sie schwieg. Er vermutete, dass Esme, ebenso wie ihre Schwester, die normale Debütantinnenlaufbahn hinter sich hatte. Ob sie das wohl so sehr verändert hatte?

„Möchtest du die anderen Zimmer auch noch ansehen?“, fragte Esme betont locker.

„Möchtest du das Haus verkaufen?“

Sie errötete. Wollte sie verkaufen? Nein, sie musste verkaufen. „Es tut mir leid“, stieß sie hervor. „Ich war nur nicht mehr sicher, ob du noch interessiert bist.“

„Nun, ich muss mir aber erst einmal alles ansehen.“

„Genau.“ Esme ging weiter. Während der Führung wurde ihr bewusst, wie leer und vernachlässigt das gesamte Haus aussah. Nur ihr ehemaliges Zimmer war noch möbliert. Bett, Waschtisch und Bücherregal standen noch darin. Esme hatte bisher keine Zeit gehabt, die Möbel ins Cottage zu schaffen.

„Dein Zimmer?“, fragte Jack. Er las gerade die Titel der Bücher, die im Regal standen.

Sie nickte.

„Wohnst du noch hier?“

„Nein“, antwortete sie kurz angebunden. „Sobald das Haus verkauft ist, werden die Sachen von hier verschwinden.“

„Wo wohnst du jetzt?“

„In der Nähe, am Ort“, antwortete sie bewusst vage.

„Bist du verheiratet?“

Die Frage ärgerte sie. „Mit wem könnte ich schon verheiratet sein?“

„Nun, da gab es doch diesen Jungen, der in der Nähe wohnte“, meinte er lächelnd. „Du bist immer mit ihm ausgeritten. Der Blonde, der mehrere Brüder hatte.“

Esme wusste, wen er meinte. Henry Fairfax. Mit dem hatte sie aber nie etwas gehabt. „Jack, du bist fast zehn Jahre fort gewesen“, sagte sie. „Glaubst du, dass das Leben der Menschen hier nicht weitergegangen ist?“

„Berechtigte Frage.“ Er machte ein bedauerndes Gesicht. „Wenn man Menschen längere Zeit nicht gesehen hat, kann man sich eben nicht vorstellen, dass und wie sich die Menschen verändert haben.“

Vermutlich hatte er recht. Wenn Esme heute an Jack Doyle dachte, dann an den jungen Jack, an den, den sie geliebt, ja angehimmelt hatte.

Jetzt stand er hier vor ihr, wirklich und wahrhaftig. Und das ärgerte sie.

„Was machst du denn heute so?“, fragte er lächelnd.

Interessierte ihn das wirklich? Hatte er denn jemals Notiz von ihr genommen, wenn Arabella dabei gewesen war?

„Ich kümmere mich um die Häuser anderer Leute“, antwortete sie.

„Kümmern? Inwiefern?“

Sie blickte ihn kurz an und wusste, was er dachte. Du liebe Güte! Er glaubte tatsächlich, ihrer Familie ginge es schlecht! Fast amüsierte sie sich. „Wie kümmert man sich normalerweise um Häuser?“

„Du putzt?“, fragte er ungläubig.

Nein, in Wirklichkeit war sie Innendekorateurin. Sie genoss es, ihn so verwirrt zu sehen. „Wieso, hast du damit ein Problem?“

„Natürlich nicht.“ Seine Mutter, eigentlich Köchin, hatte für die Scott-Hamiltons auch sauber gemacht. „Ich kann es mir nur nicht so recht vorstellen bei dir.“

„Nun, so ist das Leben“, philosophierte Esme. „Von dir habe ich mir auch nicht vorstellen können, dass du einmal ein großer Geschäftsmann wirst.“

„Das stimmt wohl nicht ganz“, wehrte er ab. „Ich entwerfe und verkaufe Websites. Damit kann man momentan sehr viel Geld verdienen.“

Er klang immer noch bescheiden. Auch als junger Mann hatte Jack niemals über- oder untertrieben. In der Schule und auf dem College hatte er stets beste Noten bekommen, hatte damit jedoch nie angegeben. Esmes Vater war der aufgeweckte Junge aufgefallen, und er hatte ihn gebeten, der elfjährigen Esme Nachhilfeunterricht zu geben, was Jack dann auch getan hatte.

Esme lenkte ihre Gedanken wieder auf die Gegenwart. „Und Geld ist wichtig?“, fragte sie, nur um etwas zu sagen.

„Es ist wichtig, wenn man keins hat“, antwortete er relativ gleichmütig.

Sie widersprach ihm nicht. Sie wusste, er sprach aus Erfahrung. Seine Mutter war gleich nach seinem Abschlussexamen an Krebs gestorben. Sie hielt ihre Krankheit fast bis zum Schluss geheim. Zusammen mit Jack machte sie noch einmal in ihrem Heimatland Irland Urlaub und starb dann auch dort. Sie hinterließ Jack lediglich das Geld für die Beerdigung. Jack hatte sich seine Trauer nicht sehr anmerken lassen.

Esme beobachtete ihn jetzt. Er stand am Fenster und blickte hinaus auf den Hof, die Ställe und den dahinter liegenden Wald. Im Herbst, wenn die Bäume kahl wurden, konnte man gerade noch den Schornstein des Häuschens erkennen, wo Jack damals mit seiner Mutter gelebt hatte. Doch jetzt war Frühling, und das Häuschen nicht zu sehen.

Schließlich sagte er: „Das Cottage ist vermietet, richtig?“ „Ja, das stimmt. Du weißt doch, dass es nicht verkauft werden soll?“, fragte sie und bemühte sich, gelassen zu bleiben.

Er drehte sich zu ihr um. „Nein, das wusste ich nicht. Es wird in der Beschreibung nicht erwähnt.“

Sie sah auf den Faltprospekt in seiner Hand. Die Details, die der Makler angegeben hatte, waren ihr nicht bekannt. Sie hatte einfach geglaubt, was ihre Mutter ihr erzählt hatte.

„Ich kann mir nicht ganz vorstellen, wie man es abtrennen könnte“, fuhr er fort. „Es steht doch mitten auf dem Grundstück.“

„Ja, das stimmt.“

Jack zuckte die Schultern. „Vielleicht ist das der Grund, warum es sich nicht verkaufen lässt. Die Leute kaufen solche Objekte, um allein zu sein.“

„Wer behauptet, wir hätten mit dem Verkauf Schwierigkeiten?“

„Die Tatsache, dass der Landsitz schon seit einem Jahr verkauft werden soll, sagt doch alles. Vielleicht … Ist es ein Mieter? Ich meine die Person in dem Häuschen.“

„Warum?“ Esme hatte keine Ahnung, was sie nun eigentlich war.

„Falls ihr Schwierigkeiten mit der Kündigung habt“, erklärte er. „Da gibt es doch Mittel und Wege.“

„Mittel und Wege? Was genau meinst du damit?“

„Nun, Geld zum Beispiel. Man könnte ihm vielleicht eine größere Summe anbieten, damit er auszieht.“

„Das Häuschen ist unverkäuflich“, wiederholte sie nachdrücklich.

Er schien unbeeindruckt. „Mal sehen, was deine Mutter dazu sagt, vorausgesetzt, dass ich wirklich interessiert bin.“

„Du hast vor, mit Mutter zu sprechen?“, fragte sie überrascht.

„Gibt es einen Grund, es nicht zu tun?“

Machte er sich wieder lustig über sie? Da gab es ja wohl mindestens einen Grund!

Jack sah sie mit halb geschlossenen Augen abschätzend an. „Würdest du mir davon abraten?“

„Nun … Bei eurer letzten Begegnung habt ihr euch nicht besonders gut vertragen.“

„Nein, das ist wohl richtig.“ Er lächelte. „Was hat sie damals noch gleich zu mir gesagt?“

Esme erinnerte sich genau, aber sie hatte nicht vor, ihm auf die Sprünge zu helfen.

Doch da fuhr er schon fort: „Ach ja, jetzt fällt es mir wieder ein. ‚Einen Oxford-Abschluss zu besitzen macht den Sohn der Köchin noch lange nicht zum passenden Freier für meine Tochter.‘“

Nur ungern dachte sie daran zurück, auch wenn seitdem schon zehn Jahre vergangen waren. Esme hatte damals völlig eingeschüchtert am langen Speisetisch gesessen und mitbekommen, wie ihre Mutter Jack mit den schlimmsten Worten beschimpft hatte. Und Esme hatte beobachtet, wie Jack erst rot, dann aschfahl im Gesicht geworden war. Schließlich hatte er stolz und wütend einen Wortschwall gegen ihre Mutter losgelassen.

Noch nie zuvor, auch nie wieder danach hatte sie ihre Mutter so sprachlos erlebt. Kein Wunder. Es hatte sie ja auch noch nie jemand ‚dumme, niederträchtige, hochnäsige Kuh‘ genannt.

Danach war Jack gegangen und hatte die Tür mit einem lauten Knall ins Schloss fallen lassen.

Mit puterrotem Gesicht hatte ihre Mutter am Kopfende der Tafel gesessen. Dann war ihre Schwester Arabella amüsiert kichernd im Speisesaal erschienen. Sie hatte sich in einem angrenzenden Raum aufgehalten und alles gehört.

Das hatte Esme dann nicht mehr ertragen können.

Sie schloss jetzt die Augen und versuchte, nicht mehr daran zu denken.

„Immerhin gab es ja einen Trost“, fügte Jack nun leise hinzu.

Sie öffnete die Augen und bemerkte, dass er sich zu amüsieren schien. Sie hielt seinem Blick nur kurz stand und sah schließlich verlegen weg.

Ja, die Nacht mit der falschen Schwester! Ein Trostpreis der besonderen Art. Sein Verhalten war verständlich gewesen, aber ihres?

Sie verdrängte die Erinnerungen abermals und sagte in geschäftlichem Ton: „Rede mit meiner Mutter, wenn du willst. Möchtest du das Dachgeschoss und die Küche auch noch sehen?“

„Nein“, antwortete er. „Ich kenne den Dachboden. Und die Küche ist mir wahrscheinlich vertrauter als dir, kleine Miss Esme.“

„Das mag wohl stimmen.“ Sie gingen jetzt wieder die Galerie entlang und dann die Treppe hinunter.

Auf halbem Weg zur Vordertür fragte Jack: „Ist es nicht kürzer, wenn wir durch die Küche zu den Nebengebäuden gehen?“

„Willst du die auch sehen?“ Esme runzelte die Stirn. Die hinteren Gebäude kannte er doch wohl genau.

„Ich möchte wissen, in welchem Zustand sie sind“, erklärte er. „Die Ställe waren schon beim letzten Mal nicht gerade im Top-Zustand.“

Nur eine harmlose Bemerkung? Ja, vielleicht erinnerte er sich nicht mehr an die genauen Details. Trotzdem. Esme wurde wütend und verlegen zugleich und wandte sich schnell ab.

In stolzer Haltung durchschritt sie vor Jack die Halle.

Er ging schweigend hinter ihr her. Den Vorfall von damals wollte er lieber nicht ansprechen.

Dann erreichten sie den Hinterhof, der verwahrlost wirkte. Gartenabfälle in einer Ecke. Esmes altes, vor sich hin rostendes Auto in einer anderen.

Jack ging schweigend über den Hof und zu den Ställen hinüber. Er sah sie sich an und versuchte, den Reparaturbedarf einzuschätzen.

Sie folgte ihm die ganze Zeit mit abweisender Miene. Wollte er den Landsitz wirklich kaufen?

Jetzt stand Jack vor dem abgeschlossenen Sattelraum. „Hast du den Schlüssel dabei?“

„Nein, der ist im …“ Beinah hätte sie ‚Cottage‘ gesagt. „Der muss irgendwo im Haupthaus sein.“

Er zuckte die Schultern und ging jetzt weiter zu der Scheune, die man früher als Futterspeicher benutzt hatte. Das Scheunentor stand offen, und er ging hinein.

Esme blieb draußen stehen. Sie wartete nur auf irgendeine Anspielung von ihm. Da sie aber keine Lust hatte, noch mehr an die Vergangenheit erinnert zu werden, ging sie nach einer Weile zum Haupthaus zurück.

Sie betrat die Küche. Dann ging sie zum Kühlschrank und nahm ein Tonicwasser heraus. Sie musste sich unbedingt abkühlen. Schließlich holte sie vorsichtshalber noch die Ginflasche aus ihrem Versteck hervor, schenkte sich aber nur Tonic ein. Sie wollte nicht dem Beispiel ihrer Mutter folgen, die wohl auch heute noch beinahe täglich starke Getränke konsumierte.

Für einen so kräftigen Mann hatte Jack einen leisen Schritt. Er hatte sich lautlos der Küche genähert und stand jetzt an der Tür.

„Möchtest du einen Drink?“

„Es ist noch zu früh für mich“, antwortete er. „Aber lass dich durch mich nicht aufhalten.“

„Das werde ich schon nicht“, sagte sie leise.

Nach einer etwas längeren Pause fragte er: „Wie lange trinkst du schon?“

Esme blickte Jack an. Sein Gesichtsausdruck gefiel ihr nicht. Sie sah demonstrativ auf ihre Armbanduhr und sagte: „Ungefähr seit drei Minuten und fünfundzwanzig Sekunden.“

„Ich meinte das in Bezug auf einen längeren Zeitraum.“

„Ich weiß.“

Esme schnitt ein Gesicht. Er sah sie nur nachsichtig und mitleidig an.

„Nun?“

Was wollte er von ihr hören? Dass sie Alkoholikerin sei?

„Damit eins klar ist: Das hier ist nur Tonicwasser.“ Sie fand ihn unverschämt und wurde mutig. „Und mein erstes alkoholisches Getränk habe ich mit sechzehn getrunken. Es war Whisky, und ich weiß gar nicht mehr genau, wer ihn mir gegeben hat.“ Das stimmte natürlich nicht. Sie fragte sich nur, ob er es noch wusste.

„Du warst siebzehn, wenn ich mich recht erinnere“, meinte er.

Natürlich war ihm ihr Alter damals sehr wichtig gewesen, war es auch heute noch. Deshalb hatte sie ja schwindeln müssen.

Ein kleiner Teufel ritt sie, und am liebsten hätte sie ihm jetzt die Wahrheit gesagt. Was spielte er sich hier auch als Moralapostel auf? „Ich war, genau gesagt, gerade erst sechzehn Jahre alt“, korrigierte sie ihn.

Nachdenklich sah er sie an. „Du hast doch aber gesagt …“

„Spielt das jetzt noch eine Rolle? Du warst betrunken, ich war betrunken. Wir wollten es beide meiner Mutter heimzahlen. Ende der Geschichte.“ Esme wusste, dass sich das ziemlich grob anhörte, fand aber, dass es so in etwa stimmte.

Jack lachte kurz auf. Spürte er Erleichterung? Stets hatte er Schuldgefühle gehabt, wenn er an das Erlebnis mit Esme gedacht hatte. „Immer schön die Dinge beim Namen nennen“, meinte er schließlich. „Ja, du warst schon immer die Ehrlichste in eurer Familie. Also, du bist mir nicht mehr böse?“ Er machte einen Schritt auf sie zu, wollte ihr die Hand reichen.

War das ein Zeichen von Freundschaft, oder wollte er sich versöhnen? Sie zuckte leicht zurück.

War Er war ratlos. Warum verhielt sie sich nur so abweisend? Sicher war sie damals sehr jung gewesen, vielleicht zu jung für die Liebe.

„Ist es nicht zu spät, mich wie einen Unberührbaren zu behandeln?“, fragte er in seinem breiten amerikanischen Akzent, den er während der Jahre in Kalifornien angenommen hatte. Dann ließ er die Hand sinken.

„Besser spät als nie“, gab Esme spitz zurück. Sie stand inzwischen in einer Ecke und wollte jetzt an ihm vorbeigehen.

Er hielt sie am Arm fest. „Wenn du eine Entschuldigung von mir erwartest, die kannst du haben. Es tut mir leid, die Sache von damals.“

Das hörte sich ehrlich an. Vielleicht sollte sie freundlich reagieren, schaffte das aber nicht. Und sie konnte es nicht ertragen, dass er sie berührte. Wann es wohl begonnen hatte, dass ihre liebevollen Gefühle für ihn sich in Hass verwandelt hatten? War das erst heute passiert, als er hier aufgetaucht war? „Ich erwarte überhaupt nichts von dir“, fuhr sie ihn an. „Würdest du mich jetzt bitte loslassen, ich werde dich hinausbegleiten.“

Jack sah sie misstrauisch an und fragte sich, warum sie so zornig war.

„Lass mich los!“, rief sie und versuchte, sich zu befreien.

Doch Jack hielt sie fest. „Noch nicht. Klär mich erst einmal auf.“

„Aufklären?“

„Vor zehn Jahren“, erinnerte er sie. „Da sind wir in einer eher vertraulichen Stimmung auseinander gegangen. Okay, vielleicht hat es auch am Whisky gelegen. Inzwischen haben wir nichts voneinander gehört. Warum hast du nie auf meinen Brief geantwortet? Warum verachtest du mich? Verdammt, ich werde das Gefühl nicht los, dass mir etwas Wesentliches entgangen ist.“

Da hatte er wohl recht. Von welchem Brief sprach er da?

„Oder ist es immer noch wegen der Klassenunterschiede?“, fuhr er fort. „Wir Stalljungen sind für ein kurzes Intermezzo auf dem Heuboden gut genug, aber oben im Herrschaftshaus nicht willkommen?“

„Das ist doch lächerlich!“, stieß sie hervor. Sie war mit sechzehn kein Snob gewesen, und sie war es sicherlich auch heute nicht.

„Wirklich?“

„Ja! Erst einmal warst du niemals Stalljunge. Okay, du hast gelegentlich die Ställe ausgemistet, um dein Taschengeld aufzubessern, aber die Hälfte der Arbeit hast du mich immer machen lassen. Pferdedung zu beseitigen war doch viel zu erniedrigend für die Intelligenzbestie Jack Doyle.“

„Nun gut, vielleicht war ich nicht wirklich Stalljunge“, gab er schließlich zu. „Aber ich habe mich so tief auf der sozialen Leiter befunden, dass du auf mich herabgeblickt hast.“

„Das habe ich nicht getan!“, wehrte sie sich. „Und überhaupt, du hast doch mich von oben herab behandelt. Törichte, hässliche Midge. Tätscheln wir sie mal ab und an am Köpfchen, natürlich nur, wenn wir sie überhaupt einmal bemerken.“

„Das habe ich anders in Erinnerung.“

Ich aber nicht!“

„Ich habe bestimmt niemals gesagt, dass du hässlich und töricht bist.“

„Das musstest du auch nicht“, beschwerte sie sich. „Es war auch so völlig offensichtlich. Wahrscheinlich war ich ja wirklich dumm und hässlich!“

„Nein. Das warst du nicht.“ Er sah sie besorgt an. „Du warst hübsch und witzig und …“

„Tu das nicht! Ich brauche dieses ‚Tätscheln‘ nicht. Ich bin ganz glücklich mit meinem jetzigen Leben.“

„Tätscheln?“, fragte er, teils belustigt, teils verärgert. Dann umklammerte er ihren Arm fester. „Das nennst du tätscheln?“

„Ich … komm nicht vom Thema ab!“, stieß sie hervor.

„Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz. Wenn du das hier schon ‚tätscheln‘ nennst, scheint dein Leben ziemlich langweilig zu sein. Würde ich dagegen dieses hier tun …“, er legte ihr den Arm um die Taille und zog sie an sich, „… oder so etwas …“, er berührte mit der freien Hand erst Esmes Wange, dann ihren Nacken, „… dann wäre es vielleicht das treffende Wort.“

Sie wollte gerade reagieren, da hatte er sie bereits wieder losgelassen. Da stand sie nun, hatte Herzklopfen und war äußerst wütend. Schließlich verlor sie die Beherrschung und ohrfeigte ihn. Niemals zuvor hatte sie jemanden geschlagen, noch nie den Wunsch dazu verspürt. Und sie war entsetzt über sich selbst. Das war zu einfach, zu primitiv.

Langsam erholte sich Jack von dem Schock. Dann ergriff er Esmes Arme, presste sie hinter ihren Körper und hielt sie so mit einer Hand fest. Dann drückte er Esme gegen den Küchenschrank, griff mit der anderen Hand von hinten in ihr Haar und zog ihren Kopf zurück. Sie hatte gerade noch Zeit, einen kleinen Fluch auszustoßen, bevor sie Jacks Lippen auf ihren spürte.

Esme versuchte, ihn von sich zu stoßen, aber er war natürlich stärker als sie. Sie war wütend. Doch Wut war auch ein leidenschaftliches Gefühl. Und während er sie einfach immer weiter küsste, begannen sich ihre Empfindungen allmählich zu verändern. Gefühle, die lange in ihr geschlummert hatten, kamen langsam in ihr hoch. Irgendwann hörte sie auf, sich zu wehren. Sie öffnete die Fäuste und ließ die Hände dann sanft über seine Brust zu seinen Schultern gleiten. Sie wollte nicht mehr wissen, dass es von seiner Seite aus eigentlich ein verachtungsvoller Kuss sein sollte, achtete nur noch auf die süßen Gefühle, die sich in ihr zu regen begannen.

Esme sehnte sich nach ihm. Sie legte ihm die Arme um den Nacken, küsste ihn leidenschaftlich, drängte sich dicht an ihn. Jetzt ließ Jack seine Hände weiter hinunter zu ihren Hüften gleiten, hob Esme ein wenig an und presste sie an sich. Sie konnte spüren, wie erregt er war, und stöhnte laut auf.

Schließlich hörte er auf, sie zu küssen, atmete tief durch und sah sie eindringlich und fragend an.

Einen Moment lang war Esme unschlüssig. Ihr war ganz schwindlig. Und sie war auch beunruhigt über die Stärke ihrer Empfindungen. So leicht ließ sie sich also von ihren Gefühlen hinreißen. Irgendwie schaffte sie es dann aber doch, zur Vernunft zu kommen.

Leicht verstört und verlegen sagte sie schließlich: „Ich kann das nicht tun. Bitte lass mich allein.“

„Gut“, erwiderte er nur und ließ sie ganz los. Keine Widerrede, kein Flehen. Dann ging er einfach leise hinaus.

Ihr traten Tränen in die Augen. Jack hatte alte, bereits vernarbte Wunden wieder aufgerissen.

2. KAPITEL

Esme konnte es sich nicht leisten, lange zu weinen. Es war schon später Nachmittag, und sie musste bald Harry abholen.

Sie ging zur Spüle hinüber und wusch sich schnell das Gesicht mit kaltem Wasser ab. Dann stellte sie das Tonicwasser in den Kühlschrank zurück, die Ginflasche wieder an ihren Platz in der Ecke und wünschte sich, sie hätte einen Gin Tonic getrunken. Dann hätte sie wenigstens dem Alkohol die Schuld für ihr dummes Benehmen geben können.

Na ja, gerechnet hatte sie schon damit, dass Jack Doyle irgendwann einmal wieder hier auftauchen würde. Nur hatte sie sich immer vorgestellt, dass er nicht mehr so gut aussehen würde, nicht mehr so schlagfertig und überlegen wäre. Sie musste unbedingt versuchen, distanzierter und würdevoller zu wirken. Schließlich war sie nicht mehr das junge Mädchen von damals.

Leider hatte er sich nicht verändert, war beinah immer cool und beherrscht oder aber leidenschaftlich. Und sie selbst? Nun, es schien, als wäre sie immer noch leicht besiegbar, auch wenn sich die schwärmerischen Gefühle von einst in Groll verwandelt hatten.

Vielleicht hatte Jack aber auch recht, und ihr Privatleben war einfach zu langweilig. Die letzte gescheiterte Beziehung lag schon eine ganze Weile zurück. Momentan lebte sie sehr enthaltsam.

Ja, daran musste es liegen. Nach drei Jahren Abstinenz hätte sie wahrscheinlich auf jeden halbwegs ansehnlichen Mann reagiert.

So richtig überzeugt war sie davon aber nicht. Schließlich gab es da ja auch noch Charles Bell Fox, den Menschen, den man noch am ehesten als ihren Freund bezeichnen könnte. Sie kannte Charles schon seit ewigen Zeiten. Esmes Mutter hätte ihn gern als Schwiegersohn gehabt. Und doch hatte Esme bisher seine zarten Annäherungsversuche zu verhindern gewusst.

Charles war ein Gentleman. Nie würde er sie gegen ihren Willen küssen oder bedrängen. Hätte er es jedoch versucht, wären sie vielleicht inzwischen ein Paar.

Welch abartiger Gedanke! Esme schüttelte den Kopf. Sie vergewisserte sich, dass Jack Doyle inzwischen in seinem teuren Schlitten zum Tor hinausgefahren war. Danach verschloss und verriegelte sie die Haustür von innen.

Schließlich verließ sie das Haus durch die Küche. Sie ging zunächst über den Hof, die rückwärtige Zufahrtsstraße entlang und dann in das Wäldchen hinein, wo das ehemalige Jagdaufseherhaus stand.

Es war gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts gebaut worden und nicht gerade hübsch. Doch Esme hatte ihr Bestes gegeben, um es zu verschönern. Sie hatte die Fassade in Terrakotta-Farbe gestrichen und die Türen blau lackiert. Vor das Haus hatte sie diverse Töpfe und Körbe mit bunten Blumen gestellt.

Sie ging schnell hinein, holte ihre Jeansjacke und zog noch rasch flache Schuhe an. Dann nahm sie die Abkürzung durch den Wald, die zu den hinteren Toren des Besitzes führte.

Esme sah auf die Uhr. Sie lag noch gut in der Zeit, beschleunigte aber trotzdem ihren Schritt. Sie hatte immer Angst davor, dass der Bus einmal früher kommen und Harry allein an der Straße stehen könnte.

Weil die hohen schmiedeeisernen Tore verschlossen waren, benutzte sie die kleine Nebentür in der Mauer. Der Schlüssel für die Tür lag immer unter einem losen Stein. Sie holte ihn sich, schloss die Tür auf und trat hinaus an den Straßenrand.

Da sah sie den dunkelgrünen Sportwagen, der an der anderen Straßenseite stand. Jack! Er hatte sie wohl auch gesehen, also machte es keinen Sinn, schnell wieder hineinzulaufen. Das würde merkwürdig aussehen. Außerdem musste der Bus gleich kommen.

„Fahr schon los“, murmelte sie vor sich hin und freute sich bereits, als sie hörte, dass er den Motor startete. Doch sie hatte sich zu früh gefreut. Er wendete auf der Straße, fuhr auf Esme zu und hielt neben ihr an. Lautlos senkte sich die Seitenscheibe.

„Wartest du auf jemanden?“, fragte Jack.

Das Nein lag ihr schon auf den Lippen. Doch warum sonst sollte sie wohl hier am Straßenrand stehen? Also nickte sie.

„Nicht gerade zuverlässig, was? Lässt dich hier einfach stehen. Hier könnten alle möglichen Leute vorbeikommen“, meinte er besorgt.

Vorgetäuschte Besorgnis? Wahrscheinlich. „Oh, zuverlässig ist er schon“, erwiderte sie ruhig.

„Ich nehme dich gern mit, egal, wohin du möchtest.“

„Nein, danke.“

„Okay, wie du willst. Ich warte noch, bis er kommt.“

„Nein, das darfst du nicht!“, rief sie entsetzt.

Jack sah sie neugierig an. „Ein eifersüchtiger Typ?“

Esme hatte keine Lust auf weitere Erklärungen. Wichtig war nur, dass Jack verschwunden war, bevor der Bus kam. „Ja, ja“, stimmte sie zu. „Er wird in wenigen Sekunden hier sein, und wenn er dich sieht …“ Esme blickte betont besorgt die Straße entlang.

„Hast du seinetwegen vorhin so reagiert?“

„Ja. Er ist sehr eifersüchtig. Ich darf nicht einmal mit anderen Männern sprechen. Also, Jack, bitte fahr los“, bat sie und blickte ihn dabei flehentlich an.

Jack sah wieder ein wenig die kleine Midge in ihr, und er fühlte sich verantwortlich. Doch sollte er sich da einmischen? Nein, er war einfach zu lange fort gewesen.

„Bitte“, drängte Esme. Aus der Ferne konnte sie schon die Motorgeräusche des Busses hören.

„Ja, in Ordnung.“ Einen Moment lang sah er sie noch nachdenklich an. Dann legte er den Gang ein und gab Gas.

Irgendwie hatte Esme ein schlechtes Gewissen. Da kam jedoch der Bus in Sicht, und sie hatte das Gefühl, richtig gehandelt zu haben. Das war gerade noch einmal gut gegangen!

„Was ist denn los?“, fragte Harry, als sie ihn schnell aus dem Bus und Richtung Tür zog.

„Nichts.“ Sie traute Jack zu, dass er doch noch einmal zurückkam. Sie erinnerte sich nämlich noch gut daran, wie fürsorglich er immer gewesen war, wenn sie sich auf irgendeine Weise in Gefahr begab. Ja, damals war er einfach ihr Held gewesen. Natürlich nur, bis er sie dann eines Besseren belehrt hatte. „Wie war die Schule?“

Ihr Sohn zuckte nur die Schultern und sagte: „Wie immer.“

„Und diese schlimmen Jungen?“, fragte sie besorgt.

Er schnitt ein Gesicht.

„Harry, ich könnte doch zur Schule gehen und …“

„Nein“, unterbrach er sie. „Das darfst du nicht, Mom. Du würdest es nur noch verschlimmern.“

Wahrscheinlich hatte er recht. Wenn sie sich über die schlimmen Zwillinge Dwayne und Dean beschwerte, würde das Harry auch nicht helfen. „Okay.“ Sie legte ihm die Hand auf die Schulter und drückte sie fest. „Aber wenn es schlimmer wird …“

„Ich weiß, Mom“, unterbrach er sie wieder. „Wenn sie mich mit einer AK 47 bedrohen, muss ich es dir sagen, richtig?“

„Das war jetzt ein Scherz, nicht wahr, Harry? Sag einmal, gibt es denn Jungen, die Waffen haben? Taschenmesser oder so?“

„Das ist verboten“, antwortete er gleichmütig.

Esme beobachtete ihn, wie er vor ihr herging. Es gab nichts Besonderes an ihm. Er war groß für sein Alter und, in Esmes Augen wenigstens, ein hübscher Junge, mit dem aschblonden Haar und dem schmalen Gesicht.

Harry sprach anders als die meisten Jungen in seiner Klasse. Er sprach ein präzises, akzentfreies Englisch, das Esme in den Internaten gelernt und das er natürlich von ihr angenommen hatte. Aber das war noch nicht alles. Er war äußerst intelligent, lernte sehr schnell und war den meisten Mitschülern weit voraus. Er bemühte sich jedoch, nicht aufzufallen und meldete sich nur noch selten.

Sie wusste, die Intelligenz hatte er nicht von ihr. Von ihr hatte er das blonde Haar, den hellen Teint. Es gab da zwar keine große Ähnlichkeit mit seinem Vater, aber sie war da. Sie hatte blaue Augen, Harry graue. Auf jeden Fall hatte sie das Gefühl, Harry von seinem Vater fern halten zu müssen.

Als sie schließlich das Häuschen erreichten, ließ Harry seine Schultasche im Flur liegen und ging gleich hinauf in sein Dachbodenzimmer.

Esme wusste, er würde sich sofort ins Internet einloggen. Hätte er Geschwister oder andere Kinder zum Spielen, würde sie das nicht so oft erlauben. Ihre Mutter hatte mehrmals vorgeschlagen, ihn auf ein Internat zu geben, aber Esme hatte kein Geld dafür und wollte ihn auch nicht fortschicken. Sie selbst hatte das Internat immer gehasst.

Vor Harrys Geburt hatte Esme einiges durchzustehen gehabt. Erst nach den Ferien, in der Schule, hatte sie damals bemerkt, dass sie schwanger war. Zunächst wurde ihr morgens übel, später dann war sie einfach krank vor Angst. Sie verlor Gewicht, weshalb man ihr die Schwangerschaft erst im siebten Monat ansehen konnte. Danach kam dann der Verweis vom Internat.

Es gab eine Cousine ihrer Mutter in Bath. Zur Geburt fuhr Esme dorthin. Danach sollte das Kind zur Adoption freigegeben werden.

Sie hatte eine zwanzigstündige, sehr schwierige Niederkunft. Danach war alles ganz anders. Sie sah ihr Baby an und hatte auf einmal den Mut, sich ihrer Mutter zu widersetzen. Die hatte nämlich gesagt: Komm ohne Kind nach Hause oder gar nicht!

Über eine soziale Fürsorgestelle kam Esme in ein Mutter-und-Kind-Heim. Es wurde eine schwere Zeit. Zu der Verantwortung für ein menschliches Wesen kam nun hinzu, dass sie sich in der rauen Wirklichkeit befand. Die anderen jungen Mütter erzählten von schlimmen Freunden, ordinären Stiefvätern und betrunkenen Müttern. Dagegen schien Esmes Kindheit wie ein Märchen gewesen zu sein.

Nach dem Heim bezog sie dann eine Wohnung in der zehnten Etage in Bristol. Der Aufzug funktionierte selten. Irgendwann fiel der zweijährige Harry einige Treppenstufen hinunter. Ein abgeschürftes Knie, keine große Sache, aber in der Ecke, nur Zentimeter von seiner Hand entfernt, lag die Spritze eines Drogenabhängigen.

Da überwand Esme ihren Stolz und nahm den nächsten Bus nach Hause. Rosalind erkannte ihre Tochter kaum, so abgemagert und schlecht gekleidet, wie sie war. Sie ließ natürlich erst einmal die üblichen Hab-ich-dir-doch-gesagt-Floskeln los, bevor sie ihre Tochter endlich ins Haus bat.

Überraschend war, wie Rosalind dann auf Harry reagierte. Als er aufwachte, aus dem Kindersportwagen kletterte und seine Großmutter ansah, konnte sie Harrys Charme einfach nicht widerstehen.

„Was für ein wundervoller, hübscher Junge!“, rief sie entzückt aus.

Durch Harry schafften sie es dann auch, die eisige Kluft zwischen ihnen zu überwinden. Rosalind spielte nicht unbedingt die Rolle der liebevollen Großmutter, nein, sie erlaubte Harry ja nicht einmal, sie so zu nennen. Da sie Harry aber mochte, konnte sie über die Umstände seiner Empfängnis hinwegsehen.

Esme zog mit Harry ins Cottage ein. Ihre neu erworbenen häuslichen Fertigkeiten bot sie ihrer Mutter an, die ihr ein bisschen Geld dafür gab. Zu ihrem einundzwanzigsten Geburtstag erbte Esme dann ein kleines Treuhandvermögen von ihrer Patentante.

Es war zwar nicht gerade ein aufregendes Leben gewesen, aber bis heute hatte Esme einigermaßen zufrieden leben können. Dieses Leben schien nun bedroht zu sein. Sie musste dringend Rosalind anrufen.

„Darling!“, sagte Rosalind Scott-Hamilton am anderen Ende der Leitung. „Ich wollte dich heute Abend auch anrufen. Wie ist der Besichtigungstermin gewesen?“

Esme atmete tief durch, überging die Frage einfach und fragte stattdessen: „Mutter, bist du dir eigentlich darüber im Klaren, wer der Interessent ist?“

„Wer der Interessent ist?“ Rosalind überlegte eine Weile. „Wieso?“

„Es ist Jack Doyle.“

„Jack Doyle?“ Rosalind schien sich offensichtlich nicht zu erinnern.

Esme seufzte schwer. „Der Sohn von Mrs. Doyle, unserer Köchin. Sie haben im Cottage gelebt.“

„Ja, ja“, tat Rosalind ihre Erklärung ab. „Ich weiß, wer Mrs. Doyle ist oder war. Ich bin nur ziemlich überrascht … Jack Doyle. Wer hätte das gedacht? Hat er gesagt, ob er ernsthaft interessiert ist?“

„Nein, Mutter. Das hat er nicht!“ Das Gespräch verlief nicht so, wie Esme es geplant hatte.

„Nun, das muss er doch“, fuhr ihre Mutter fort. „Ich meine, er kennt es schließlich. Die Frage ist nur, ob er es sich leisten kann. Oder macht er womöglich nur eine sentimentale Reise durch seine Vergangenheit? Vielleicht kann Robin in der City einige Nachforschungen anstellen.“

Die City war das Herz der Londoner Finanzwelt. Dort machte auch Esmes Stiefvater seine Geschäfte.

„Du würdest doch wohl nicht an Jack Doyle verkaufen, auch wenn er interessiert wäre?“

„Warum nicht?“

„Nun, die Dinge, die du damals über ihn gesagt hast, hast du sie vergessen?“

„Welche Dinge?“, sagte Rosalind leise. „Ach, du meinst die Zeit, als er sich Chancen bei Arabella ausgerechnet hat? Ja, das war ziemlich absurd. Doch im Nachhinein betrachtet, wäre sie vielleicht mit ihm besser dran gewesen als mit ihrem jetzigen Mann.“

Einen Augenblick lang war Esme sprachlos. Wie die Welt sich geändert hatte! Ihre Mutter war absolut hingerissen gewesen, als Arabella Franklin Homer, den zukünftigen Erben eines amerikanischen Bankvermögens, geheiratet hatte. Nur gab es heute kein Vermögen mehr, und die beiden lebten in Scheidung.

„Egal“, meinte Rosalind jetzt. „Wenn Jack Doyle Highfield kaufen will, wünsche ich ihm viel Glück dazu.“

Esme wurde das Herz schwer. „Das ist nicht dein Ernst, Mutter.“

„Warum nicht?“, fragte Rosalind ungeduldig. „Du überraschst mich, Esme. Schließlich hast du doch immer behauptet, es gebe außer dem Geld keinen wesentlichen Unterschied zwischen der Arbeiterklasse und uns.“

Daran konnte Esme sich nicht erinnern. Doch es stimmte, dass sie sich häufig über den stark ausgeprägten Snobismus ihrer Mutter beklagt hatte.

„Wie auch immer, ich brauche das Geld“, fuhr Rosalind fort. „Du weißt das, Darling. Ich habe es dir erklärt.“

Sie hatte zwar einen steinreichen Ehemann, wollte das Geld aber als Sicherheit haben, für den Fall, dass die Ehe scheiterte.

„Ja, irgendwann wirst du es vielleicht verkaufen müssen“, erwiderte sie. „Aber nicht gerade an Jack Doyle.“

„Nein, aber es wäre doch einfach verrückt, ein Angebot von ihm abzuweisen“,entgegnete Rosalind.„Und ich sehe dein Problem nicht. Du und Jack, ihr hattet doch nie ein Verhältnis.“

Jetzt hätte Esme ihrer Mutter alles beichten können. Aber das hätte ja auch nichts geändert. „Nun gut. Dann sorge wenigstens dafür, dass der Immobilienmakler klarstellt, was alles verkauft werden soll.“

„Wie meinst du das, Darling?“

Wollte Rosalind nicht verstehen? „Jack denkt, das Cottage wäre auch zu verkaufen. Ich habe ihm gesagt, dass das nicht der Fall ist. Vielleicht könnten Connell & Baines das noch einmal klarstellen?“

„Ja, nun …“ Rosalind schwieg eine Weile.

„Mutter?“ Allmählich hatte Esme einen bestimmten Verdacht. „Du hast doch nicht etwa deine Meinung geändert? Du hast gesagt, ich könnte für immer im Cottage wohnen bleiben.“

„Ich weiß, Darling. Das habe ich auch so gemeint“, erklärte Rosalind. „James Connell meint jedoch, es sei nicht machbar, den Besitz aufzuteilen. Aber sei unbesorgt, es ist alles okay. Du bist die Mieterin.“

„Und wenn nicht alles okay ist, was machen Harry und ich dann?“

„Nun, dann müsst ihr euch wohl etwas anderes suchen“, antwortete Rosalind und seufzte. „Wäre das denn so furchtbar? Ich meine, das Häuschen ist doch wirklich sehr schlicht.“

Uns gefällt es aber“, behauptete Esme. Langsam wurde sie wütend. „Verglichen mit einer Obdachlosenpension ist es ein Palast!“

„Jetzt hör aber auf, Darling“, empörte sich Rosalind. „Du hättest doch ganz andere Möglichkeiten.“

„Und die wären?“

„Ach, mehrere, wenn du endlich aufhören würdest, die Märtyrerin zu spielen. Ich habe gehört, Charles Bell Fox würde dich auf der Stelle heiraten.“

„Charles und ich sind nur Freunde.“

„Weil du ihm keine Chance gibst“, entgegnete Rosalind. „Allein der liebe Himmel weiß, warum. Charles ist reich, begehrt und sogar gut aussehend. Worauf wartest du eigentlich?“

„Auf nichts“, antwortete Esme. „Ich werde ihn anrufen, soll ich? Ich werde ihn fragen, ob er mit uns zusammenziehen will.“

Rosalind seufzte laut. „Soll das jetzt ein Witz sein?“

„Nicht unbedingt.“

„Was hast du Charles eigentlich über Harry erzählt?“

„Bisher nichts.“ Charles hatte das Thema peinlichst gemieden.

„Wenn du es tust, erzähl ihm eine nettere Geschichte. Die mit dem Italiener, den du zufällig in einem Café kennengelernt hast, ist nicht so geeignet.“

Am liebsten hätte Esme jetzt laut losgelacht, beherrschte sich aber. Dass ihre Mutter ihr die lausige Geschichte immer noch abnahm, war einfach unglaublich. „Okay, Mutter, ich werde es mir überlegen“, versprach Esme, „falls Charles mich fragen sollte, ob ich ihn heiraten will.“

„Schön. Dass wäre wirklich das Beste für dich. Du kannst nicht von mir erwarten, dass ich dir immer weiter aus der Patsche helfe. Jetzt muss ich aber Schluss machen. Ich erwarte Gäste zum Abendessen.“

Esme legte den Hörer auf. Da hörte sie ein Geräusch hinter sich und drehte sich um.

Harry stand vor seinem Zimmer auf der Treppe. Er sah besorgt aus und blickte seine Mutter nachdenklich an. Dann sagte er sachlich: „Ich habe Hunger. Was gibt es zum Tee?“

Esmes Befürchtung, dass er alles mitgehört hatte, war wohl unbegründet. Während sie zur Küche hinüberging, sagte sie: „Du kannst wählen: Pizza, Pizza oder Pizza?“

Harry verdrehte die Augen und spielte mit. „Okay. Pizza Nummer zwei, bitte.“

„Pizza mit Peperoni und Oliven“, verkündete sie.

„Auweia, ich habe meine Meinung geändert. Bitte Pizza Nummer eins.“

„Anchovis.“

„Doppelt Auweia.“

„Schinken und Pilze?“

„Ja, okay.“

„Aber nicht wieder die Pilze herunterpicken“, warnte sie, während sie die Tiefkühlpizza aus dem Eisfach nahm. „Und dazu gibt es Orangensaft, wenigstens etwas Gesundes.“

Er schnitt ein Gesicht. „Ich habe heute Mittag schon Gemüse gehabt, Chips!“

„Kartoffeln zählen zum Gemüse, Chips nicht“, sagte sie und kämpfte mit dem Backblech, das im Herd festsaß, der schon sehr alt war. Auch Mrs. Doyles hatte ihn schon benutzt. Sie war eine wunderbare Köchin und eine sehr liebenswürdige Frau gewesen. Sie war im selben Jahr gestorben, in dem sie, Esme, schwanger geworden war, hatte ihr Enkelkind also nie zu Gesicht bekommen. Mary Doyle wäre eine gute Großmutter gewesen. Sie hätte Harry sicher Grandma nennen dürfen!

Esme fragte sich, ob sie ihr wohl alles erzählt hätte. Wahrscheinlich. Immerhin hatte Harry ja Jacks Lächeln und sein Temperament geerbt, was Mary Doyle ohnehin irgendwann bemerkt hätte.

Was sollte nur werden, wenn Jack Highfield kaufte? Dann würden sich Jack und Harry auf jeden Fall begegnen. Das durfte nicht passieren!

3. KAPITEL

Später dann, als Harry im Bett lag, versuchte Esme, sich auf ihr neues Projekt zu konzentrieren. Sie sollte ein Schlafzimmer in nachgemachtem Tudorstil einrichten. Ein Geschäftsfreund von Esmes Stiefvater hatte sie damit beauftragt. Es war eine schwierige Aufgabe, weil der Auftraggeber und seine Frau unterschiedliche Vorstellungen hatten. Esme war eher zufällig an das Fach Innendesign geraten und hatte mittlerweile gelernt, dass die Arbeit großes Taktgefühl und viel Geduld voraussetzte.

Esme saß da, studierte Farbtabellen und wartete auf eine Eingebung.

Ihre Gedanken aber schweiften ab. Sie schweiften zurück zu jenem Sommer vor nun mehr als zehn Jahren.

Esme hatte Ferien gehabt und sie zu Hause verbracht. Jack war auch auf Highfield gewesen. Er war aus Irland zurückgekommen und wartete auf die Ergebnisse seines Abschlussexamens. Außerdem wollte er Schriftverkehr für seine verstorbene Mutter erledigen. Esmes Mutter hatte ihm erlaubt, im Cottage zu wohnen.

Esme beobachtete ihn häufig aus der Ferne. Gern hätte sie sich zu ihm gesellt. Irgendetwas schien sich jedoch geändert zu haben. Er, sie, vielleicht die gesamte Situation. Sie sehnte sich danach, ihn zu fragen, wie es ihm gehe. Und sie wollte ihm sagen, wie sehr auch sie seine Mutter vermisste. Es schien jedoch, dass sich seit Weihnachten – da hatten sie zuletzt miteinander gesprochen – eine Kluft zwischen ihnen aufgetan hatte.

Vielleicht lag es aber auch an Arabella. Sie hatte ihre Zeit in dem Schweizer Mädchenpensionat beendet, war also ebenfalls zu Hause. In dem Pensionat hatte man sie eigentlich zu einer Dame erziehen sollen. Esme fand jedoch, dass das nicht gelungen war. Jetzt suchte man in London nach einem einigermaßen sozial akzeptablen Job für sie, während sie sich auf Highfield langweilte und die Däumchen drehte. Zweifellos versuchte sie, sich irgendwie die Zeit zu vertreiben. Und sie kam auf Jack.

Jack war mit Arabella immer locker und lässig umgegangen, manchmal sogar unhöflich. Esme fragte sich zuweilen, ob das der Grund war, warum sie Jack so anziehend fand. Immer hatte sie neben ihrer Schwester nur die zweite Geige spielen dürfen. Nur nicht bei Jack. Der schien immer sie, Esme, Arabella vorzuziehen.

Bis zu jenem Sommer, natürlich. Der August brachte eine ungeheure Hitzewelle mit sich. Alle Menschen schienen irgendwie verrückt zu spielen, oder waren es nur die Hormone?

Auch Esme spürte eine Veränderung in sich. Jedes Mal, wenn Jack in der Nähe war, bekam sie weiche Knie. Wann immer er ihr zulächelte, wurde sie verlegen und nervös. Als sich dann die Sache mit Arabella zu entwickeln begann, wurde Esme furchtbar eifersüchtig. Sie hätte es besser ertragen, wenn Arabella diskret gewesen wäre. Doch das war ja gerade das Dilemma. Arabella wollte, dass ihre Schwester es wusste, wollte sie wissen lassen, dass sie, Arabella, mit dem Stalljungen schlief. Und nachdem sie es unmissverständlich klargemacht hatte, amüsierte sie sich köstlich darüber. Obwohl sie, Esme, eifersüchtig war, tat Jack ihr leid. So sehr, dass sie es ihm einfach erzählen musste.

„Ich will mich ja nicht einmischen oder so, aber ich weiß über dich und Arabella Bescheid“, sagte Esme eines Tages zu ihm.

Daraufhin sah er sie nur kühl an und erwiderte: „Dann tu es auch nicht.“

Das tat ihr weh. Jack sprach normalerweise nicht so mit ihr. Sie wollte aber trotzdem nicht, dass man ihm wehtat. „Ich habe mich nur gefragt“, fuhr sie daher entschlossen fort, „ob du weißt, dass sie es nicht ernst meint mit dir.“

Er sah sehr verärgert aus, obwohl er schließlich in scherzhaftem Ton erwiderte: „Du meinst also, ich soll lieber nicht losgehen und Verlobungsringe kaufen? Willst du mir das sagen?“

„Ja, so ungefähr“, antwortete sie und nickte eifrig.

Jack betrachtete gedankenverloren Esmes ernstes Gesicht, versuchte, ihre Motive zu ergründen, und sagte schließlich lachend: „Mach dir keine Sorgen. Bisher habe ich noch immer alles bekommen, was ich wollte.“

„Wie?“ Esme verstand nicht ganz, sagte aber trotzdem: „Okay.“ Sollte das jetzt wieder irgend so ein Scherz sein?

„Ich frage mich allerdings, wer dich angestiftet hat, mir das zu sagen“, überlegte er laut. „Deine liebliche Schwester oder das Familienoberhaupt?“

„Wer?“

„Deine Mutter.“

„Oh.“ Esme kam sich auf einmal töricht vor. „Niemand. Ich habe nur gedacht … Ach, es ist auch egal.“ Wahrscheinlich war es besser, nicht zu erklären, warum sie sich um ihn sorgte. Dann hätte sie ihm ja ihre Gefühle gestehen müssen. Er sah sie jetzt schon so komisch an, und sie spürte, dass sie errötete. „Vergiss einfach, was ich gesagt habe“, bat sie ihn stattdessen.

„Okay, das werde ich.“ Er ahmte ihren Tonfall nach und schmunzelte leicht.

Er war nicht mehr böse auf sie, nur amüsiert. War das jetzt besser oder schlechter? Schlechter, vielleicht. Sie fühlte sich gedemütigt, drehte sich um und ging. Jack rief ihr nach: „Midge, warte.“ Doch sie beschleunigte ihren Schritt nur noch, rannte schließlich zum Haus hinüber und suchte Zuflucht in ihrem Zimmer.

Danach konnte sie es lange nicht ertragen, ihm oder Arabella gegenüberzutreten. Sie stellte sich vor, dass Jack Arabella von dem Gespräch erzählt hätte, und hielt sich, außer zu den Mahlzeiten, vorwiegend in ihrem Zimmer auf.

Der Vorfall beim Abendessen ereignete sich dann eine Woche später. Für Esme kam es wie der Blitz aus heiterem Himmel, für ihre Mutter und Arabella anscheinend nicht.

Jack läutete an der Vordertür. Die neue Köchin war angewiesen worden, ihn in das Esszimmer zu führen.

Als es geläutet hatte, war Arabella schnell durch eine Verbindungstür in den Nebenraum gegangen. Rosalind hatte Esme angewiesen, still zu sein.

Sie gehorchte. Schweigend saß sie an einem Ende der langen Tafel.

„Sie haben das Schloss im Cottage austauschen lassen“, sprach er ihre Mutter an. „Was dachten Sie denn, was ich tun würde? Alles demolieren?“

„Das traue ich Ihnen durchaus zu“, gab Rosalind hochnäsig zurück. „Nun habe ich aber Ihre Pläne durchkreuzt.“

„Meine Pläne durchkreuzt? Wie meinen Sie das genau?“

„Ich meine, junger Mann, dass ich Ihre Versuche, meine Tochter zu kompromittieren, vereitelt habe.“

„Kompromittieren?“

Rosalind schwieg eine Weile, bevor sie ihm dann schließlich klar und deutlich sagte, dass er nicht der passende Mann für Arabella sei, er sich also nicht weiter um sie bemühen sollte.

Jack war immer wütender geworden bei Rosalinds Vorhaltungen. Schließlich sagte er ihr mit wenigen, deftigen Worten seine Meinung. Nachdem er gleich darauf den Raum verlassen und die Tür hinter sich mit einem lauten Knall ins Schloss geworfen hatte, saß Rosalind völlig verblüfft da.

Esme schob ihren Stuhl zurück und wollte Jack hinterherlaufen.

„Wo willst du jetzt hin?“, fragte ihre Mutter barsch.

„Auf mein Zimmer“, schwindelte sie.

Wahrscheinlich hätte Rosalind sie aufgehalten, wenn in dem Moment nicht Arabella erschienen wäre, weshalb Esme Rosalind jetzt nicht mehr so wichtig war. „Ja, geh schon“, sagte sie daher beinahe ungeduldig.

Esme wusste, jetzt konnte sie tun, was sie wollte. Sie lief schnell zur Vordertür, weil sie dachte, Jack wäre dort hinausgegangen. Doch draußen war niemand zu sehen. Also ging Esme zurück, schlich am Esszimmer vorbei und ging in die Küche.

Maggie, die neue Köchin, war gerade mit der Nachspeise beschäftigt. Sie sah Esme an, bemerkte deren Gesichtsausdruck und deutete auf die Hintertür. „Er ist zur Scheune hinübergegangen.“

„Zur Scheune?“

„Ja. Ich habe ihm ein Fläschchen gegen die Kälte mitgegeben.“

„Ein Fläschchen? Womit?“

„Whisky natürlich. Aus der Speisekammer. Ich werde ihn selbstverständlich ersetzen.“

Darüber machte Esme sich nun überhaupt keine Sorgen. Trotzdem runzelte sie die Stirn. „Jack trinkt doch aber gar nicht.“

Die Köchin schüttelte den Kopf über Esmes Naivität. „Alle Männer trinken. Glaub mir … Außerdem wird er den Whisky heute Nacht brauchen, wenn er auf dem Heuboden schläft.“

„Aber warum sollte er das?“

„Wo soll er denn sonst hin?“, fragte Maggie. „Deine Mutter hat all seine Sachen weggeworfen, ins Cottage kann er nicht mehr. Anscheinend gefällt ihr nicht, dass Jack und deine Schwester so eng befreundet sind.“

Das hatte Esme bereits begriffen. Aber warum jetzt? Warum so plötzlich? Seit einigen Wochen schon hielt Arabella sich ständig in Jacks Nähe auf. Mutter hatte nichts dagegen gehabt, hatte sich gegenüber ihrer älteren Tochter nachsichtig benommen.

„Ich habe die da vorhin heruntergeholt.“ Maggie deutete auf die Wolldecke, die über einem Stuhl hing. „Jack hat sie liegen lassen.“

„Ich werde sie ihm bringen.“ Esme nahm die Decke.

„Bist du sicher?“ Maggie wirkte unschlüssig, hielt Esme aber nicht auf. Schließlich sagte sie noch: „Ich lass die Hintertür auf.“

„Danke.“ Esme ging hinaus.

Es war kurz vor neun Uhr und noch ein wenig hell, als Esme den Hof überquerte und zur Scheune hinüberging. Die rostigen Scharniere der Tür quietschten, als sie öffnete. Zuerst rief sie leise nach Jack. Keine Antwort. Sie rief noch einmal, dieses Mal lauter.

„Hier oben“, antwortete er widerwillig vom Heuboden herunter.

Esme betrat die Scheune. Es war kaum noch etwas zu sehen, doch sie kannte den Weg. Sie ging zur Leiter und begann, die Wolldecke über einer Schulter, die Sprossen hinaufzuklettern. Oben angekommen, versuchte sie erst einmal, ihre Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen. Dann sagte sie: „Ich bin es, Esme.“

Die Stimme kam von der hinteren Wand und klang schroffer als gewöhnlich. „Ich weiß, dass du es bist. Was willst du hier?“

„Ich …“ Ja, was wollte sie eigentlich hier? Ihm sagen, dass es ihr leidtue?

„Nun gut, entscheide dich“, machte er sich über sie lustig. „Komm herauf, oder klettere wieder hinunter, bevor du dir noch das Genick brichst!“

Der Lichtstrahl einer Taschenlampe blitzte auf, sodass Esme den Weg erkennen konnte. Sie zögerte noch einen Moment, dann bahnte sie sich den Weg durch das Heu und zerriss sich dabei den Saum ihres Kleides. Es war ihr egal. Auf allen vieren kroch sie weiter bis zur Hinterwand des Heubodens. Sie gab Jack die Wolldecke und setzte sich, aber nicht zu dicht, neben ihn.

Er bedankte sich kurz. Dann wartete er noch eine Sekunde und knipste schließlich die Taschenlampe aus. „Die Batterien sind fast leer“, sagte er.

„Ja, klar.“ Sie fühlte sich unwohl, wusste nicht, was sie als Nächstes sagen sollte. Neben Jack konnte sie die Umrisse eines Rucksacks erkennen. Ob sich darin seine Habseligkeiten befanden? Sie hätte ihm gern gesagt, wie unfair sie das alles fand. Offensichtlich war er aber nicht in der Stimmung für ein Gespräch.

Es raschelte, dann hörte sie, dass er aus der Flasche trank. Noch nie hatte er in ihrer Gegenwart Alkohol getrunken. Sie fröstelte etwas und sagte unbekümmert: „Kann ich auch einen Schluck bekommen?“

„Besser nicht“, antwortete er. „Du hast noch nicht das gesetzliche Mindestalter erreicht, oder?“

„Ich bin achtzehn“, behauptete sie.

„Wohl eher siebzehn“, tippte er.

Esme widersprach lieber nicht. Immerhin war sie erst sechzehn, in den Augen eines Zweiundzwanzigjährigen sicher noch ein Kind. Wie gern wäre sie jetzt älter gewesen! „Ich habe schon einmal Whisky getrunken!“

„Wirklich?“

„Ja“, beteuerte sie „Im Internat. Die Mädchen trinken dort manchmal.“

„Nun gut. Ich gebe dir einen Schluck, damit du nicht mehr so mit den Zähnen klapperst. Deine Mutter könnte mir allerdings vorwerfen, dass ich jetzt die zweite ihrer Töchter verderbe.“

„Du hast Arabella nicht verdorben.“ Arabella hatte kein Geheimnis daraus gemacht, dass sie schon seit geraumer Zeit mit jungen Männern schlief.

„Dessen bin ich mir bewusst.“ Er lachte rau auf.

„Aber du hast sie doch gemocht“, bemerkte Esme laut.

Er zuckte die Schultern. „Ob man das so nennen kann, weiß ich nicht.“

„Oh.“ Esme folgerte daraus, dass er mehr für Arabella empfand.

Dann herrschte Schweigen.

Esme begann jetzt richtig zu zittern vor Kälte. Es zog durch die Ritzen der nur mit Brettern verschlagenen Scheunenfenster.

„Hier.“ Er reichte ihr die Flasche. Dann zog er seine Jacke aus und legte sie Esme über die Schultern. Schließlich breitete er noch die Wolldecke über ihren Beinen aus.

„Danke.“ Sofort war ihr nicht mehr so kalt. Sie trank einen kräftigen Schluck aus der Flasche und konnte gerade noch einen Hustenanfall unterdrücken. Bisher hatte sie kaum alkoholische Getränke probiert, nur ab und an einmal ein Glas Wein getrunken. Dieses hier aber war hochprozentiger Stoff und schmeckte fürchterlich. Er hatte jedoch eine wohltuende Wirkung auf Esme. Sie gab Jack die Flasche zurück, und er trank noch einen Schluck.

„So, wo genau hat Arabella sich aufgehalten?“, fragte er dann. „Nebenan?“

Esme wusste nicht, ob sie ihm die Wahrheit sagen sollte.

„Ich habe doch recht, oder? Sie hat doch hinter der Tür gestanden und gelauscht?“ Er hörte sich wütend an.

„Du wusstest es! Warum hast du dann nichts gesagt?“ Esme war etwas verwirrt.

„Sie sollte ruhig ihren Spaß haben.“

„Das verstehe ich nicht.“ Als er schwieg, fragte sie: „Hast du dich hier immer mit Arabella getroffen?“

„Du meinst, um mit ihr zu schlafen? Wohl kaum. Deine Schwester bekommt ja schon hysterische Anfälle, wenn sie eine Spinne nur von Weitem sieht.“

Plötzlich wollte Esme nichts mehr darüber hören.

Nach einer Weile meinte er: „Würdest du mir glauben, wenn ich dir sagte, dass wir in Wirklichkeit gar nichts miteinander gehabt haben?“

„Nein.“ Esme wollte nicht für dumm verkauft werden. „Müssen wir darüber sprechen?“

„Meinetwegen nicht“, erwiderte er und trank wieder einen Schluck aus der Flasche.

„Trinkst du viel?“

Er lachte kurz auf. „Nur zu besonderen Anlässen.“

Und dies war so ein Anlass? Esme sah das nicht so. Das meinte er wohl eher sarkastisch.

„Und du?“

„Ich?“

„Trinkst du viel?“

„Kommt darauf an, was du unter viel verstehst“. Sie bemühte sich um einen gelassenen Tonfall. „Meistens an den Wochenenden. Irgendwelche Flaschen stehen immer im Internat herum. Die Mädels bringen die von zu Hause mit.“ Das stimmte. Doch Esme hielt sich von diesen Mädchen fern.

„Und was ist mit Männern?“

„Männern?“

„Jungen“, korrigierte er sich. „Spielen sie bei euren Trinkorgien eine Rolle?“ Sein Ton verriet, dass er sie nicht ernst nahm.

Daher wollte sie ihn schockieren. „Die Jagdschule ist nicht weit entfernt. Wir treffen die Jungen immer in unserem Umkleidepavillon auf dem Sportplatz. Dort tun wir es.“ Esme klang überzeugend. Teilweise entsprach es ja auch der Wahrheit. Esme gehörte nur nicht zu denjenigen, die es taten. Ihre bisherigen Erfahrungen bestanden aus ein, zwei Küssen. Mehr hatte sie bis jetzt nicht zugelassen.

Jack und Esme schwiegen eine Weile.

„Anscheinend habe ich dich falsch beurteilt, kleine Midge“, bemerkte er schließlich.

Was sollte das nun wieder heißen? „Ich bin aber kein leichtes Mädchen oder so.“

„Natürlich nicht“, beruhigte er sie, halb ernst, halb spöttisch.

Auf einmal wünschte sie sich, sie hätte nie mit diesem Spiel begonnen. Da musste sie jetzt durch. „Kann ich noch einen Schluck bekommen?“, bat sie, nachdem er erneut getrunken hatte.

„Ist das eine gute Idee?“

„Ich kann es schon vertragen“, behauptete sie.

„Ich weiß nicht, ob ich es vertrage“, sagte er lachend. „Aber egal. Du hast ja schließlich den Whisky mitgebracht.“ Er reichte ihr die Flasche.

„Sachte, sachte“, riet er, als sie einige kräftige Schlucke aus der Flasche trank. „Ich will dich nicht nach Hause tragen müssen, auch wenn es nicht weit bis zur Hintertür ist.“

„Das würdest du nicht schaffen.“ Esme kam sich im Vergleich zu ihrer Schwester wie ein Brauereipferd vor.

„Wahrscheinlich nicht“, räumte er ein.

„Danke“, murmelte sie gereizt.

„Ich habe dir doch nur recht gegeben“, erklärte er.

„Nun, es hätte mir mehr gefallen, wenn du mir widersprochen hättest.“

„Ich glaube, ich werde die Frauen nie verstehen.“ Er nahm ihr die Flasche ab, als sie die gerade wieder an den Mund setzen wollte.

„Offensichtlich nicht“, flüsterte sie.

„Auf wen bezieht sich das?“

Sie hatte eigentlich an sich selbst gedacht, dass er nicht die leiseste Ahnung davon hatte, was sie für ihn empfand. „Arabella“, sagte sie schnell, denn sie hielt das für klüger.

„Ja, das war keiner meiner glücklichen Augenblicke“, gestand er. „Ich hätte wissen müssen, was passiert. Tatsächlich wäre es besser gewesen, einfach mit ihr zu schlafen.“

Im Vergleich wozu? Als sich in sie zu verlieben? Sehr verzweifelt schien er jedoch nicht zu sein. Eher unzufrieden mit sich selbst. Oder lag das nur am Alkohol?

Eine besondere Wirkung musste Alkohol aber schon haben, denn Esme konnte es sich nicht verkneifen, zu sagen: „Jeder andere hat!“

„Genau“, stimmte er ihr lachend zu.

Diese Reaktion hatte Esme nun überhaupt nicht erwartet und war ganz sicher, dass sie die Männer nicht verstand. „Übrigens glaube ich nicht, dass Mutter dich einfach so aus dem Cottage hinauswerfen darf“, wechselte sie das Thema. „Es gibt doch Gesetze. Du könntest dir einen Anwalt nehmen. Ich habe etwas Geld, wenn …“

„Nein, vergiss es!“ Er nahm Esmes Hand und drückte sie ganz fest. „Du bist ein gutes Mädchen, Esme. Aber ich wollte sowieso fortgehen. Ich habe einen Job in den Staaten gefunden.“

„Ich …“ Sie fühlte sich, als hätte sie gerade einen Tritt bekommen.

„Ich dachte, Arabella hätte es dir erzählt.“

Nein. Hatte sie nicht. Esme konnte es nicht ertragen, mit Arabella über Jack zu sprechen. „Wann … wann kommst du wieder?“

„Gar nicht“, erklärte er. „Nicht hierher, jedenfalls. Momentan gibt es nichts, für das sich eine Rückkehr lohnt.“

Doch, es gibt mich, Esme hätte sie am liebsten gesagt. Aber dann hätte er sie für verrückt erklärt. Vielleicht war sie das ja auch. Unendlich viele Stunden hatte sie damit verbracht, von dem Tag zu träumen, an dem Jack Doyle sie endlich beachten und erkennen würde, dass sie, Esme, die Richtige für ihn war! Und nun, im Bruchteil eines Augenblicks, löste sich ihr Traum in Luft auf!

Verzweifelt suchte Esme nach den passenden Worten. „Ich muss gehen.“ Sie rückte von der Wand ab. „Hier, deine Jacke.“ Sie zog sie sich von den Schultern und wollte aufstehen.

„Warte doch!“ Er hielt sie am Arm fest, woraufhin sie auf ihren Knien landete. „Es tut mir leid, wenn ich dich enttäuscht habe.“

„Das hast du nicht“, widersprach sie.

Aber ihr Tonfall und ihr verstörter Blick, den Jack sehen konnte, als er jetzt die Taschenlampe aufblitzen ließ, verrieten sie. „Ich hätte es dir ja erzählt, aber …“

„Ich bin doch unwichtig“, unterbrach sie ihn heftig. „Ich bin ja nur Arabellas kleine Schwester.“

„Das bist du nicht“, entgegnete er sanft, so sanft, dass Esme Tränen in die Augen schossen.

„Lass mich gehen.“

„Noch nicht.“ Er betrachtete ihr Gesicht. „So darfst du nicht denken, Esme. Ich weiß, manchmal sieht es so aus, als würdest du in ihrem Schatten stehen …“

„In ihrem Schatten?“ Er hatte absolut keine Ahnung. „Nicht einmal das. Ich bin unsichtbar, ich existiere gar nicht.“

„Du liebe Güte, Esme! Nein.“ Er wischte ihr die Tränen weg, die ihr jetzt über die Wangen liefen. „Du bist präsenter, als sie es je sein kann. Du bist witziger, süßer.“

Esme bemerkte, dass er sie aufbauen wollte. Doch das half ihr nicht. In diesem Moment wollte sie nicht, dass er sie so mitleidig ansah. Sie wollte sein wie Arabella: sexy, schön und begehrenswert. „Wenn ich so verdammt wundervoll bin“, schluchzte sie, „warum hast du mich dann nie eingeladen und ausgeführt?“

„Ich … du …“ Er war völlig überrascht. „Aber Esme, du bist doch noch viel zu jung. Versteh mich doch.“

Das tat sie nicht. Sie fand sich alt genug. „Was bist du nur für ein Feigling“, beklagte sie sich. „Kannst du nicht einfach sagen: Esme, du gefällst mir nicht, du siehst nicht gut genug aus, und du bist nicht klug genug für mich?“

„Das stimmt ja überhaupt nicht.“

„Dann küss mich!“ Die Worte sprudelten einfach aus ihr heraus. Und es war, was sie wollte.

„Esme“, warnte er sie. „Also, falls das hier irgend so ein Spielchen werden soll, lass dir eins gesagt sein: Das ist gefährlich, ob du nun erfahren bist oder nicht.“

„Ach, vergiss es!“ Sie war verletzt und wollte sich rächen. Also warf sie ihm die übelsten Worte an den Kopf, die ihr einfielen. „Du bist wohl gar kein richtiger Mann. Kein Wunder, dass Arabella dich abgeschoben hat.“

Er fluchte leise vor sich hin. Dann sagte er: „Du willst es anscheinend nicht anders haben!“

„Na, dann los!“

Autor

Susan Mallery
<p>Die SPIEGEL-Bestsellerautorin Susan Mallery unterhält ein Millionenpublikum mit ihren herzerwärmenden Frauenromanen, die in 28 Sprachen übersetzt sind. Sie ist dafür bekannt, dass sie ihre Figuren in emotional herausfordernde, lebensnahe Situationen geraten lässt und ihre Leserinnen und Leser mit überraschenden Wendungen zum Lachen bringt. Mit ihrem Ehemann, zwei Katzen und einem...
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